Ich weiß, ich war's - Christoph Schlingensief - E-Book

Ich weiß, ich war's E-Book

Christoph Schlingensief

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Beschreibung

«Ich bin nicht der geworden, der ich sein wollte.» Christoph Schlingensief Seine Vision für ein »Operndorf Afrika« wird in Burkina Faso gerade Wirklichkeit – ein beeindruckendes Zeichen dafür, wie lebendig die Kunst Christoph Schlingensiefs auch nach seinem viel zu frühen Tod ist. Die Lücke, die dieser Ausnahmekünstler hinterlassen hat, ist groß. Seine autobiographischen Skizzen und Gedanken, die nun posthum erscheinen, machen dies auf eindringliche Weise deutlich – und helfen zugleich, diese Lücke ein Stück weit zu schließen. »Die Bilder verschwinden automatisch und übermalen sich so oder so! Erinnern heißt: vergessen! (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)« Mit diesen Worten überschrieb Christoph Schlingensief den letzten Eintrag in seinem »Schlingenblog«. Erinnern – das war für Schlingensief kein sentimentaler Vorgang, sondern ein Akt der Befreiung, um Platz für Neues zu schaffen. Und so setzte er nach der Veröffentlichung von »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein«, dem vielgelesenen und vieldiskutierten Tagebuch einer Krebserkrankung, das Prinzip fort, seine Gedanken zur Kunst, seine Selbstbefragungen und Erinnerungen auf Tonband festzuhalten. Nicht um sich zurückzuziehen oder um Abschied zu nehmen, sondern um sich zurück ins Leben zu katapultieren.In »Ich weiß, ich war's« erinnert er sich an seine Kindheit in Oberhausen und seine Anfänge als Filmemacher, an schwierige und an erfüllende Stationen seines Künstlerlebens in Berlin, Wien, auf dem afrikanischen Kontinent – sowie nicht zuletzt an seine Erlebnisse auf dem grünen Hügel Bayreuths. Und »Ich weiß, ich war's« zeigt einen Christoph Schlingensief, der voller Tatendrang am Leben teilnimmt, mal humorvoll, mal selbstkritisch, immer aber leidenschaftlich und mit Blick nach vorn.

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Seitenzahl: 323

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Inhalt

CoverTitelWidmungVorwortZwischenstand der Dinge IUnsterblichkeit kann tötenMeine UrszeneDer Mensch besteht aus ganz viel SehnsuchtDas Unsichtbare sichtbar machenEin Loch aus Angst und EkelIch bezweifle, dass die Leute tatsächlich schreiben, was sie wollenPolitik durchspielen»Dieses Gesellschaftssystem ist in sieben Jahren komplett zerstört«Authentisches Theater»Zum Raum wird hier die Zeit«Ein Opernhaus in AfrikaOberhausenMünchenZurück im RuhrgebietIch kann nicht nur an das Gute glaubenGrundsteinlegung in Burkina FasoVia Intolleranza IIZwischenstand der Dinge IIKunst (Das Wesen der … )BiografieDanksagungBildnachweisBuchAutorHerausgeberImpressum

Widmung

Für Christoph

Vorwort

von Aino Laberenz

Dieses Vorwort zu schreiben, fällt mir schwer. Weil es mein erstes Vorwort ist. Weil ich vermeiden will, dass es wie ein Nachruf klingt. Es ist nicht einfach für mich, im Angesicht von Christophs Tod über dieses Buch und seine Entstehung zu schreiben. Aber es ist mir ein Anliegen, an dieser Stelle hervorzuheben, warum Christoph ein Buch mit Erinnerungen und Erwartungen an das eigene Leben so wichtig war – und warum es mir wichtig ist, dieses Buch nun zu veröffentlichen, auch wenn Christoph seine Arbeit daran nicht mehr beenden konnte.

Einige Monate nachdem das Krebstagebuch »So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein« erschienen war, hatte Christoph von Neuem begonnen, seine Gedanken, Erinnerungen und Erlebnisse auf Tonband festzuhalten. Damit verbunden war sein Wunsch nach einem Buch, das sich auf sein Leben richtet. Das sich auch an sein Leben richtet, wie es gewesen ist, wie er gewesen ist. Christophs Absicht war es nicht, Resümee zu ziehen oder schleichend Abschied zu nehmen. Er wollte sich ins Leben zurückkatapultieren, sich erinnern, um zu vergessen – und um wieder anzufangen. Es sollte keine Fortsetzung des Tagebuchs oder etwas so Bleischweres wie Memoiren sein. Keine Autobiografie. Keine Aneinanderreihung von Anekdoten.

Christoph wollte einen Band der vorletzten Worte, der unvollendeten Gedanken. Weder wollte er sich erklären noch wollte er sich selbst Kapitel für Kapitel abhandeln. Beim Lesen sollte Raum bleiben. Christoph hatte bewusst kein Werkbuch im Sinn. Manche Projekte bleiben Randnotizen oder sogar unerwähnt. Vieles erfährt nicht den Platz, der ihm in einer »Gesamtschau« zustünde. Er wollte keine Chronologie, die suggeriert, alles baue auf allem auf und lasse sich anhand eines roten Fadens von A bis Z verknüpfen, begründen oder sogar rechtfertigen. Ich glaube, dass Christoph Leben und Arbeit nie so gesehen hat. Er empfand die Lücke als großes Glück, den Zeitsprung, die Irritation, die Überforderung – und die Notwendigkeit der Wandlung.

»Ich weiß, ich war’s« ist auf Christophs eigene Art ausufernd – und bescheiden. Er blickt zurück, mit gerade mal 49 Jahren und während er noch verdammt viel vorhat. Er verknüpft die kleinen Fragen der eigenen Biografie mit den absoluten Fragen, wie er es vielfach in seiner Arbeit getan hat. Seine Neugierde, sein Eifer, Dinge zu erforschen, und seinen Freiheitsdrang konnte die Krankheit ihm nicht nehmen. Sosehr er den Tod zuletzt kommen sah, so überzeugt war er vom Leben. Für diese Haltung steht das Buch. Es ist kein Mausoleum. Es ist ein Lebenszeichen.

Es ist fragmentarisch in seiner Zusammenstellung und basiert auf Texten, die er 2009 und 2010 aufgenommen, geschrieben, gesammelt und für diese Veröffentlichung vorgesehen hatte. Ihr Gerüst bilden die Leseabende, die er im Herbst 2009 aus Anlass des Krebstagebuchs veranstaltete. Diese Abende waren keine Lesungen im eigentlichen Sinn. Statt vorzulesen erzählte Christoph von sich und seinen Arbeiten und entwarf dabei über Umwege und Abkürzungen ein Panoptikum seines Lebens.

Er erzählte von Kindheit und Kinomanie, von Kunst in Berlin und Containern in Wien, schlug Bögen vom Wohnzimmer seiner Eltern zum Bayreuther Festspielhaus, von der Faszination für Kameratechnik zur Vorliebe für die Drehbühne, von ersten Filmversuchen in Oberhausen zum Operndorf in Burkina Faso – ein unerschöpfliches Geflecht aus Lebenslinien und Querverstrebungen, Zufällen und logischen Konsequenzen, Pragmatismus und Obsession. Er dachte vor Publikum über sich nach. Er konnte mit dem Publikum über sich lachen. Er stellte Fragen und stellte sich infrage, berichtete von Menschen und Momentaufnahmen, ohne Anspruch auf Vollzähligkeit und in sich doch geschlossen. Am Ende jedes Abends war klar, dass er genau da war, wo er hingehörte, dass er um sich wusste. Er hatte das Bedürfnis, sein Leben und seine Kunst zu erden, damit sie einen Boden hatten. Eine Startrampe, von der aus er immer wieder loslegen, auch abheben konnte.

Diese Abende ließ er mitschneiden und verschriftlichen, um sie anschließend für das Buch zu bearbeiten. Zu dieser Bearbeitung ist es leider nicht mehr gekommen. Sicherlich wäre »Ich weiß, ich war’s« durch Christophs Eingriffe und zusätzliche Kommentare ein anderes Buch geworden.

Die Absichten, die Christoph mit diesem Buch verband, habe ich versucht, sehr ernst zu nehmen. Es ging dabei nicht um meine Sicht, die manchmal vielleicht eine andere wäre, mal ausführlicher, mal zugespitzter. Bei meiner Arbeit an diesem Buch musste ich ihm nur zuhören. Seinen Überlegungen und Bezügen, seinen Lücken, seinen Zeitsprüngen. Den Irritationen. So habe ich für dieses Buch die Transkription der Lesungen mit Christophs Tonbändern, Interviewpassagen, Blogeinträgen und E-Mails an Freunde kombiniert, Material, das Christoph größtenteils noch selbst zusammengestellt hat, weil ihm die dort getroffenen Aussagen wichtig und für seine Arbeit wesentlich erschienen. Schließlich sind einige wenige Texte enthalten, die ich in Christophs schriftlichem Nachlass gefunden habe. Sie belegen an entsprechender Stelle Christophs Erinnerungen, intensivieren oder spiegeln sie, so z.B. ein Schulaufsatz aus dem Jahr 1975, in dem Christoph seinen Traumberuf umschreibt.

Die Quellen und ihre Montage skizzieren ein Leben, das in seiner Fülle, Vielfalt und Tatkraft unvollständig geblieben ist. Christoph wollte noch so viel, dass nach dem Lesen das Gefühl bleiben muss, nur einen Teil seiner Geschichte erfahren zu haben. Trotzdem: Es ist ein Leben. Es ist Christophs ganz großes »Ja!« zu diesem Leben. Die Geschichte müsste weitergehen, weitererzählt werden. Dass das Buch mit Christophs Entwürfen zu einem neuen Filmprojekt endet, mag das belegen.

Meine Absicht war es, ihn ohne große Eingriffe zu Wort kommen zu lassen, ihn selbst seine Gedanken gewichten zu lassen. Christoph erinnert und erzählt, was ihm zur Zeit der Aufzeichnungen wichtig gewesen ist. Mit einem unsentimentalen, oft humorvollen Blick zurück, der zugleich klar nach vorne gerichtet war. Mir war vor allem wichtig, dass sein Gedanken- und sein Sprachfluss erhalten bleiben. Was Christoph sagt, soll pur klingen, nicht paraphrasiert, nicht dramatisiert. Das Buch soll seinen Tod nicht als Drama inszenieren, als sei es ein Spiel oder der letzte Akt eines Theaterstücks. Nicht vom Tod handelt dieses Buch, sondern vom Leben.

Die volle Haftbarkeit, die Christoph in seiner Arbeit und in seinem Leben von sich verlangte, prägt dieses Buch. Darum ist der Titel so einfach wie aussagekräftig. Der Leser kann sicher sein, dass Christoph sich dem Bekenntnis »Ich weiß, ich war’s« verpflichtet fühlte. Den Titel hatte er selbst gewählt. Für Christoph stand er fest, also stand er auch für mich nicht mehr infrage. Weil er für die geforderte Vollhaftung steht, für das Prinzip der Selbstprovokation. Weil er für Christoph selbst steht.

Ich hoffe, dass »Ich weiß, ich war’s« Christoph in seiner Vitalität zeigt, die ihn bis zuletzt ausgemacht hat und die seine Arbeiten immer noch ausmacht. Er hatte uns viel zu sagen. Er hat uns noch immer viel zu sagen. Ich hoffe sehr, dass man sich in Christophs Kosmos hineinbegeben und miterleben kann, wie er seine Fäden zieht, wie er Zusammenhänge herstellt. Wie Wirklichkeit und Kunst kollidieren und miteinander verwoben werden. Und ich wünsche mir, dass seine Gedanken freigelassen werden, dass die Beschäftigung mit Christoph, seinem Leben und seiner Arbeit für den Leser am Ende dieses Buchs gerade erst beginnt.

Berlin im August 2012

Zwischenstand der Dinge I

So, heute ist der 31. Juli 2009. Es ist viel passiert, seitdem ich das letzte Mal in meine Maschine hier gesprochen habe, darüber kann ich vielleicht später noch mal etwas erzählen. Eigentlich erzähle ich die Dinge auch wieder mehr mir selbst – jedenfalls versuche ich’s erst einmal. Ich bin inzwischen natürlich weitaus distanzierter, nicht so aufgerissen wie damals im Krankenhaus, auch nicht so ausgeliefert. Allerdings merke ich, dass in den letzten Wochen doch einiges anders geworden ist in mir drin. Es wächst immer mehr diese komische Angst, dass doch alles nur eine zeitlich begrenzte Angelegenheit ist, und zwar nicht eine von zwanzig Jahren oder dreißig Jahren, sondern eine Zeitbegrenzung, die mir einfach nur Kummer bereitet. Weil ich denke, es könnte auch sein, dass man schon nächstes Jahr weg ist. Also dass ICH schon nächstes Jahr weg bin.

Denn mein Körper gefällt mir gar nicht mehr, der ist eine sehr schwere Unternehmung. Ich fühle mich nie mehr so richtig leicht, alles ist fremd und es drückt mich unglaublich in der Seelengegend. Wenn ich sagen sollte, wo die Seele liegt, dann würde ich sagen: im Brustraum. Und ich habe komischerweise auch nicht mehr die Hoffnung, dass das alles jetzt wieder wie neu wird, sondern ich spüre so etwas wie Stagnation. Kann auch daran liegen, dass ich die Antidepressiva abgesetzt habe, was eine ziemlich harte Angelegenheit war, weil ich ja doch fast ein Jahr lang immer wieder etwas genommen hatte. Aber ich hab mich halt auch immer wieder gefragt, wer ich denn bin, wenn ich so etwas nehme, ob ich mich dadurch nicht zu sehr verändere. Das war ja bei mir auch der Grund, keine Drogen zu nehmen. Weil ich immer befürchtet habe, dass ich dann nicht mehr Herr meines Willens bin. Mit 21 hab ich mal Kokain genommen, ich wollte Drehbücher schreiben wie Fassbinder, möglichst schnell, drei Stück in einer Nacht. Doch ich hatte die ganze Nacht über Erstickungsanfälle, weil das Zeugs wohl gestreckt war, sodass ich gar nicht zum Schreiben gekommen bin. Am nächsten Morgen standen zwei Wörter auf dem Zettel: »Ich« und »fertig«. Einmal hab ich’s noch probiert, stand wieder nichts auf dem Papier – da hab ich’s gelassen.

Aber diesmal ist der Kampf um den Willen eigentlich schon eine verlorene Schlacht für mich. Das heißt: Der Wille ist von mir nicht zu besiegen. Der scheint wie eine Nachricht in mir zu schlummern, er weiß, dass es irgendwann zu Ende ist, und er weiß wahrscheinlich auch schon, wann. Alles, was ich dagegen unternehme, ist ein Aufbäumen gegen eine Staatsmacht, die sowieso nicht zuhört.

Morgen steht auf jeden Fall ein großer Tag bevor. Gleich um drei kommen die Verwandten am Bahnhof an, dann fahren wir los, und morgen, am 1. August, heiraten Aino und ich. Das Wetter ist wunderschön und soll auch so bleiben, eigentlich müsste ich mich nur freuen. Aber so ist es eben leider nicht.

Gestern ist auch noch Peter Zadek gestorben. Ich weiß nicht, ob es daran lag, jedenfalls bin ich schon gegen neun ins Bett gegangen. Mit einem total schlechten Gewissen, weil ich überhaupt nicht mithelfen konnte bei Ainos Organisation. Ich lag nur im Bett, habe geschlafen wie ein Toter und geträumt, dass Ainos Ehering von einem Juwelier so schmal gearbeitet worden war, dass sie ihn kaum tragen konnte. Peter Zadeks Tod lässt mich nicht los, weil ich zu ihm eine ganz besondere innere Beziehung habe. Dabei haben wir uns gar nicht oft gesehen, wir haben uns öfter mal angerufen, einmal war ich auch bei ihm und Elisabeth in der Toskana, mehr war eigentlich nicht. Ich weiß auch nicht, er ist einfach ein besonderer Mensch für mich. Und jetzt ist dieser besondere Mensch tot.

So, da bin ich wieder, es ist der 3. September und mir geht es nicht gut. Als hätte ich es vor der Hochzeit geahnt, dass ich dieses Gerät irgendwann wieder brauchen werde. Und natürlich sind diesmal Hintergedanken dabei. Denn man kann so einen ersten Bericht nicht so stehen lassen, das geht nicht. Das erste Buch kommt mir inzwischen wie eine zwar völlig ehrliche, aber auch wie eine sich selbst blendende Aufzeichnung vor. Bei aller Liebe, bei allem Wohlwollen, bei aller Zuneigung zum Leben, zum Lebenwollen, zu seiner Geliebten, zur Natur, zu allen Menschen bastelt man sich aufgrund der Ereignisse, die da über einen herfallen, halt die entsprechenden Bilder. Und mir kommt es so vor, als würden diese Bilder mich überwältigen wollen, als wäre man abhängig. Ich zumindest, nicht man: Ich bin abhängig von Bildern. Ich brauche immer Bilder, Bilder, Bilder. Und ich weiß im Moment wirklich nicht, wo die Essenz sein soll.

Ich habe also den Hintergedanken, dass es ein zweites Buch gibt. Weil ich glaube, dass es kein gutes Ende nimmt. Und wenn, dann kann ich mich nicht damit begnügen, eine kleine Fahrstrecke beschrieben zu haben, sondern dann, finde ich, ist es auch richtig zu sagen: Ich bin irgendwann im Eis stecken geblieben, ich bin nicht zum Nordpol gekommen, ich habe nicht den Mond erreicht, ich habe meine politischen Ansichten nicht durchsetzen können, ich habe auch keine Massenbewegung erzeugt, ich habe keine Kunst kreiert, die sich durchsetzen wird. All diese Sachen, all diese Wünsche und Sehnsüchte, die man hatte und die man nicht erfüllen konnte, der Selbstbetrug, das Scheitern – das ist doch wichtig, dass man das bekannt gibt, für sich selbst und vielleicht auch mal zum Nachlesen. Mein Gott, was soll daran falsch sein? Im Moment lese ich fast jede Woche einen Artikel, dass es jetzt reichen würde mit der Krebsliteratur: »Lasst uns in Ruhe mit euren Krebsberichten« oder wörtlich: »Wer hat geil Krebs?«. Ich versteh das nicht. Ich verstehe nicht, wie so etwas möglich sein kann in Deutschland. Im Kern habe ich mich in diesem Land nicht wohlgefühlt. Ich finde, dieses Deutschland ist eine unglaublich selbstbetrügerische Veranstaltung. Es hat sich gegen sich selbst gewandt, es ist voller Selbsthass, es hat die ganze Zeit das Gefühl, dass es etwas gutmachen will, aber nicht weiß, wie. Und vor allem will es möglichst nicht gestört werden in dieser Unfähigkeit, etwas gutzumachen. Natürlich kann ich auch nicht leugnen, dass ich sehr deutsch bin.

Aber darum geht’s ja gar nicht. Es geht darum, dass dieses Deutschland mir gerade wirklich die Luft abschnürt in seiner Betrachtung von Kunst und Kultur. Ich meine, dieses Land ist doch gar nicht interessiert an Kultur. Es ist ein hochkulturelles Land, klar, aber ist es wirklich interessiert an Kultur? Kultur ist doch auch, Erfahrungen zu machen, etwas entdecken zu wollen – und das können wir hier nicht. Jemanden, der hier mal eine wirkliche Erfahrung von sich einbringen will, müssen wir sofort als Boulevard verleumden oder als einen Menschen, der sich nur wichtigtun will. Weil: Wir leben ja noch, wir haben keine Probleme. Wir haben nur die Pendlerpauschalprobleme, wir haben die Verspätung bei der Bundesbahn. Und wir haben das Problem, dass wir keinen Wahlkampf mehr haben: Wir wollen was hören, aber wir hören nichts. Das sind unsere Leidensthemen. Aber was zum Beispiel so ein Hartz-IV-Empfänger aushalten muss, der sagt, ich möchte auch mal verreisen, verdammt, ich möchte auch mal meinen Kindern zeigen, was es heißt, ein anderes Land zu besuchen – so etwas wollen wir nicht hören. Ich meine, wir ziehen gerade Kinder auf, die haben keinen Begriff von Europa, die haben keine Idee davon, was es heißt, in einem anderen Land zu leben. Solche Kinder ziehen wir auf in Hartz-IV-Wohngemeinschaften mit Ein-Euro-Jobs und der Papa muss den Müll wegräumen und die anderen Kinder lachen drüber. Das ist Deutschland.

Ach, ich weiß auch nicht, ich bin heute Abend wirklich sehr aufgebracht, ich habe eben auch das Gefühl, dass nicht unbedingt alles so weiterlaufen wird, wie ich es mir noch gedacht habe vor einem halben Jahr.

So sieht’s also aus: »Wer hat geil Krebs?« So einen Dreck schreibt jetzt also der Freitag? Boulevarddreck wie der Artikel in der FAZ : »Lasst uns mit eurem Krebs in Ruh?« Sollen wir wirklich unsere Schnauze halten? Noch vor einer Woche bittet mich die Chefredaktion vom Freitag, ich solle doch bitte den Aufruf für den Rückzug der deutschen Bundeswehr aus Afghanistan unterschreiben. Da war ich noch in den Flitterwochen. Und nun bekomme ich so einen Dreckskommentar zu lesen? Habe ich jetzt Freitagskrebs? Sie haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank oder besser ausgedrückt, ihr habt gewaltig den Arsch auf. Wie viele Leute haben Krebs und sehnen sich danach, dass sie mal nachlesen können, was da eigentlich los ist. Und zwar nicht in diesen Horrorforen im Internet mit allem Horrorschnickschnack, den man sich vorstellen kann. Sie können gerne mal zwanzig Sonderausgaben mit all den Zusendungen von Krebskranken, Verwandten, Priestern, Ärzten usw. als Sonderdruck rausbringen. Die Briefe liegen hier bei mir. Menschen, die nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Die keinem Gott im weißen Kittel ihre Fragen stellen wollen, weil sie Angst haben, anschließend blöd behandelt zu werden. Wissen Sie eigentlich, was man als Krebskranker für eine unglaubliche Angst hat? Haben Sie überhaupt eine minimale Ahnung von dem, was Sie schreiben? Sollen wir alle ganz ehrenhaft schweigen, damit wir diese schreienden Gesundheitsbilder im TV nicht stören? Supermodels, kräftige Haare, weiße Zähne, Adoniskörper, dazu noch erfolgreiche Börsenkurse – und wir Kranken sind zu laut? Wie bitte? Ich kenne mittlerweile Tausende von Leuten, die Angst haben, zu ihrem Krebs, zu ihrer Verzweiflung, zu ihrer Depression Fragen zu stellen. Wir schreiben mittlerweile unter www.geschockte-patienten.de. Nicht um uns den neuesten Darmkrebs auszumalen, sondern um uns selber zu fragen: Bist du noch autonom? Was war das eigentlich für eine Autonomie, bevor du den Krebs oder ALS oder MS bekommen hast?

Was Sie beim Freitag da mit dem Spiegel zu rupfen haben, ist mir scheißegal. Mir geht es um jeden Einzelnen, der Angst hat, Fragen zu stellen, seine Ängste zu formulieren, sie zu transformieren, seine Autonomie zu suchen, auch wenn er dann in Ihrem pseudoengagierten Kreis nichts mehr zu suchen hat. Es sei denn, dass er sich gleich am Eingang als gescheiterter Leidenspatron zu erkennen gibt. Aber da haben Sie sich sehr verrechnet!

Ich habe doch selber während der Extremphasen nach Literatur und Aufzeichnungen gesucht! Nach Notizen von jemandem, der diese Fragen nach Gott, nach dem Arzt, nach dem Vorgang der Behandlung usw. möglichst sachlich mitteilt. Warum nicht also mal direkt nachfragen? Warum geben Sie Ihr Minibudget nicht endlich mal dafür aus, dass Sie Kranke besuchen, dass Sie Fragen zur Gesundheitsreform stellen. Mal was zur Einsamkeit fragen. Bei dem, der seinen Job verloren hat, keine Familie besitzt und kaum Freunde hat und dann auch noch gegen weiße Flecken im Körper als stumme Todesboten zu kämpfen hat. Was sagt der über so einen Scheißkommentar?

Ach, lass doch, sagen meine Freunde, nicht mal ignorieren würde ich das! Nein, nein, sage ich! Ganz im Gegenteil! Seit einem Monat bin ich verheiratet und seit einer Woche wieder zu Hause in Berlin. Mir geht es eigentlich sehr gut. Ich habe zugenommen, meine Haare sind mittlerweile lockiger geworden, meine Entzündungen auf der Haut sind verschwunden, die abfallenden Fußnägel sind wieder gut. Und gestern war ich wieder zur Kontrolle in der Röhre und – wie soll ich’s sagen –: Meine verbliebene Lunge, rechte Seite, ist wieder voller Metastasen.

Was nun? Schnauze halten? Größe zeigen und Schnauze halten, wie Sie fordern? Ich denke gar nicht daran! Ich werde bis zum letzten Moment von dem erzählen, was Sie sich nicht vorstellen können. Wenn ich Sie damit nerve, dann legen Sie mein Buch oder meine Texte einfach zur Seite. Saufen Sie sich die Sache abends gemütlich. Denken Sie, es wäre Ostersonntag und alle sind bereits in den Himmel oder ins Nirwana oder in die Hölle gefahren. Es ist superruhig, die Natur duftet – und Sie sitzen ganz alleine an Ihrem Schreibtisch und wissen auch nicht, was das zu bedeuten hat. Einfach schön ruhig bleiben, kann ich Ihnen nur raten. Zum Glück ist keiner mehr da, der Ihren Scheiß anhören kann. Und das haben Sie sich doch insgeheim schon immer mal gewünscht! Na bitte, geht doch!

(3. September 2009, Kommentar auf freitag.de)

Am Tag vor der Hochzeit, als ich zum ersten Mal wieder in meine Maschine geredet habe, hatte ich schreckliche Angst, dass ich das alles nicht durchhalte. Auch die Wochen vorher war ich so depressiv, dass ich einfach alles infrage gestellt habe, sogar die Hochzeit. Aber dann sind wir losgefahren, zu diesem Schloss, wo wir gefeiert haben: ein wunderschöner Ort, mit einem Fluss, kleinem See und riesigen Wiesen, die Räume des Schlosses nicht kaputtrenoviert, man konnte unter dem Putz noch die Struktur der Steine spüren – und in der Kapelle gab’s gleich drei Altäre. Das war schon mal sehr schön.

Abends saßen wir dann alle zusammen, ganz friedlich; und ich hatte ein Gespräch mit Franz, dem kleinen Sohn von Martin und Margarita. Franz ist sechs, würde ich mal sagen, vielleicht ist er auch neun, ich weiß es nicht genau. Er sieht jedenfalls aus wie aus »Emil und die Detektive«, da könnte er sofort mitspielen. Wir haben uns also unterhalten, über dies und das, und dann sagt der plötzlich, dass es doch sein könnte, dass manche Menschen jetzt erst leben, obwohl sie zum Beispiel schon um 1600 hätten leben sollen. Oder dass Leute jetzt schon leben, die eigentlich erst in der Zukunft leben sollten. Dass da also die Zeit durcheinandergeraten sei. Wie kommt so ein Knirps dazu, solche Gedanken zu haben, hab ich überlegt. Dann fiel mir ein, dass ich als Kind auch immer so komisches Zeugs gedacht habe. Zum Beispiel dass ich früher manchmal das Gefühl hatte, es gäbe irgendwelche Abkürzungen, von denen niemand weiß. Man könnte also von unserem Haus in Oberhausen schon in einer Minute oben an der Marktstraße sein, man müsste nur den richtigen Weg gehen. Oder ich hatte das Gefühl, dass ich einen Ort kenne, weil mir alles sehr bekannt vorkam, obwohl ich noch nie da war; oder ich dachte, dass ich jemanden schon mal gesehen hatte, aber nicht jetzt, sondern vor hundert Jahren. Solche Sachen hat auch der Kleine plötzlich vom Band gelassen, als kleine Überlegungen für sich. Wir waren echt baff. Beim Zubettgehen dachte ich nur, das allein ist die Sache schon wert, dass ich so etwas hören konnte. Diese Umpolungen im Raum und in der Zeit. Und dass ich mal überlegen sollte, ob ich nicht vielleicht auch zu früh geboren bin oder zu spät. Dass ich vielleicht die ganze Zeit etwas machen wollte, was heute gar nicht mehr geht. Oder was noch nicht geht – und dass ich deswegen nicht so gut zurechtkomme hier.

Am Hochzeitstag selbst war ich voller Energie. Nein, nicht Energie, das kann ich nicht sagen, ich hatte einfach keine Schmerzen. Und die Sonne hat geschienen, all meine tollen Freunde, mit denen ich schon so viel erlebt habe, waren da – alles ein Riesenglück. Ich habe Gott gedankt und allen Ahnen, die daran beteiligt waren, weil es mir in dem Moment wirklich so vorkam, als sei das alles ein Geschenk. Denn man sieht plötzlich, wie viel doch schon passiert ist im Leben, was alles schon an Gutem in der Chronik steht. Das muss man sich immer wieder ins Bewusstsein holen! Das habe ich noch nicht so gut drauf, vielleicht kann ich das noch ein bisschen trainieren.

Es kam dann der Moment, als mich meine Freunde zu dem kleinen Fluss geführt haben, wo ich auf Aino warten sollte. Und ich weiß noch, ich fühlte mich wohl, als ich da so stand. Ich hatte mir einen wirklich sehr schönen Anzug besorgt, meine Haare waren wieder gewachsen und ich hatte auch kaum noch Pickel, weil ich vorher die Metastasen-Tablette abgesetzt hatte. Das sind alles Themen, die ja fast nie besprochen werden. Die müssen jetzt auch nicht auf die Titelseiten, ganz sicher nicht, aber man muss das doch anderen Kranken – und vielleicht auch den Gesunden – mal erzählen dürfen: Es kann passieren, dass du dich selber nicht mehr magst. Nicht unbedingt, weil du stinkst oder tatsächlich doof aussiehst, sondern weil du denkst: Was ist mit meinem Körper? Ich hatte doch da mal Haare, mein Bein ist so komisch, da sind so viele Pickel, meine Nase ist so dick. Oder es kann passieren, dass du einfach keinen Hunger mehr hast, weil alles nach Pappe schmeckt. Alle essen und schlemmen und haben Spaß, das dauert dann von acht bis elf und du guckst schon um halb neun auf die Uhr, wann denn endlich die Nachspeise kommt, weil du nach Hause willst.

Na ja, an meinem Hochzeitstag hatte ich glücklicherweise doch sehr viele normale Gefühle. Und als Aino den Weg entlangkam, von ihrem Vater geführt, war sie so schön, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich war völlig hin und weg. Man sieht das ja immer in Filmen oder in Fernsehshows, dann denkt man, ja, ja, gähn, da kommt die Braut im Brautkleid und alle sind aus dem Häuschen und weinen und so. Aber als Aino auf mich zukam, war das ein Bild, was ich für immer im Kopf haben werde. Aino sah aus, als wäre sie ein Wesen gewesen, in dem Raum und Zeit plötzlich eins geworden sind. Ja: Aino war in dem Moment ein Raum und eine Zeit, alles zusammen, alles ist durch sie hindurchgeflossen. Wunderwunderschön. Dann sind wir in das kleine Ruderboot gestiegen und ich weiß noch, dass Aino ihrem Vater immer sagen musste, wo er auf dem Weg zum See langrudern muss, mehr links, mehr rechts, dann gab es ein kleines Häuschen im Wald, darin stand Friederike und sang dieses Lied von Edvard Grieg. »Ich liebe dich, ich liebe dich wie nichts auf dieser Erde«.

Ach, es reißt mich, die Strophen kann ich jetzt nicht aufsagen, ich muss den Text mal raussuchen. Es ist jedenfalls ein wunderschönes Lied, das durch den ganzen Park hallte. Und als wir um die Kurve kamen, stand oben am See die ganze Hochzeitsgesellschaft, es war überwältigend, all die Freunde und Unmengen Kinder, die als Blumenmädchen verkleidet waren, in Kostümen aus dem »Parsifal«, die Sabine, die Frau von Voxi, besorgt hatte. Das sah so süß aus. Die Standesbeamtin war auch ganz wunderbar, sie freute sich, weil es das erste Mal war, dass sie eine Trauung draußen machen konnte, und als sie die Rede hielt, hat sie leicht gezittert, war aufgeregt, teilweise auch etwas traurig. Aber nicht negativ traurig, sondern einfach nur gerührt. Und ich habe die ganze Zeit Ainos Hand gehalten.

Na ja, dann wurde eben alles besprochen, wir haben »Ja« gesagt, uns gegenseitig die Ringe angezogen, unterschrieben und ganz lange geküsst. Und dass ich jetzt eine Frau habe, ist für mich ein unglaubliches Glück.

Das klingt bestimmt prätentiös, aber es ist wahrscheinlich tatsächlich so: In meinem tiefsten Inneren habe ich nie glauben können, dass mich jemand wirklich mögen, wirklich lieben kann. Weder mich noch die Sachen, die ich gemacht habe. Natürlich wollte ich, dass die Leute das mögen und ich dafür geliebt werde. Ich habe mich ja auch immer voll in alles reingestürzt. Aber wenn sie dann tatsächlich mal gejubelt haben, war ich sofort skeptisch, weil ich dachte, das kann gar nicht sein, da stimmt doch was nicht.

Das liegt wahrscheinlich an einer Geschichte von früher – nicht nur, aber das war schon ein Donnerschlag damals. Da habe ich mit 16 beim WDR in der Kinderredaktion einen Super-8-Film vorgeführt, den ich mit meiner Oberhausener Amateur Film Company gedreht hatte. Der Film ist eine Komödie, heißt »Mami, wir drehn ’nen Film« und handelt von einem Mann, der mit seiner Familie einen Film dreht. Die Dreharbeiten laufen komplett schief, ein totales Desaster, am Ende während der Kinovorstellung explodiert das ganze Haus und die Oma sitzt im Rollstuhl und sagt: »Hans, Hans, du musst aber auch immer alles übertreiben.« Das ist der letzte Satz des Films.

Den hab ich also beim WDR vorgeführt, dann ging das Licht an – es war eine Stimmung wie im Eiskeller – und ein Redakteur stand auf und sagte: »Ich weiß nur eins, wenn ich den Film sehe: Du wirst in deinem Leben niemals einen Menschen lieben können. Denn du hast dich nicht für die Personen interessiert.« Das war natürlich gerade in der Pubertät ein Hammerschlag: Du wirst niemals einen Menschen lieben können?

Da habe ich so gekämpft in meinen ersten Beziehungen, weil ich dachte, ich bin wahrscheinlich gar nicht aufrichtig. Ich weiß gar nicht, wie lieben geht. Wer bringt mir das jetzt bei? Das Sexuelle ist das eine, aber wer bringt mir bei, einen Menschen zu lieben? Und diese Unsicherheit ist im Großen und Ganzen auch geblieben. Vielleicht weil ich so viele widersprüchliche Gefühle in mir habe: Es gab eben auch diese Abneigung gegenüber vielem auf der Erde, eine gewisse Unlust, am Leben teilnehmen zu müssen, manchmal sogar einen gewissen Ekel, aber gleichzeitig war da auch immer das Gefühl, dass diese Welt so wunderschön und toll ist, dass es so großartig ist, hier sein zu dürfen – eine komische Zwiespältigkeit war das in mir. Und in dieser Zwiespältigkeit habe ich mir selbst nicht getraut. Wenn du nicht weißt, wie lieben geht, dann kann doch auch dich niemand lieben. Und immer wieder habe ich nach dem Punkt gesucht, wo ich lieben kann. Ohne Ambivalenz.

Aber solange man so etwas unbedingt will, wird’s ja nix. Entweder man liebt oder man liebt nicht. All dieses Durcheinander hat mir eigentlich erst Aino genommen, damals im Krankenhaus, als ich sie wegekeln wollte, sie aber geblieben ist. Nur gesagt hat: »Ich bleibe, weil ich dich liebe.«

(2. Februar 2010, Interview mit Gero von Boehm)

Ich glaube, ich bin gestern eingeschlafen beim Erzählen. Also es war wirklich eine unglaublich schöne Hochzeit. Man kann es nicht beschreiben, so schön war’s.

Und das ist auch das Bild gewesen, was ich als Hoffnung und als Glück in mir hatte. Nämlich dass ich jetzt mit meiner Frau ein ganzes Leben vor mir habe, egal wie kurz es sein wird, dass ich mit meiner Frau diese Reise mache, Flitterwochen, und dass ich dann zurückkomme, in die Röhre gehe und mal gucke, ob diese Tablette noch wirkt oder nicht mehr wirkt. Tja, und dann kam halt der Tag. Da sah man eben, dass meine ganze rechte Lunge wieder voll ist mit diesen weißen Wölkchen. Also voll mit Metastasen, so viele, dass man sie kaum zählen kann.

Ich hoffe trotzdem, dass sich alles zum Guten entwickelt. Schließlich habe ich diese Wölkchen schon mal wegbekommen.

Es ist der 17. September, ich sitze gerade im Zug und fahre nach Osnabrück, um Henning Mankell zu treffen. Der bekommt dort gleich den Friedenspreis. Das hat er mir erzählt, als wir uns vor ein paar Tagen in München bei der Wiederaufnahme von »Mea Culpa« gesehen haben. Das ganze Team zu treffen war toll, und in zwei Tagen 5000 Zuschauer, ein Riesenerfolg, das war echt der Wahnsinn. Klaus Bachler, der Intendant, war auch glücklich und hat mir für 2012 den »Tristan« angeboten. Und mich gefragt, ob ich nicht nächstes Jahr in dem neuen Gebäude, das von dem Architekturbüro Coop Himmelblau vor der Oper aufgebaut werden soll, die Eröffnung der Münchner Opernfestspiele machen könnte. Auch toll. Vor allem weil ich hoffe, dass ich das kombinieren kann mit der Arbeit in Burkina Faso.

Ich rede jetzt gerade so schnell, damit alles raus ist an Infos. Denn die Hauptinfo ist eigentlich, dass ich gerade ziemlich abstürze. Als ich in München rauskam auf die Bühne – die Leute haben echt nur noch frenetisch geklatscht und gejubelt und getrampelt –, war das für mich wie ein Abschied. Ich habe das gespürt, beim Blick in das Dunkle: Die Leute haben mich verabschiedet. Ich meine: Was sollen sie auch denken? Überall, wo ich hinkomme: Christoph, du Armer, wie sieht’s aus bei dir? Wie geht’s dir und deinem Krebs? Und klar, ich tue ja auch selbst alles dafür: Gefühlte zehn Krebsbücher hab ich geschrieben, alles Bestseller, dazu sechzig Theaterstücke, Krebsopern, auch alles Bestseller.

Tja, so ist das jetzt. Es ist schon eine Selbstentfremdung, die da stattfindet. Andere Menschen kann ich auch nur noch schwer aushalten. Besonders in Berlin. Deshalb wollte ich ja weg und bei René Pollesch in Zürich mitspielen. Der fand die Idee auch erst mal gut. Inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass das auf der Kippe steht, weil René vielleicht doch keine Lust hat, seine Arbeit wegen mir irgendwie zu verändern. Vielleicht denkt er auch: Wenn Christoph kommt und nicht gleich als Mittelpunkt behandelt wird, dann wird der doch unangenehm.

Das ist ja auch nicht ganz falsch. Vielleicht ist es im Moment wirklich besser, wenn ich mehr alleine bin. Vielleicht sollte ich die Zeit nutzen und alle Kraft in das Afrika-Projekt reinlegen, damit es weiter ans Laufen kommt. Die Karten liegen ja nicht schlecht und ich habe das Gefühl, jetzt mehr entscheiden zu müssen: Was will ich eigentlich damit anfangen? Kulturelle Begegnung, kultureller Austausch – was kann das denn heißen? Dass ich dann hierher zurückkomme und tanzende und trommelnde Afrikaner präsentiere, das ist es ja wohl nicht. Oder dass ich zeige, dass die jetzt da unten auch mal den Wagner spielen, das ist es ja wohl erst recht nicht. Vielleicht wäre es interessant, eine Oper wie »Intolleranza 1960« von Luigo Nono mal in Afrika zu proben, um zu sehen, was passiert, wenn so ein humanistisches Ding in diesem Kontext erscheint. Ob ein Begriff wie Intoleranz auf dem afrikanischen Kontinent überhaupt eine Bedeutung hat. Unsere europäischen Gedanken zu Toleranz und Intoleranz, unsere Ansprüche ans Leben und ans Geliebtwerden sind ja mittlerweile so gefressen vom System, dass es inzwischen die Rechtsradikalen sind, die sich auf den Plakaten als die Tolerantesten verkaufen können. Die sagen einfach: Wir wollen, dass hier endlich wieder Frieden ist und keine Ausländer verhindern, dass hier Sauberkeit herrscht. Die machen hier alles dreckig, also sind die Ausländer uns gegenüber intolerant.

Genau das ist der Irrwitz in dieser Gesellschaft. Und das ist auch der Punkt, warum ich in Deutschland vielleicht nie mehr glücklich werden kann und auch nicht will.

Ich glaube, ich muss mich wirklich retten hier, muss mich zurückziehen und mir einfach sagen: Mit Aino ist alles okay, sie macht jetzt hier in Berlin einfach ihre Proben, danach macht sie Zürich und ich bin einfach mal nicht dabei. Mal sehen, ob ich das aushalte, wahrscheinlich nicht. Ich habe keine Ahnung, aber so geht das alles nicht weiter. In mir ist das Unsterbliche. Und das Unsterbliche tötet mich. Das ist ein neuer Gedanke, den ich gern noch weiter ausführen würde.

Unsterblichkeit kann töten

10. OKTOBER 2009, HAMBURG, THALIA-THEATER

Unsterblichkeit kann töten

Guten Abend, meine Damen und Herren, ich freue mich riesig. Wirklich, so viele Leute habe ich nicht erwartet. Samstagabend und dann noch so knapp nach dem Fußballspiel. 1:0, wir haben’s geschafft, Deutschland ist dabei! Toll! Das erleichtert uns den Abend natürlich, das macht uns alles noch süßer als überhaupt möglich. Ich bin heute zum zweiten Mal unterwegs, ich habe auch gelernt, dass ich das Aufnahmegerät anmachen soll, damit man nachher wegen möglicher Anzeigen gegen mich besser reagieren kann …

Nee, aus der Zeit bin ich raus. Früher habe ich ja öfter Sachen gesagt auf der Bühne, die dann später zum Orkan wurden. Das lasse ich inzwischen sein. Ich will mein eigenes Verfahren und klage mich lieber selbst öfter an und hoffe auf Milde.

Ich muss ehrlich sagen, dass ich ein bisschen gerührt bin, wieder hier in Hamburg zu sein, weil die »Bahnhofsmission« damals schon etwas Tolles war. Diese Lebendigkeit, die da drinsteckte, dieses unglaubliche Rumhüpfen – das war ja ein Irrwitz. Schon am Anfang die Benefizveranstaltung im Schauspielhaus. Die endete, glaube ich, um halb fünf morgens, Irm Hermann und der Typ von der Tagesschau waren bereits eingeschlafen, lagen einfach so rum und diverse Leute vom Schauspielhaus waren schon längst gegangen. Wir hatten eine Aktion gemacht, bei der, glaube ich, 112 Mark reingekommen waren. Ein Desaster.

Ein schöner Moment aber war, als Bernhard Schütz irgendwann meinte, wir müssten ein Zelt von der Bühne in den Zuschauerraum tragen. Als Symbol. Symbole sind ja immer ganz wichtig am Theater. Ein Feuer für all die Menschen in der Welt, die täglich auf Erlösung hoffen, hatte ich schon in »Tunguska« entzündet, meinem ersten längeren Film. Solche Symbole sollen uns ja auch später noch in der Endphase helfen, in meinem Fall natürlich vor allem christliche Symbole, es gibt auch muslimische oder was weiß ich, klar. Jedenfalls ist die Frage, ob sie einem wirklich helfen, ich selbst zweifele mittlerweile sehr daran, weil solche Bilder letzten Endes doch nur Menschen mit diesen Hundeaugen zeigen, die zum Himmel gucken in der Hoffnung, es würde irgendwas passieren. Was ist eigentlich aus dem schönen, flotten Jesus in den Katakomben von Rom geworden? Der lacht ja da auf diesen Wandmalereien, der hat ein weißes Gewand an, der ist glücklich mit sich und macht Witze und Scherze und haut den Pharisäern im Tempel die Tische um – und wundert sich, dass sie ihn scheiße finden …

Aber egal: Jesus lacht sich offensichtlich kaputt den ganzen Tag und hat jede Menge Spaß mit seinen Freunden. Und dieser Mann wird später nur noch als Trauerkloß dargestellt, Blut hier und Knochen da, ein Hängebackentyp, der mit dürren Beinchen und völlig abgemagert am Kreuz hängt und leidet. Das ist alles schrecklich mühsam, finde ich. Es soll ja keiner lustig sein beim Sterben, aber man kann doch nicht von hier abhauen, wenn man denkt, jetzt komm ich in so eine Trauerveranstaltung rein und hab nur gebrochene Knochen wie im Xantener Dom vor mir.

»Passion Impossible: 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission«, 1997. Gottesdienst auf dem Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofs

Da bin ich groß geworden, ja. Im Xantener Dom. Also das heißt, ich war mehrmals in meinem Leben im Xantener Dom, a) weil meine Eltern da immer hingefahren sind, und b) wegen des römischen Kastells, das wir im Griechischunterricht nachgebaut haben. Ja, ich hatte Griechisch, ich habe auch das große Latinum, aber das hat ja nichts genutzt. Ich kann nämlich deshalb weder Englisch noch Französisch, weil ich Griechisch und Latein gelernt habe. Und weil mein Englischlehrer nach einem halben Jahr Unterricht stocktrunken in eine Baugrube fiel und sich dabei sämtliche Knochen brach. Er konnte also nicht mehr kommen. Stattdessen kam ein Französischlehrer, der machte so ein bisschen halbherzig Französisch mit uns, das war nicht so toll. Und ich war sowieso gegen die Franzosen damals, weil ich gelesen hatte, dass es junge Historikerinnen gab, die behaupteten, dass das Mutterkorn die Revolution in Frankreich ausgelöst habe. Mutterkorn, Ernst Jünger – das ist Ihnen sicher alles bekannt. Trotzdem vorsichtshalber ganz kurz: Dieses Mutterkorn ist eine Art Schimmel und die Grundlage von LSD. Das LSD hat Albert Hofmann (der hat’s erfunden) dann mit Ernst Jünger zusammen gelutscht oder gegessen, was weiß ich. Jedenfalls haben die beiden da ein bisschen herumexperimentiert. Dadurch sind dann diese Werke entstanden, in denen es immer um das Hier geht und das Doch-nicht-hier, um das Insekt, den Mond, die Sterne, erst ganz klein, plötzlich ganz groß und dann ist wieder alles ganz klein usw.