Ich konnte dich nie vergessen - Anny von Panhuys - E-Book

Ich konnte dich nie vergessen E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Voller Spannung warten Stefan Pilger und seine Schwester Julie auf Christa Dörfel. Endlich soll Julie das Mädchen kennenlernen, das Stefan das erste Mal in der Laubenkolonie getroffen hat. Sofort hatte Christa sein Herz vollkommen gefangen genommen, eine große Liebe war entstanden und nach der noch inoffiziellen Verlobung wollten sie sich gegenseitig den Familien vorstellen. Doch die Geschwister warten vergebens. Dabei haben alle Gartennachbarn die junge Frau kommen sehen. Nur in Stefans Garten ist sie nicht angekommen. Verzweifelt macht sich Stefan auf die Suche, doch alle Nachforschungen laufen ins Leere. Auch die Adresse, die sie angab, stellt sich als falsch heraus. Zwar wohnt in dem Haus eine Christa Dörfel, doch es ist nicht die Christa, nach der Stefan sucht. Die richtige Christa Dörfel hat Mitleid mit dem jungen Mann. Wie schmerzhaft die Liebe sein kann, weiß sie aus eigener Erfahrung. Schon lange will sie sich von ihrem Verlobten Hansjörg trennen, der sie mit seiner Eifersucht ständig bedroht, und schafft es nicht. Als ihre immer vergnügte Kusine Huberta an einem Nachmittag ihre Verzweiflung nicht mehr mit ansehen kann, schlägt sie zur Abwechslung einen Spaziergang in die Laubenkolonie vor. Auch für Stefan ist der reizende Besuch eine gelungene Ablenkung. Allerdings erwähnt er mit keinem Sterbenswörtchen, dass sein Gartennachbar, der alte Herr Hartschmidt, offensichtlich mehr über das Verschwinden seiner vermissten Freundin weiß.Wie ein Fächer breitet der packende Roman das Leben seiner so unterschiedlichen Hauptpersonen aus. Verlorene und verschmähte Liebe, Eifersucht, Mordversuch aus Leidenschaft: Jede von ihnen muss mit einem dunklen Schatten seiner Seele kämpfen. Das geheimnisvolle Verschwinden einer jungen Dame bringt sie schicksalshaft zusammen und verändert alles.

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Ich konnte dich nie vergessen

Frauen-Roman

Anny von Panhuys

Ich konnte dich nie vergessen

© 1951 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592212

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

Der ungefähr drei Meter breite Weg hat eine Länge von einem Kilometer und teilte die Kleingärten am Rande der großen Stadt mitten durch. Diesseits lag die Landstraße, die nach einem Dorf führte, das die Frankfurter im Sommer als Ausflugsort sehr bevorzugten, jenseits zog sich eine breite Straße an einem alten Turm vorbei zum Friedhof. Und in den vielen kleinen Gärten, die zusammen von weitem zu einem einzigen großen Ganzen zusammenschmolzen, arbeiteten zu jeder Tageszeit, vom frühen Frühjahr bis zum Beginn des Winters, die fleißigen Hände vieler Menschen, deren höchstes Glück es war, ein Stück der heiligen Mutter Erde ihr Eigen zu nennen, um es zu bebauen.

Aus den verschiedensten Berufen und Ständen kamen sie in ihrer Freizeit hierher, um zu arbeiten und sich des Segens ihrer Arbeit zu freuen. Da gab es ältere pensionierte Beamte, die fast den ganzen Tag in ihrem Garten schafften, und dann in ihrer Laube ausruhten, da gab es junge Eheleute, deren Kinder schon gelernt hatten, die Erde umzugraben, ehe sie noch schulpflichtig waren, und da fanden sich die Männer nach Feierabend aus den Büros und den Fabriken ein, schon ungeduldig von ihren Frauen erwartet, um ihr Abendbrot mit der Familie in der selbstgezimmerten Laube zu essen, und danach noch ein Weilchen zünftig gärtnerisch zu arbeiten.

Das letzte Gartengrundstück auf der Seite, wo eine der letzten Straßen Frankfurts, in die dem Dorf entgegenstrebende Landstraße übergeht, gehörte dem Buchhalter Stefan Pilger. Er liebte sein Gärtchen ebenso wie es seine Schwester liebte, und beide verbrachten darin bei gutem, oft auch bei schlechtem Wetter, viele ihrer freien Stunden.

Es war ein sehr warmer Tag Ende des Monats Mai, und die Sonne stand in ihrem vollen Glanz, in ihren köstlichen, goldenen Krönungsmantel gehüllt, am blauen wolkenlos scheinenden Himmel. Fern am Horizont aber schwammen doch Wölkchen wie kleine Barken mit geblähten weißen Segeln, sie trieben langsam aufeinander zu, hier und dort hatten sich schon zwei vereint.

Stefan Pilger stand vor seiner Laube und blickte aufmerksam zum Himmel auf. Er sagte zu seiner Schwester, die einige Jahre älter als er war: „Ich fürchte, Julie, wir bekommen heute noch ein Wetter. Die paar Wölkchen allein bringen mich nicht darauf, ich spüre es eigentlich mehr körperlich. Weißt du, Julie, es ist so ein Ahnungsgefühl. Überhaupt, mir ist heute so bedrückt zumute, und ich habe doch keinen rechten Grund dazu.“

Julie trat aus der Laube, die einem winzigen Wohnhaus glich und antwortete gutmütig lächelnd: „Du bist und bleibst ein Phantast mit deinen zeitweiligen Ahnungen und Gefühlen.“ Sie fuhr ihm über das dichte braune Haar. „Menschen wie du, brauchen sich nicht mit Ahnungen abzugeben, stehst doch beruflich sicher und mit beiden Beinen auf der Erde. Mensch, Stefan, kannst lange suchen, bis du einen in deinem Alter findest, der es, wie du, schon zum ersten Buchhalter und beinah zum Prokuristen einer angesehenen Maschinenfabrik gebracht hat. Du bist jedenfalls schon für den Posten vorgesehen und beziehst mit deinen fünfundzwanzig Jahren ein gutes Gehalt. Wir bewohnen eine bequeme Wohnung mit modernster Einrichtung, und heute will ich dir sogar den Gefallen tun, deine Zukünftige kennenzulernen.“

Sie faßte ihn unter und stand nun neben ihm, ebenso groß wie er, ebenso sehnig straff. Die Geschwister ähnelten sich. Sie hatten beide das fast zu dichte braune Haar und den gleichen, etwas großzügig ebenmäßigen Gesichtsschnitt, die schmalen grauen Augen, überdacht von sehr breiten, fast schwarzen Brauen. Und ihre Zähne waren groß, doch von blendender Weiße. Das Kinn Julies war kräftiger herausgearbeitet, es stand ein klein wenig vor.

Man konnte beide auf den ersten Blick als angenehme, liebenswürdige Menschen beurteilen, und das waren sie auch.

Nach dem Tod der Eltern begann Julie den Bruder zu bemuttern, und so war das geblieben seit Jahren. An eine Heirat schien Stefan nie gedacht zu haben bis jetzt, da er vor kurzem ein junges Mädchen kennengelernt, in das er sich auf den ersten Blick verliebte.

Julie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest: „Vier Uhr zehn Minuten.“ Sie fragte: „Wenn ich nicht irre, wollte deine Christa doch schon um vier Uhr hier sein. Ich habe den Kaffee fertig und alles in der Laube zurechtgestellt. Also kann die Beschnupperung mit meiner zukünftigen Schwägerin beginnen, von mir aus steht dem nichts mehr im Wege. Aber die Dame scheint unpünktlich zu sein.“

Stefan Pilger lächelte: „Na, so auf die Minute genau darf man es nicht mit einer Großstädterin nehmen. Die Elektrische mag ihr vielleicht gerade vor der Nase weggefahren sein. Sie wohnt in der Mainzer Landstraße, also beinahe entgegengesetzt von unserm Garten.“

Julie schüttelte den Kopf. „Deine Liebe benimmt sich ziemlich romantisch, Jungchen, ich finde, meine Bekanntschaft mit deiner Christa hätte sich viel besser irgendwo unter Dach und Fach abgespielt.“

Er dachte darüber anders.

„Nein, meine kluge Julie, so Wie ich es dir vorschlug, ist alles am einfachsten und harmlosesten. Seit zehn Tagen, seit ich kurzen Urlaub habe, du aber wegen Erkältung zu Hause bleiben mußtest, besuchte mich Christa hier täglich zur gleichen Zeit. Ich lernte sie zufällig kennen, als sie eines Nachmittags hier vorbeiging, und wir in ein Gespräch über Rosen kamen, die sie sehr liebt. Auf meine Bitte trat sie in den Garten ein, und weil sie täglich hier vorbei muß, kam das eben so, wie es wohl kommen sollte, wie es Vorausbestimmung ist, denn einmal muß die Liebe schließlich auch an mich denken. Ich möchte doch auch heiraten.“

Julie nickte. „Natürlich, Stefan, und das sollst du ja auch, wenn ich dich dann auch nicht mehr betreuen darf, was mir bestimmt sehr fehlen wird, aber die Hauptsache ist dein Glück. Sonderbar berührt mich nur, daß du so wenig von dieser Christa weißt, aber schon tust, als möchtest du morgen aufs Standesamt laufen. Du mußt möglicherweise damit rechnen, daß euch von ihren Verwandten Schwierigkeiten gemacht werden können.“

Er gab ihr einen schmerzhaften Nasenstüber.

„Jetzt fängst du an zu unken, Julchen! Wer sollte mir bloß Schwierigkeiten machen? Christel ist frei, sie hat nur noch eine Mutter, also ein gestrenger Vater tritt überhaupt nicht auf, und mit der guten Dame, die ein Putzmacheratelier hat, dürfte sich reden lassen. Die Tochter arbeitet bei ihr, und was sollte die Mutter dagegen haben, wenn sie einen Schwiegersohn wie mich bekommen kann?“

Er lachte vergnügt, ein wenig selbstbewußt, und seine Zähne blitzten.

Er hob Julies linke Hand, sah auf ihre Armbanduhr.

„Schon halb fünf!“ sagte er etwas verstimmt. Sein Gesicht war sehr ernst. „Jeden Tag stellte sich Christel pünklich ein, und ausgerechnet heute verspätet sie sich.“ Er blickte zum Himmel auf. „Die Sonne zieht auch schon dem Westen zu und guck nur, Julie, was aus den weißen Wolken geworden ist, wie kleine graue Ballonsperren schweben sie rund um den Himmel.“ Er atmete tief auf. „Du, Julie, ich war so unbeschreiblich glücklich seit mir Christel gestanden, sie hätte mich, genau so wie ich sie, gleich auf den ersten Blick lieb haben müssen. Jetzt ist mir bange. Ich glaube, mein Glück war zu groß.“

Julie Pilger verwies ihn kopfschüttelnd: „Du bist im Grunde noch immer ein dummer und zaghafter kleiner Junge. Schäme dich, Stefan, und jetzt laufe deinem Mädel ein Stück entgegen, jeder Mensch kann sich mal verspäten.“

Er sah sie dankbar an. „Hast recht, Julchen, also, ich werde ihr entgegen gehen. Ich muß sie ja unterwegs auf dem Weg treffen. Wenn nicht, dann warte ich ein Weilchen in der Nähe des Turmes, nicht weit davon hält die Elektrische, mit der sie, wenn ich nicht irre, zu kommen pflegt.“

Julie fuhr ihm mit dem Taschenkamm ein paarmal durch das volle Haar und er verließ, ihr freundlich zunickend, den kleinen Garten. Sie sah ihm noch einen Augenblick nach und betrat dann die Wohnlaube, in der sie schon den Kaffeetisch zurecht gemacht hatte.

Eine bunte geblümte Decke, weißes mit rotem Mohn bemaltes Geschirr, und in hoher Kristallvase ein paar Frühlingsblumen, gaben dem freundlich ausgestatteten, ziemlich großen Raum ein hübsches, behagliches Gepräge.

Julie Pilger nahm auf einem Hocker Platz. Ihr gefiel das Liebesidyll ihres Bruders nicht so recht. Sie fand es zu romantisch und unklar, und sie war immer für klare Verhältnisse.

Da hatte er vor ungefähr zehn Tagen eine junge Dame kennengelernt, die an seinem Garten vorübergegangen, und schon am nächsten Tage zur gleichen Zeit wiedergekommen war. Nach drei Tagen hatten sie bereits Liebesworte gewechselt und sich geküßt, und nach acht Tagen hatte Stefan ihr, seiner Schwester, die Mitteilung gemacht, er wäre dem Mädchen begegnet, das er um jeden Preis heiraten wolle, und sie müsse es kennenlernen. Es war sehr wenig, was er ihr über Christa sagen konnte, vor allem aber waren die beiden viel zu schnell einig geworden. Täglich suchte diese Christa Dörfel irgendwo hier draußen ihre alte Großmutter auf, um sich täglich nach ihrem Befinden zu erkundigen und benützte stets den breiten Weg, der das Gelände der Kleingärtnereien in zwei Hälften teilte. Jenseits befand sich die Endstation der Straßenbahn, diesseits wohnte die alte Dame, zu der Christa ging. Und wenn sie bei Stefan vorbeikam, machte sie seit zehn Tagen bei ihm ein wenig Rast, der jedesmal schon lange wie ein verliebter Junge auf sie wartete.

Julie gestand sich ehrlich ein: Ich bin wirklich neugierig, sie kennenzulernen! Aber sie spürte zugleich einen bösen, scharfen Schmerz an der Stelle, wo das Herz saß. Es würde ihr nicht leicht werden, sich von dem geliebten Bruder zu trennen, mit dem sie friedlich und besorgt um sein Wohl, zusammen gelebt hatte. Alles hatte sie darüber vergessen, auch, daß sie selbst sich ein paarmal gut hätte verheiraten können. Ihr Bruder nahm den ersten Platz in ihrem Herzen ein.

Und jetzt war ein Mädel aufgetaucht, war nur flüchtig mit ihm bekannt geworden, und schon war die treue Schwester entthront, die andere Liebe war stärker als Geschwisterliebe!

Julie Pilger irrte, nicht stärker war sie, nur anders.

Julie dachte: Ich will sie prüfen auf Herz und Nieren, diese Fremde, die mir den Bruder nehmen will, ich werde ihr nichts durchgehen lassen, nur die Beste ist gerade gut genug dazu, seine Frau zu werden.

Sie lauschte hinaus, ihr war es, als ob sie die Gartentür hätte gehen hören, die immer ein wenig quietschte. Sie trat hinaus in den Garten. Niemand war zu sehen außer dem Gerichtsvollzieher Körner, dem Nachbar, der sie grüßte und die Gartentür nebenan aufschloß.

Er rief ihr zu: „Ich glaube, wir müssen uns heute noch auf ein Wetterchen gefaßt machen, Fräulein Pilger, es ist zwar erst Mai, aber es ist so schwül, und es liegt einem so schwer in den Gliedern.“ Er fuhr sich mit dem Taschentuch über das erhitzte rote Gesicht. „Maiengewitter kann tückisch sein, ich habe das schon ein paarmal erlebt.“

Julie Pilger lächelte und machte eine abwehrende Bewegung.

„Ach was, heute gibts kein Gewitter, die paar grauen Wolken frißt die Sonne noch ratzekahl auf, ehe sie untergeht!“

Julie betrat wieder die Wohnlaube und ging weiter ihren Gedanken nach, die sich mit dem geliebten Bruder und seiner Zukunft beschäftigten.

Schwer würde es ihr werden, beiseitetreten zu müssen vor seiner zukünftigen Frau.

Der Gedanke tat ihr weh.

Ihr Bruder! All ihre Liebe gehörte ihm, und dabei fiel ihr ein, oft hatte sie ihm wie einem ungebärdigen Jungen den Kopf zurecht rücken müssen, wenn er sich in seiner Stellung unglücklich gefühlt, wenn er ihr geklagt, er wäre lieber ein Gärtnergehilfe, als erster Buchhalter einer guten Firma, mit der Aussicht auf den Prokuristentitel.

Wie viele könnten ihn beneiden.

Eine Frau würde es sehr gut bei ihm haben, sie aber müßte zurücktreten vor dieser Frau, gegen die sie sich heimlich wehrte, nur heimlich, und ganz tief drinnen im Herzen.

Ihr Urteil über sie, der Stefans Liebe nur allzu leicht und schnell zugefallen war, durfte sich nicht durch eigene Voreingenommenheit beeinflussen lassen. Sie rief ihr Gerechtigkeitsgefühl an.

Ob sie in diesem Fall aber noch vollkommen gerecht sein könnte?

Sie bezweifelte es fast, doch sie hatte den besten Willen dazu.

2.

Stefan Pilger hatte inzwischen schon ein Stück seines Weges zurückgelegt. Er kam am Garten Karl Hartschmidts vorbei, der ihm flüchtig sein gelbes faltiges Bulldoggengesicht zuwandte und seitlich der Laube eine Grube aushob.

Stefan spähte nach vom, ob ihm nicht die schlanke Gestalt Christa Dörfels entgegenkäme.

Ein Bauer mit einer Ziege begegnete ihm und zwei halbwüchsige Jungen, die Fußbälle trugen. In einigen anderen Gärten wurde gearbeitet, er grüßte die Leute, aber obwohl er schon mehr als zwei Drittel des Weges hinter sich hatte, sah er die Erwartete noch immer nicht.

Es war wirklich sehr schade, daß sie sich gerade heute, wo sie die Bekanntschaft seiner Schwester machen sollte, so sehr verspäten mußte.

Er empfand große Sehnsucht nach Christa. Wie ein Kind nach der Mutter! dachte er und sann glückselig darüber nach, wie schön sein Leben sich gestalten müßte, wenn Christa erst seine Frau geworden sein würde.

Eine helle weibliche Stimme grüßte und entriß ihn seinen Zukunftsgedanken. Er erwiderte den Gruß der grauhaarigen Fünfzigerin, die innen am Zaun einer der letzten Gärten stand und ihn freundlich anlächelte. Sie wohnte in der Nähe und war die Frau eines Zigarrenhändlers, arbeitete täglich rastlos in ihrem Garten.

Durch Gartenarbeit ist aus einer nervösen, kränklichen Frau, die keinen Zentner wog, wieder ein gesunder Brocken von siebzig Kilo Lebendgewicht geworden! pflegte Erna Merten jedem, der es nur hören wollte, das Geheimnis ihres blühenden Aussehens zu verraten.

Stefan Pilger wollte vorübergehen, sie hielt ihn mit der Frage zurück: „Glauben Sie, daß es heute noch ein Wetter gibt? Es ist so gräßlich schwül.“

Er zuckte die Achseln: „Wie kann man das wissen?“

Die Frau lächelte: „Besser ist jedenfalls, heute nicht allzu lange hier draußen zu bleiben.“ Ein bißchen vertraulich setzte sie hinzu: „Die junge Dame, die ich in diesen Tagen ein paarmal nachmittags bei Ihnen in Ihrem Garten sah, hat gerade heute ein so wunderschönes neues Kostüm an, und es ist ratsam, heute nicht zu lange mit ihr hier draußen zu bleiben.“

Stefan Pilger zog leicht die breiten dunklen Brauen hoch.

Er sagte nach einem Weilchen fast schroff: „Die junge Dame ist, wenn auch noch nicht öffentlich, so doch mit mir verlobt, und meine Schwester erwartet sie heute in unserer Wohnlaube zum Kaffee.“

Sein Ton wurde freundlicher. „Aber sie ist heute noch nicht gekommen, und ich bin ihr eben ein Stückchen entgegengegangen, Sie können sie also heute nachmittag wohl kaum gesehen haben.“

Frau Merten machte ein sehr erstauntes Gesicht.

„Ich bin doch seit ungefähr einem Monat tagtäglich nachmittags hier im Garten, und seit mehr als einer Woche habe ich die junge Dame mit dem wunderschönen goldblonden Haar hier vorbeigehen sehen. Immer zur gleichen Zeit. Und ein paarmal haben wir sogar miteinander einige Worte gewechselt. Heute habe ich ihr zum Beispiel erzählt, meine Frührosen hätten schon viele Knospen, und eine davon habe ich ihr ins Knopfloch ihres hellgrauen Kostüms gesteckt. Sie bedankte sich so lieb. Eine wunderschöne Braut haben Sie, Herr Pilger.“

Stefan sah sie prüfend an. Wollte sich die nette Frau einen unverständlichen Scherz mit ihm erlauben?

Er antwortete mit mühsam beherrschter Erregung. „Meine Braut heißt Christa Dörfel, und Fräulein Dörfel kann heute noch nicht hier mit Ihnen gesprochen haben. Sie ist bisher noch nicht bei uns angekommen. Oder —“ Er zog das Wort „oder“ sehr lang, sie müßte wieder nach dieser Seite, von der sie zu kommen pflegt, umgekehrt sein.

Die Frau wehrte lebhaft ab.

„Bewahre, umgekehrt ist sie bestimmt nicht. Wir sprachen miteinander kurz nach dreiviertel vier. Ich weiß das so genau, weil ich um die genannte Zeit drinnen in der Laube auf meine Weckeruhr gesehen hatte. Fräulein Dörfel — so heißt die junge Dame ja wohl? — sprach also mit mir, nahm auch die Rosenknospe an und ich sah ihr nach, fand, sie sah sehr schön und sehr vornehm aus. Ich sah ihr nach bis ungefähr zum Hartschmidtschen Garten, und dann machte ich mich an die Arbeit, Unkraut auf der Straße vor unserem Gartenzaun auszujäten. Ich hätte die junge Dame sehen müssen, wenn sie umgekehrt wäre. Kurz bevor Sie kamen, habe ich den Garten erst wieder betreten.“

Stefan Pilger erklärte mit deutlicher Erregung: „Sie müssen sich dennoch irren, Frau Merten. Ich bin seit drei Uhr in unserem Garten und bin seitdem nicht ein einziges Mal in der Laube gewesen. Fräulein Dörfel konnte also nicht unbemerkt bei mir vorbeigehen. Sie hätte auch nicht den geringsten Anlaß dazu gehabt, das zu tun. Wir trennten uns gestern im allerbesten Einvernehmen.“

Frau Merten sah ihn ratlos an und zuckte die Achseln.

„Was soll ich darauf noch erwidern, Herr Pilger? Ich weiß es wirklich nicht, aber mir ist die Geschichte einfach unbegreiflich. Jedenfalls, und das kann ich beschwören, habe ich mit der jungen Dame kurz nach dreiviertel vier gesprochen, und danach ist sie auf dem Weg weitergegangen in der Richtung Ihres Grundstücks. Außerdem habe ich ihr nachgesehen, bis sie sich vor dem Hartschmidtschen Garten befand. Dabei bleibe ich und sie muß etwas später bei Ihnen vorübergegangen sein, ohne daß Sie es bemerkten.“

„Quatsch!“ entfuhr es Stefan Pilger grob.

Im nächsten Augenblick färbte sich sein Gesicht dunkelrot, und er bat verwirrt: „Verzeihen Sie, beste Frau Merten, ich bin ein bißchen aufgeregt, weil mir Ihre Erklärung so sonderbar erscheint. Ich glaube Ihnen ja, und es muß sich dann wohl so verhalten, daß Fräulein Dörfel irgendwo zwischen dem Hartschmidtschen Garten, wo sie von Ihnen zuletzt gesehen wurde und dem unseren, Rast gemacht und sich verplaudert hat. Vielleicht ist sie, derweil ich hier stehe, schon längst bei meiner Schwester gelandet.“

Diese Erklärung leuchtete ihm selber ein, obwohl es ihm nicht gefiel, daß Christa gerade heute so rücksichtslos gewesen sein sollte.

Er bat noch einmal um Entschuldigung und lief zurück.

Seltsamerweise fand er seine Schwester noch immer allein und erzählte ihr ziemlich verärgert, was er von Frau Merten soeben gehört hatte.

Er schloß: „Die Frau hat Gespenster am hellen Tag gesehen. Christa konnte natürlich aus irgend einem wichtigen Grunde heute nicht hierher kommen.“

Julie widersprach: „Ich glaube Frau Merten aufs Wort, die sieht bestimmt keine Gespenster am hellen Tag, die nicht, eher glaube ich beinahe, deine Herzenskönigin hat zwischen dem Hartschmidtschen Garten und unserem, Unterhaltung gefunden, die sie mehr fesselt, als die Aussicht, deine olle Schwester kennenzulernen. Ich schlage vor, wir gehen nach Hause, das Gewölk sieht schon eklig grau und böse aus, und es ist besser, vor dem Wetter zu Hause zu sein, denn ein Wetter gibt es bestimmt, um das kommen wir kaum noch herum.“

Stefan Pilger merkte seiner Schwester nur zu deutlich an, wie ärgerlich sie auf Christa war, und das verdroß ihn.

Er antwortete scharf: „Du verurteilst Christa, ehe du noch weißt, was sie von ihrem Besuch bei uns zurückgehalten hat. Ich bitte dich, Julie, wenigstens noch ein halbes Stündchen zu warten. Ich möchte schnell bei allen Nachbarn bis zu Hartschmidt Nachfrage halten.“

Ehe Julie sich entscheiden konnte, hatte er schon den Garten verlassen.

Sie rief ihm nach: „Bei Körner nebenan brauchst du nicht zu fragen, der ist erst vorhin gekommen, und erstens war der Garten bis dahin verschlossen, zweitens hätte ich sie dann von uns aus auch sehen müssen.“

So kam er bis zum Hartschmidtschen Grundstück. Das gelbe Bulldoggengesicht seines Besitzers zeigte sich hinter frischgrünen Büschen. Ein Altmännermund mit häßlichen stockfleckigen Zähnen fragte: „Herr Pilger, nicht wahr, der sind Sie doch? Ich weiß, Sie gärtnern hier als Erster von der Landstraße aus, alles in Grund und Boden. Womit kann ich Ihnen dienen?“

Stefan Pilger hätte am liebsten sofort kehrt gemacht. Man hatte ihm erzählt, daß Hartschmidt ein unangenehmer Geselle wäre, und er bezwang sich, erwiderte höflich: „Ja, mein Name ist Pilger, und es ist möglich, daß ich nicht soviel von der Gärtnerei verstehe wie Sie, aber ich bemühe mich, mein Bestes zu tun. Jetzt möchte ich Sie nur fragen: Haben Sie heute gegen dreiviertel vier Uhr nachmittags hier auf dem Weg vor Ihrem Garten eine junge schlanke Dame bemerkt? Sie hat —“

„Goldblondes Haar und ein reizvolles Gesicht“, vollendete der Unangenehme. „Ich kenne die Dame, sie ist mir schon mehrmals aufgefallen. Es ist dieselbe, die schon seit ungefähr einer Woche unsere Gegend unsicher macht, ich muß wohl richtiger sagen: verschönt!“

Stefan unterdrückte eine Zurechtweisung.

Der Alte hüstelte und es klang wie fernes, heiseres Bellen.

„Jawohl, Herr Pilger, die junge Dame habe ich heute kurz nach dreiviertel vier Uhr hier an meinem Garten vorbeigehen sehen. Sie trug ein hellgraues Kleid, Kostüm nennt man ja so ein Jackending, ich habe die Bezeichnung noch von meiner durchgebrannten Frau her im Gedächtnis behalten. Also die goldblonde Dame ging hier vorbei und glubschte so’n bißchen zu mir herüber mit den braunen Kulleraugen und dann —“

Er schwieg, nahm die Prise, und nieste nach einem Weilchen sehr umständlich.

„Und dann?“ fragte Stefan Pilger aufs Äußerste gespannt.

Das Hüsteln, das fernem heiserem Bellen glich, ließ sich wieder hören. Vielleicht sollte es auch ein Lachen sein.

Der Alte gab Antwort: „Und dann war die unwichtige Episode, daß ein feines Dämchen hier vorbei scharwenzelte, für mich erledigt. Ich gucke den jungen Frauensleuten nicht mehr nach, schon lange nicht mehr, denn, genau genommen, sind die Weiber das gar nicht wert.“ Er sagte ernst: „Meine Mutter ausgenommen, die war eine herzensgute und anständige Frau und die einzige, an die ich mit Achtung und Liebe denken kann.“ Er murrte: „Halten Sie mich, bitte, nicht länger mit Fragen auf, ich habe noch viel zu tun.“

Er wandte sich ab und ging dorthin, wo er sich vorhin mit dem Ausschaufeln einer Grube beschäftigt hatte.

Stefan rief ihm nach: „Ist die Dame nicht etwa umgekehrt?“

Hartschmidt schüttelte den Kopf und erklärte mit großer Bestimmtheit: „Nein! Ich sehe jeden der vorbeigeht, zurückgekommen aber ist sie bis jetzt nicht.“

Er kümmerte sich nicht mehr um Stefan Pilger, der noch ein paar Fragen bereit hielt, nun aber wie vor den Kopf geschlagen umkehrte. Alles, was er bis jetzt in Erfahrung gebracht, bewies nur zu deutlich, daß Christa wie vordem täglich, so auch heute zur gleichen Zeit ihren Weg vom Turm jenseits der Gärten, nach diesseits der Gärten angetreten hatte, daß sie von Frau Merten und zuletzt vor dem Hartschmidtschen Garten von dessen Besitzer gesehen worden war, danach aber von niemand mehr.

Bei ihm war sie nicht angekommen, unterwegs war sie in keinem Garten gewesen! Also wo war sie geblieben?

Sowohl Frau Merten als auch der Mann mit dem gelben Bulldoggengesicht blieben dabei, sie wäre bestimmt nicht zurückgekehrt.

Als ob auch der Himmel droben die schlechte Stimmung Stefan Pilgers teilte, verdüsterte er sich zusehends, und die Wolken schoben sich, von plötzlichem Wind unterstützt, dichter und schneller zusammen. Auf dem Weg wirbelte der Staub jäh hoch auf und verschlug ihm den Atem.

Er eilte in seine Wohnlaube, abermals war die Hoffnung in ihm erwacht, Christa könne sich während seiner Abwesenheit doch noch eingefunden haben. Aber seine Schwester befand sich noch immer allein, und sie räumte schon das Kaffeegeschirr in den dafür bestimmten Schrank.

Er sagte, blaß vor Erregung: „Ich weiß nicht mehr, was ich von dem, was ich hörte, halten soll!“

Er berichtete das Ergebnis seines zweiten Suchganges.

Julie lächelte ein wenig spöttisch.

„Daß deine schöne Christa unterwegs zu dir war, steht nach den Angaben Frau Mertens und Herrn Hartschmidts zweifellos fest, aber ihnen entging leider, daß sie umgekehrt sein muß. Anders kann es sich ja nicht verhalten. Sie ist einfach vor mir ausgekniffen, sie wollte mich nicht kennenlernen. Das ist das ganze Geheimnis ihres rätselhaften Verschwindens, mein lieber Junge. Und nun trinke die Tasse Kaffee, die ich dir jetzt eingieße und warte ab, ob und wann sich Christa Dörfel wieder meldet. Vielleicht tut sie es bald. Schließlich hast du ein Recht, das zu erwarten, nicht wahr? Aber nachlaufen würde ich ihr nicht, sie weiß ja, wo du zu finden bist, und du wirst ihr außerdem auch deine Wohnung nicht verschwiegen haben.“

Er hatte kaum zugehört.

„Um all das handelt es sich doch gar nicht, Julie. Sieh, es ist doch bedeutend wichtiger, herauszubringen, auf welche unerklärliche Weise Christa auf dem Weg, den kein Seitenweg unterbricht, zwischen dem Hartschmidtschen und unserem Garten verschwinden konnte. Sie ist nach meiner Meinung im wahren Sinn des Wortes verschwunden!“

Julie lachte ärgerlich auf.

„Du bist verdreht, Stefan! Ich gebe zu, daß man alles zunächst so ähnlich auffassen könnte, doch ist der Gedanke wirklich verdreht und unsinnig. Wie soll denn ein Mensch auf einem so kurzen Weg, von dem er weder nach rechts noch nach links hinunter kann, spurlos verschwinden? Das Fräulein hat absichtlich kehrt gemacht, und wenn deine Zeugen das nicht bemerkt haben, waren ihre Augen eben wo anders beschäftigt. Warum Fräulein Dörfel allerdings im letzten Moment kehrt gemacht hat, das entzieht sich meiner Kenntnis, und ich vermute deshalb nach wie vor, sie hat es meinetwegen getan, obwohl ich es nicht begreife. Im übrigen kannst du tun und lassen was du willst. Suche sie auf und frage sie selbst.“

Er meinte zögernd: „Ich muß mir das alles erst durch den Kopf gehen lassen, ich bin bis jetzt noch ganz wirr von dem Gedanken.“

Sie antwortete schroff: „Es ist doch eigentlich gar nichts geschehen, nichts weiter, als daß aus irgend einem, wahrscheinlich sehr törichten Gedanken heraus, ein dummes Mädel der Gelegenheit, meine Bekanntschaft zu machen, ziemlich deutlich ausgewichen ist.“

Er sah sie bittend an.

„Julchen, tu mir den einzigen Gefallen und faß es nicht so auf, ich fühle es mit Gewißheit, das hängt anders zusammen. So harmlos verhält sich das nicht, hinter Christas Verschwinden steckt irgend etwas Böses und Schlimmes.“

Julie band einen leichten bunten Schal um den Kopf.

„Wenn du deinen Kaffee doch kalt werden läßt, wollen wir lieber gehen, über das Rätsel deiner Christa kannst du daheim in bequemerer Umgebung nachgrübeln.“

Ein greller Blitz erhellte gespenstisch das Innere der Wohnlaube, knatterndes Donnern folgte.

„Hast es also doch geschafft, Stefan, nun sitzen wir hier fest“, sagte Julie verstimmt, „wir konnten längst weg sein.“ Sie trat ans Fenster. „Ich glaube aber, wenn wir uns dran halten, schaffen wir es noch jetzt, es regnet noch nicht!“ Sie zog einen leichten Wettermantel an, der immer hier bereit hing und brachte ihm den seinen. „Los, Stefan, zu Hause ists gemütlicher beim Gewitter.“

Gleich darauf schloß Stefan Pilger die Wohnlaube und die Gartentür ab, und mit schnellen Schritten liefen sie der Straße zu.

Allzu weit hatten sie es nicht, in einem neuen Hause des Bornheimer Bezirks lag ihre Wohnung, die sie im Laufschritt in knapp einer Viertelstunde erreichten, gerade noch zur rechten Zeit. Denn kaum hatten sie die Wohnung betreten, da brach das Unwetter richtig los. Blitz folgte auf Blitz, und wahre Sturzbäche strömten nieder.

Stefan war in sein Zimmer gegangen, um allein zu sein. Er mochte die nüchternen Worte der Schwester jetzt nicht hören, die sie nur für Christas Tun fand. Er sah alles anders. Ihm schien der Beweggrund von Christas Nichterscheinen, obwohl sie ihm doch schon sehr nahe gewesen sein mußte, einfach unheimlich und düster. Sie konnte nicht absichtlich fortgeblieben sein, er fände sich sonst nicht zurecht, wenn er an Christas Küsse dachte und an ihre Worte, mit denen sie ihm immer von neuem wiederholte, sie liebe ihn.

Er saß an seinem Schreibtisch und barg den schmerzenden Kopf in den Händen. Er war ein guter, nüchterner Angestellter, ihm konnte man beruflich so leicht kein X für ein U vormachen, aber sein Privatleben war auf Herz und Gefühl eingestellt. Vielleicht etwas zu viel, das gab er sich selbst zu, und seine Schwester hatte es schon öfter bemängelt. Aber einer Frau, die man liebt, muß man doch sein ganzes Herz entgegenbringen. Mit ausgestreckten Händen hatte er es der schönen goldblonden Christa gereicht: Hier hast du mein Herz, es gehört dir, weil ich dich liebe! Und Christa hatte es genommen und ihm sofort das ihre dafür gegeben. Liebe auf den ersten Blick. Wundersam war alles gewesen, das selige Spiel der Liebe, das tägliche Wiedersehen in dem kleinen Garten, dem Julie wegen einer leichten Erkältung gerade in diesen Tagen ferngeblieben. Es war so herrlich gewesen, das Alleinsein mit der Geliebten.

Stefan Pilger sann: Was würde jetzt kommen? Wollte oder konnte ihn Christa nicht mehr aufsuchen, würde sie ihm Nachricht senden, oder sollte er ihr einen Brief schreiben?

Er grübelte: Am richtigsten wäre es wohl, sich zunächst einige Tage zu gedulden und abzuwarten.

Er erkannte, seine Schwester hatte natürlich recht, Christa mußte umgekehrt sein, Frau Merten und dem Mann mit dem Bulldoggengesicht war das nur entgangen. Es gab gar keine andere Erklärung.

Er versuchte sich damit zu trösten, Christa würde wahrscheinlich schon morgen kommen und ihm erzählen, was sie zu dem befremdenden Tun bewogen.

Er drückte das Gesicht fester in die Schalen seiner Hände. Liebe süße Christa, dachte er inbrünstig, und ihm war es, als ob sein Mund auf ihrem Mund ruhte. Wie eine Beruhigung, wie ein Glück empfand er die Einbildung ihrer Gegenwart.

Das Wetter tobte sich weiter aus, der Regen strömte unaufhörlich nieder, und Julie war in Angst um das Gärtchen, während ihr Bruder seinen Träumen nachhing. Christa war die erste große Liebe seines Lebens, plötzlich war sie in sein Leben getreten und hatte ihn verändert. Anders als vordem sah er jetzt sein Leben und seine Zukunft.

Wohl hatte er manchmal gedacht, einmal würde es in seinem Dasein eine Frau geben, die seinen Namen tragen und bei ihm bleiben sollte. Aber diese Frau war immer nur schemenhaft flüchtig aufgetaucht und wieder verschwunden, er hatte sich nicht die geringste Mühe gemacht, sich ein Bild von ihr auszumalen und es festzuhalten als Ideal. Das schien ihm unwichtig.

Als Christa ihm zum erstenmal gegenüberstand, wußte er jedoch, wie diese Frau aussehen mußte, da wußte er es mit beseligender Bestimmtheit.

Er hob den Kopf, er lächelte Christa zu, die er vor sich zu sehen glaubte.

Er lächelte sicher und zufrieden.

Was war denn Besonderes geschehen, daß er hier saß wie ein völlig Verzweifelter? Christas unterlassener Besuch würde bald seine Aufklärung finden, und sie sollte ihn dann gründlich auslachen, weil er sich den Kopf mit törichten Ahnungen von allerlei phantastischem Unheil wirr gemacht hatte.

Er erhob sich und ging durch sein Zimmer, betrachtete die Einrichtung mit nüchtern abschätzendem Blick. Ob es Christa hier gefallen würde? Er möchte gern die Einrichtung behalten, wenn Christa als seine Frau in diese Wohnung einziehen würde. Aber auf seinem Schreibtisch würde schon bald ein großes Bild von Christa Platz finden. Ihr Bild gehörte hierher.

Flüchtig streifte ihn der Gedanke an Julie. Er würde sich von ihr trennen müssen. Schade war das, es tat ihm schon jetzt leid, man hatte sich immer sehr gut verstanden. Irgendwo in der Nähe würde sie eine kleine hübsche Wohnung finden, und sie hatte schon erklärt, falls er sich einmal verheirate, irgend eine ihrem Können entsprechende Tätigkeit ergreifen zu wollen. Auch besaß sie die Hälfte des kleinen Vermögens, das die Eltern hinterlassen, er würde ihr seinen Teil dazu abtreten, denn er verdiente genug und konnte davon noch gut Ersparnisse machen.

Er vertiefte sich immer mehr in allerlei Zukunftsgedanken und merkte kaum, daß die Blitze einander in immer größeren Abständen folgten, daß der Donner entfernter klang, daß der Regen schon in ein behagliches Rieseln übergegangen war, und daß es draußen, und damit auch im Zimmer, heller geworden.

Julie öffnete die Tür und rief ihm zu: „Nun komm, alter Junge, ich habe Tee gemacht, vielleicht reizt der dich etwas mehr als es vorhin der Kaffee getan.“ Sie sah ihn an. „Gott sei Dank, du schaust ja wieder ganz vernünftig drein, du hast also eingesehen, morgen oder übermorgen wird sich das Rätsel um Christa Dörfel lösen. Schön, ich bin mit dir zufrieden. Doch jetzt komm, bitte, gleich, der heiße Tee wird uns beiden gut tun, denn ehrlich gestanden, ich friere vor Angst, was das Wetter in unserem Gärtchen für Unheil angerichtet haben könnte. Schade wäre das, es stand und blühte doch alles so wunderschön! Ich will mich gleich morgen früh überzeugen, wie es dem Gärtchen geht.“

Sie faßte den Bruder unter und zog ihn mit sich ins Wohnzimmer hinüber, das mit seinen modernen hellen Eichenmöbeln einfach, gediegen und freundlich aussah.

Beim Tee erzählte Stefan der Schwester, daß Christa ihrer Mutter nur sehr vorsichtig von ihrer Liebe sprechen dürfe, sie selbst wäre die Hauptkraft des mütterlichen Damenhutateliers, und die Mutter würde sehr darüber erschrecken, sie nun bald verlieren zu müssen. Sie beabsichtige aber, sie so bald wie möglich vorzubereiten, und erst dann dürfe er selbst zur Mutter kommen.

Er schloß: „Wenn mir Christa das nicht ziemlich eindringlich erklärt hätte, wäre ich vorhin sofort nach der Mainzer Landstraße gefahren, um dort wegen Christas Ausbleiben Nachfrage zu halten.“

Julie nickte. „Es ist ja begreiflich, daß die Mutter sie nur ungern fortgehen sieht, wenn die Tochter die Hauptkraft des Geschäftes ist, aber schließlich wird sie zu ersetzen sein.“

Sie dachte, diese ihr bisher noch unbekannt gebliebene Christa Dörfel schien ihre Arbeitskraft im Geschäft der Mutter selbst sehr hoch einzuschätzen, sie schien ein bißchen eingebildet zu sein.

Sie war irgendwie gegen das fremde Mädchen eingenommen — warum konnte sie sich selbst nicht recht erklären, aber es mußte wohl sein, weil Christa Dörfel der Anlaß war, daß ihr friedliches Zusammenleben mit dem Bruder in absehbarer Zeit zu Ende gehen würde.

3.

Der nächste Morgen brachte soviel Sonnenschein, daß der Nachmittag des vergangenen Tages nur noch ein toller Spuk schien.

Nachdem Stefan, da seine kurzen Ferien zu Ende, ins Büro gefahren war, suchte Julie ihren geliebten Garten auf, und war angenehm enttäuscht von dem, was sie sah. Sie hatte schlimmste Verwüstungen erwartet, aber das Wetter hatte kaum nennenswerten Schaden angerichtet. Julie empfand das als großes Glück und wirtschaftete ein wenig in der Wohnlaube herum, dachte dabei unwillkürlich wieder an Christa Dörfel, die man gestern hier vergebens erwartet.

Wenn sie den Bruder auch ausgelacht hatte, fand sie das Verhalten Christa Dörfels doch ziemlich merkwürdig, weil Christa Dörfel sich ein paar Minuten vor dem Ziel anders besonnen haben und umgekehrt sein mußte.

Eine Idee zuckte in ihr auf. Sie fand, es war eine gute Idee.

Sie selbst war Christa Dörfel unbekannt, vielleicht konnte sie sich die junge Dame einmal ansehen, ohne daß diese im geringsten ahnte, wer sie war. Wenn man irgendwo einen Hut kauft, braucht man sich doch nicht gleich vorzustellen. Und Julie Pilger wollte sich einen Hut kaufen.

Sie pflegte Ideen, die sie für gut und richtig hielt, meist ziemlich rasch in die Tat umzusetzen, und so eilte sie denn heim und kleidete sich um, überzeugte sich im Telefonbuch davon, wo sich das Damenhutatelier Dörfel befand und fuhr mit der Elektrischen bis zum Opernplatz. Von hier aus bog sie in die Mainzer Landstraße ein, suchte nach der im Telefonbuch angegebenen Nummer.

Eine im Garten liegende Villa trug die betreffende Hausnummer, und sie dachte ein bißchen bedauernd: Der Hut, den sie hier kaufen wollte, würde bedeutend teurer sein, als einer von denen, die man in einem Ladengeschäft kaufen konnte. Aber eigentlich brauchte sie gar keinen Hut, sie wollte doch nur versuchen, Christa Dörfel kennenzulernen.

Als Stefan am Spätnachmittag vom Büro heimkehrte, empfing ihn seine Schwester mit jener Miene, die er nur zu genau kannte. Wenn sie diese Miene aufsetzte, brannte sie darauf, ihm irgendeine Neuigkeit mitzuteilen. Aber sie tat das immer erst dann, wenn er gegessen hatte.

Er ahnte, es könne sich um Christa handeln und fragte: „Ist ein Brief für mich gekommen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Stefan, es ist gar nichts gekommen, aber wir wollen essen, ich verspüre einen Mordshunger.“

Er wußte, es wäre zwecklos, sie jetzt zum Sprechen bringen zu wollen, aber er aß heute ziemlich hastig, und wußte kaum, was er eigentlich aß, denn dessen glaubte er sicher zu sein, Julie hatte eine Mitteilung für ihn, die Christa Dörfel betraf.

Kaum hatte er seinen Nachtisch gegessen, erklärte er: „Ich möchte mich eigentlich gleich überzeugen, wie das Wetter unserem Garten bekommen ist.“

Sie nickte ihm zufrieden zu.

„Ausgezeichnet ist es ihm bekommen, ich habe mich schon heute früh davon überzeugt, und wegen deiner Christa brauchst du auch nicht hinzugehen, die kommt heute nicht, die erhält heute Nachmittag zwischen vier und sechs Kundenbesuch, der bei ihr eine besonders gute Nummer zu haben scheint.“

Er blickte sie fragend an. Mit der Erklärung wußte er wirklich nichts anzufangen.

Julie klingelte der Aufwartefrau, die rasch und gewandt abräumte, und dann machte sie es sich in einem Sessel bequem, bat: „Setz dich nur auch wieder, Brüderchen, ich habe dir nämlich einiges über deine Christa zu erzählen, worüber du wohl ein bißchen staunen dürftest.“

Er bat: „Sprich ohne Vorrede und quäle mich mich nicht länger unnötig, ich sehe dirs ja an, daß du mir etwas ganz Besonderes vorsetzen willst.“

Sie lächelte beruhigend. „Es ist schließlich nichts Schlechtes, Stefan, was ich dir mitteilen will, aber ich sehe Christa Dörfel jetzt in einem völlig anderen Licht, und nicht mehr so, wie ich sie sehen mußte nach dem, was ich von dir über sie gehört und was du von ihr selbst hast. Also setze dich, eher fange ich nicht an.“

Er ließ sich mit lautem Seufzer in einen Stuhl fallen und verriet seine Ungeduld durch nervöse Handbewegungen. Er fuhr über sein Haar und zupfte an seinem Rock und Schlips herum.

Julie begann: „Mir hat die Geschichte von gestern keine rechte Ruhe gelassen, und heute früh im Garten entschloß ich mich, als Kundin getarnt, die Putzmacherin Dörfel aufzusuchen, ich hoffte, auf diese Weise sie selbst oder noch besser ihre Tochter Christa kennenzulernen. Ich halte nun einmal sehr viel von dem ersten Eindruck, den ein fremder Mensch auf mich macht.“

Er fragte ungeduldig: „Und hast du sie kennengelernt?“

Sie nickte: „Ja, die Tochter, also deine Christa, habe ich kennengelernt und ich will, damit du nicht zu lange zu zappeln brauchst, gleich vorweg erklären, sie scheint eine liebe und angenehme Person zu sein.“

Ein Seufzer der Erleichterung ward hörbar und Stefans Züge entspannten sich. Er hielt viel von der Menschenkenntnis seiner Schwester.

Er bekannte ihr offen: „Im ersten Augenblick sagte mir deine Idee, Christa auf solche Weise kennenzulernen, wenig zu, sie ähnelt dem Ausspionieren, aber wiederum kann ich dich verstehen, du wolltest dich überzeugen, was an dem Mädel dran ist.“

Er freute sich, daß Julie so anerkennend von Christa gesprochen.

Julie lächelte ein bischen hinterhältig und wiederholte: „Sie scheint eine liebe und angenehme Person zu sein. Ihr Äußeres gefällt mir sogar sehr, das Haar ist geradezu wundervoll, vom köstlichsten seltensten Goldblond, und die braunen Augen — na ja, damit kann sie leicht einen Mann tüchtig einheizen, aber im übrigen —“

Sie unterbrach sich: „Davon später, jetzt will ich lieber der Reihe nach erzählen. Das Haus, in dem sich das Geschäft befindet, ist ein feines Mietshaus, in dem aber nur drei Parteien wohnen, und das den Charakter einer Privatvilla trägt. Am Portal befindet sich ein Messingschild, auf dem nur der Name Christa Dörfel und darunter die Worte: ‚Damenhüte und Modezeichnungen‘ stehen. Eine Pförtnersfrau säuberte gerade die Haustür, und ich ging zum ersten Stock hinauf, klingelte bei Christa Dörfel.“