Ich war das Mädchen aus Auschwitz - Tova Friedman - E-Book
SONDERANGEBOT

Ich war das Mädchen aus Auschwitz E-Book

Tova Friedman

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das bewegende Schicksal einer der letzten Holocaustüberlebenden, die dem Schrecken als Sechsjährige dank der Liebe ihrer Mutter entkam - mit zahlreichen Abbildungen

»Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.«

Tova Friedman ist gerade einmal vier Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter in ein Konzentrationslager deportiert wird, mit sechs kommt sie nach Auschwitz-Birkenau. Was sie dort erlebt, wird sie ein Leben lang prägen: Unsagbares Leid, aber auch unerschütterliche Hoffnung und eine Liebe, deren Kraft Unvorstellbares leistet. Als eine der Wenigsten weiß sie, was es heißt, eine Gaskammer von innen gesehen zu haben und heute darüber berichten zu können. Was es bedeutet, sich zwischen den Toten zu verstecken, um selbst zu überleben. So erschreckend wie berührend und inspirierend erzählt sie davon, wie sie als Kind den Krieg erlebt, ihre Eltern nach dessen Ende wiederfindet und ihr Leben seither dem Kampf gegen das Vergessen widmet. Heute gehört Tova Friedman zu den engagiertesten Stimmen der Überlebenden und klärt nachfolgende Generationen über die Schrecken des Krieges auf - so auch auf TikTok, wo sie mit ihren Videos schnell zur viralen Sensation wurde.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 414

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das bewegende Schicksal einer der letzten Holocaust-Überlebenden, die dem Schrecken als Sechsjährige dank der Liebe ihrer Mutter entkam – mit zahlreichen Abbildungen

»Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.«

Tova Friedman ist gerade einmal vier Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter in ein Konzentrationslager deportiert wird, mit sechs kommt sie nach Auschwitz-Birkenau. Was sie dort erlebt, wird sie ein Leben lang prägen: Unsagbares Leid, aber auch unerschütterliche Hoffnung und eine Liebe, deren Kraft Unvorstellbares leistet. Als eine der wenigsten weiß sie, was es heißt, eine Gaskammer von innen gesehen zu haben und heute darüber berichten zu können. Was es bedeutet, sich zwischen den Toten zu verstecken, um selbst zu überleben. So erschreckend wie berührend und inspirierend erzählt sie davon, wie sie als Kind den Krieg erlebt, ihre Eltern nach dessen Ende wiederfindet und ihr Leben seither dem Kampf gegen das Vergessen widmet.

Tova Friedman, geboren 1938, gehörte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu den 50 000 jüdischen Kindern der polnischen Stadt Tomaszów Mazowiecki. Nach Ende des Krieges, während dessen sie mit ihrer Mutter nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, war sie eine der fünf Überlebenden unter diesen Kindern. Über ihre Erfahrungen im Krieg und im Lager spricht Tova Friedman regelmäßig, so etwa neben Frank-Walter Steinmeier, Polens Staatspräsident Andrzej Duda und Israels Präsident Reuven Rivlin bei der Gedenkveranstaltung des World Jewish Congress zum 75. Jahrestag der Befreiung, und sie gehört heute zu den engagiertesten Stimmen gegen das Vergessen. Tova Friedman ist Psychotherapeutin und lebt in New Jersey.

www.penguin-verlag.de

Tova Friedman

und Malcolm Brabant

ICH WAR DAS MÄDCHEN AUS AUSCHWITZ

Eine der letzten Überlebenden des Holocaust erzählt ihre Geschichte

Aus dem Englischen von Ulrike Strerath-Bolz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel The Daughter of Auschwitz

bei Quercus Publishing.

Copyright © der Originalausgabe Tova Friedman with Malcolm Brabant 2022

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Margret Trebbe-Plath

Covergestaltung: Favoritbuero, München, nach einem Entwurf von Steve Mulcahey, www.mulcaheydesign.com

Coverabbildungen: © Tova Friedman; © Arcangel; © Getty Images; © Shutterstock

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-30026-5V002

www.penguin-verlag.de

Dieses Buch ist meinen wunderbaren Eltern Reizel und Machel gewidmet, die uns alle gerettet haben. Und meinen Kindern und Enkelkindern, die sich immer erinnern werden.

Inhalt

Prolog

1. Renn um dein Leben

2. Jenseits des Tischtuchs

3. Und dann holten sie mich

4. Der Daumen des Caligula

5. Auf dem Friedhof

6. Der Block

7. Lebendig begraben

8. Das Lager des gelben Todes

9. In den Abgrund

10. Leb wohl, Papa

11. Niemals weinen

12. Allein

13. Der längste Weg

14. Die Rettung

15. Endlich frei

16. Die Begrüßung

17. Schlafwandeln in Berlin

18. New York, New York

19. Übergänge

20. Postkarten von Mama

21. Israel

22. Wir erinnern uns

Dank von Tova Friedman

Dank von Malcom Brabant

Bildteil

Einmal, als ich von einem Vormittag mit Tova wegfuhr, kamen mir die Schlussworte von Shakespeares König Lear in den Sinn:

Dem Ältsten war das schwerste Los gegeben,

Wir Jüngern werden nie so viel erleben.

Ich bin sicher, Elie Wiesel würde uns gestatten, diesen Satz zu verwenden, wenn wir von Tova Friedman als einer Heldin der Wahrheit und des Gedenkens sprechen.

Sir Ben Kingsley, Februar 2022

Prolog

Mein Name ist Tova Friedman. Ich bin eine der jüngsten Überlebenden des Nazi-Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Einen Großteil meines Erwachsenenlebens habe ich öffentlich über den Holocaust gesprochen, um dafür zu sorgen, dass die Menschen nie vergessen.

Geboren wurde ich als Tola Grossman in Gdynia, Polen, im Jahr 1938, also ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nachdem ich alle Versuche der Nazis, das jüdische Volk auszulöschen, überlebt hatte, zog ich nach Amerika, heiratete Maier Friedman und nannte mich später Tova.

Wie oft auch immer ich und die wenigen noch existierenden Überlebenden unsere Geschichte erzählen, die Menschen vergessen. Ich war entsetzt über das Ausmaß an Ignoranz, das eine im September 2020 veröffentlichte Umfrage unter jungen Amerikanerinnen und Amerikanern zutage brachte. Die Studie war von der Conference on Jewish Material Claims Against Germany durchgeführt worden. Zwei Drittel der Befragten hatten keine Ahnung, wie viele Juden im Holocaust starben. Fast die Hälfte konnte kein einziges Konzentrationslager oder Ghetto benennen. Dreiundzwanzig Prozent glaubten, der Holocaust sei ein Mythos oder die Berichte darüber seien übertrieben. Siebzehn Prozent hielten es für akzeptabel, Neonaziansichten zu vertreten.

Eine ähnliche Untersuchung, die 2018 in Europa durchgeführt wurde, zeigte, dass ein Drittel der Europäerinnen und Europäer kaum etwas über den Holocaust wusste oder sogar noch nie davon gehört hatte. Und 20 Prozent vertraten die Ansicht, Juden hätten zu viel Einfluss auf die Wirtschaft und das Finanzwesen.

Diese erstaunlichen und beunruhigenden Zahlen zeigen vor allem eines: Antisemitismus und Hass auf Juden sind sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in ganz Europa wieder auf dem Vormarsch. Für mich ist es ganz unglaublich, dass nach allem, was wir in den Ghettos und Vernichtungslagern während des Zweiten Weltkriegs erlitten haben, die gefährliche, heimtückische Haltung der 1920er- und 30er-Jahre wieder Auftrieb bekommt. Der Holocaust, das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte, liegt noch nicht einmal achtzig Jahre zurück, und schon verblasst die Erinnerung daran? Das ist einfach entsetzlich.

Ich bin jetzt dreiundachtzig Jahre alt, und mit diesem Buch versuche ich, das, was passiert ist, unsterblich zu machen. Damit diejenigen, die gestorben sind, nicht vergessen werden. Und damit auch die Methoden nicht in Vergessenheit geraten, die angewandt wurden, um diese Menschen auszulöschen.

Viele fragen sich, ob die Welt, in der wir heute leben, dem Europa der 1930er-Jahre ähnelt, in dem Nationalsozialismus und Faschismus im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs ihren Aufstieg erlebten. Zu jener Zeit war Antisemitismus offizielle Staatsdoktrin in dem Deutschland, das von Adolf Hitler regiert wurde. Tatsächlich gibt es auf der ganzen Welt heute keine Regierung, die eine solche Doktrin gesetzlich festgeschrieben hat, und auch in der Bevölkerung findet sich dafür keine Mehrheit. Doch wir alle kennen Länder, in denen Diskriminierung stattfindet und vielleicht sogar toleriert wird.

Hass ist heute eines der am schnellsten wachsenden Phänomene. Hass jeder Art, vor allem gegen Minderheiten. Wo auch immer in der Welt Sie sich befinden, ich flehe Sie an: Wiederholen Sie nicht die Geschichte, die ich durchleiden musste.

Denken Sie daran, dass der Holocaust keine zwanzig Jahre nach dem Verfassen von Adolf Hitlers Mein Kampf begann. In diesem Buch hatte Hitler seinen Masterplan für die Vernichtung der Juden dargelegt. Im Zeitalter des rasend schnellen Internets vollziehen sich Veränderungen viel rascher als damals vor achtzig Jahren. Wir müssen stets wachsam bleiben und den Mut haben, unsere Stimme zu erheben.

Als wir die letzten Feinarbeiten an diesem Buch vornahmen, befahl Präsident Wladimir Putin seinen russischen Truppen, in das Nachbarland Ukraine einzumarschieren, und brachte damit den Frieden in der Welt ernsthaft in Gefahr. Die Bilder waren mir so vertraut! Entsetzte Kinder und Erwachsene, Zerstörung von Häusern und Familien, Kriegsverbrechen, Millionen von Flüchtlingen, Hunger, Bunker und Massengräber. Ich kann nur hoffen, dass uns nach fast acht Jahrzehnten des Nachdenkens über die Unmenschlichkeit von Menschen im Holocaust die Ukraine daran erinnert, wie wichtig es ist, denen zu helfen, die von den Verwüstungen des Krieges betroffen sind.

Wenn Sie jetzt weiterlesen, möchte ich, dass Sie schmecken, fühlen und riechen, wie es war, als Kind während des Holocaust zu leben. Ich möchte, dass Sie in meinen Schuhen gehen und in den Fußstapfen meiner Familie laufen, auch wenn wir in den schlimmsten Zeiten gar keine Schuhe hatten. Ich möchte, dass Sie die Schwierigkeiten verstehen, mit denen wir konfrontiert waren, ebenso wie die unmöglichen Entscheidungen, die wir treffen mussten. Ich hoffe, Sie werden wütend. Denn wenn Sie wütend sind, besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihre Empörung mit anderen teilen, und das erhöht wiederum die Chancen, einen weiteren Völkermord zu verhindern.

Ich komme aus einer langen Tradition mündlicher Überlieferung. Daher sehe ich mich auch eher als Rednerin und Geschichtenerzählerin, weniger als Schriftstellerin. Deshalb hat mir mein Freund Malcolm Brabant geholfen. Er versteht sich auf Worte und Bilder.

Wir lernten uns im Januar 2020 in Polen kennen, als die Welt des fünfundsiebzigsten Jahrestags der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 gedachte. Malcolm ist Kriegsreporter. Er war in den 1990er-Jahren Zeuge ethnischer Säuberungen in Bosnien-Herzegowina. Er kennt den Gestank des Völkermords. Ein paarmal ist er selbst nur mit knapper Not davongekommen und hat schmerzhafte Erfahrungen gemacht, die sich von meinen unterscheiden. Doch wir sind beide Überlebende, er und ich, das haben wir gemeinsam.

Malcolm ist tief in die Geschichte der Nazibesatzung in Polen eingetaucht, um meine Kindheit in den richtigen Kontext zu stellen. Während wir zusammen daran arbeiteten, die Geräusche, Gerüche und Geschmäcker des Holocaust wiederzubeleben, stellte ich fest, dass verschüttete Erinnerungen zurückkamen. Manchmal raubten mir diese Erinnerungen nächtelang den Schlaf. Alles, was mir und den Menschen um mich herum passiert ist, wurde irgendwo in den Tiefen meines Unterbewusstseins begraben. Als geübte Therapeutin muss ich akzeptieren, dass Alter und Zeit meine schlimmsten Erinnerungen möglicherweise verschleiert haben. Das menschliche Gehirn und der menschliche Körper sind außergewöhnliche Instrumente. Sie haben Überlebensmechanismen, die wir vielleicht nie vollständig verstehen werden. Es ist also durchaus denkbar, dass die Details meiner Geschichte nicht immer genau mit anderen Berichten über den Holocaust übereinstimmen. Nach dem Krieg hat meine Mutter ständig mit mir über das Erlebte gesprochen, damit ich es nicht vergaß. Die Gespräche, die ich in diesem Buch wiedergebe, mögen nicht genau in diesem Wortlaut stattgefunden haben, Inhalt, Ton und Charakter jedoch spiegeln auf ehrliche Weise das, was damals gesagt wurde. Wir alle haben unterschiedliche Erinnerungen und Versionen der Wahrheit. Dies hier ist meine Wahrheit.

Ich glaube nicht, dass ich an dem leide, was Psychiater als Survivor’s Syndrome bezeichnen, dem Überlebensschuld-Syndrom. Menschen, die diesen Zustand erfahren, bestrafen sich selbst dafür, dass sie überlebt haben, selbst wenn sie sich nichts zuschulden kommen ließen. Ich glaube nicht, dass die sechs Millionen Juden, die im Holocaust gestorben sind, sich wünschen würden, dass ich mich schuldig fühle. Stattdessen habe ich mich dazu entschlossen, einen neuen Begriff einzuführen: Survivor’s growth – Überlebenswachstum. Das heißt, ich nutze meine Erfahrungen aktiv, um ein sinnvolles Leben aufzubauen, auch zu Ehren jener, die im Holocaust gestorben sind. Indem ich mich und andere an sie erinnere.

Ich habe den Schmerz in etwas verwandelt, das ich »Hitlers Plan rückgängig machen« nenne. Er wollte unseren Glauben ausmerzen, indem er unsere Kinder ermordete. Ich jedoch habe den größten Teil meines Erwachsenenlebens damit zugebracht, das Gegenteil zu tun und dafür zu sorgen, dass meine Familie von unserer Kultur durchdrungen ist. Meine acht Enkelkinder zeugen von unserer Kontinuität.

In diesem Buch spreche ich vom Holocaust, auch wenn der hebräische Begriff für Katastrophe, Untergang oder Zerstörung – Shoah – die einzigartige jüdische Tragödie eigentlich präziser umschreibt.

Auschwitz ist Teil meiner DNA. Fast alles, was ich in meinem Leben nach dem Krieg getan habe, jede meiner Entscheidungen war und ist durch meine Erfahrungen während des Holocaust geprägt.

Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die von den Nazis ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.

Tova Friedman, Highland Park, New Jersey, April 2022

1

Renn um dein Leben

Auschwitz II, bekannt als Vernichtungslager Birkenau, deutsch besetztes Südpolen, 25. Januar 1945

Sechs Jahre alt

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Keines der anderen Kinder in meiner Baracke wusste, was zu tun war. Der Lärm draußen war erschreckend. So etwas hatte ich noch nie gehört. So viel Schießen. Gewehrsalven und einzelne Schüsse. Eine Pistole und ein Gewehr machen unterschiedliche Geräusche. Ich hatte beides aus nächster Nähe erlebt. Gewehre krachten, Pistolen knallten. Das Ergebnis war das Gleiche: Menschen fielen zu Boden und bluteten. Manchmal schrien sie auf, manchmal ging es zu schnell, als dass sie noch ein Geräusch hätten machen können. Zum Beispiel, wenn man ihnen in den Hinterkopf oder Nacken schoss. Bei anderen Gelegenheiten schüttelten sie sich nur, krächzten und gurgelten. Das war das Schlimmste. Das Gurgeln. Meine Ohren hassten dieses Geräusch. Ich wollte, dass das Gurgeln aufhörte. Um ihretwillen und um meinetwillen.

Irgendwo außerhalb der Baracke gab es ein Krachen und Knallen und Ratatata, Ratatata Tata. Die schnellen Geräusche kamen von den Maschinengewehren. Auch sie hatte ich schon in Aktion erlebt. Ich wusste, welchen Schaden sie anrichteten, sie machten mir große Angst.

Die Glasscheiben klirrten in den Fensterrahmen, die sich über die gesamte Länge der Wand erstreckten, etwa drei bis viereinhalb Meter über meinem Kopf im Dachstuhl. Normalerweise klapperten die Scheiben vom Wind. Doch das hier war anders. Es war wie ein Sturm ohne Blitz. Klang wie ein Donnergrollen in der Ferne. Obwohl die Holzwände den Lärm draußen dämpften, schien es, als würden die Menschen in allen Baracken gleichzeitig stöhnen oder schreien. Alle Hunde im Lager knurrten und bellten, noch bösartiger als sonst. Diese Hunde! Diese Angst einflößenden, bösen Hunde!

Ich hörte die deutschen Wachen lauthals schreien. Ich verabscheute ihre kehlige Sprache. Wenn die Deutschen auch nur den Mund aufmachten, hatte ich schon Angst.

Ich hatte nie jemanden leise auf Deutsch sprechen gehört. Immer klang es grob und fremd, und fast immer war es mit Gewalt verbunden. So viele Worte, die sich im hinteren Teil der Kehle bildeten, hervorbrachen, knurrend und spuckend und zischend. Wie der elektrisch geladene Stacheldrahtzaun, hinter dem wir eingesperrt waren. Manchmal tötete dieser Zaun mit Stromschlägen einen Juden, der den Tod zu seinen eigenen Bedingungen suchte, nicht in der von den Nazis diktierten Weise. Doch viele Häftlinge wurden erschossen, bevor sie den Zaun erreichten.

An diesem Tag klangen die deutschen Stimmen wütender als sonst. Hörte sich so das Ende der Welt an? Der Krieg war näher als je zuvor. Auf einmal war es ein Krieg mit Soldaten, die sich gegenseitig bekämpften. Nicht mehr der Krieg, den ich erlebt hatte, in dem wohlgenährte Grobiane in grauen und schwarzen Uniformen hungernde Frauen und ältere Menschen zu Boden trampelten und ihnen in den Rücken oder den Kopf schossen. In dem Kinder in Gaskammern geschickt wurden und in winzigen, rußigen Flocken aus Schornsteinen flogen.

Ich wusste nicht, woher die Anspannung kam, die durch die groben Bretterwände sickerte. Ich blickte hinauf zur Reihe der Fenster. Von unten waren es schmale Schlitze. Der Himmel sah seltsam aus. Natürlich war es dunkel, es war ja tiefer Winter. Aber es schien noch dunkler als gewöhnlich. War da Rauch in der Luft? Fielen da Flocken zu Boden? Aber es waren nicht die üblichen Rußpartikel, sie schienen größer zu sein als sonst. Brannte es da draußen? Kamen die Flammen näher? Ein Funke würde genügen, und unsere Baracke würde zum Scheiterhaufen werden. Mein leerer Magen krampfte sich zusammen. Ich fühlte mich noch mehr eingesperrt als ohnehin schon.

Ich tat, was ich immer tat, wenn ich Trost brauchte: Ich kletterte auf die Wand aus roten Ziegelsteinen, die sich etwa 60 Zentimeter hoch über die gesamte Länge der Baracke erstreckte. Das Mäuerchen trennte die Reihen dreistöckiger Betten auf beiden Seiten voneinander. Die Ziegel speicherten die Wärme aus dem Ofen, der in der Mitte der Baracke stand. Selbst wenn das Feuer erloschen war, spendeten sie noch ein bisschen Wärme. Ich saß da und bewegte meine Zehen auf den Steinen, um ein Maximum an Behaglichkeit herauszuholen.

In meiner Baracke waren so viele Kinder, dass ich sie gar nicht zählen konnte. Vierzig, fünfzig, vielleicht sechzig. Die ältesten waren schon fast Teenager. Ich gehörte zu den jüngsten und kleinsten. Wir hatten alle verschmierte, schmutzige Gesichter und eingesunkene Augen mit dunklen Ringen darunter, weil wir nie genug Schlaf oder Essen bekamen. Die meisten von uns waren in Lumpen oder gestreifte Pyjamas gekleidet, die um die Knochen schlotterten. Einige Kinder trugen gestreifte Häftlingskleidung.

Niemand von uns wusste, was da draußen los war. An diesem Morgen hatte es keinen Appell gegeben. Plötzlich juckten die Zahlen auf meinem linken Unterarm. Zum ersten Mal, seit sie in mein Fleisch geschnitten worden waren, spielten sie keine Rolle. A-27 633 – die Identität, die mir die Nazis aufgezwungen hatten. An diesem Tag hatte ich nicht gehört, dass sie aufgerufen worden wären. Unsere Routine war unterbrochen. Hier war definitiv etwas Seltsames im Gange.

Man hatte uns auch nichts zu essen gebracht, wir waren hungrig. Normalerweise hätten wir uns für eine Kruste trockenes Brot und eine Schüssel mit lauwarmem Brei aufstellen sollen, der, wenn wir Glück hatten, Spuren von nicht identifizierbarem Gemüse enthielt. Der Hunger wühlte in unseren Eingeweiden.

Wie lange warteten wir schon? Ich hatte keine Möglichkeit, die Zeit zu messen, außer zu beobachten, wie das Tageslicht die Schatten in der Baracke hob und wie sie irgendwann zurückkehrten. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Sonne, wo auch immer sie sich befinden mochte, wieder so weit sank, dass es in der Baracke stockfinster wurde.

Ein Husten, Schniefen und Wimmern ging durch unsere Stockbetten. Trotz der eisigen Temperaturen stank es nach uringetränkten Decken und den Exkrementen in den überlaufenden Nachttöpfen. Einige Kinder wimmerten oder versuchten, die Tränen zu unterdrücken. Weinen war ansteckend. Es machte uns alle unglücklich. Wenn man zu weinen begann, fühlte man sich noch trauriger als sonst. Man fing an, darüber nachzudenken, wie schrecklich das Leben war, und dann konnte man nicht mehr aufhören. Ich machte da nicht mit. Ich habe nie geweint. Wenn mich das Schluchzen überkam, biss ich die Zähne zusammen und erhob mich darüber.

Mama hatte mich gelehrt, niemals zu weinen, egal, wie ängstlich oder schwach ich mich fühlte. Ich war noch ein Kind, aber ich kann mit Stolz sagen, dass ich einen starken Willen besaß.

»Wo ist die Blockälteste hin?«

»Ich hab sie heute noch nicht gesehen.«

»Ich hab sie schon seit gestern nicht mehr gesehen.«

»Sie ist nicht hier. Lasst uns nach draußen gehen.«

»Nein, wir dürfen nicht nach draußen!«

»Wenn sie uns erwischt, wird sie uns schlagen, und sie wird es den Deutschen sagen.«

Die Blockälteste war die verantwortliche Frau, die die Befehle der Deutschen ausführte. Sie war Jüdin, genau wie wir. Die Deutschen belohnten sie mit zusätzlichem Essen und einem eigenen Raum. Sie hatte einen ziemlichen Appetit. Mir kam sie stämmig vor, aber für Kinder sind ja alle Erwachsenen groß. Als Gegenleistung, weil sie die Drecksarbeit für die Nazis erledigte, konnte sich die Blockälteste ausstrecken und in Ruhe schlafen, ohne dass ihr jemand die Decke klaute oder ihr die Knie oder Ellbogen in den Rücken rammte.

Obwohl die Blockälteste uns Angst machte, um uns zu kontrollieren, verschaffte uns ihre Anwesenheit ein Gefühl von »Ordnung muss sein«, wie die Deutschen nicht müde wurden zu sagen. Natürlich hatte ich Angst vor der Frau. Aber ohne sie herrschte Chaos. Und was am schlimmsten war: Ohne sie gab es kein Essen.

Normalerweise waren alle Baracken verriegelt und verrammelt. Wann auch immer die Blockälteste verschwunden war: Sie hatte es so eilig gehabt, dass sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, uns zu zählen oder die Tür abzuschließen. Ich war versucht, mich nach draußen zu schleichen, aber der Lärm war zu beängstigend. Keines der Kinder wagte es, die Schwelle zu überschreiten. Es war, als würde uns ein Kraftfeld zurückhalten. Wir waren darauf konditioniert, Befehlen zu gehorchen, und konnten uns ohne sie nicht bewegen.

Plötzlich öffnete sich die Tür. Wir zuckten alle zusammen.

Eine Frau kam herein. Eine Frau, die ich nicht kannte. Sie sah schrecklich aus. Ihre Gesichtszüge waren durch Unterernährung verzerrt, ihr Gesicht kaum mehr als ein Schädel, über dem sich die pergamentdünne Haut spannte. Ihre Augen hatten sich in die Höhlen zurückgezogen. Aber ihr Körper war aufgedunsen. So etwas machte der Hunger mit den Menschen, er ließ ihr Fleisch anschwellen. Büschel dunkelbrauner Haare sprossen unter einem Stück Stoff hervor, das in einem vergeblichen Versuch, etwas Wärme zu behalten, zu einem Kopftuch gebunden worden war.

Die Frau sah mich an. »Tola!«, rief sie. »Da bist du ja, mein Kind!«

Erleichterung huschte über ihr Gesicht. Ihre straffen Wangenmuskeln entspannten sich, und ihre Augen funkelten. Die Stimme war schwach, aber vertraut, ebenso wie die traurigen grünen Augen und das leichte Lächeln. Ich erhob mich verwirrt von den Ziegelsteinen. Sie sah eher aus wie eine Vogelscheuche als wie ein Mensch. Sie klang wie meine Mama, aber war sie es auch wirklich?

Und was machte sie in meiner Baracke? Sie gehörte doch in den Frauenblock! Man hatte uns vor fünf Monaten getrennt, im Hochsommer, nachdem ich krank geworden war. Ich hatte ihre Stimme in meiner Nähe gehört, als wir zur Gaskammer gingen, und noch einmal, als wir wieder von dort weggingen. Doch gesehen hatte ich sie nicht. Tatsächlich hatte ich Mamas Gesicht so lange nicht gesehen, dass ich vergessen hatte, wie sie aussah. Ich hatte mich daran gewöhnt, keine Mutter und keinen Vater zu haben. Ich hatte vergessen, dass es Menschen auf dieser Erde gab, die zu mir gehörten. Ich hatte geglaubt, ich sei ganz allein. Doch vielleicht stimmte das ja gar nicht? Ich war verwirrt.

Die Frau bemerkte mein Zögern. »Tola, ich bin es, Mama«, sagte sie mit einem noch strahlenderen Lächeln.

Unglaublich.

Ist das wirklich meine Mama?, fragte ich mich.

Ich sprang von den Ziegelsteinen herunter und rannte auf sie zu. Ich fühlte, wie sich ein Lächeln von einem Ohr zum anderen über mein ganzes Gesicht ausbreitete. Es war das erste wirkliche Glück, das ich seit Monaten erlebte.

Sie ging in die Hocke, nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mir direkt in die Augen. Dann schloss sie mich in die Arme und küsste mich. Ich erwiderte die Umarmung, so fest ich konnte. Sie roch nach meiner Mama. Sie war wirklich meine schöne Mama. Häftling Nummer A-27 791. Meine Mama.

»Hör mir zu, Tola. Die Aufseher treiben Menschen zusammen, damit sie nach Deutschland laufen. Den ganzen Weg nach Deutschland, Hunderte von Kilometern weit«, sagte Mama. »Schau mich an. Ich werde erschossen. Ich werde sterben. Ich kann nicht laufen. Schau auf meine Füße.« Mama zeigte nach unten.

Sie trug keine Schuhe. Ihre Füße waren in Lumpen gehüllt, sie sahen aus, als wären sie in aller Eile bandagiert worden. Die Unterseite war verklebt, Feuchtigkeit sickerte nach oben. Mamas Waden und Knöchel waren von der Kälte rot gescheuert und geschwollen, ein sicheres Zeichen von Hunger. Diesen Zustand kannte ich, das Lager war ja voller Vogelscheuchen und Skelette.

»Du könntest es vielleicht schaffen. Du könntest den Marsch überleben. Aber das hier ist keine Welt für Kinder. Ich möchte nicht, dass du allein überlebst. Lass uns also versuchen, uns zu verstecken. Mit etwas Glück werden wir zusammen überleben. Und wenn wir sterben, sterben wir zusammen. Kommst du mit mir?«

»Ja, Mama. Ja, ich komme mit«, antwortete ich.

Seit meiner Geburt hatte ich in einer Welt gelebt, in der jüdisch zu sein bedeutete, dass man zum Sterben bestimmt war. Es war völlig normal, zum Sterben abkommandiert zu werden. Alle jüdischen Kinder starben. Und ich hatte immer das getan, was Mama gesagt hatte. Mama hatte mir immer die Wahrheit gesagt. Ich vertraute Mama. Niemandem sonst. Mama sagte mir die Wahrheit, weil das Wissen um die Wahrheit mein Leben retten konnte. Das hatte Mama gesagt, immer wieder. Im Ghetto. Im Arbeitslager. Im Viehwaggon. Und bevor wir im Konzentrationslager getrennt wurden.

Obwohl Mama davon gesprochen hatte, dass wir zusammen sterben könnten, machte sie mir Mut, indem sie sagte, wir hätten eine Chance zu überleben, wenn ich ihren Anweisungen folgte. Sie sagte mir die Wahrheit, wie immer. Andere Eltern hätten unter solchen Umständen vielleicht versucht, die Wahrheit zu vertuschen. Doch so etwas tat meine Mama nicht. Sie glaubte, dass Wissen Macht war und mir das Leben retten könnte.

Monatelang war ich allein gewesen. Es hatte niemanden gegeben, der mich beschützt hätte. Ich dachte die ganze Zeit, ich würde allein sterben, was auch immer das bedeuten mochte: sterben. Aber jetzt hatte ich jemanden, der sich um mich kümmerte. Ich würde tun, was Mama verlangte. Eine Welle der Erleichterung überflutete mich, als mir klar wurde, dass ich nicht mehr allein war.

Mama sagte nichts. Sie nahm mich an der Hand und führte mich aus dem Barackenblock. Der Geruch von Feuer schlug uns entgegen. Das Geräusch von knisterndem Holz. Spucken. War das ein riesiges Kaminfeuer? Mehr als alles in der Welt wünschte ich mir Wärme, um meinen Körper aufzutauen. Doch Mama drückte meine Hand ganz fest, und ich vergaß die Kälte. Der Himmel war voller Rauch. Das Feuer war nicht weit weg, es war laut und machte mich nervös. Doch der Geruch hatte sich mit anderen Gerüchen vermischt. Etwas Öliges, so wie das schwarze Zeug, das sie auf Straßen und Dächer aufbrachten. Und da war noch etwas. Der faulige Gestank von brennendem Müll. Tonnenweise Müll.

Mamas Kopf ruckte nach links und rechts und wieder zurück, sie lauerte auf Gefahr. Hand in Hand liefen wir schweigend und zügig durch den Schnee. Sie schien zu wissen, wohin sie ging. Ich wusste, ich musste so still wie möglich sein. Wenn du Lärm machst, könntest du getötet werden. Mama musste nichts sagen. Ihre Dringlichkeit ging mir bis ins Mark. Ich fühlte mich nicht mehr hungrig. Ich war wie elektrisiert von dem Abenteuer, das wir erlebten. Mamas Liebe gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Die Lumpen an ihren Füßen wurden bei jedem Schritt zusammengequetscht. Ich spürte nicht, wie der Schnee durch meine dünnen Schnürschuhe sickerte. Strümpfe hatte ich keine. Ich fühlte nur die Wärme von Mamas Hand und ihre Liebe, die durch mein ganzes Sein strömte.

Gleichzeitig traute ich meinen Augen kaum. Zum ersten Mal überhaupt waren da keine SS oder ihre deutschen Handlanger mehr, die uns den Weg versperrten. Durch die Lücken zwischen den Gebäuden erhaschte ich einen Blick auf Soldaten in grauen Uniformen, die weit von uns entfernt Gefangene zusammentrieben, um sie auf den Marsch nach Deutschland vorzubereiten. Die Nazis schienen zu fluchen und Befehle zu brüllen.

Ich war fast genau ein Jahr älter als der Krieg. Freiheit hatte ich nie kennengelernt. Mein Überleben hing von meiner Fähigkeit ab, die Stimmung meiner Peiniger abzuschätzen. Ich wusste, dass die Deutschen bei all ihrer Brutalität normalerweise geradezu erschreckend ruhig waren. An jenem Morgen jedoch grenzte ihr Verhalten an Hysterie. Sie schossen ohne Zögern auf die Elenden, die zu langsam waren, um zu gehorchen.

Ich zuckte angesichts des Mordens nicht einmal zusammen. Ich hatte gewaltsames Sterben miterlebt, solange ich mich erinnern konnte. Ich hatte gelernt, meine Emotionen zu unterdrücken. Was mir Angst machte, waren die Deutschen Schäferhunde und ihre wilden, geifernden Mäuler. Diese schrecklichen Hunde, die sich in die Leinen der Hundeführer warfen, waren größer als ich. Als Mama und ich im Sommer auf dem Bahnsteig angekommen und aus dem Viehwaggon geklettert waren, hatte ich gesehen, wie die Hunde hinter Leuten herliefen. Sie jagten sie entlang der Bahngleise in Richtung der Schornsteine und des Rauchs.

Ich hatte den SS-Leuten nie in die Augen geblickt. Unter dem Dach der Schutzstaffel, Hitlers Elitetruppe, versammelten sich die fanatischsten Nazis. Ich hatte es geschafft, ihrer Wut mehr als ein halbes Jahr lang zu entgehen. Mama war mir eine gute Lehrmeisterin gewesen. »Wenn du an einem Deutschen vorbeikommst, schau immer runter oder zur Seite. Du darfst niemals ihren Blick auf dich ziehen. Schau ihnen niemals in die Augen. Das hassen sie. Es macht sie wütend, und sie werden dich schlagen. Sie könnten dich sogar töten.«

Ich sah die schwarzen Reithosen, die schicken schwarzen, auf Hochglanz polierten Stiefel, diese hohen SS-Stiefel, die bis zu den Knien reichten. Ich sah ihre Schlagstöcke, die Messer, die an ihren Gürteln hingen, ihre Totenkopfsymbole und die Finger am Abzug. Ich schaute bis zu ihren Schultern und ihren Schulterklappen hoch. Vielleicht sah ich mal ein Eisernes Kreuz auf einer Brust oder um einen Hals. Ich dachte, dies sei die Uniform aller nichtjüdischen Männer auf Erden. In ihre Gesichter habe ich nie geblickt. Den Hunden jedoch schaute ich in die Augen. Und sie starrten zurück. Sie schlabberten und sabberten und knurrten und grollten, und ich konnte die Sehnen an ihren Hälsen erkennen. Die Hunde wollten ihre Zähne in mein Fleisch versenken und mich in Stücke reißen.

Mama ergriff meine Hand und sorgte dafür, dass wir in der Nähe der niedrigen Holzgebäude blieben. Wir befanden uns auf der nordwestlichen Seite des Vernichtungslagers. Der offizielle Name war Auschwitz II, doch es war besser bekannt als Birkenau. Zu unserer Rechten hatten wir Deckung durch Gebäude, in denen die Krankenstation für Männer untergebracht war. Zu unserer Linken befand sich eine Reihe von Barackenblöcken, die uns vom Eingangstor des Lagers – dem Tor des Todes – trennten, wo sich jetzt Hunderte von Gefangenen für den Auszug versammelten. So unbemerkt wie möglich führte Mama mich nach Süden. Wir liefen in Richtung der Bahnstrecke, auf der wir sechs Monate zuvor nach Birkenau gekommen waren.

Lkw-Motoren brummten in der Ferne. Einige Laster fuhren los, andere standen noch im Leerlauf da. Das Geräusch wetteiferte mit den Befehlen, die in Megafone gebrüllt wurden. Ein- oder zweimal zog mich Mama in den Windschatten eines Gebäudes, und wir kauerten uns hin, so tief wir konnten. Wir versuchten verzweifelt, uns unsichtbar zu machen. Obwohl wir noch ein Stück von den Wachtürmen am Zaun entfernt waren, wusste ich, dass, wenn die Wachen uns entdeckten, sie das Feuer eröffnen oder die Soldaten unten alarmieren würden. Und wenn sie uns erwischten, würden sie uns in die Reihe zwingen, umringt von den Aufsehern und ihren Hunden. Unfähig, dem Marsch zu entkommen, von dem Mama überzeugt war, dass sie ihn nicht überleben würde.

Wenn möglich, duckten wir uns in einen Schatten und hofften das Beste. Die Baracken standen so dicht, dass sie uns einen gewissen Schutz gaben. Doch vor allem half uns die Panik der Deutschen. Die Russen kamen, sie waren nicht mehr weit entfernt. Und sie wollten Rache. Die Nazis hatten es so eilig zu fliehen, dass sie gar nicht bemerkten, wie die Häftlinge A-27 791 und A-27 633, das Mädchen mit den weißen Schnürschuhen, versuchten zu entkommen.

Das Adrenalin schärfte meine Sinne. Meine Ohren und meine Nase sagten mir fast so viel wie meine Augen. Heute fehlte der Gestank, der seit unserer Ankunft über dem Lager gehangen hatte. Dieser widerliche, hartnäckige Geruch. Dieser schwefelhaltige, üble Gestank wie von faulen Eiern: brennende Haare, vermischt mit verbranntem Menschenfleisch. Dieser Geruch, der die Nasenlöcher hochflog und sich an den Nervenenden und im Gedächtnis festsetzte. Einmal hatte ich nicht diesen furchtbaren süßlichen Geschmack im Mund, der mich immer wieder würgen ließ.

Heute war es auch viel lauter als am Tag zuvor, als ich ein paar Minuten allein draußen gewesen war. Schon da hatte mich die Stille in der anderen Kinderbaracke zwei Gebäude weiter irritiert. Es war unheimlich still gewesen, also hatte ich hineingeschaut, auch wenn ich wusste, dass die Blockälteste sich darüber aufregen würde. Aber niemand hielt mich auf. Das Gebäude war leer. Die Kinder waren ganz einfach verschwunden.

Während ich mich jetzt an Mamas Hand klammerte, wurde mir immer kälter. Ich wünschte, ich hätte ein Paar Fäustlinge. Ich hatte ein Paar Handschuhe gesehen, die an einer Schnur neben dem Mantel eines Mädchens in der Baracke nebenan hingen. Meine Finger waren so schrecklich kalt! Ich brauchte dringend Hilfe. Leichenfledderei war an diesem Ort die Norm, ein wesentlicher Teil des Überlebens. Es war nicht dasselbe wie Stehlen. Aber ich hatte die Handschuhe nicht genommen. Sobald ich sprechen und verstehen konnte, was man mir sagte, war mir beigebracht worden, ehrlich und freundlich zu sein. Das Mädchen, dem sie gehörten, würde sie vielleicht brauchen, wenn es zurückkehrte. Obwohl ich in meinem Herzen wusste, dass das Mädchen nicht zurückkommen würde, wollte ich nicht von ihrem Tod profitieren. Und so hatte ich die Handschuhe dort hängen gelassen.

Nach etwa zehn Minuten erreichten wir das Gebäude, das Mama gesucht hatte. Sie zog mich hinein. Der Block war eine Krankenstation für Frauen, auch wenn man nur sehr wenig medizinische Ausrüstung sehen konnte. Es war ein Etappenposten zwischen Leben und Tod. Dutzende von Betten waren mit Toten und Sterbenden belegt. In ihrer Eile hatten die Deutschen sie einfach zurückgelassen. Der Raum hallte wider vom Stöhnen und Schluchzen der Frauen.

Mama ging von Bett zu Bett und schüttelte die Gestalten unter den Decken. Manchmal zuckte eine Frau. Traf sie auf ein Lebenszeichen, ging Mama weiter. Ich klammerte mich an ihre Hand. Ich verstand nicht, was sie tat, doch ich hatte zu viel Angst, um zu fragen. Mama überprüfte jedes Bett, indem sie ihren Handrücken auf die Leichen legte.

»Die ist kalt«, sagte Mama und nahm ihre Suche wieder auf.

Und endlich wurde mir klar, wonach sie suchte. Sie griff unter eine Decke und berührte einen anderen Körper. Dieser bewegte sich nicht, aber er war immer noch warm. Die Frau war gerade erst gestorben.

»Tola, hör mir zu«, sagte Mama. »Du musst alles tun, was ich dir sage. Wenn du es nicht tust, kann es sein, dass du getötet wirst.«

»Ja, Mama.«

»Zieh deine Schuhe aus und steig in das Bett.«

Ich löste meine Schnürsenkel, so schnell ich konnte. Das Bett war höher als die Koje, in der ich normalerweise schlief, und ich brauchte Hilfe, um hineinzuklettern.

»Schlüpf unter die Decke und leg dich auf den Bauch. Du wirst neben dieser Frau liegen, und ich werde dich so zudecken, dass man nichts sieht. Deine Füße nicht und deinen Kopf auch nicht. Du musst ganz still liegen bleiben. Kein Wort von dir. Egal, was passiert, egal, was du hörst. Verstehst du mich? Ich werde die Einzige sein, die dich aufdeckt, niemand sonst.« Sie beugte sich näher zu mir. »Du musst in Richtung Boden atmen. Du bleibst dort und bewegst dich nicht. Rühr dich nicht! Du bleibst dort, bis ich komme, um dich zu holen. Hast du mich verstanden?«

»Ist gut, Mama.«

Mamas Wort war Gesetz. Es zu brechen, könnte den Tod bedeuten.

Meine Bettgefährtin war wohl etwa zwanzig Jahre alt. Sie unterschied sich kaum von den Hunderten Leichen, die ich gesehen hatte. Verdrehte Bündel scharfer Knochen, die von Haut zusammengehalten wurden. Totenköpfe mit Mündern, die in stillen Schreien erstarrt waren. Doch die tote Frau war hübsch. Und ganz sicher jünger als Mama.

»Leg deine Arme um sie«, befahl Mama.

Sie schob meinen Kopf unter die Achselhöhle der Leiche und verschränkte unsere Beine. Dann zog sie die Decke so weit hoch, dass gerade noch der Kopf der toten Frau zu sehen war.

»Ich gehe jetzt, Tola«, sagte sie. »Ich muss mich auch verstecken. Aber ich werde nicht weit weg sein. Ich komme zurück und hole dich. Egal, was du hörst, rühr dich nicht, bis ich zurückkomme. Unter keinen Umständen. Versprichst du mir das?«

»Ja, Mama. Versprochen.«

Ich tat genau, was Mama mir gesagt hatte. Ich hatte keine Angst vor der Leiche. Warum auch? Die hübsche Frau war tot und konnte mir nichts Böses tun. Sie war eine Freundin, die mir das Leben zu retten vermochte. Also folgte ich Mamas Anweisungen, umarmte die tote Frau und wartete.

Am Anfang war die Leiche noch warm. Ich war dankbar für die Wärme. Das Gefühl kehrte in meine eiskalten Füße zurück, mit denen ich durch den Schnee getrabt war. Aber langsam, ganz langsam sank die Temperatur der Leiche, bis sie eiskalt war. Ich lag da, lauschte, atmete flach und wartete. Ich fragte mich, warum die hübsche Frau gestorben war. Wahrscheinlich war sie verhungert.

Es war absolut still. Eine seltsame Art von Frieden überkam mich. Ich entspannte mich und fing an, mir eine Puppe mit grünem Gesicht vorzustellen. Keine vollständige Puppe, nur den Kopf. Ich hatte ihn irgendwo aus dem Schlamm herausragen sehen, als wir weggerannt waren. Ich wusste nicht, ob der Kopf vom Körper abgetrennt worden war oder ob der Körper nur vom Schlamm verdeckt wurde. Ich hätte den Kopf gern mitgenommen, aber wir konnten nicht stehen bleiben.

Der Kopf hatte freundliche Augen und einen lächelnden Mund. Ich wünschte mir den Kopf dieser Puppe. Ich hatte kein Spielzeug hier im Lager. Ich wollte auch gar nicht spielen. Ich wusste nicht mehr, was Spielen ist. In meinem Leben ging es nur noch ums Überleben. Aber ich wünschte mir diesen Kopf, um mit ihm zu sprechen und damit er mir Gesellschaft leistete. Was für hübsche Augen die Puppe hatte!

Meine Lider wurden schwer. Ich fühlte mich sicher. Mama war in der Nähe. Das Adrenalin von unserem Abenteuer im Freien war abgeklungen.

Dann hörte ich die Stiefel. 

2

Jenseits des Tischtuchs

Jüdisches Ghetto, Tomaszów Mazowiecki, deutsch besetztes Zentralpolen, 1941

Zwei und drei Jahre alt

Der Raum unter dem Küchentisch war mein Revier. Seine Grenzen wurden definiert durch die ausgefransten Ränder eines billigen Stoffs, ausgebreitet über ein Möbelstück, das zum schlagenden Herzen des Lebens in unserer überfüllten Unterkunft im Ghetto geworden war. Jenseits des Tischtuchs war die Welt der Erwachsenen mit ihrem ungleichen Krieg zwischen den Naziverfolgern und den unterdrückten Juden. Ich in meinem Revier hingegen sah nur selten die Gesichter der Erwachsenen – aus meiner Perspektive existierte die Welt nur von den Knien abwärts. Doch ich hörte sie reden und machte es mir zur Gewohnheit, zu raten, welche Stimme zu welchem Paar Beine gehörte.

Ich schnappte das eine oder andere aus den Gesprächen auf. Und manche Schlüsselwörter wiederholten sich ständig, wurden mit einer Mischung aus Angst, Zorn und Gehässigkeit ausgesprochen. Sie blieben mir im Gedächtnis haften.

Gestapo

SS

Aktion

Rationen

Margarine

Hitler

Tot auf der Straße umgefallen

Verhungert

Palästina

Judenrat

Ghetto

Kropfitsch

Wieder einer

Das arme Kind

In den Hinterkopf

Die armen Eltern

Aus der Welt jenseits des Tischtuchs kamen nie gute Nachrichten. Das Leben war eine einzige Litanei aus Katastrophen, verschwundenen Menschen, Massakern und dem ständigen Kampf um Lebensmittel. Ganz zu schweigen von den Schüssen und Schreien draußen vor dem Fenster.

Wenn die Nachrichten besonders schlecht waren, flüsterten die Erwachsenen. Ich sollte sie nicht hören. Doch ich wusste, immer dann, wenn jemand tief einatmete und eine Hand vor den Mund schlug, um einen Schrei zu unterdrücken, war es ganz besonders schlimm. Meine Ohren waren mein Frühwarnsystem. Ich nahm wahr, wie leise oder zielgerichtet jemand ging. Ich erkannte sofort, wenn ein neues Paar Schuhe oder Stiefel unsere Wohnung betrat. Manchmal waren diese Schuhe freundlich. Doch wenn ich schwere Stiefel hörte, wusste ich, dass uns etwas Schlimmes bevorstand. Der Raum unter dem Tisch war mein Schutzraum. Dort blieb ich sitzen und redete mit meiner Puppe.

»Hast du Hunger, bubale?«, fragte ich. »Ich hab großen Hunger, du sicher auch. Aber keine Sorge, Mama ist in der Küche und kocht uns Suppe aus Kartoffelschalen. Hier, iss sie auf. Sei ein braves Mädchen, bubale. Schmeckt gut, oder? Hmmm, fein. Na komm, iss deine Suppe, bubale. Die ist gut für dich. Tut mir leid, dass es heute kein Brot gibt. Bitte, nicht weinen.«

Manchmal tauchte ich aus dem Raum unter dem Tischtuch auf und setzte mich auf den Schoß meines Vaters Machel oder kuschelte mich bei meiner Mutter Reizel an. Wenn Onkel Jakob zu Besuch kam – am Anfang unserer Zeit im Ghetto, als man sich dort noch ziemlich ungehindert bewegen konnte –, setzte ich mich auf seinen Schoß und zwirbelte seine buschigen Augenbrauen. Doch normalerweise blieb ich unter dem Tisch. Ich hatte ja keinen Stuhl. In der Vierzimmerwohnung war nicht genug Platz, und wir hatten auch kaum Möbel.

Meine Familie lebte nicht allein in der Wohnung Nummer 5, Krzyżowastraße 24 in Tomaszów Mazowiecki. Die Juden wurden gezwungen, sich überfüllte Unterkünfte zu teilen. In vielen Wohnungen, die eigentlich für fünf oder sechs Menschen gedacht waren, lebten zwanzig, in anderen sogar sechzig oder siebzig. Für dreißig bis vierzig Menschen gab es ein Badezimmer. Ich musste unter dem Tisch essen und schlafen, weil wir so wenig Platz hatten. Einige Leute schliefen auf dem Boden. Meine Eltern quetschten sich gemeinsam in ein Einzelbett. Wenn ich mitten in der Nacht Angst bekam, krabbelte ich zu ihnen.

Wer Glück hatte, lebte mit Freunden oder Verwandten zusammen. Es konnte aber auch sein, dass man gezwungen war, die Wohnung mit Fremden zu teilen, die man nicht leiden konnte. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie viele Menschen bei uns wohnten und wer sie waren. Die Situation änderte sich ständig, unsere Wohnung war eine Art Drehkreuz für Flüchtlinge. Es konnte sein, dass an einem Tag eine ganze Gruppe vertrauter Gesichter verschwand. Dann wurde das Flüstern jenseits des Tischtuchs besonders drängend. Aber es dauerte nicht lange, dann kamen andere, vielleicht sogar noch mehr als vorher. Die Atmosphäre in der Wohnung veränderte sich, und zwar nicht immer zum Besseren. Das konnte ich unter dem Tisch spüren. Wir lebten zusammengedrängt wie Mäuse in einem Bau.

Die Nazis hatten das Ghetto von Tomaszów Mazowiecki im Dezember 1940 eingerichtet. Die Juden wurden aus dem Hauptteil der Stadt verbannt, einem Industrieort in Zentralpolen, etwa 125 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Warschau. Sie mussten eine weiße Armbinde mit einem blauen Davidsstern tragen, um sich als Juden auszuweisen. Wer das nicht tat, wurde mit dem Tod bestraft.

Eine der ersten Maßnahmen der Deutschen bestand darin, die Stromversorgung zu kappen. Der Verlust einer Schlüsselkomponente des modernen Lebens war ein weiterer Schnitt mit der Schere, die uns langsam und qualvoll zu Tode schneiden sollte. Es gab auch keine Kanalisation. Fenster, von denen aus man arische Wohngegenden überblicken konnte, mussten zugehängt werden. Und mit jeder neuen Einschränkung wurde das Gefühl der Isolation und Trennung von der Außenwelt stärker. Wir durften unsere polnischen Nachbarn nicht mehr ansehen, und man raubte uns das Sonnenlicht. Man drängte uns zurück ins Mittelalter. Die Polen mussten Fenster mit Blick ins Ghetto ebenfalls zuhängen, sodass sie nicht sehen konnten, was dort passierte, und womöglich die Außenwelt darüber informierten. Im Übrigen muss man wissen, dass ein erheblicher Anteil der Polen in Tomaszów antisemitisch eingestellt war. Einige von ihnen hätten sich sicher an unserem Leid erfreut. Die zugehängten Fenster verhinderten wenigstens das.

Zunächst kamen meine Mutter, mein Vater und ich bei meinen Großeltern am Kościuszkoplatz unter. Vor dem Krieg war das eine ziemlich schicke Adresse mitten im Geschäftsviertel der Stadt gewesen. In dieser Anfangszeit bestand das Ghetto aus drei Bezirken, zwischen denen sich die Menschen ungehindert bewegen konnten, während sie die Außengrenze nur mit einer Sondergenehmigung überschreiten durften. Nach einem Jahr zwängten die Deutschen die Juden aus zwei Bezirken in den viel kleineren dritten. Dieser Bezirk war eingezäunt und deshalb viel leichter abzuriegeln. Das Gefühl von Klaustrophobie verstärkte sich. Wir wurden aus unserer Wohnung am Kościuszkoplatz vertrieben und waren mehr als dankbar, als uns eine Familie, die wir bereits kannten, in der Krzyżowastraße 24 aufnahm.

Während der dreieinhalb Jahre, die ich hinter Ghettomauern lebte – wenn man das Leben nennen kann –, bekam ich kaum frische Luft zu atmen. Ich verbrachte fast die gesamte Zeit in der Wohnung, aus dem einfachen Grund, weil es draußen zu gefährlich war. Die Luft, die ich atmete, roch nach gekochten Kartoffelschalen. Nicht einmal nach gekochtem Kohl.

1941 hatte man mehr als 15 300 Juden in das Ghetto gezwängt. Zu der Gemeinde, die vor dem Krieg in der Stadt gelebt hatte, kamen mehr als 3500 Flüchtlinge aus benachbarten Schtetl oder kleineren Orten. Das Ghetto war entsetzlich überfüllt, es herrschten schlechte hygienische Bedingungen.

Die vollgestopften Wohnungen waren eine Brutstätte für Krankheiten. In der zweiten Jahreshälfte kam es zu einer Typhusepidemie. So viele jüdische Ärzte waren ermordet worden, dass die verbliebenen Mühe hatten, den Ausbruch einzudämmen. Die Deutschen brachten 600 Menschen aus Tomaszów Mazowiecki in andere, benachbarte Ghettos, um Abhilfe zu schaffen. Diese Menschen wurden regelrecht aus Tomaszów vertrieben und durften nicht zurückkehren. Dreiunddreißig von ihnen trotzten dem Befehl, kamen zurück und wurden hingerichtet.

Manchmal, wenn ich unter dem Tisch hervorkam, schaute ich aus dem Fenster und sah Kolonnen von Deutschen mit Stahlhelmen, die vorbeimarschierten, das Gewehr über der Schulter. Ihre kräftigen, kniehohen Stiefel knallten im Gleichschritt aufs Kopfsteinpflaster und erzeugten dabei ein Geräusch, das Stärke und eine unwiderstehliche übermenschliche Kraft ausstrahlte. Die Vibrationen wanderten durch unser Haus und bis in meinen Magen. Dann duckte ich mich schnell wieder unter das Tischtuch.

In meinem kindlichen Denken hielt ich den Tisch für einen Schutzraum, dabei war er in Wirklichkeit eine Gefängniszelle. Ein Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses. Wir waren alle Häftlinge, unabhängig vom Alter. Und die Wände des Gefängnisses rückten immer näher. Ständig wurden Juden ermordet. Ständig zwängten die Deutschen noch mehr Häftlinge in das Ghetto und brachten uns alle, körperlich und psychisch, an den Rand dessen, was Menschen ertragen können. Und darüber hinaus.

Überall in Polen und in anderen Gebieten, die die Nazis erobert hatten, wurden die Juden in Ghettos gezwungen – ein anderer Name für Gefängnis. Ghettos waren die erste Stufe des groß angelegten Plans der Nazis, die Juden auszulöschen. Am bekanntesten ist bis heute das Warschauer Ghetto, eine große Stadt innerhalb der Stadt, in der 420 000 Juden eingesperrt waren und hinter hohen Mauern und Stacheldraht verhungerten. Eine Viertelmillion von ihnen wurde im Sommer 1942 deportiert und vergast. Das Warschauer Ghetto steht aber auch für Mut und Widerstand, weil es dort im Frühjahr 1943 einen Aufstand gab, bei dem 700 schlecht ausgerüstete jüdische Kämpfer den deutschen Truppen fast einen Monat lang trotzten. Doch Warschau war nicht die einzige Stadt mit einem Ghetto.

Ich war zweieinviertel Jahre alt, als meine Eltern und ich ins Ghetto von Tomaszów Mazowiecki zogen. Wir hatten keine Wahl, jeder Widerstand war zwecklos. Man streitet nicht, wenn die brutalste Militärmaschinerie, die die Welt bis dahin gesehen hatte, ihre Waffen auf einen richtet.

Doch als ich fast dreieinhalb Jahre alt war, bewies ich meinen angeborenen Widerstandsgeist. Im Januar 1941 veranstalteten die Deutschen eine sogenannte Pelzaktion. Alle Bewohner des Ghettos mussten ihre Pelzmäntel abgeben, die dann nach Deutschland geschickt wurden, um die Menschen dort zu wärmen. Die Aktion war Teil eines systematischen Plans, uns aller Wertgegenstände zu berauben. Zuvor hatten sie schon das Ghetto durchkämmt und die Menschen aufgefordert, ihren Schmuck abzugeben.

Unsere Wohnung wurde von Verbrechern in Uniform durchsucht. Mama besaß keinen Pelz, ich aber schon. Einen schönen weißen Pelzmantel mit Kapuze und weißen Bändern mit Pelzbommeln am Ende. Auf diesen Mantel war ich sehr stolz, er war mein kostbarster Besitz, und er war so schön warm. Ich kam zwar kaum einmal dazu, ihn zu tragen, weil ich ja fast nie rausging, aber in einer Zeit äußerster Entbehrungen fühlte ich mich als etwas Besonderes, weil er mir gehörte.

In dem Moment, als einer der deutschen Soldaten zum Schrank ging und meinen Mantel vom Haken nahm, drehte ich durch. Ich stürzte mich auf den Mann und fing an, ihn zu treten und auf ihn einzuschlagen. Er war groß, ein Riese im Vergleich zu mir. Aber niemand durfte mir meinen wunderbaren Mantel wegnehmen. Ich hatte keine Angst, ich wollte einfach nur darum kämpfen. Meine Mutter war entsetzt und wollte mich wegziehen, aber ich hörte nicht auf sie. Ich versuchte, den Soldaten ins Knie zu beißen, und stürzte mich immer wieder auf ihn. Doch er trat nur mit seinen schweren Stiefeln nach mir und ging mit meinem kostbarsten Besitz davon. Er hätte mich auch umbringen können, Menschen wurden für wesentlich geringere Vergehen erschossen.

Noch heute erkenne ich mich in diesem kleinen Mädchen. Es war furchtlos. Welches andere Kind hätte so etwas getan? Ich möchte gern glauben, dass ich immer noch so temperamentvoll bin wie damals. Die Erinnerung an den Mantel jedenfalls blieb. Jahrzehnte später habe ich genau solch einen für meine Enkelin gekauft.

Die Episode mit dem Mantel zeigt deutlich, dass ein Kind mit drei Jahren ein empfindsames menschliches Wesen ist, das Gefühle kennt und versteht. Ein Kind in diesem Alter ist bereits in der Lage, Informationen zu verarbeiten, denn seine kognitiven Fähigkeiten beginnen sich zu entwickeln, auch wenn die meisten Kinder dann noch nicht über den Wortschatz verfügen, um das, was sie sehen, zu artikulieren. Diese Lebensphase sollte eine Zeit des Staunens über die einfachen Freuden sein, die die Welt zu bieten hat. Des Wunderns über den Tanz eines Schmetterlings in der Luft. Eine Zeit, um die Liebe von Mutter und Vater zu erkennen und zu erwidern. Um in lächelnde Gesichter zu blicken, sich sicher zu fühlen und am Abend mit vollem Bauch in einem warmen Bett einzuschlafen. Um am nächsten Morgen aufzuwachen und sich auf einen neuen, vielversprechenden Tag zu freuen.

Im Ghetto von Tomaszów Mazowiecki bestand meine einzige Sicherheit in der bedingungslosen Liebe meiner Eltern. Und ich wusste auch, dass ich diese Liebe von ganzem Herzen erwiderte. Jenseits davon jedoch war nichts als der Abgrund. Unser Universum welkte dahin und verlor mehr und mehr an Farbe. Wir bewohnten eine monochrome Welt, die immer im Schatten lag. Wir waren mental in einem kollektiven Zustand der Depression aneinandergekettet. Nirgendwo gab es einen Lichtstrahl oder etwas Hoffnung. Kein Heilmittel. Keine Kavallerie würde angeritten kommen, um uns zu retten. Unsere einzige Erlösung war der Tod.

Jeder neue Tag brachte neue Schrecken mit sich. Ich erinnere mich, wie die Soldaten meine verwitwete Großmutter mütterlicherseits, Tema, abholten, zusammen mit ihrem Bruder, dessen Namen ich nicht mehr weiß. Sie befahlen ihnen, die Treppe hinunterzugehen, und erschossen sie auf offener Straße. Zwei tote Juden von sechs Millionen. Ihr Alter war ihr Todesurteil, die Deutschen hatten keine Verwendung für alte Leute. Wer über fünfzig war, galt bei ihnen als alt. Erst als ich nach Amerika kam, sah ich Menschen mit weißen Haaren. Die Nazis konnten ältere Menschen nicht als Zwangsarbeiter ausbeuten, sie betrachteten sie als nutzlose Last. So war die Hinrichtung von Tema und ihrem Bruder nichts Außergewöhnliches, ihre Mörder zögerten keinen Augenblick. Die Deutschen löschten das Leben meiner Verwandten ebenso aus wie das vieler anderer Menschen, so beiläufig, wie wenn ein Kammerjäger Nagetiere tötet. Denn genau das waren sie in ihren Augen: Ungeziefer. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich schmerzt, dieses Wort zu benutzen.

Was ich auch nach all den Jahren nicht verstehe, ist das vollständige Fehlen von Gewissen und die Zwanglosigkeit, mit der harmlose Zivilisten ermordet wurden, so beiläufig wie essen und trinken.

Mein Vater legte mir die Hand über die Augen und zog mich vom Fenster weg. Sein erster Impuls war, mir meine Unschuld zu bewahren, denn wenn man einen solchen Mord sieht, kann man ihn nicht ungesehen machen, das Bild prägt sich unauslöschlich ein.