So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! - Christoph Schlingensief - E-Book

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! E-Book

Christoph Schlingensief

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Beschreibung

Ich habe lernen müssen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken. Wie weiterleben, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Lebensbahn geworfen wird, wenn der Tod plötzlich nahe rückt? Mit seinem Tagebuch einer Krebserkrankung lässt uns Christoph Schlingensief teilhaben an seiner eindringlichen Suche nach sich selbst, nach Gott, nach der Liebe zum Leben. Im Januar 2008 wird bei dem bekannten Film-, Theater- und Opernregisseur, Aktions- und Installationskünstler Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. Ein Lungenflügel wird entfernt, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen, die Prognose ist ungewiss – ein Albtraum der Freiheitsberaubung, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint. Doch schon einige Tage nach der Diagnose beginnt Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott – fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnet. Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott? Dieses bewegende Protokoll einer Selbstbefragung ist ein Geschenk an uns alle, an Kranke wie Gesunde, denen allzu oft die Worte fehlen, wenn Krankheit und Tod in das Leben einbrechen. Eine Kur der Worte gegen das Verstummen – und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an diese Welt.

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Christoph Schlingensief

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!

Tagebuch einer Krebserkrankung

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Christoph Schlingensief

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Christoph Schlingensief

Christoph Schlingensief, geboren 1960 in Oberhausen, Studium der Philologie, Philosophie und Kunstgeschichte in München. Seit Anfang der 80er-Jahre dreht Schlingensief Filme, mit der Deutschlandtrilogie (1989-1992) wird er einer größeren Öffentlichkeit bekannt. (100 Jahre Adolf Hitler, Das deutsche Kettensägenmassaker, Terror 2000, zuletzt African Twintowers) In den 90er Jahren wird er Hausregisseur an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (u.a. Kühnen 94, Rocky Dutschke, 68, Berliner Republik). Ab 1997 verwirklicht er aktionistische Projekte auch außerhalb des Theaters (u.a. Mein Filz, mein Fett, mein Hase, die Container-Aktion Bitte liebt Österreich und Church of Fear auf der Kunstbiennale Venedig). Anlässlich der Bundestagswahl 1998 gründet Schlingensief die Partei Chance 2000. Bei den Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen 2004 inszeniert er mit Parsifal seine erste Oper, die hymnisch besprochen wird. Inzwischen arbeitet er verstärkt auf dem Feld der Bildenden Kunst. Zuletzt inszenierte er auf der Ruhrtriennale 2008 das Fluxus-Oratorium Kirche der Angst vor dem Fremden in mir.

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Über dieses Buch

Ich habe lernen müssen, auf dem Sofa zu liegen und nichts anderes zu tun, als Gedanken zu denken.

Wie weiterleben, wenn man von einem Moment auf den anderen aus der Lebensbahn geworfen wird, wenn der Tod plötzlich nahe rückt? Mit seinem Tagebuch einer Krebserkrankung lässt uns Christoph Schlingensief teilhaben an seiner eindringlichen Suche nach sich selbst, nach Gott, nach der Liebe zum Leben.

Im Januar 2008 wird bei dem bekannten Film-, Theater- und Opernregisseur, Aktions- und Installationskünstler Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. Ein Lungenflügel wird entfernt, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen, die Prognose ist ungewiss – ein Albtraum der Freiheitsberaubung, aus dem es kein Erwachen zu geben scheint.

Doch schon einige Tage nach der Diagnose beginnt Christoph Schlingensief zu sprechen, mit sich selbst, mit Freunden, mit seinem toten Vater, mit Gott – fast immer eingeschaltet: ein Diktiergerät, das diese Gespräche aufzeichnet. Mal wütend und trotzig, mal traurig und verzweifelt, aber immer mit berührender Poesie und Wärme umkreist er die Fragen, die ihm die Krankheit aufzwingen: Wer ist man gewesen? Was kann man noch werden? Wie weiterarbeiten, wenn das Tempo der Welt plötzlich zu schnell geworden ist? Wie lernen, sich in der Krankheit einzurichten? Wie sterben, wenn sich die Dinge zum Schlechten wenden? Und wo ist eigentlich Gott?

Dieses bewegende Protokoll einer Selbstbefragung ist ein Geschenk an uns alle, an Kranke wie Gesunde, denen allzu oft die Worte fehlen, wenn Krankheit und Tod in das Leben einbrechen. Eine Kur der Worte gegen das Verstummen – und nicht zuletzt eine Liebeserklärung an diese Welt.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Dieses Buch …

Dienstag, 15. Januar

Mittwoch, 16. Januar

Donnerstag, 17. Januar

Freitag, 18. Januar

Samstag, 19. Januar

Sonntag, 20. Januar

Montag, 21. Januar

Dienstag, 22. Januar

Mittwoch, 23. Januar

Donnerstag, 24. Januar

Samstag, 26. Januar

Sonntag, 27. Januar

Montag, 28. Januar

Mittwoch, 30. Januar

Freitag, 1. Februar, tagsüber

Freitag, 1. Februar, abends

Samstag, 2. Februar

Sonntag, 3. Februar

Montag, 4. Februar

Dienstag, 5. Februar

Mittwoch, 6. Februar

Donnerstag, 7. Februar

Freitag, 8. Februar

Samstag, 9. Februar

Sonntag, 10. Februar

Dienstag, 12. Februar

Mittwoch, 13. Februar

Freitag, 15. Februar

Mittwoch, 20. Februar

Donnerstag, 21. Februar

Freitag, 22. Februar

Montag, 3. März

Dienstag, 11. März

Mittwoch, 12. März

Freitag, 21. März

Dienstag, 1. April

Montag, 7. April

Dienstag, 8. April

Freitag, 11. April

Donnerstag, 17. April

Freitag, 18. April

Samstag, 20. April

Mittwoch, 3. Dezember

Dienstag, 23. Dezember

Samstag, 27. Dezember

Für Aino

Auf dass die kreisenden Gedanken endlich ihren Grund finden

(C. S.)

»Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.«

Walter Benjamin

Dieses Buch ist das Dokument einer Erkrankung, keine Kampfschrift. Zumindest keine Kampfschrift gegen eine Krankheit namens Krebs. Aber vielleicht eine für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens. Meine Gedanken aufzuzeichnen, hat mir jedenfalls sehr geholfen, das Schlimmste, was ich je erlebt habe, zu verarbeiten und mich gegen den Verlust meiner Autonomie zu wehren. Vielleicht hilft es nun auch einigen, diese Aufzeichnungen zu lesen. Denn es geht hier nicht um ein besonderes Schicksal, sondern um eines unter Millionen.

 

So viele kranke Menschen leben einsam und zurückgezogen, trauen sich nicht mehr vor die Tür und haben Angst, über ihre Ängste zu sprechen. Ich habe erlebt, wie wichtig es ist, den Geschockten und aus der Bahn Geworfenen zurück ins Leben zu begleiten, ihn in seiner Autonomie als Erkrankter zu stärken, sich zu bemühen, seine Zweifel zu verstehen, ihm zu helfen, seine Ängste auszusprechen und diese – in welcher Form auch immer – zu modellieren. Die Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten – dieser ganzheitliche Blick ist wichtig und hilfreich. Aber viele Mediziner sind zu so einem Blick, der nicht zuletzt ein Akt der Großzügigkeit ist, nicht in der Lage, sei es, weil sie ihn nicht erlernt haben, sei es, weil der Druck unseres Gesundheitssystems ihnen keine Chance lässt. Daher sollte man sich als Erkrankter nicht nur der Medizin ausliefern – auch wenn sie heutzutage immer wieder großartige Erfolge vermelden kann.

Wenn Sie also erkranken und bemerken, dass Sie als Mensch kaum noch vorkommen und das Gefühl nicht loswerden, nur noch fremdbestimmt zu sein, dann beschweren Sie sich. Nicht nur bei Ihrem Arzt, sondern auch beim Gesundheitsministerium! Mir persönlich haben ein anthroposophischer Arzt, ein schulmedizinischer Arzt und eine schulmedizinische Ärztin sehr geholfen. Auch und gerade in ihrem Zusammenspiel.

Und wenn Sie gesund sein sollten, aber einen Erkrankten in Ihrer Familie oder Ihrem Bekanntenkreis haben, dann kümmern Sie sich um ihn, auch wenn Sie Angst haben, dass es Ihnen zu schwer wird. Teilen Sie sich die Hilfe mit anderen. Ohne meine Freunde, die ich in diesem Buch nicht alle mit Namen nenne, hätte ich es nicht geschafft, den Schock und die damit verbundenen, schier unendlichen Ängste zu überwinden.

 

Nicht zuletzt wünsche ich der Kirche, dass sie aufhört, uns mit den Geheimnissen des Jenseits unter Druck zu setzen. Das Leben ist zu schön, um uns Menschen permanent mit kommendem Unglück zu drohen. Gottes Liebe und Hilfe – egal, wer oder was das auch sein möge – sind keine Erziehungsdrops. Die Liebe Gottes manifestiert sich vor allem in der Liebe zu uns selbst! In der Fähigkeit, sich selbst in seiner Eigenart lieben zu dürfen, und nicht nur in dem, was wir uns ständig an- und umhängen, um zu beweisen, dass wir wertvoll, klug, hübsch, erfolgreich sind. Nein! Wir sind ganz einfach wunderbar. Also lieben wir uns auch mal selbst. Gott kann nichts Besseres passieren.

 

Wien, den 24. 3. 2009

Christoph Schlingensief

Dienstag, 15. Januar

Heute Nachmittag habe ich entschieden, ein PET machen zu lassen. Das ist ein Verfahren, bei dem man in eine Röhre gelegt wird, vorher bekommt man eine Injektion mit einer radioaktiven Substanz, die in 110 Minuten zerfällt. Das habe ich mir gemerkt. Und die ist mit Traubenzucker angereichert, verteilt sich im Körper, und an den Stellen, wo ein Tumor ist, ist mehr von diesen Ablagerungen zu sehen, weil ein Tumor viel verbrennt. Deshalb nehmen die Leute auch ab, wenn sie Krebs haben. An den Stellen, wo es dunkel ist, ist nix. Man kann mit diesen Bildern also den Tumor identifizieren und Metastasen finden. Das einzige Problem ist, dass auch jede Entzündung zu sehen ist. Wenn die Bilder morgen also sagen, im Zentrum von meiner Lunge gibt es einen Tumor, dann ist das vielleicht nur eine Entzündung, die aussieht wie ein Tumor. Diese kleine Tür bleibt noch offen.

Ist merkwürdig, weil ich schon immer mit Bildern zu tun hatte, eigentlich in Bildern lebe. Aber es gibt eben Bilder, die haben keine Eindeutigkeit, in so einem Bild befinde ich mich zurzeit. Und ich habe das schließlich immer gemocht, dass es Bilder gibt, die nicht eindeutig sind, die aus Überblendungen bestehen und auf die die Leute völlig unterschiedlich reagieren. Das wurde mir oft angekreidet, weil ich ja die ganze Zeit dastand als derjenige, der diese Überblendungen angezettelt hat. Es gab bestimmt genug Sachen, die ich gemacht habe, wo die Kritiker recht hatten. Vielleicht habe ich den Kern, den ich verfolgt habe, nicht immer ernst genug genommen, nicht richtig spüren können. Weil ich bei all den Projekten letzten Endes doch immer auf ein Ergebnis angewiesen war, das im besten Fall eine Belohnung mit sich brachte. Quält der Gedanke dich, dann denk ihn weg.

Diesmal wird das Ergebnis aber die Öffnung zu einem Weg sein, der noch gegangen werden muss, in welcher Form auch immer. Ich kann also jetzt nicht einfach sagen, ich warte auf das Ergebnis, gut oder schlecht. Im Negativen würde es bedeuten, man muss Dinge durchmachen, erleben und aushalten – die Dimension kann ich ja überhaupt noch nicht ermessen. Das andere Ergebnis wäre eben, es geht gut aus. Dann gilt es, nicht zu vergessen, was man in den letzten zehn Tagen durchgemacht und gedacht hat. Sich zu erinnern, an wie vielen Punkten man Klärung wollte, wo keine war, wie viele reinigende Momente man aber auch erlebt hat.

Ich möchte die letzten zehn Tage wirklich nicht missen. Das hört sich vielleicht komisch an, aber sie haben mit ihren Höhen und Tiefen mehr geklärt als alles zuvor. Wobei interessant ist, dass die Fragen »Warum ich?« oder »Was soll das?«, diese Fragen nach dem Spirituellen, sich mir bis jetzt nicht gestellt haben. Es kommt mir eher wie ein Umdenken vor. Und diese Aufzeichnungen sollen meine Gedanken jetzt erst einmal sammeln. Wobei nicht wichtig ist, wann welcher Befund kam. Das finde ich uninteressant. Und auch keine psychologischen Vorträge. Die folgen vielleicht noch. Mir erscheint es wichtig, in mein Diktiergerät vor allem Gedanken zu sprechen, die mir gekommen sind. Quält der Gedanke dich, dann denk ihn weg.

 

Habe mir heute ein Buch gekauft: »Die Bibel. Was man wirklich wissen muss« von Christian Nürnberger. Das lese ich jetzt, weil ich merke, dass ich die wichtigen Geschichten vom Alten und Neuen Testament gar nicht mehr kenne, obwohl ich Messdiener war und Religionsleistungskurs hatte. Meine Mutter erzählte mir eben, sie hätte das Alte Testament immer geliebt. Und ich weiß nichts darüber, habe das alles irgendwie verschluckt. Keine Ahnung, warum das so ist. Jetzt habe ich angefangen, über Abraham und Isaac zu lesen, über den Exodus, über das Umdenken. Wenn man sich das vorstellt: Die Frau von Abraham war 76 Jahre alt, und Gott hat Abraham trotzdem so viele Kinder wie Sterne am Himmel versprochen. Und dann sind sie von einem Land ins nächste gezogen, und nichts ist passiert. Das muss man sich mal vorstellen.

In dem Buch von Nürnberger stehen jedenfalls zwei, drei beeindruckende Sätze. Er schreibt: »Gott fordert, dass der Mensch darauf verzichtet, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Nur dann, wenn genügend Freiwillige bereit sind, sich auf diese ungeheure Forderung einzulassen, kann Gottes Plan gelingen. Weil diese Forderung so groß und die menschliche Bereitschaft, ihr zu entsprechen, so klein ist, darum harrt Gottes Plan bis heute seiner Erfüllung.« Und hier kommt der andere Satz: »Der Mensch glaubt nicht, dass er das Leben gewinnt, wenn er es drangibt. Daran scheitert Gottes Utopie.«

Tja, das Leben drangeben, um zu leben …

 

Ich bin heute auch noch einmal zum Grab meines Vaters gegangen. Es war schon duster, hat geregnet, und ich habe da gestanden und mich bei ihm entschuldigt für das, was ich gestern über den Zaun gerufen habe. Ich will einmal ganz alleine sein. Alleine auf der Welt.Ich hatte es nicht mehr ausgehalten im Krankenhaus, ich musste einfach mal raus. Da bin ich in eine Pizzeria und habe eine ganze Flasche Wein und zwei Grappa getrunken. Danach bin ich ziemlich angeheitert und schwadronierend durch die Straßen gelaufen. Irgendwann landete ich beim Friedhof, wo mein Vater liegt. Weil dort nachts abgeschlossen ist, habe ich über eine Mauer rübergebrüllt. Ich habe ihn richtig angeschrien: Was fällt dir ein? Was denkst du dir überhaupt? Was ist da überhaupt los?

Da ist mir klar geworden, dass ich im Kern gerne mal alleine auf der Welt wäre. Obwohl ich meinen Vater und auch meine Mutter sehr liebe: Wenn meine Mutter mal tot ist, dann bin ich zum ersten Mal alleine auf der Welt. Dann bin ich in Eigenverantwortung. Ich will einmal ganz alleine sein. Alleine auf der Welt. Ich will alleine dastehen und alleine sagen, so, das ist mein Leben. Und dann heul ich und dann bin ich völlig fertig mit den Nerven, aber dann bin ich wenigstens einmal ganz alleine.

Weil ich gestern Nacht rumgebrüllt habe, dass er das doch nicht ernst meinen kann, dass er was tun soll, habe ich mich jedenfalls heute bei meinem Vater entschuldigt. Ihm aber auch gesagt, dass ich diese schwarze Energie, diese schwarzen Felder nicht will. Dass ich vor allen Dingen nicht in diesen Pessimismus reinrutschen will, den ich bei ihm irgendwann nicht mehr ertragen konnte. Ganz aufgewühlt war ich. Und dann habe ich versprochen, dass ich eine Kirche, eine Schule, ein Krankenhaus und ein Theater, ein Opernhaus, in Afrika bauen werde, wenn das hier gut ausgeht. Das habe ich wirklich als Gelübde am Grab meines Vaters abgelegt. Dreimal habe ich angesetzt, dreimal konnte ich es nicht sagen, aber dann habe ich es wirklich ausgesprochen: »Ich verspreche euch …«

Es war ein total schöner Moment. Und dann – das hört sich jetzt spinnert an –, aber in dem Moment, als ich das gesagt hatte, wurde der Himmel so rot wie der Brokatstoff in den Bildern, die ich vor ein paar Tagen bei diesen Halluzinationen gesehen hatte. Das war wahrscheinlich Abstich in Duisburg, aber ich will so Sachen eben gerade sehen. Das kann einem albern vorkommen, aber dieser kurze Moment, als der Himmel direkt über mir rot wurde, war ein Zeichen für mich. Zum Schluss habe ich noch gesagt: »Ich will das machen, da kann mich keiner dran hindern.« Das war natürlich anmaßend, aber gemeint ist, dass ich das wirklich machen will.

Bin jetzt schon ein bisschen im Dämmerzustand, habe eine halbe Valium genommen, damit ich ein bisschen entspannter bin und nicht die ganze Nacht rumknobele. Das bringt ja nix. Also, dann trink ich morgen mal ein bisschen Nuklearmedizin, und dann sehen wir mal, was da flackert.

Mittwoch, 16. Januar

Gestern Abend habe ich noch gebetet. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht. Wobei mir vor allem dieses leise Sprechen, das Flüstern mit den Händen vor dem Gesicht, gutgetan hat, so wie nach dem Empfang der Hostie, wenn man bei sich ist und den eigenen Atem hört und spürt. Ich habe mir selbst zugehört, die Angst in meiner Stimme gehört. Einen Moment zu haben, wo nicht alles schon wieder auf der Bühne oder auch im Leben ausgesprochen ist, so eine Grenze, eine Hemmung zu spüren, ist ganz wichtig und richtig. Dennoch habe ich gerade bei dieser Scheiße hier keine Lust, alles in mich reinzufressen, immer nur alles nach innen zu kehren. Gestern habe ich auch mit meiner Mutter darüber geredet, dass ich wohl sehr viel von meinem Vater habe, dass er aber seine Sache, zum Beispiel seine Ängste wegen der Erblindung, nicht herausschreien konnte. Er konnte sich nicht entäußern, so kommt es mir jedenfalls vor.

Die Träume von heute Nacht kann ich gar nicht beschreiben, aber es waren wieder zusammenhängende Geschichten und keine Bilderfluten mehr wie in den letzten drei Nächten, als dieses Antipilzpräparat so komische Halluzinationen erzeugt hat. Das waren Bilder, die mich nicht berührt haben, die aber permanent da waren.

Heute Morgen bin ich von Geräuschen draußen auf dem Gang wach geworden und habe noch ein bisschen im Dunkeln gelegen. Da merkt man, wie einem wieder diese Angst in die Knochen schießt, dass das der Tag sein könnte, an dem entschieden wird, ob ich diesen Leidensweg gehen muss, diesen Weg mit vielen Beratungen und Behandlungen. Und die Frage tauchte auf, ab wann der Wille zu leben am Ende ist. Nicht am Ende, sondern an dem Punkt, wo der Wille sich einfach ergibt und sagt, ja, so ist es. Diese Frage ist mir heute Morgen in den Kopf geschossen und hat mich sehr berührt. Ich überlege auch, ob ich mir noch etwas gegen die Angst geben lasse, wenigstens für heute. Vielleicht ist das ja berechtigt. Dann denke ich wieder an Jesus, der beim letzten Abendmahl schon alles gewusst hat. Er wusste, dass er anschließend verraten wird, dass er den Weg zum Kreuz gehen muss. Das hier ist natürlich kein Verrat, aber doch ein Gang, der quält. Vielleicht war Jesus an dem Abend aber noch in verhältnismäßiger Ahnungslosigkeit, eher in einer Phase der langsamen Bewusstwerdung, dass er sich schon längst auf dem Weg befindet.

 

Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich glaube nicht, dass Jesus diesen Satz gesagt hat. Ich habe das Gefühl, dass das eher hieß: Mein Gott, ich fühle mich geborgen in dir, ich lasse mich fallen und glaube an das Gute, an einen guten Ausgang in Frieden. Damit meine ich, dass man vielleicht irgendwann in einen Zustand kommt, in dem die irdischen Dinge, die man alle so liebt, keine Bedeutung mehr haben. Vielleicht haben sie ja noch Bedeutung, aber diese Beurteilungsebene, warum bin ich nicht erfolgreich, warum kann ich das nicht haben, warum ist dieses und jenes nicht, ist nicht mehr wichtig. All diese menschlichen, erdverbundenen Dinge stehen dann plötzlich in einem anderen Kontext. Ich glaube wirklich nicht, dass Jesus gerufen hat: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Jesus hat einfach nur gesagt: Ich bin autonom.Diesen Satz hat er nicht gesagt, davon bin ich fest überzeugt. Das ist einfach Quatsch. Das ist nicht das Zeichen: Ja, ich bin auch so schwach wie ihr. Ich glaube, er ist einfach ganz still da oben gehangen, hat Aua gesagt und was weiß ich, aber er hat nie den Vorwurf gemacht, dass man ihn verlassen hat. Er hat einfach gesagt: Ich bin autonom.

Dass da Gott am Kreuz hängt und sagt: Gott, warum hast du mich verlassen, fand ich ja eigentlich toll. Das ist ja menschlich, dass er diese Ohnmacht, diese Weichheit und Unfähigkeit ausspricht, dachte ich. Inzwischen habe ich aber das Gefühl, dass der Auftrag seit Abraham eigentlich ist, die Dinge alleine zu machen. Zum Beispiel wenn die Frau 76 Jahre alt ist, trotzdem noch loszuziehen und zu sagen, irgendwann werden wir ganz viele Kinder haben. Eine andere Chance hat man ja nicht. Man kann nur sagen, ich bin jetzt 47 und ich werde noch 96 Kinder zeugen. Das ist irreal, aber ich mache es einfach und ziehe es durch. Wenn ich am Kreuz hänge und mich frage, warum ich verlassen wurde, habe ich mich ja doch auf jemand anderen bezogen. Das sind so Gedankenfetzen, die in meinem Kopf zurzeit rumkreisen. Ich kann das auch nicht besser beschreiben, es ändert sich jeden Tag.

Meine Beziehung zu Gott hat sich jedenfalls aufgrund der extremen Situation verändert. Man wundert sich, wie schnell das geht: Man hat sich von der Kirche abgewendet, und plötzlich ist man wieder da. Aber ich bin eigentlich gar nicht bei der Kirche. Mit diesem ganzen Brimborium kann ich nichts anfangen, mit dieser ganzen aufgeblasenen Veranstaltung, die glaubt, sie könne mir bei meiner eigenen Unfähigkeit, autonom zu werden, helfen, indem sie mir Traumschlösser baut oder Leidenswege beschreibt, die ich gehen muss, damit ich endlich zu mir finde. Das ist es nicht. Sondern ich will mehr wissen über Jesus, mehr wissen über den Gedanken Gottes und über das Prinzip Leben, zu dem auch das Sterben gehört, das Sterben, zu dem auch das Leben gehört. Darüber nachgedacht zu haben, ist eigentlich schon das Größte, was in diesen zehn Tagen passieren konnte.

Ich habe jetzt vor dieser PET-Untersuchung ein bisschen Lampenfieber, aber eigentlich bin ich guter Dinge und wünsche mir, mich in diese Stimmung übergeben zu können, die ich vor ein paar Tagen hier unten in der Krankenhauskapelle gespürt habe. Als ich einfach in der Wärme geborgen und beschützt war. Und natürlich bitte ich alle Kräfte, die so herumfliegen, und alle Dinge, die sich miteinander besprechen oder miteinander zu tun haben, dass sie mich auf einen guten Weg schicken. Und wenn es ein Weg wird, auf dem man mit Schmerzen, Kämpfen und aussichtslosen Situationen konfrontiert wird, ja, dann ist das so.

Aber ich kann das natürlich nicht wirklich so sagen. Ich kann das nicht. Das fällt mir schwer. Ich kann nicht sagen, ja, dann soll das geschehen. Nein, ich will leben. Ich will auf alle Fälle leben. Aber nicht, um wieder in diesen blinden Trott zu verfallen, noch schneller, noch mehr, sondern ich will ein Leben leben, das einen Sinn ergibt und sich den Menschen nähert.

 

Ich stehe am Zaun meines ehemaligen Kindergartens in Oberhausen und warte auf Aino, die noch im Krankenhaus ist, weil der Radiologe noch einmal das CT anschauen will. Nach der ersten Auswertung sagte er, das sei zu hoher Wahrscheinlichkeit ein Tumor. Und er hat noch einen zweiten entdeckt. Die Leber und das Skelett seien aber okay. Um Gewissheit zu haben, müsse man noch punktieren.

Ich habe das eigentlich alles sehr kühl aufgenommen. Das war für mich heute der Stichtag. Ergebnis ist: Tumor.

Jetzt reden zwar wieder einige, das könnte auch etwas anderes sein. Ich selbst hätte das natürlich auch gerne. Bringt alles nix. Ich kann noch tausend andere Wünschelrutengänger über mich laufen lassen, aber es geht jetzt darum, Tatsachen zu schaffen und keinen Blödsinn mehr zu verzapfen, nicht rumzujammern, o Gott, das wird ja nichts, oder o Gott, hoffentlich wird das was. Sondern da ist jetzt der Beweis: Da drinnen lebt ein unangenehmer Zeitgenosse. Ein Dreckskerl.

Aber ich habe Glück gehabt, dass er durch meinen Husten zufällig so früh entdeckt worden ist. Das hatte sich dieser Drecksgenosse wahrscheinlich anders ausgedacht. Deswegen hat der da drin einfach Pech gehabt. Denn auch wenn er jetzt Gas geben sollte – er ist früh genug gesehen worden. Jetzt lasse ich da reinpieksen, dann habe ich alle Befunde zusammen. Dann habe ich den Pathologen an der Leitung, und der wird mir sagen, das ist bösartig, das ist gutartig, das ist Entzündung, das ist Hefe, das ist der Tod oder ich weiß nicht was. Und wenn man endgültig weiß, das ist ein Drecksgenosse, dann fahre ich nach Berlin, mache am Wochenende in der Wohnung noch Klarschiff mit meiner Mannschaft und bespreche, was zu tun ist. Am Montag geht es dann in die Klinik in Zehlendorf, da lasse ich mich sofort operieren. Das Ding kommt raus. Und dann wollen wir mal sehen, wie wir das alles in den nächsten zwanzig Jahren organisieren. Wenn dann noch was kommt, dann wird das beseitigt. So nehmen wir das jetzt an. Und wenn wir mal heulen müssen, dann müssen wir auch mal heulen.

 

Komischerweise bin ich heute Abend immer noch richtig stabil. Nach dem Gespräch mit den Ärzten war ich mit Aino Nudeln essen. Sie hat mir mal so richtig die Meinung gesagt: Die Angst ist gelandet.»Du bist wie dein Vater, lebst im Konjunktiv, was wäre wenn und es könnte sein, dass … Kannst du jetzt echt mal mit aufhören. Du bist in der Gegenwart, und du willst eine Realität, und dann reagierst du.«

Seitdem habe ich einen klaren Kopf. Ich will das jetzt wissen. Antje hat den richtigen Satz gesprochen: Die Angst ist gelandet. Ja, meine Angst ist gelandet. Ich gehe heute Abend davon aus, dass ich Krebs habe. Das ist fast eine Erleichterung. Ich war die letzten Tage ja kurz vorm Überschnappen, weil ich mich in dieser Ungewissheit befand und all diese Fantasien losgingen. Auch durch diese Halluzinationen, die ich durch die Infusionen gegen den Pilz in meiner Lunge hatte. Ich lag bei Aino im Arm, hatte die Augen zu und sah plötzlich ein wahnsinniges Durcheinander an Bildern: Da waren irgendwelche Ritterburgen, dann bin ich an ganz großen Ornamenten vorbeigefahren, dann war ich plötzlich im Totenzimmer meines Vaters. Zwischendurch habe ich immer wieder die Augen aufgemacht, Aino gesehen und gesagt: »Das ist merkwürdig. Was ist denn das? Da sind so Bilder. Und ich träume ja nicht. Du bist doch da.« Dann habe ich die Augen wieder zugemacht und ein hässliches Gesicht gesehen, gleich darauf ein wunderschönes, ganz verklärtes Gesicht. Anschließend bin ich durch Räume geflogen, über Dächer, die aussahen wie in Nepal, habe immer alles von oben gesehen. Es endete in einem Wald, der vor mir stand, und im Hintergrund war die Sonne zu sehen. Dann hat sich der Wald bewegt, und ich habe gemerkt, dass das Algen unter Wasser sind, ich war also auch unter Wasser. Das Irre war, dass es am Schluss immer ganz, ganz hell wurde. Und das alles im völligen Wachzustand – das macht einen ja irre, da dreht man durch.

Heute aber ist die Angst gelandet. Ich weiß jetzt ungefähr, wo es hingeht. Ich will, dass das Ding rauskommt. Bin tatsächlich ein wenig in der Stimmung, die ich vor ein paar Tagen in der Kapelle erlebt habe. Da habe ich geredet, ganz leise vor mich hin geredet, obwohl niemand anderes da war. Habe gefragt, wie ich wieder Kontakt herstellen kann und wie ich begreifen kann, dass das jetzt ein Bestandteil vom Leben ist. Und ich habe mich dafür entschuldigt, dass ich mir dabei schon wieder selbst zugehört habe. Nach einer Zeit hat mir irgendjemand einfach die Stimme abgeschaltet. Ich bin ganz still geworden und habe hochgeguckt, da hing das Kreuz, und in dem Moment hatte ich ein warmes, wunderbares, wohliges Gefühl. Ich war plötzlich jemand, der sagt: Halt einfach die Klappe, sei still, es ist gut, es ist gut.

Mir fällt auf, dass ich so viele Sachen gemacht und wieder umgedreht habe, so viele widersprüchliche Gedanken gedacht und andere Leute dazu angestachelt habe, dass ich meinem eigenen Denken nicht mehr traue. Ich bin eigentlich ein Produktionsfaktor, ich treibe andere an und freue mich, wenn meine Gedanken durch andere durchgehen, und trotzdem:Wenn es um mich geht, dann bin ich plötzlich Zuhörer, Beobachter meiner selbst, weil ich mir selbst nicht traue. Weil ich weiß, dass ich gar nicht mehr in der Lage bin, tatsächlich zu glauben, was ich denke.

Das ist der Wahnsinn an der ganzen Sache, auch jetzt. Einerseits gehst du los und sagst, du machst das jetzt, das wird klappen, alles wird gut. Andererseits glaubst du dir diesen Optimismus nicht und denkst, ja, aber nachher habe ich nur noch einen halben Atem, beim Ficken pfeif ich aus dem Mund oder was weiß ich was, das wird doch alles nix mehr, das ist alles Scheiße hier.

 

Ich geh jetzt mal schlafen, weil ich morgen wahrscheinlich früh weitermachen muss. Und wenn ich dann unters Messer muss, will ich vorher noch ein paar Gedanken zur Heilige-Johanna-Inszenierung aufzeichnen, mit Carl, Leo und Julian als Protokollchefs, damit ein Konzept herrscht, das schon mal realisiert werden kann, bevor ich wieder auftauche. Tumor als BerufungUnd die Intendantin, die Frau Harms, rufe ich an, wenn ich das endgültige Ergebnis habe. Dann sage ich ihr, dass ich meinen Leuten ganz viele Ideen erzählt habe, dass die Bescheid wissen und alles vorbereiten, und dass ich jetzt mal kurz in Quarantäne gehe und dann zurückkomme, in einem Zustand, den ich noch nicht kenne, aber dass ich mir Mühe gebe, dass alles gut wird.

Und dann komme ich zurück, und wenn es nicht so gut läuft, wenn ich etwas schwächer bin, komme ich halt nur eine Stunde am Tag zur Probe. Dann schreie ich eben nur ein bisschen oder flüstere in ein Mikrofon, und das wird aufgeschrieben und umgesetzt. So machen wir diesen Opernabend, und das ist dann mein Beitrag zur Erlösung im Sinne von Reinigung oder von Verschmutzung oder von Tumor als Berufung.

Donnerstag, 17. Januar

Heute ist Donnerstag. Die Punktion in Oberhausen ist abgesagt. Um zehn Uhr kam die Nachricht, dass Dr. Bauer aus Berlin angerufen hat und sich gleich sehr nett erkundigt hat, was da los sei. Die Übergabe ist jetzt also organisiert. Dr. Weiland hier in Oberhausen meint, der Bauer sei sehr sympathisch, sei echt interessiert und würde sich nicht als Gott aufführen und so weiter. Die Befunde solle ich gleich abholen und mitnehmen nach Berlin.

Heute Nachmittag fliegen wir. Leo holt uns ab. Dann fahren wir in die Wohnung und treffen Imke und Julian. Und dann bequatschen wir alles und gehen vielleicht Pizza essen. Morgen um neun sitze ich im Sekretariat in Zehlendorf, und der Bauer schaut sich das an und macht vielleicht sogar schon morgen die Punktion. Ja, so sieht das aus. Eigentlich ist das schön. Und neben Aino zu schlafen heute Nacht war auch wunderschön.

Heute Morgen war ich auch wieder kurz traurig. Es schwankt zwischen Nicht-fassen-Können und einer gewissen Kühlheit oder auch Kühnheit. Und jetzt werden wir uns mal fertig machen, etwas frühstücken, dann die Sachen im Krankenhaus abholen und nach Berlin düsen. Ja, so sieht es im Moment aus.

Freitag, 18. Januar

Der Abschied von meiner Mutter gestern in Oberhausen war merkwürdig. Man merkt, wie sehr sie die Situation aufregt, aber auch, wie wenig sie das alles wahrhaben will. Dann stopft sie wie eine Irre Kuchen in sich rein, eigentlich total süß, aber auch verzweifelt um Normalität bemüht.

Man stellt sich ja vor, dass alle weinen, permanent um einen herum sind, der arme Christoph oder so. Aber wenn dann jemand sagt, so, ich gehe jetzt Fernsehgucken, dann kehrt er in eine Normalität zurück, die es für mich nicht mehr gibt.

Diesen Prozess habe ich bei meinem Vater erlebt. Er lag da in seinem Bett, hatte die Aufmerksamkeit von uns, Händchen halten und auch gucken, aber irgendwann ist man gegangen, weil man es nicht aushalten konnte. Man schafft es nicht, ununterbrochen bei jemandem zu sitzen, der nicht mehr am normalen Leben teilnehmen kann. Ich glaube, da gibt es ein Missverhältnis zwischen dem Erlösten und den Unerlösten, also zwischen dem Sterbenden und den anderen Menschen, den Gesunden, die noch glauben, sie könnten sich selbst erlösen, den Faden dazu aber verloren haben und nun wahllos nach Tauen, Seilen oder irgendwelchen anderen Gegenständen greifen, immer in der Hoffnung, den Faden zur Erlösung zu finden. Jemand, der schon halb tot rumliegt, ist aber so nah an der echten Erlösung, dass derjenige, der noch an die Täuschung, das irdische Abbild von Erlösung glaubt, das nicht aushalten kann. Das passt eben nicht zusammen.

Vielleicht biege ich mir das auch alles gerade zurecht, denn ich kann nicht abstreiten, dass ich mich manchmal sehr alleine fühle. Ich habe mir den Kamin angemacht und höre Mozart. Natürlich das Requiem. Aino ist heute Morgen wieder zur Probe gefahren, während für mich der Weg in die neue Klinik ein bisschen wie der Weg zum Schafott ist. Na ja, dann ist sie eben nicht dabei. Dann geht sie halt zur Probe. Sie braucht wohl auch Normalität.

 

Jedenfalls war gestern Abflug aus Oberhausen. Um halb fünf sind wir in Berlin gelandet, Leo hat Aino und mich abgeholt und nach Hause gefahren. Da warteten schon Julian und Imke, und das war sehr schön. Ist ein tolles Team. Wir haben gemeinsam beraten, was jetzt ansteht, was zu regeln ist, wenn ich unters Messer muss. M Irgendwann sind wir dann gemeinsam Pizza essen gegangen. Auch das war eigentlich sehr schön, aber auf dem Weg zum Lokal kam plötzlich der Gedanke hoch, dass es vorbei ist. Vielleicht nicht, dass es vorbei ist, aber dass das ein Gang durch eine Landschaft ist, die mir nicht mehr zur Verfügung steht. Dass ich mit meinen Leuten vielleicht nie mehr unbeschwert Pläne schmieden und Spaß haben kann. Solche Gedanken kommen. Und dann bricht plötzlich dieses Weinen aus. Kein Weinen, wo man sich bemitleidet, sondern ein unglaublich trauriges Weinen, so ein Trauerweinen, wo man eine Ahnung davon kriegt, dass das alles ja nicht immer so sein wird, dass das ja vorbeigeht. Und ich lebe doch so gerne.

Aber vielleicht habe ich auch nicht richtig gelebt, vielleicht habe ich nur sehr viel Hektik verbreitet. Obwohl ich mich auch verwöhnt habe. Ich dachte jedenfalls, ich hätte mich viel verwöhnt. Ich habe lecker gegessen, ich habe gern getrunken und ich habe gern lange geschlafen. Ich bin um die Welt gereist. Ich habe viele, viele Sachen machen dürfen. Eigentlich könnte ich dankbar sein. Aber man sitzt dann da und wird traurig, weil man sich wünscht, einfach wieder unbeschwert sein zu können. Man möchte sich eben keine Gedanken machen, ob das jetzt das letzte gemeinsame Essen ist. Gar nicht dran denken müssen – das wäre schön.

 

Gerade habe ich noch einmal überlegt, dass Jesus beim letzten Abendmahl wahrscheinlich doch nicht wusste, dass er anschließend verraten wird. Er hat gewusst, dass es irgendwann passieren wird, aber den genauen Zeitpunkt kannte er nicht. Den Tag und die Stunde und die Minute nicht zu kennen, das ist ja eigentlich gut, das ist ja letzten Endes der Beweis für die Offenheit des Lebens. Aber trotzdem möchte der Mensch partout das Datum wissen, möglichst noch auf die Sekunde genau. Dabei könnte er, wenn er wüsste, wann er stirbt, die Zeit davor nicht mehr genießen. Das wäre wohl das Schlimmste, was einem passieren könnte: wenn einem die Stunde des Todes auf die Minute genau vorausberechnet wäre. Denn selbst wenn es erst in fünfzig Jahren wäre, würde man von dem Moment an, wo man es weiß, runterzählen, könnte sich dem Leben nicht mehr öffnen. Es wäre wohl die radikale Unfreiheit.

Irgendwann sind wir dann aufgebrochen und ich bin in die Wohnung zurückgekehrt. Aino kam von der Probe und ist ziemlich schnell ins Bett gegangen, weil sie so müde war. Ich habe mich dazugelegt, das war paradiesisch. Es könnte echt alles paradiesisch sein.

 

Der heutige Morgen war ganz in Ordnung. Ich habe einen Berg E-Mails weggearbeitet und vor der Punktion noch schnell einen Zettel für den Fall der Fälle geschrieben.

Ein paar Dinge müssen geklärt sein. Ich möchte, dass meine Mutter bis an ihr Lebensende gut versorgt wird und alles verbraten kann, was an Geld reinkommt. Ein anderer Wunsch von mir ist, dass die Filme verfügbar bleiben. Außerdem sehne ich mich zurzeit sehr danach, dass meine Internetseite mehr Struktur bekommt, damit man sehen kann, was in den 47 Jahren alles passiert ist, was der Typ in seinem Leben so gemacht hat. Im Augenblick findet man sich einfach nicht zurecht. Ich möchte, dass man meine Sachen chronologisch verfolgen kann, nach Jahreszahlen geordnet. Und wenn man die Jahreszahl hat, kommt man in die Abteilung Projekt, und dann kommt man in die Abteilung Fernsehen, Theater, Oper, was weiß ich. Nicht so ein Durcheinander wie im Augenblick. Ich will, dass man sehen kann, in jenen Jahren ist das und das passiert. Schluss.

Und wenn nachher durch den Verkauf meiner Sachen wirklich etwas Geld reinkommt, dann fände ich es schön, wenn mein Büro hier noch zwei, drei Jahre weiterlaufen könnte, um alles ein bisschen zu ordnen, um Klarheit in meine Arbeit zu bringen.