Kein falsches Wort jetzt - Christoph Schlingensief - E-Book

Kein falsches Wort jetzt E-Book

Christoph Schlingensief

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ich möchte einen eigenen Atem haben.« Christoph Schlingensief. Im August 2010 verstarb Christoph Schlingensief, dessen Arbeit als Film-, Theater- und Opernregisseur, als Schauspieler, Autor, bildender Künstler, TV-Entertainer und politischer Aktivist bis heute unvergessen ist. Von Beginn an hat Christoph Schlingensief zu seinen unzähligen Projekten immer wieder und ausführlich in Interviews und Gesprächen Stellung genommen und dabei das Sprechen über seine Arbeit stets auch als wesentlichen Teil seiner vielfältigen Aktionen verstanden. Aus diesen Gesprächen hat Christoph Schlingensiefs Ehefrau und Mitarbeiterin Aino Laberenz eine Auswahl erstellt, durch die Christoph Schlingensiefs einzigartiges Verständnis von künstlerischer Arbeit und die wichtigsten Stationen seiner Künstlerbiografie sofort wieder lebendig werden: die Filme, die Theaterarbeiten, seine Parteigründung »Chance 2000«, seine Wagner-Inszenierungen in Bayreuth, seine Wiener »Ausländer raus«-Containeraktion, die »Kirche der Angst«, sein »Operndorf Afrika«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 342

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christoph Schlingensief

Kein falsches Wort jetzt

GesprächeMit einem Nachwort von Diedrich Diederichsen

Herausgegeben von Aino LaberenzRedaktionelle Mitarbeit: Brigitte Landes

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Christoph Schlingensief

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Aino Laberenz: Kein falsches Wort jetzt

Die Gespräche

Zeitgeist in Kisten

Filmemachen in Deutschland

16 Jahre Messdiener waren nicht umsonst

Moralist mit Kettensäge

Diesen pubertären Luxus leiste ich mir

So oder so.

Ich wäre gerne der Fehlermann der Nation

Tötet Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief, Exhibitionist, 36

Wer inszeniert wen?

Der Überzeugungstäter

Trash für Millionen: Benjamin von Stuckrad-Barre traf Christoph Schlingensief

Das war nicht abzusehen

Der Mann, der wie eine Kuh sein will

Halleluja, die Show

Lassen Sie uns über das Fest reden

Grenzenlos

Mit den Skins zur SVP

Ich möchte in schlechter Erinnerung bleiben

Wer wird Millionär, Herr Schlingensief?

Der Moment, in dem der Gedanke von heute auf einen Gedanken von früher trifft

Wer Kunst macht, wird so leicht kein Terrorist

Die Paranoia sitzt mir stets auf der Schulter

Wir erlösen uns selbst

Eule und Ratte

Fürchtet euch nicht?

Ich bin eigentlich ein obdachloser Metaphysiker

Ich bin ein Kuhbaum

Ich bin für die Vielfalt zuständig

Ich liebe es, abends den Grill aufzubauen

Theater war noch nie mein Ding

Ich gieße meine soziale Struktur

Ich habe geklaut

Nachwort von Diedrich Diederichsen: Kommunikation, Komposition, Kollektiv

Werkbiografie

I. Filme

II. Theater, Aktionen, Opern, Projekte

III. Ausstellungen

IV. Fernsehen

V. Hörspiele

VI. Band

VII. Eigene Publikationen

VIII. Preise, Auszeichnungen

Rechtenachweise

Dank

Inhaltsverzeichnis

Kein falsches Wort jetzt

Vorwort von Aino Laberenz

Christoph hat einmal gesagt, dass man nicht mehr an die vergangene Zeit, an die Geschichte herankommt – wir können nicht zurück. Aber auf ihrer Basis begreifen wir, wer wir gerade sind. Im Hier und Jetzt.

Mein Anlass, ein Buch mit Interviews und Gesprächen herauszugeben, die Christoph gegeben und geführt hat, ist genau dieser. Wie sehr die Geschichte immer ein Teil unserer persönlichen, aber eben auch der gesellschaftlichen Gegenwart ist – das lese ich in seinen Interviews und Gesprächen.

Die Auswahl aus verschiedenen Zeitungen und Magazinen, aber auch einem Radiogespräch umfasst einen langen Zeitraum, von 1984 bis 2010. Über 25 Jahre, in denen er gearbeitet und seine Arbeit kommentiert, erläutert, analysiert hat. Manche Gesprächspartner kannte er gut, mit manchen verband ihn nur das jeweilige Interview. Eingelassen hat er sich aber immer, respektiert und ernst genommen hat er sein Gegenüber grundsätzlich. In den Bundestag zu gehen und dort Wolfgang Schäuble zu treffen – davor hatte er großen Respekt.

Meine Auswahl der Interviews in diesem Buch folgt ganz bewusst keiner medialen Hierarchie und bezieht Publikumszeitschriften wie angesehene Tageszeitungen oder auch Fachzeitschriften gleichermaßen ein. Denn Christoph hat in seinem Sendungsbewusstsein und seinem Drang, Menschen zu etwas zu bewegen, ohne ihnen altklug oder besserwisserisch zu begegnen, keine Unterschiede zwischen vermeintlich seriösen und nicht so seriösen Medien gemacht. Also hat er sich auch auf jedes Medium eingelassen.

Ich habe mich für eine chronologische Auswahl von Interviews entschieden, um zu dokumentieren, wie er sich kontinuierlich zu einer gesellschaftlich relevanten Stimme entwickelt hat. Die Gespräche haben seine Arbeit begleitet und sind zugleich ein Teil von ihr: das Reden über seine Kunst oder gesellschaftliche Verhältnisse gehört bei ihm wie selbstverständlich zu den künstlerischen Ausdrucksformen, die er benutzt hat.

 

Christoph Schlingensief wurde 1960 in Oberhausen geboren. Er hat bereits in seiner Kindheit begonnen, Filme zu machen. Und er hat schon früh das Bedürfnis gespürt, sich darüber zu äußern. Bereits im ersten Gespräch ist dieser Drang bemerkbar, seine Arbeit vermitteln zu wollen, wenn er über seinen ersten Langspielfilm spricht, »Tunguska, die Kisten sind da« von 1984. Er weist darauf hin, dass er den Zuschauer nicht mit einem Ergebnis nach Hause entlässt, sondern dass er ihn ständig aufs Glatteis führt. So fordert er ihn durch eine extreme Erzählstruktur, Perspektivwechsel und den experimentellen Umgang mit Ton heraus. Der Film beschreibt sein eigenes Verlangen, gefordert zu werden, und nimmt den Zuschauer in die gleiche Verantwortung. Er hat für diesen Film nicht nur das Skript geschrieben und Regie geführt, sondern ihn auch produziert. Er war für die Tricks zuständig und hat auch noch die Orgel gespielt.

 

Die Auseinandersetzung mit Journalisten war für Christoph wie eine erweiterte Bühne: in seiner Arbeit hat er sich nicht nur auf Filmemacher oder Theatermacher, sondern immer wieder auch auf Wissenschaftler und Journalisten bezogen.

Vielleicht auch deswegen hat er Genregrenzen nie so akzeptiert wie andere Künstler und sie je nach Bedarf überschritten.

 

Es sei zwar seine Lebensversicherung, dass er vom Filmemachen komme, sagte er mehrfach, ebenso wichtig sei es ihm aber, sich in und mit unterschiedlichsten Materien auszukennen oder sich ihnen anzunähern. Sein Wissen bezog sich nicht nur auf die Genres, in denen er gearbeitet hat, sondern auch auf sein soziales oder politisches Umfeld. Er hat, wie es sein Wegbegleiter, der Schauspieler und Philosoph Alfred Edel, beschrieben hat, mit »genialem Halbwissen« seine Arbeit verteidigt. Er nahm sich die Freiheit, Dinge zusammenzufügen, die eigentlich nicht zusammengehören, eine akausale Anordnung zu schaffen, in der sie abheben und die Realität überhöhen, um ihr wieder nahe zu kommen.

So liest man sich in den Gesprächen nicht nur durch Christophs Werk, sondern auch durch seine Biografie – und durch das Zeitgeschehen.

 

Viele Menschen waren überzeugt, dass Aktionen und Arbeiten Christophs reine Selbstdarstellungen seien. Christoph musste schon in seinen frühen Arbeiten mit Unverständnis und Ablehnung umgehen. Mit extremen Reaktionen, Kritiken oder Beschimpfungen. Dem war er permanent ausgesetzt, auch weil er das wollte. Er war oft der Erste, der nach einer Premiere alle Kritiken las.

Interviews nutzte er daher, um Missverständnisse auszuräumen und seine tiefe Überzeugung seinen Aktionen oder Projekten gegenüber auszudrücken. Es wäre aber zu einfach zu sagen, dass er nur richtig verstanden werden wollte. »Ich lass’ die Dinge aufeinanderprallen. Das soll keine Provokation bedeuten, Provokation wäre trivial, sondern eher eine Art Erfrischung.«

Gerne hat er sich als katholischen Kleinbürger beschrieben. Er ist einfach ganz grundsätzlich von dem ausgegangen, was ihn persönlich betroffen und geprägt hat, und hat dann gezeigt, dass es keine einfachen Wahrheiten gibt.

 

Christoph hat seine Interviews immer sehr genau redigiert. Jeder Satz war wichtig. Ihm war die Reichweite dessen, was er sagte, nicht nur bewusst, sondern er hat sie mit einbezogen und gezielt genutzt. Man kann ihm förmlich beim Denken und Sprechen zuhören. Bei Christoph hat es vor lauter Gedanken im Kopf gesurrt und gekracht. Und so schnell er gedacht hat, so schnell hat er geredet. Er war wie ein Kraftwerk, das beim Reden bereits Bilder produziert hat. In einem Radiogespräch sagt er, »dass jeder Mensch auf der Welt bereit ist, wenn es sein Ziel ist, endlich in den eigenen Film einzutreten. Schon bei der Geburt macht sich jedes Baby schreiend bemerkbar, um wahrgenommen zu werden.« Dass er sein Leben öfter mal als »Langzeitbelichtung« bezeichnet hat, zeigt genau diese Suche, in seinen eigenen Film einzutreten.

Die Gespräche haben nicht an Relevanz verloren, im Gegenteil, ihre Fragestellungen sind immer noch aktuell. Sie zeigen, wie sehr er die jeweilige Zeit geprägt hat. Aber eben auch, wie weit er seiner Zeit voraus war. Hier zeigt sich nicht nur seine Persönlichkeit, sondern auch, wie sehr er die Medienöffentlichkeit schon früh für sich als weitere Plattform genutzt hat, um zusätzliche Diskurse zu führen und Fragen, die ihn beschäftigten, von der Bühne in die Medien zu tragen.

 

Er hat sich nie versteckt, stand mit auf der Bühne und hat sich für seine Arbeit haftbar gemacht. Diese Offenheit zeigt seine Verwundbarkeit, aber auch seine Radikalität, seinen Mut und die Ernsthaftigkeit seiner Arbeit.

Christoph wollte, dass man sich seine Arbeit möglichst unvoreingenommen ansieht und sich bis zum Ende darauf einlässt. Man sollte nicht schon im Vorfeld wissen, wie man was zu sehen hat – das war für ihn nicht auszuhalten.

Was er von sich selber eingefordert hat, erwartete er auch von seinem Gegenüber. Seine Gesprächspartner wurden genauso herausgefordert, wie er selbst sich zur Disposition stellte. Und das immer verdammt unterhaltsam. Christoph stand nie über den Dingen, sondern eher mittendrin. Er forderte die Sichtbarkeit und die Teilhabe für alle ein, dachte Repräsentation grundsätzlich und neu. Eigentlich war er so gut wie immer auf Sendung, und das mit allem, was ihm zur Verfügung stand: mit seinen Ängsten, seinem Humor, seiner Intuition oder natürlich seinem Charme, seiner Lautstärke und Schnelligkeit, seiner Sensationslust oder seinen Obsessionen.

 

Die Interviews gehen auf eine Zeit zurück, in der der Begriff des Medienkünstlers in der heutigen Form noch nicht existierte. Dennoch war er ein solcher, aber nicht ausschließlich.

Christoph war Film-, Theater- und Opernregisseur, Produzent, Alleinunterhalter, Politiker, Performer, Talkmaster, Künstler, Schauspieler und er hat festgestellt, dass er sich darüber hinaus immer für Künstler interessiert hat, die ihre Kunst fast zwanghaft betreiben und darin nicht unbedingt einen Gegensatz zum Zwang des Lebenmüssens oder -wollens empfinden.

Er sah die Überforderung als Antrieb, nicht nur der eigenen Langeweile zu entkommen, sondern hin- und herzuspringen zwischen den verschiedensten Bereichen, zwischen Musik und Bild, dem Menschen und der Sprache, dem Lustigen und Traurigen oder Ernsthaften – und dabei immer die Chance zu ergreifen, das Gegenteil von dem zu behaupten, was alle erwarten. Den einen Schritt weiter zu gehen, als es einem die Vernunft rät.

 

Aino Laberenz, Mai 2020

Inhaltsverzeichnis

Die Gespräche

Zeitgeist in Kisten

Oberhausener Filmemacher vollendet seine Trilogie

Anlass: »Tunguska – die Kisten sind da«

Mit D. Benman

In: Ortszeit Nr. 9

Mülheim a.d. Ruhr, 1984

 

Die Fragen müssen korrekt gestellt sein, Herr Benman, ja?! Sonst sag’ ich hier gar nichts. Außerdem, das Radio, können Sie das mal abstellen, bitte!

 

Ja, nehmen Sie noch eine Tasse?

 

Ja, gern. Was ist das eigentlich für ein Wein? Ausgesprochen lecker!

 

Herr Schlingensief, was ist das »andere« an Ihren Filmen? Wie unterscheiden Sie sich von den sogenannten »Jungfilmern«?

 

(Leise) Ich verrate nichts. (Laut) Ja, warum ich anders bin, … die Diskriminierung von anderen … Ja, ich verstehe mich eben nicht so, wie die Regisseure des Neuen Deutschen Films sich, glaube ich, verstanden haben; als jemand, der monatelang gelitten hat und im Kämmerlein gehockt hat, um an einer Geschichte, einer Theorie oder einer Sozialkritik zu basteln und dann nach draußen zu treten und zu sagen: Nur durch mich konnten diese Missstände aufgedeckt werden. Also ein neurotischer Regisseur, der nicht zugibt, neurotisch zu sein. Ich sage damit nicht, dass ich nicht neurotisch bin.

 

Sie »stehen also dazu«?

 

(Schreit) Ja, ich habe mehrere Neurosen, Zwangsneurosen … Bei uns im Park ist schon einiges passiert …

 

Oscar Wilde sagte ja auch, es gebe keine Kunst ohne Neurose.

 

Oh, hat er das gesagt? Der hat doch auch »Dorian Gray« geschrieben, nicht wahr? Ja?

Ja, also ich erwarte eben mehr vom Zuschauer. Ich lasse ihn nicht etwas sehen und spüren, was er sich dann als Ergebnis mit nach Hause nimmt. Der Tonmeister von TUNGUSKA sagte sehr treffend, TUNGUSKA sei ein Film, der einen roten Faden besäße, aber dieser rote Faden höre ständig auf.

Das ist auch deshalb interessant, weil sich TUNGUSKA in allen möglichen Spielfilmgenres auskennt. Er benutzt diese Genres und nimmt damit verschiedene Positionen ein, verschiedene filmische Grundbestandteile, die der Zuschauer kennt. Aber jedes Bild unterscheidet sich von dem kommenden. Für mich ist jedes Bild eine Kiste. Die Kisten sind da – es werden ja auch im Film Kisten geliefert, die die Forscher dann öffnen –, und jetzt verlange ich vom Zuschauer, dass er mich als Regisseur endlich mal vergisst, als jemand, der etwas über den Tisch reicht wie Zucker und Kaffee, sondern jetzt soll der Zuschauer anfangen, die Kisten auszupacken.

 

Mich hat es sehr angestrengt, diesem Film zu folgen.

 

Ja, der Film ist auch anstrengend, weil er den Zuschauer ständig aufs Glatteis führt und ziemlich extrem ist. Extrem einmal, was die Erzählstruktur angeht, die sich ständig hin und her bewegt, und dann schwierig, weil der Ton sehr dicht ist und sehr viele Räume erzeugt. Dann ist der Film als Film akzeptiert, indem das Filmmaterial an manchen Stellen auch zerstört wird. Deshalb ist der Film für Leute, die unterhalten werden wollen, eine Strapaze. Spannend ist der Film für den, der sich trainieren möchte, der prüfen will, ob er als Zuschauer noch gefordert werden kann. Der Zuschauer stellt sich schließlich sein Programm selber zusammen. Beim Telespiel ist es so: Ich habe z.B. die Exposition »Schatzsuche«. Dann habe ich meinen »Joystick« in der Hand, identifiziere mich mit diesem blöden Männlein da auf dem Bildschirm, und das jage ich jetzt in die Nähe des Schatzes. Das kann man noch so trivial finden, aber es zeigt auch ein Verlangen, gefordert zu werden. Auf dieses Verlangen setze ich.

 

Die Produktion von TUNGUSKA ist abgeschlossen – was wird Ihr nächstes Projekt?

 

Na, na, na!

Filmemachen in Deutschland

Anlass: »Menu Total«

In: Indiskret!, Filmpalast Nr. 6

Mülheim a.d. Ruhr, 1986

 

Erzählst du bitte für alle, die dich nicht kennen, deinen Werdegang.

 

Geboren 1960 in Oberhausen, mit 14 Jahren einen Film-Club gegründet und Super-8-Filme gedreht, nach dem Abitur bin ich nach München gegangen und habe bei Franz Seitz als zweiter Kamera-Assistent bei »Doktor Faustus« gearbeitet. Später auch als Produktions-Assistent und Second-Unit-Kameramann. Dann machte ich in München noch Industriedokumentationen.

So mit 22 ging es hier im Ruhrgebiet los. Ich begann eigene 16-mm-Filme zu drehen, finanziert aus dem Geld, das ich in München verdient hatte. Ein Kurzfilm wurde vom Goethe-Institut gekauft, so hatte man wieder ein bisschen Geld und ich konnte Ende 83 TUNGUSKA drehen, der hier in Mülheim im Steinbruch Rauen gedreht wurde. Der wurde wiederum vom Fernsehn gekauft, so hatte man Geld, MENU TOTAL zu machen. Zwischendurch machte ich auch immer mal wieder Kamera- oder Tonassistent. Nach MENU TOTAL haben wir auch schon wieder einen neuen Film gedreht, der aber erst im Juni fertiggestellt wird.

 

Siehst du dich als Regisseur im klassischen Sinn oder als Filmemacher?

 

Den Ausdruck Filmemacher finde ich nicht so toll, weil er immer etwas mit Sich-selbst-auf-die-Schulter-klopfen zu tun hat. Die Tendenz geht bei mir dahin, dass es mir schon lieber ist, wenn die Aufgabenbereiche verteilt sind. Die Aufgaben von der Geldbeschaffung bis zur Abwicklung eines Films sind so vielfältig, dass ich mehr zum Aufbau wie im amerikanischen Kino tendiere, wo eine stärkerere Arbeitseinteilung auf Spezialisten vorherrscht.

Ich halte es für wichtig, dass dieser Weg in Deutschland auch mal wieder beschritten wird. Die letzten 10 Jahre waren eben Autoren-Kino, in dem sich die Regisseure ausschütteten, wo sie ihre Wehwehchen haben und was sie doch für Märtyrer sind und dass sie für Millionen gelitten haben und ohne Schuhe vom Süden des Landes bis Paris laufen. Das alles ist irgendwo langweilig und überflüssig geworden. In diese Schablone werde ich auch oft gesteckt, das ist aber ein Missverständnis, denn MENU TOTAL ist eine zynische Komödie. Manche nehmen den Film zwar als albtraumartig wahr, da wird drin gekotzt, es ist auch eine Vergewaltigung dabei, aber streng genommen kommt davon so viel, es ist so geballt, dass es eigentlich nur anders gemeint sein kann.

 

Siehst du dich in irgendeiner Kino-Tradition?

 

Man muss schon Bescheid wissen über das, was wichtig ist in der Filmgeschichte – bei mir ist das noch lange nicht der Fall, dass ich alles kenne, doch sich einem Vorbild anzunähern, geht. Ich habe das jedenfalls noch bei keinem Regisseur geschafft.

 

Mal gefällt einem was von dem, mal von einem anderen. Ich mag z.B. Spielberg, weil ich es toll finde, wie er seine Filme durchpowert und ich mit 800 anderen Leuten im Kino dabei bin – das ist wie Achterbahnfahren. Das Timing ist fantastisch. Aber andererseits mag ich auch Filme von Resnais, oder von Buñuel, als so Dinger, die diffiziler ablaufen. In Deutschland Vorbilder zu finden, ist ganz schwer. Das ist auch ein Problem der Leute, die jetzt anfangen, Filme zu machen, dass sie sich in einem Loch befinden.

 

Wirst du in Zukunft mehr in Richtung klassisches Erzählkino gehen?

 

Ich denke, dass ich schon unsichere Filme mache, da ich im Moment keinen Standpunkt kenne, der überzeugend erscheint. Meine Filme sind recht unterschiedlich. Das einzige gemeinsame Element ist ein religiöses, nicht im Sinne von beten und murmeln, sondern da ist etwas nicht Greifbares, das die Leute verbindet. Das zweite Element ist, Spaß zu haben an unwichtigen Dingen, die sich wichtig nehmen. In Berlin gab es z.B. Diskussionen darüber, dass ich im Film Nazi-Uniformen benutze. Doch dabei habe ich keine Skrupel. Ich denke, dass ich da einfach ins Regal greifen kann, um absurde Symbole und Instrumente einer miserablen Zeit auch absurd zu benutzen. Ich will damit eigentlich weniger provozieren, es ist ja mehr Kasperletheater, was ich da zeige, Gesellschaftsspiele.

 

Beschreib doch bitte mal den Film MENU TOTAL aus deiner Sicht.

 

MENU TOTAL ist ein Film, der für viele Zuschauer Traumstruktur hat, wo Dinge auftauchen, von denen sie meinen, sie selbst schon mal im Kopf gehabt zu haben. Es gibt, glaub ich, einen ziemlichen Spaß, wenn der Film in Mülheim läuft. Angefangen bei der Musik von Helge, Dieter Stein und Peter Eisold, die sehr toll geworden ist, dann die Schauspieler Volker, Helge und Reinhard, die man hier kennt. Ich glaube, das gibt dem Film auch einen guten Kick. Und wie gesagt, der Film hat einen schlechten Geschmack, aber nicht so, dass man darunter leiden muss. Und Alfred Edel, die Sprechblase des Neuen Deutschen Films der vergangenen Jahre, kann hier endlich mal alles auskotzen, was sich bei ihm angesammelt hat.

Der Film hat keine Psychologie, ist noch experimentell erzählt, allerdings mehr Spielfilm als TUNGUSKA. Jede Figur will sich ständig in Szene setzen, der Einzige, der zwischen allen Stühlen steht, ist Joe (im Film Helge), der zwar am Schluss alle umbringt, aber in ein neues System hereingerät, wo er sehr gedämpft ist. MENU TOTAL ist eigentlich eine Kriminalkomödie, die aber sehr komisch funktioniert. Hier weiß man nicht, wer der Mörder ist, und die Auflösung ist nicht so, wie man es erwartet.

16 Jahre Messdiener waren nicht umsonst

Anlass: »Terror 2000«

Mit Anke Leweke und Christiane Peitz

In: tip 2/93

Berlin, 1993

 

HUNDERT JAHRE ADOLF HITLER, DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER und jetzt TERROR 2000 – warum diese Trilogie?

 

Ich sehe mich in der Tradition des Neuen Deutschen Films. Der ist mal angetreten mit dem Vorsatz, Filme zu Deutschland zu machen, innovativ zu sein, aber dann wurde er sehr wehleidig. Der Autor ruft mea culpa, und die Kritiker nicken. Trotzdem sehe ich mich in dieser Tradition, aber ich glaube, dass meine einzige Berechtigung im Moment in der Drastik liegt: 75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand. Als Altkatholik – 16 Jahre Messdiener sind nicht umsonst gewesen – glaube ich an den Beichtfilm. Mein Ziel ist es, irgendwann dreißig Filme zu haben, die in unterschiedlicher Form etwas über die Jahre ihrer Entstehung sagen. Der Hitlerfilm von ’88 hatte eine ganz pure Struktur, da waren wir noch auf dem Besinnungstrip. Ich hatte schon immer vor, etwas über Hitler zu machen, weil ich Hitler nur hinter Glas kennengelernt hatte. Unter der Glasglocke wird alles bloß stilisiert, also raus damit. Das ist wie eine Hostiendemonstranz, so eine Art Projektor, ich gucke auf etwas, und das strahlt zurück.

 

Damals standen die Mauern noch. Dann kam ’89 und der Mauerfall, und ich schulterte die Handkamera, es gab Blut, Stahl, Beton, DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER. TERROR 2000 funktioniert eher wie ein Fernsehspiel, fast konventionell. Alles ist möglich, alles ist machbar – das sind die 90er-Jahre.

 

Stichwort Beichtfilm: Worin besteht die Beichte? Hitler war Nazi, mein Vater war Nazi, also bin ich auch ein Nazi, pervers und kriminell?

 

Die Beichte besteht in der Erkenntnis der paranoiden Logik. Dramaturgisch ist nicht alles erklärbar, aber alles passt ins Bild und geschieht mit unheimlicher Konsequenz. Das führt nicht unbedingt zum nächsten Dritten Reich, aber es kommen immer mehr private politische Entscheidungen zum Tragen, es sind immer mehr Leute unterwegs in Deutschland, teilweise in Horden, die nicht geliebt werden, nicht akzeptiert werden, ihre Funktion nicht wissen und sich wie Adelheid Streidel einen Blumenstrauß und ein Messer kaufen, ein Attentat verüben und die Sache sozusagen selbst regeln. Auch Rössner und Degowski, die Gladbecker Geiselgangster, sind losgezogen nach dem Motto »Heute Abend sind wir in der Tagesschau«. Und der Journalist darf plötzlich Verkehrspolizist spielen.

 

Ist das nicht sehr fatalistisch? Das typische linke Totschlagargument: Wir sind eh alle Nazis …?

 

Bei mir stehen die Leichen wieder auf, das ist der Unterschied. Am Anfang sagt Rössner, der Gladbecker Geiselgangster: »Ich habe mit dem Leben abgeschlossen«, das hat er tatsächlich gesagt, und die Antwort von Degowski lautet: »Mir juckt die Schnauze«. Das ist doch wunderschön. Ich bin kein Fatalist, sondern Katholik. Ich möchte, dass es einen Sinn macht. Und der Staat ist nicht mehr in der Lage, Sinn zu stiften.

Mauern sind nicht schlecht, als Katholik glaube ich, wir brauchen neue Mauern. Nicht die Berliner Mauer, aber die im Kopf, denn sie helfen beim Erkenntnisprozess. Im Moment habe ich den Eindruck, wir erleben die Siebzigerjahre noch einmal. Alle machen, was sie wollen. Wir können Asylantenheime überfallen, die Polizei macht was sie will, die Regierung auch. Das finde ich sehr gefährlich.

 

Das klingt ja sehr staatstragend.

 

TERROR 2000 staatstragend?

 

Klar, wenn man davon ausgeht, dass die Horden nicht zu bändigen sind, braucht man einen starken Staat.

 

Ich mache meine Filme mit einer gewissen Naivität. Wenn Rostock vorher passiert wäre, wäre der Film so nicht zustande gekommen.

 

Woher kommen die Bilder?

 

Splatterfilme kenne ich kaum; ich träume zwar sehr viel, aber ich weiß meine Träume abends nicht mehr. Ich reiße auch keine Zeitungen auseinander und klebe das in ein Poesiealbum. Aber ich mache gern ein Kino der Handgreiflichkeiten. Mich fasziniert das Gesicht von Alfred Edel eben mehr als das von Brandauer.

 

Ich gehe beim Drehen immer so vor, dass ich einen Drehort suche, der das Team isoliert und die Aufnahmesituation sehr konzentriert. Ursprünglich wollte ich in der CSFR drehen, fuhr los, hatte kein Benzin mehr, 40 km von Berlin entfernt, bin rausgefahren in Massow, Behelfsausfahrt. Da gab es eine Tankstelle, einen Quelle-Restposten-Shop, mit Fähnchen, alles ein bisschen amerikanisch. Wir haben dann dort auf ehemaligem NVA-Gelände gedreht, der Felix-Dzerzinski-Kaserne, genau da, wo wohl auch mal RAF-Leute ausgebildet wurden. Drei, vier der übrig gebliebenen NVAler haben uns unterstützt. Sie können alles besorgen, haben sie gesagt, braucht ihr einen Panzer, kein Problem. Wir haben alle dort gewohnt – 9,50 DM pro Zimmer mit Gemeinschaftsdusche, da hat sich sowohl die Baronin (Irmgard Freifrau Baronin von Berswordt-Wallrabe) geduscht als auch Peter Kern. Gegessen haben wir in der Raststätte, Schweinehack und Salatteller.

 

Wie kam die Kombination Gladbecker Geiseldrama und Asylantenhatz zustande?

 

In beiden Fällen handelt es sich um private politische Entscheidungen. Und dann ist der Film ja Wiebke gewidmet, der Geisel, die am Ende abgeknallt wird. Sie ist Geisel von Gangstern, die auch zu Geiseln werden. Auch ein Asylbewerber ist eine Geisel in unserem Land, der ausgeliefert und benutzt wird, bis er nicht mehr kann oder nicht mehr will, andererseits gilt er in seinem eigenen Land als Gangster und musste von dort fliehen. Es geht immer darum, dass man in ein System reinrutscht, in dem man nicht sein will: der Mensch als Geisel im Gestrüpp der Ereignisse.

 

TERROR 2000 ist eine Co-Produktion von WDR und NDR. Wird er im Fernsehen laufen?

 

Es ist keine reine Fernsehproduktion. Gefördert wurde TERROR 2000 vom Filmbüro Hamburg, von der Berliner Filmförderung, vom Filmbüro Nordrhein-Westfalen, vom WDR und NDR. Das Fernsehen hat von Anfang an großes Theater gemacht. WDR-Redakteur Joachim von Mengershausen, der ja auch »Heimat« betreut hat oder Wenders-Filme, mag meine Sachen und unterstützt sie als etwas Fremdartiges, etwas, was er selbst so nie machen würde. Die meisten Redakteure unterstützen nur, was auf ihrer eigenen Linie liegt, denn eigentlich möchten sie selbst Regisseure sein. Deshalb haben wir ja so viel schlechtes Fernsehen. Und dann gab es noch Eberhard Scharfenberg und Doris Heinze beim NDR. Ich bekam die Auflage, dass ein Rechtsanwalt das Drehbuch überprüft. Daraufhin schalteten wir einen neutralen Rechtsanwalt ein, der ein Gutachten erstellte, ob die Gladbeck-Nummer öffentlich-rechtliche Belange oder Persönlichkeitsrechte verletzt.

Dann gab es lange Telefonate mit dem WDR-Fernsehspiel-Chef Gunter Witte wegen der Szene mit dem Innenminister. Ursprünglich saß er im Rollstuhl, und Witte meinte, das sei ja wohl Schäuble, der sei vielleicht umstritten, aber es sei doch ehrenhaft, dass er weiter so viel tätig sei. Ich meinte: »Was halten Sie davon, wenn er auf Krücken geht?« So haben wir uns auf Krücken geeinigt.

Schließlich hieß es, ich müsse eine fernsehautorisierte Fassung erstellen. Darauf ließ ich mich ein unter der Bedingung, dass ich den Film nicht beschneiden muss, denn er funktioniert meiner Ansicht nach wie eine Sehschule. Man kommt ins Kino, ist anfangs erheitert, dann irritiert und gerät allmählich ins Netz. Das muss erhalten bleiben. Ich habe gesagt, sie sollen mir die Stellen sagen, die sie nicht mögen, darauf lege ich dann Raster wie bei Spiegel TV, mache einen Balken auf den Priester oder lösche den Ton, und dann gibt es 15 Minuten Raster plus Piepser und das um 23 Uhr oder später, ist mir alles recht. Darauf hat Witte sich eingelassen.

 

Der Film wird wirklich so, gewissermaßen zensiert, im Fernsehen laufen?

 

Das ist noch unklar. Das Theater geht seit vergangenen Mai. Es gab eine Vorführung der Roh-Kassette beim NDR, daraufhin schaltete sich dort der Programmchef ein und sagte: Horrorvideo, unsendbar. Dann machte Witte einen Rückzieher, meinte: Blasphemie, Rundfunkgesetz. Seit Kohls offenem Brief wegen Philip Grönings »Terroristen« ist nun auch der Rundfunkrat hellhörig geworden. Zusätzlich hat ein CDU-Generalsekretär aus Nordrhein-Westfalen gefordert, das hiesige Filmbüro zu überprüfen, nicht zuletzt wegen TERROR 2000. Es soll jetzt eine Vorführung beider Filme im Landtag geben. Ein Sendetermin im Fernsehen steht jedenfalls immer noch nicht fest.

Moralist mit Kettensäge

Anlass: »Terror 2000«

Mit Harald Martenstein

In: Tagesspiegel 24.3.1993

Berlin, 1993

 

Es heißt, Sie seien das größte PR-Talent im deutschen Film.

 

Ja? Ich habe noch nie einen Pressemenschen angerufen und gesagt: berichten Sie doch bitte über mich.

 

Die Linke, oder was sich heute noch so nennt, reagiert besonders aggressiv auf Ihre Filme. Die Konservativen, die sonst eher zum Verbieten neigen, bleiben gelassener. Irritiert Sie das?

 

Diese Autonomen, die den Säureanschlag verübt haben, sind, glaube ich, sehr junge Menschen gewesen. Wahrscheinlich können die ganz einfach keine Bilder lesen. Ja, warum die Linke ausrastet? Ich lass’ mir einfach nicht verbieten, dass ich eine glückliche Jugend hatte und eigentlich ganz zufrieden bin. Ich sehe überhaupt keinen Grund dazu, düstere Filme zu machen. Und das kriegen die nicht zusammen: dass Schlingensief jemand ist, der freundlich dreinschaut und mal Messdiener war und andererseits diese Filme macht, wo es in gewisser Weise natürlich pubertär zugeht. Im KETTENSÄGENMASSAKER sagt Alfred Edel, dass in einer Zeit, in der alles möglich ist, es egal wird, ob etwas gut oder schlecht ist. Ich bin Moralist.

 

Erstaunlich. Bei Ihnen fließt kübelweise Blut, Köpfe platzen, es wird vergewaltigt und gebrandschatzt. Reiten Sie nicht einfach auf der uralten Tabubrecher-Masche herum, im Stil der Sechziger- und Siebzigerjahre?

 

Meine Filme sind apsychologisch erzählt. Es sind offene Kriegsschauspiele. Die Provokationshaltung der Siebzigerjahre liegt mir extrem fern, die belustigt mich eher, auch an diesem Haus hier (Volksbühne). Hier hat man mich meinem Gefühl nach eingekauft, damit ich mal so richtig draufhaue. Aber wenn bei mir zum Beispiel der Alfred Edel kotzt, dann tut er das nicht als Person, sondern weil er halt eine Sprechblase ist. Das Provozieren funktioniert bei halbwegs aufgeklärten Menschen sowieso nicht mehr. Nein, es geht um Kraft, um Energie, um Rhythmus.

 

Wie ist es zu der Zusammenarbeit mit der Volksbühne gekommen?

 

Nach TERROR 2000 hat nur ein einziger Filmproduzent bei mir angerufen. Aber vom Theater hat Heyme aus Bremen sich gemeldet, der Holk Freytag aus Wuppertal, vom Schauspielhaus dort, und der Chefdramaturg Lilienthal von der Volksbühne. Erst wollte ich nicht, weil ich mit Theater nicht viel am Hut hab’.

 

Die erste Inszenierung, das erste Mal schreiben fürs Theater?

 

Ja. In meinen Filmen ist das Theater nicht so angelegt wie zum Beispiel bei Schroeter das Opernhafte.

 

Haben Sie mal was von Castorf gesehen? Empfinden Sie eine Seelenverwandtschaft?

 

Ich hab’ »Lear«, »Rheinische Rebellen« und seine »Räuber« gesehen. Unsere Geschichte wird anders werden, so eine Art Wohltätigkeitsabend für einen Türken, dessen Haus verbrannt ist. Die Veranstaltung entgleist und wird zum »Wetten dass«-Spektakel, mit Video, mit Liveschaltung, mit Musik und ganz simplen Texten. Also triviale Sachen mit Schubert-Messe, heilig, heilig, heilig, die Welt, nicht, wie wir sie sehen, sondern wie Gott sie vielleicht sieht. Es gibt verschiedene Wetten. Der Edel wettet, dass er es schafft, innerhalb von zehn Minuten einen Judenstern an ein türkisches Lebensmittelgeschäft zu malen, und rennt dann aus dem Theater. Das INRI-Spiel, da geht es ums Kreuzigen, und Jesus tritt auf. Eine Frau wettet, dass sie komplett in ein Schwein steigen kann. Also genau die Welt, in der wir leben und die bei uns den Untertitel hat »Spiel ohne Grenzen«.

 

Ursprünglich hieß der Untertitel aber »100 Jahre CDU«. Gab es da Proteste?

 

Mir gegenüber nicht. Mein Vater war irritiert, der sagt: Das stimmt ja nicht, es sind noch gar keine 100 Jahre. Ich habe den Titel wegen des Gebäudes gewählt. Wenn man mal an Mielke denkt und die Schüsse auf die Polizisten, an die PDS-Zentrale hier in der Nähe, und man geht dann auf diesen Säulenhain zu, an dem rote Fahnen wehen, und da steht dann oben dick und fett »100 Jahre CDU« drauf, so als feierlicher Akt: das ist das richtige Bild für das, was ich sagen will. Ich suche die Bilder eben nicht in der Art aus, wie man es im Deutschkurs lernt. Wir machen Bilder. Das ist alles. Ich geb’ euch kein Leitbild, ich lass’ die Dinge aufeinanderprallen. Das soll keine Provokation bedeuten, Provokation wäre trivial, sondern eher eine Art Erfrischung.

 

Das Problem, das ältere und junge Linke mit Ihnen haben, besteht, glaube ich, in der Simulation einer Botschaft. Bei Ihnen sieht es dauernd so aus, dass Sie eine Botschaft hätten, wie man es ja von aufrechten Regisseuren gewohnt ist. Dann schaut man genauer hin und stellt fest, da ist nichts. Jenseits der Ästhetik der Filme befindet sich ein Vakuum.

 

Das sehe ich auch so. Aber nicht hier ein Spaß, dort ein Spaß, kein Larifari, sondern ein paranoides System. Der Paranoide oder auch der manisch Depressive handeln nach eigenen Gesetzen. Damit will ich nicht sagen, dass ich paranoid bin. Aber von Adelheid Strobl komme ich auf unterirdische Menschenfabriken oder solchen Quatsch. Ein paranoides System hat eine ehrliche Grundlage, es glaubt an sich und ist in sich geschlossen, aber es liefert keine Botschaft, auch wenn es so wirkt.

 

Das Erhabene und das Ekelhafte liegen im Fernsehen nur einen Knopfdruck auseinander. Beim Zapping durch die Kanäle erlebt man, dass es keinerlei ästhetische oder moralische Grenzen mehr gibt, hinter die man sich zurückziehen könnte. Die CDU hat, indem sie das Privatfernsehen durchgesetzt hat, eine totale Entgrenzung bewirkt.

 

Von dem Fernsehen, das ich als Kind erlebt habe, ging noch nicht dieser Verwesungsgeruch aus. Ben, Hoss und Joe Cartwright aus »Bonanza«, »Die bezaubernde Jeannie«, die Tiere waren Fury und Flipper. Alles hat noch sehr offen gewirkt, auch wenn mal versehentlich der Falsche erschossen wurde.

 

Sie haben auch mal an der »Lindenstraße« mitgewirkt.

 

Ich habe vor TERROR 2000 sechs Filme für insgesamt 540000 Mark gemacht, inklusive Fördermittel. Da verschuldet man sich. Es gab dann mal ein Treffen mit Geißendörfer, weil dem jemand von mir erzählt hatte, und der sagte, du kannst bei mir als Aufnahmeleiter anfangen. Ich hatte einen Jahresvertrag, bin aber nur ein halbes Jahr geblieben. Es war die Hölle. Ein verlogener Haufen …

 

Kann man da nicht eine Menge lernen?

 

Ja, wie man es nicht machen soll. Wie man Schauspieler nicht liebt …

 

Die »Lindenstraßen«-Darsteller gehören doch zu den populärsten Leuten im Land.

 

Die Leute an sich sind klasse, und völlig abgebrüht. Wenn abends die Marie-Luise Marjan nach den Dreharbeiten die Bluse auszieht und auf dem Tisch tanzt, dann merkt man schon, dass die Lindenstraße nicht ihre Welt ist. Ich könnte mir vorstellen, selbst eine Familienserie zu machen, dann aber nicht mit diesem falschen Realismus, sondern mit einem Realismus, bei dem die Bilder an den Wänden wackeln. Aber der Geißendörfer hat so eine Sozi-Haltung, der kriegt ja regelrecht Wutanfälle vor lauter Gerechtigkeit.

 

Auch da würden Sie der Spur von Fassbinder folgen, mit dem Sie gelegentlich verglichen worden sind. Das fordern Sie geschickt heraus, indem Sie Fassbinder-Schauspieler wie Margit Carstensen oder Udo Kier beschäftigen.

 

Ich nehme auch Alfred Edel und bin nicht der Kluge. Den Udo Kier habe ich rein zufällig kennengelernt. Fassbinder, da haben mir einige Filme gefallen, zum Beispiel »Veronika Voss«, andere habe ich nur mühsam durchgehalten.

 

Gibt es einen gemeinsamen Nenner der jüngeren Hoffnungsträger des deutschen Films, also Schlingensief, Gröning, Buck, Karmakar, Klein et cetera? Reden Sie miteinander?

 

Mit Karmakar telefoniere ich manchmal, Monika Treut kenne ich schon ziemlich lange, Gröning habe ich auch mal kennengelernt. Vor ein paar Jahren war ich in Oberhausen, da wurde dort irgendein Jubiläum gefeiert, und die Idee ging um: ein neues Manifest. Auf keinen Fall, habe ich gesagt. Was ist denn der deutsche Film? Wer ist denn der deutsche Film? Jede Menge Funktionärskappen. Wenn du nach New York fliegst von deinem ersparten Geld, dann kannst du sie in den Bars sitzen sehen, wie sie Champagner trinken.

Diesen pubertären Luxus leiste ich mir

Anlass: »Kühnen ’94«

Mit Christiane Voss

In: taz 7.2.1994

Berlin, 1994

 

Welche Bedeutung und Funktion hat Theater heute für dich? Und warum arbeitest du am Theater?

 

Es ist mir angeboten worden, deshalb bin ich da. Und Theaterbedeutung ist mir nicht ganz klar. Es gibt ja Theater für die Hummerfresserfraktion, fürs Feuilleton und für die Diskussionsfreudigen. An der Volksbühne gibt es eine neue Klientel, die daran gewöhnt ist, Reize sehr schnell aufzunehmen und für sich (!) zu verarbeiten. Ich selbst habe mit Theater eigentlich nichts zu tun. Vielleicht habe ich es zwanzigmal besucht und mich dabei meistens total gelangweilt. Ich bin auch nicht hier, um klassisches Theater zu machen. Spaß macht mir eher eine neue Form der Oper, Rhythmisierungen. Ich versuche zu bearbeiten, was mich wirklich interessiert. Dabei bin ich auf Symbolfiguren des intellektuellen Betriebes wie Erich Fried, Rosa Luxemburg, Petra Kelly etc. gestoßen, die nur noch Medienerfindung und keine Figuren mehr sind und deshalb nur noch in ihrer Macht als Potenzen wahrgenommen werden.

 

Warum bist du nicht beim Film geblieben? Dort musst du dich nicht auseinandersetzen mit einer Tradition, die dir nichts sagt.

 

Das ist ja das Interessante, dass diese Traditionen gar nicht mehr so aufgehen. Bei traditionsbewussten Leuten ist meine neue Inszenierung KÜHNEN ’94 ja total durchgefallen. Da war von Hinz bis Kunz klar, dass es sich dabei nur um pubertäre Scheiße handelt. Andererseits gibt es offenbar auch Interessenten, denn das Stück ist immer ausverkauft. Ich denke, diesen pubertären Luxus leiste ich mir einfach. Das Reizvolle an Theater ist auch, dass es auch während der Vorstellung live reagieren kann auf das, was passiert.

 

Worum geht es deiner Ansicht nach in KÜHNEN ’94?

 

Also, Michael Kühnen selbst interessiert mich überhaupt nicht, weil mich Museumswärter nicht interessieren. Reaktion und das reaktionäre Denken sind das Thema, nicht der Faschismus oder was dafür ausgegeben wird. Plötzlich zeigen die Leute von ihren Fenstern aus auf die Skinheads und schreien »Faschist«.

Die Richterskala der moralischen Bewertung schlägt aus bei Mölln und Solingen. Dann werden Katastrophen ausgerufen, Erdbeben. Aber alle, die damit zu tun haben, scheinen sich angesichts der Katastrophen nur noch zu stabilisieren. Dieses ganze Drumherum um eine solche Potenz wie Kühnen fokussiere ich, dem setze ich mich und den Zuschauern aus.

 

Als Zuschauerin hatte ich den Eindruck, ein aufgeklärt katholisch-moralisches Bürgersöhnchen holt angesichts der bösen Wirkungen der Medien zum trotzigen Rundumschlag aus. Man weiß nur nicht genau, wovon man eigentlich »befreit« werden soll.

 

Das freut mich. Es geht nämlich nicht um Aufklärung oder Befreiung. Sondern ich sage ja: Selbstprovokation. Ich biedere mich doch nicht an, wie leider in der letzten Aufführung, wo ich »Provokation« und »Tabuverletzung« die ganze Zeit plärre und damit aber nur bestimmte Feuilletonisten im Publikum angesprochen habe. Ich habe nichts am Hut mit Tabus.

 

Aber natürlich. Wenn du deine Figuren nackt, entgleist oder »Heil Hitler« schreiend über die Bühne jagst, hat das etwas mit Tabuverletzungen zu tun.

 

Nein, was soll denn das sein, ein Tabu? Tabu hat sich eine Firma in den Siebzigerjahren genannt, die Pornofilme hergestellt hat. Das ist ein uralter Begriff, der überhaupt nichts bringt. Mit Selbstprovokation meine ich das Ausloten dessen, worum es einem geht und warum man etwas tut. Unsere Wahrnehmungen sind doch so von Snobismus und Gleichgültigkeit geprägt, dass wir uns existenzielle Fragen eben nur da stellen, wo wir konkret berührt werden. Etwa nach einem Autounfall oder eben dann, wenn wir uns herausgefordert fühlen. Dann kommen plötzlich alle ins Schleudern, und das hat nichts mit Bubi, Mamasöhnchen oder Herrn Schlingensief im Besonderen zu tun.

 

Du arbeitest ganz bewusst mit Reizfiguren, die inhaltlich besetzt sind wie Alice Schwarzer, Mutter Teresa, Herrn Frey, Leni Riefenstahl etc. Was sind denn deine Kriterien der willkürlich wirkenden Zusammensetzung?

 

Jedenfalls sollen nicht einzelne Personen wie Petra Kelly oder Mutter Teresa fertiggemacht werden. Ich gucke viel Fernsehen und lese viel Zeitungen. Dort begegne ich am laufenden Band solchen Potenzen oder Kräften wie Petra Kelly und dem Dalai Lama, auf die ich reagiere. Das sind Synonyme oder Indikatoren der offiziellen Bewertungslandschaft, wie sie von den Medien gemacht werden. Das heißt, Orientierungsfiguren, die für klare Positionen und Bewertungen einstehen, nach denen alle schreien.

 

Und worin unterscheidest du dich dann, wenn du völlig aus dem Kontext gerissen wiederholst, was du aus den Medien kennst?

 

Ich kriege keine Tantiemen, wenn ich das mache, und auch keine Senderechte. Außerdem ist Theater im Unterschied zum Fernsehen zum Anfassen und live, das heißt, es wirkt unmittelbarer.

 

Ist das deine Medienkritik? Überzogen zu zeigen, was man so alles sehen kann im Fernsehen?

 

Eine kritische Position gibt es in dem Sinne nicht, dass ich dir jetzt etwas auf den Tisch knalle und sage, dass ich mich da- oder dagegen wende. Es gibt keine klare Botschaft! Wer das für sich in Anspruch nimmt, der lügt.

 

Also eher eine Bestandsaufnahme?

 

Nein, auch nicht. Ganz trivial gehe ich von dem aus, was mich – auch als Kleinbürger – betrifft, wovon ich merke, es setzt etwas in mir in Gang. Also Katastrophen beispielsweise setzen Ideen frei, die ich dann in den Proben immer wieder so lange bearbeite, bis der Funkenschlag sich beruhigt hat. Reibung und Bewegung interessieren mich daran.

 

Wenn du Faschisten nur als debile Mutanten zeigst, ist das konkret inhaltlich banalisierend und entpolitisierend.

 

Die Figuren aus dem Bonengel-Film »Beruf Neonazi«, die in meinem Stück vorkommen, Althans und Zündel, sind für mich auch keine politisch ernst zu nehmenden Figuren. Der eine läuft in KZ-Uniform herum, der andere wie Ludwig im wehenden Mantel, das finde ich einfach lächerlich.

 

Es gibt andere und ultrarechte Parteien, in denen ganz konkret politisch gearbeitet wird. Darüber hinaus sind Anschläge auf Menschen täglich überall in Deutschland Realität. Das ist doch nicht lächerlich.

 

Es bleiben für mich lächerliche Persönlichkeiten. Außerdem halte ich auch die Täter-Opfer-Debatte für verfehlt.

Das zeigt sich auch am neuesten Fall der Behinderten, die sich selbst das Hakenkreuz ins Gesicht geschnitten hat. Plötzlich gehen alle betroffen auf die Barrikaden, während sich niemand rührt, wenn achtzig andere Menschen zusammengeschlagen werden.

 

Das ist doch zynisch, ausgerechnet den Fall verallgemeinern zu wollen.

 

Zynismus vertrete ich nur, wenn Kleinbürger oder auch Linke nach radikalen Lösungen schreien. Der Punkt meiner Arbeit und Ästhetik liegt woanders. Ich gehe aus von konkreten Ängsten des Kleinbürgertums und der daraus resultierenden Obrigkeitshörigkeit, die wir alle abbekommen haben und die mir bis zum Hals steht. Das Kleinbürgertum ist immer das Zünglein an der Waage zwischen rechts und links gewesen, das heißt, die Klientel, die letztlich die Richtung entscheidet. Kultur spielt in diesem Zusammenhang auch eine Rolle, weil sie dafür sorgt, diese Ängste zu bebildern, zu beruhigen oder zu kanalisieren. Darum geht’s.

 

Heißt das, politische Phänomene wie Neofaschismus sind bloß hysterische Projektionen?

 

Bis zu einem gewissen Grad, ja. Man sollte darüber nachdenken, warum Katastrophen für uns so wichtig sind oder gemacht werden. Wenn Herr Schirinowski beispielsweise in Russland regieren sollte und ein paar Tests fährt, wissen wir angeblich, was es da zu verteidigen gibt. Ich wehre mich dagegen, dass wir diese Katastrophenzustände brauchen, um zu wissen, wer wir sind und wo wir stehen.

 

Warum sollte man sich dann deinem Katastrophentheater aussetzen?

 

Na, weil es auch Lust und Spaß macht. Das ist unterhaltend und soll es auch sein.

 

Das müsste dann aber schon eine masochistische Lust sein, sich mit Vergewaltigungsszenen und kreischenden Debilen zu konfrontieren.

 

Wieso? Viele Leute finden, dass es interessant und amüsant ist, zu sehen, worüber andere sich aufregen. Das ist zwar von oben herab gedacht. Aber wenn du schon ein Thema festmachen willst, dann geht es eben auch um Rezeptionshaltungen in meinen Stücken. Dabei gehe ich einfach von mir als einem Durchschnittsmenschen aus und verarbeite stellvertretend meine Reaktionen auf die täglichen Katastrophen. Dabei ist mir auch Ironie wichtig. Die wird mir ja ständig abgesprochen.