Ich wollte einen Hund – jetzt hab ich einen Vater - Katy Karrenbauer - E-Book

Ich wollte einen Hund – jetzt hab ich einen Vater E-Book

Katy Karrenbauer

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Beschreibung

"Heute ist ein guter Tag!", beschließt Katy Karrenbauer, als sie wie sooft die Seniorenresidenz betritt, in der ihr Vater als "Inhaftierter" lebt, wie er selbst in klaren Momenten sagt. Seit er an einer fortschreitenden Demenz erkrankt ist, ist das Leben der beliebten Schauspielerin auf den Kopf gestellt. Alles dreht sich um ihren Vater – keine leichte Aufgabe, erst recht, wenn die Vater-Tochter-Beziehung seit 50 Jahren so kompliziert ist wie ihre. Kraftvoll und berührend zugleich erzählt Katy Karrenbauer die heiteren und traurigen Geschichten, die sie mit ihrem Vater bis heute erlebt – und damit auch ihre eigene Geschichte. Eine Geschichte über das Leben selbst, in der es um Nähe und Distanz geht, darum, lieben zu lernen, um Dankbarkeit, Pflicht und Schuld, um Vergessen und Verlust. Kurz: um das Leben in all seinen Facetten und die Herausforderungen, die es an uns stellt. Als Einzelne und als Gesellschaft.

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Seitenzahl: 279

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KATY KARRENBAUER

ICHWOLLTEEINENHUND —JETZTHABICHEINENVATER

KATY KARRENBAUER

ICHWOLLTEEINENHUND —JETZTHABICHEINENVATER

Wie wir durch die Demenzunsere Geschichte neu erzählen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2023

© 2023 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: Katy Karrenbauer

Satz: reinsatz. Roman Heinemann

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7474-0409-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-800-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-799-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

DANKE!

»Ach, Papa, guck mal. Ist der nicht süß?«, kichere ich mit glänzenden Augen. Wir beide, Papa und ich, starren dabei entzückt auf die kleine, französische Bulldogge namens »Zorro«, die gerade dabei ist, meinen Vater aufgeregt und fröhlich anzuspringen.

»Ja, sicher«, lacht mein Vater und streichelt den kleinen, übermütigen Zorro.

»Ach«, seufze ich, »ich hätte auch so gern wieder einen Hund.«

»Was willste denn mit einem Hund?«, raunzt er mir fast etwas mürrisch entgegen.

»Dafür hast du doch gar keine Zeit?«

»Wieso habe ich denn keine Zeit für einen Hund?«, zische ich vorwurfsvoll zurück.

»Na, du hast doch mich!«

»Stimmt. Ich wollte einen Hund, jetzt hab ich einen Vater«, erwidere ich, und wir beide schütteln uns vor Lachen.

Als ich begann, dieses Buch zu schreiben, wusste ich ganz genau, welche Geschichte ich zu Papier bringen wollte, und ich fühlte, dass es mir leicht von der Hand gehen würde.

Aber die dann kurz darauf einsetzende pandemische Lage veränderte alles schlagartig, und im Februar 2022 folgte das unfassbare Kriegsgeschehen in der Ukraine, das wiederum die täglichen Coronaberichte nahezu ablöste, als hätte es die letzten beiden Jahre nicht gegeben.

Mein Blick auf all das, was ich gern erzählen wollte, veränderte sich täglich, und das tut er bis heute.

Ich habe mich mit Situationen konfrontiert gefühlt, die ich mir für mein Leben so nicht gewünscht habe, und musste mich mehr denn je mit dem Tod, aber dadurch bedingt eben auch noch intensiver mit dem Leben auseinander- oder besser gesagt zusammensetzen.

Ich werde in diesem Jahr sechzig Jahre alt und habe die letzten vier Jahre mehr Zeit mit einem Menschen verbracht, als gefühlt in den letzten fünfundfünfzig Jahren zuvor. Meine ganze Welt hat sich verändert und dreht sich hauptsächlich um meinen Vater.

Ihm einen schönen und würdigen Lebensabend zu bereiten, wurde zu einem meiner wichtigsten Gedanken und zu einer Aufgabe, mit der ich nahezu jeden Tag seit dem 16.12.2018 beginne und beende. Niemals zuvor hätte ich gedacht, dass das Leben eines anderen Menschen mich so einnehmen könnte, wie auch die Geschichten und Erlebnisse drumherum, die Menschen, denen ich begegnet bin und begegne, der Blick auf das teils unwürdige Ende des Lebens, an dem Menschen alleingelassen werden, im wahrsten Sinne des Wortes ihrem Schicksal überlassen. Diese Erfahrungen haben mein Denken und auch meine Entscheidungen sehr beeinflusst, ebenso wie das Lachen und die Freude, der Witz des Alters, die Weisheit und Zuversicht vieler älterer Menschen.

So wurde ich zwischenzeitlich zum »Drogenkurier« für Zigaretten und Schnaps, mit denen ich die »Oldies« versorgte, übte mich im Hin- anstatt Wegsehen und auch darin, mir rund um das Schicksal meines eigenen Vaters auch die Geschichten der anderen anzuhören, kleine und größere Wünsche in Form von Schokolade, Eierlikör, Jogginghosen und warmen Mänteln zu erfüllen, die meist vom mickrigen Taschengeld nicht bezahlt werden können, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, »Leben in die Bude« zu bringen, wann immer es möglich ist, und ein kleines Lächeln auf die Gesichter derer zu zaubern, die ich erreiche.

Und hätte mir jemand erzählt, dass ich irgendwann verwundert auf die Schwielen in meinen Händen schaue und mich frage, woher diese wohl kommen, um dann erstaunt festzustellen, dass sie tatsächlich durch das fast tägliche Schieben des Rollstuhls meines Vaters entstanden sind, hätte ich wohl laut gelacht.

So, wie ich eben auch oft weinend ins Bett falle, weil mir einfach keine Lösung in den Sinn kommen will, wie ich sein Leben verbessern kann, und ich über meine eigene Unzulänglichkeit verzweifle, den Tag nicht um mindestens vier Stunden verlängern zu können, nicht immer parat zu sein und sein zu können für die Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse meines Vaters, denn ich muss ja auch mein eigenes Leben leben, und ohne Kraft und die entsprechende Energie, die ich in meinem Leben einsammle, bin ich, ehrlich gesagt, keine gute Stütze. Aber die will ich sein, dafür habe ich mich entschieden.

Bewusst.

Und ich habe großen Respekt vor den Angehörigen der anderen »Inhaftierten«, wie mein Vater sie inzwischen immer häufiger nennt, denen ich begegne und die sich ebenso wie ich bemühen, den Lebensabend ihrer Partner, Mütter und Väter, Tanten, Onkel oder Freunde lebenswerter zu machen, und natürlich den Pflegern, die sich dem Leid kaum entziehen können, das ihnen tagtäglich begegnet, denen ich teils sehr nah komme und deren Traurigkeit und Verzweiflung über die bestehende Situation ich oft spüre, die sie aber verdrängen müssen, so gut es eben geht, um nicht daran zu zerbrechen.

Manchmal, so scheint es mir heute, wirft das Leben einem »einfach so« Herausforderungen vor die Füße, als wolle es sagen: »Sieh zu, wie du damit klarkommst!«, und manche Menschen behaupten sogar, man bekomme so viel im Leben aufgeladen, wie man auf seinen Schultern tragen oder überhaupt ertragen kann.

Ich bin ehrlich, ich akzeptiere das so nicht.

Selbst wenn meine Schultern breit genug scheinen und schon viel »tragen« mussten, will ich mich nicht wie ein alter Esel fühlen, der einfach nur beladen wird, und auch die mir im Leben lieb gewonnenen Menschen, deren Schicksal durch schwere Krankheiten teils schon Vergangenheit ist oder in naher Zukunft sein wird, was mich immer wieder erschüttert, werden diesem Gedanken keinesfalls zustimmen, auch wenn sie vielleicht keine Antwort darauf haben oder je finden werden, warum gerade sie nicht länger bleiben dürfen, und sich manchmal die Frage stellen, ob dies einer Strafe gleichkommt.

Auch hier weigere ich mich, dies anzunehmen, denn bisher habe ich keinen erkennbaren Grund gefunden, warum der eine Mensch mehr Leid ertragen muss als der andere.

Krankheiten wie zum Beispiel Krebs, so hat mir vor vielen Jahren jemand erzählt, manifestieren sich angeblich, wenn man unschöne oder negative Gedanken hat, das Leben nicht lebt, nicht gut zu sich selbst ist und sich somit etwas im eigenen Körper verankern, festsetzen kann.

Auch wenn ich als Kind und später als Jugendliche meinte, immer alles sagen zu müssen und nichts in mich hineinzufressen, um bloß niemals an Krebs zu erkranken, und somit auch irgendwie entschied, ein oft unangepasster, unbequemer Mensch zu werden, der seine Meinung sagt und auch vertritt, selbst und fast immer auch auf die Gefahr hin, andere zu verärgern, zu verletzen und möglicherweise keinen guten und wohl erzogenen Eindruck zu hinterlassen, würde ich, wenn ich es heute nochmals entscheiden könnte, immer wieder so tun.

Dennoch glaube ich schon lange nicht mehr, dass sich darum »Knoten« in uns bilden. Zu viele Menschen habe ich schon zu Grabe getragen, bei denen diese Einschätzung oder Vermutung einfach nicht stimmig war und ist, auch wenn ich keine Erklärung dafür fand, wenn sie mich fragten, warum ausgerechnet sie vom Schicksal so hart getroffen oder von Gott verlassen wurden.

Die, die ich begleitet habe, haben alle unfassbar tapfer und mutig bis zum Ende gekämpft, bis zum letzten Atemzug.

Und wollten so gern leben.

Ich habe ihre Stärke kommen und gehen sehen, ihren Glauben, ihre Wut, ihre Wucht, ihre Verzweiflung, ihr Nichtloslassenwollen und -können, ihr verzweifeltes Ringen um eine verdammte Antwort auf die Frage: Warum ich?

Wenn ein Freund, eine Freundin friedlich, aber für mich viel zu früh, einschlief und die Gesichtszüge sich entspannten nach einem unfairen und ungleichen Kampf, dachte ich oft, der Anblick würde mir selbst den Schrecken nehmen, die Angst vor dem Tod und all dem, was danach kommt oder nicht, die Furcht vor dem Sterben zumindest, weil es dann irgendwann einfach ruhig wird und nichts mehr ist, außer dem Körper, den die Seele vielleicht verlassen hat.

Immer wurde es kühl. Ganz kühl.

Ich habe Spiegel verhängt, damit sich die Seele nicht am Spiegelbild festhält, und die Fenster weit geöffnet, damit sie fliegen kann. Ziehen, wohin auch immer sie will.

Sah ich einen Vogel am Himmel, wünschte ich von Herzen, dass er die Seele des Verstorbenen einfach davontrage auf weiten Schwingen. Das fand ich tröstlich.

Und bin ich auch dem Tod schon so oft begegnet und habe in sein furchtvolles Antlitz geschaut, ich selbst habe meine Furcht vor ihm niemals verloren, aber ich habe viel Stärke gefunden für das Leben an sich.

Und genau diese Stärke ist es, die mich tapfer und mutig macht für mein eigenes Leben, solange es währt, die mich auf den Schultern manchmal mehr tragen können lässt, als ich selbst glaube tragen und ertragen zu können.

Es ist vielleicht Empathie, aber ganz sicher eine sehr persönliche Entscheidung, ob man das Leben und die Menschen mag oder nicht.

Ich mag beide, beides.

Nicht alles, nicht immer, aber fast immer, und das ist, finde ich, ein guter und brauchbarer Schnitt, der mich allerdings manchmal auf Umwege führt, die mir dann im Nachhinein die besseren Wege zu sein scheinen.

Vielleicht nicht klug, sicher nicht immer rational, aber will ich das überhaupt sein? Muss man das sein?

Das Leben hat so viel zu bieten, so viel Schönes, wenn man eben auch auf die kleinen Dinge achtet, und ich würde wirklich gern alt werden, wenn das für mich so bestimmt sein sollte.

Aber wo? Und wie?

Ich habe keine Kinder, und ich würde mich ihnen, hätte ich welche, wahrscheinlich auch nicht zumuten wollen.

Wer also macht all das für mich, was ich bereit bin zu tun, wenn ich selbst mal nicht mehr kann, meine Schultern nicht mehr breit genug sind zu tragen oder es einfach nicht mehr können oder wollen?

Wird mich dann aus treuen Augen eine Hundeseele anschauen, die mir Wärme und Geborgenheit gibt und die mir sagt: Du und ich, durch dick und dünn, so wie es immer war?

Wird auch zu mir jemand, der mir vertraut ist, an Tagen, an denen ich nicht freudig in die Zukunft blicke, sagen:

»Lächle. Denn dein Lächeln ist mein Lohn«?

Wird jemand auch meine Hand halten, weil ich mich nach Wärme sehne, nach Menschlichkeit, und wird jemand mich in ein Spiel einbeziehen, das er gerade erfunden hat, weil es nicht wichtig ist, ob ich vertraut bin oder fremd?

Nimmt mich jemand mit nach draußen in die Welt, damit meine Gedanken nicht nur um mich selbst kreisen, bis sie keine Kreise mehr ziehen?

Wird auch jemand zu mir kommen, der mir Geschichten erzählt oder der an meiner Geschichte interessiert sein wird, auch wenn ich sie vielleicht zum wiederholten Male erzählen werde?

Oder werde auch ich stumm vor einem Fernseher sitzen und nicht mehr darauf warten, dass mich jemand besucht, weil es unwichtig geworden ist, weil es nichts mehr zu warten gibt?

All das geht mir im Kopf herum, während ich schon wieder in die dicke Jacke springe, auf dem Weg zum Supermarkt, um für meinen Vater Obst zu besorgen, das er so liebt, und mich einmal kräftig schüttle, bevor ich kurze Zeit später die Altersresidenz betrete, in der Hoffnung: Heute ist ein guter Tag für alle, denen ich begegne.

Alles andere werde ich Sie wissen lassen, wenn es so weit ist.

1

»Lädst du mich jetzt wieder ab? Muss ich wieder zurück ins Gefängnis?«, fragt mich mein Vater, als ich ihn kurz nach 16 Uhr die lange, steinerne Rampe hinaufschiebe.

»Aber das ist doch kein Gefängnis«, antworte ich mit fester Stimme, so, als wolle ich mich selbst vom Inhalt meiner Aussage überzeugen, auch wenn mich seine Sätze mitten ins Herz treffen.

Schuldbewusst fahre ich ihn durch die beiden Glastüren in den Innenraum des Altersheimes, der Pflegeresidenz, die ich liebevoll einfach nur »Residenz« nenne, weil es schöner und würdevoller klingt, schiebe ihn vor den Fahrstuhl, natürlich nicht, ohne vorher meine Hände desinfiziert zu haben, vorbei an dem Raum mit der Rezeptionistin, die er schwungvoll mit erhobener Hand und einem lauten »Hallihallo« im Vorbeifahren grüßt wie nahezu jeden Tag, nehme die Tüten, gefüllt mit Obst, Schokolade, diversen anderen Leckereien und Zeitschriften, von den Griffen des Rollstuhls und lasse mich meinem Vater gegenüber auf den cremefarbenen Sessel fallen, der schräg gegenüber der Fahrstuhltür steht.

Mein Gesicht ist mit einer FFP2-Maske bedeckt, und während mir der Schweiß von der Stirn in die Augen läuft und ich ihm noch mal erzähle, was wir alles »Schönes« für ihn eingekauft haben, dass wir doch einen tollen Nachmittag hatten und dass ich ihn natürlich morgen um die gleiche Zeit abholen werde, guckt er mich mürrisch an, wie so oft in letzter Zeit, und schießt mir ein »Nimm doch mal das Scheißding ab, ich verstehe dich nicht« entgegen, das ich mit einem überlauten »Aber das darf ich doch nicht« kontere, während sich fast unsichtbar Tränen mit meinem Schweiß vermischen und ich nach einem Tempotaschentuch krame, das ich nun immer bei mir trage, da er empfindliche Augen hat und ihm oft einfach so Tränen übers Gesicht laufen.

Ich bin dankbar, als sich die Fahrstuhltür öffnet, der Pfleger mich grüßt und ihn übernimmt, leider wie so oft falsch herum in den Fahrstuhl schiebt, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann, ich nochmals hinterher- und somit halb in den Fahrstuhl laufe, um ihm zu sagen, dass ich ihn lieb habe, und er mir entgegnet: »Das weiß ich doch, es steht ja auf meinem blauen Buch«, kurz lacht, als ich mich zurückziehe, damit der Fahrstuhl sich schließen kann, noch mal winke, was er nicht sehen wird, aber er hebt die Hand zum Gruße, als er hinter der stählernen Tür verschwindet, während ich wie ein geprügelter Hund meine Tasche greife, der Dame an der Pforte das Signal gebe, dass ich die Räumlichkeiten jetzt verlassen möchte, sich eine Glastür nach der anderen öffnet, ich mir die Maske vom Gesicht reiße, um endlich atmen zu können, tief Luft hole, mich schnäuze, schnell noch ein paar Zigaretten für Maria, die mir an der Treppe begegnet, immer fein gekleidet, als ginge sie zu einem Kaffeekränzchen mit guten alten Freundinnen, herauskrame und sie ihr lächelnd in die Hand drücke, wobei sie mir ein »Du bist immer meine Rettung« hinterherruft, meinen Fahrradschlüssel packe und ihr ein »Gerne doch, liebe Maria« zurufe, mich aufs Rad schwinge, weil ich es kaum erwarten kann, den Fahrtwind auf der Haut zu spüren, er wird die Tränen trocknen, mein Haar zerzausen wie auch meine Gedanken und mich für einen Moment, da ich mich auf den Verkehr konzentrieren muss, auf die E-Autos, die man kaum noch hört, und die Scooter, die mit irrsinniger Geschwindigkeit an mir vorbeirasen, links und rechts, scheißegal, wir sind ja nicht verwundbar, einen Gang höher schalte, damit mich die Anstrengung des Tretens vom Denken ablenkt.

Ich will oft nicht denken. Oder einfach nur nicht das denken, was ich denke. Früher war ich eine Meisterin darin, meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

»Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann«, dieses Zitat des Künstlers Francis Picabia begleitet mich schon sehr lange, und wenn ich früher festhing, also mein Denken, das an meine Gefühle gekoppelt ist, schaffte ich es meist, über einen kleinen, bewusst »schönen Gedanken« ein positives, warmes Gefühl in mir zu erzeugen, für einen Wimpernschlag, einen Augenblick, einen kurzen Moment, der dann den Verlauf meines Denkens in eine andere Richtung verschob.

Das gelingt mir auch heute oft noch, denn ich habe gelernt, das Leben positiv zu betrachten und aus allem, was mir begegnet, glaubhaft etwas Positives herauszuziehen.

Ich will einfach auch in allem Negativen etwas Positives sehen, ich finde es nahezu immer, auch wenn es manchmal etwas dauert, finde im Schwarz etwas Weiß, im Dunklen etwas Helles, in dem traurigsten Augenblick ein kleines Lichtlein.

Stand doch schon in meinem ersten Poesiealbum das Sprüchlein: »Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.«

Ich trete fest in die Pedale und weiß, mein Vater wird jetzt in sein Zimmer gefahren, der Rollstuhl hinten neben dem Bett, dessen Matratze ich auf Anfrage bis heute nicht in eine bequemere und bessere tauschen durfte, da dies in Altenheimen nicht zulässig ist, zusammengeklappt verstaut, neben seiner fast ein Meter hohen Figur aus Holz, von der er erzählt, dass sein Großvater sie aus Singapur mitgebracht habe, wobei ich wirklich nicht weiß, ob dies auch stimmt, aber er liebt sie und vielleicht hat er sie selbst mal aus Singapur mitgebracht, der Pfleger wird ihm helfen, seine Jacke und die Gesundheitsschuhe mit Lasche, die ich gerade neu gekauft habe, da ihn sein Hallux in absolut jedem anderen Schuh schmerzte, und es gibt diese Schuhe für ältere Menschen, in die er den gesamten Fuß bequem hineinstellen kann, leider nicht in schön, nur in bequem, auszuziehen, und er wird sich an den Tisch setzen, den ich gekauft habe, und sich auf einen meiner Korbstühle setzen, von denen er glaubt, sie gehören ihm, was aber egal ist, er findet sie bequem und ich darf sie nicht gegen altersgerechte tauschen, er wird in den »Stern« gucken und das »schwere Rätsel« suchen, aber vielleicht guckt er auch nur auf den Mercedesstern, den er aus seinem Zimmer sehen kann, dort am Ku’damm, über den ich selbst jetzt fahre, das Essen wird kommen und die vielen Medikamente, die er einnehmen muss, er wird nicht viel essen, weil er das, was er bekommt, nicht mag und ihm Essen sowieso nichts mehr bedeutet, außer wenn ich mit ihm essen gehe, was ich zur Zeit nicht darf, ich werde gleich noch kurz mit ihm am Telefon sprechen, bevor ihn unsere Freundin Ilona an diesem Tag zum dritten Mal, nun gegen 19 Uhr, anrufen wird, um ihm eine gute Nacht zu wünschen, und er wird sich, nachdem man ihm geholfen hat, die Stützstrümpfe auszuziehen, behütet auf sein Bettchen legen, aber vielleicht auch nicht, denn er möchte sicher eigentlich viel lieber noch einen Drink nehmen irgendwo, ein Schwätzchen halten mit guten alten Freunden oder einfach nach Hause fahren, dahin, wo »Oma und Opa« auf ihn warten, in das Haus, das er gebaut hat, und vielleicht bittet er mich gleich, dort anzurufen, damit sie sich keine Sorgen machen, und ihnen zu sagen, dass er heute in Finnland in der Bude bleibt und nicht mehr kommt, aber vielleicht macht er sich auch auf den Weg und man findet ihn am späten Abend im Keller mit seinem vollgepackten Rollator und seinem warmen Mantel, denn abends ist es schon recht kühl und der Weg nach Hause ist weit, aber eigentlich auch nur »um die Ecke«, zumindest für ihn, wenn er in der Vergangenheit verschwindet und sich nur schwerlich dazu überreden lässt, zumindest noch eine Nacht bei mir in Berlin zu bleiben und auf mich zu warten, bis ich ihn morgen abholen komme, wie jeden Tag, oder fast jeden, seit nunmehr nahezu vier Jahren, in denen wir uns wiederhaben, gute Freunde geworden sind und sich jeder über das eigentümliche Duo, das wir jetzt anscheinend abgeben, aber zuvor nie waren, freut und manchmal auch wundert.

2

Ich glaube, in letzter Zeit bemühe ich öfter mal ein »Lichtlein«, als ich mir selbst eingestehen mag.

Das »Lichtlein« zu benötigen, bedeutet in meinen Augen irgendwie Schwäche, und selbst wenn ich sie anderen nahezu immer zugestehe, denn Schwäche ist ja bekanntlich auch eine Form von Stärke, gilt das für mich selbst nicht oder nur selten, und meine eigene Schwäche kann ich überhaupt nicht leiden. Ich ertrage sie nicht, macht sie mich doch seltsam dünnhäutig und verwundbar.

Obwohl ich sie natürlich fühle, weil sie immer da ist.

Sie scheint gekoppelt an das immer wieder aufkeimende Schuldbewusstsein, das sich in mich geschlichen hat, ohne schuldig zu sein, jetzt einfach nur wieder einmal durch eine Entscheidung, die ich bewusst getroffen habe, weil mein Herz es überhaupt nicht zuließ, eine andere Entscheidung zu treffen.

Ich gebe zu, dass es in meinem Leben viele »Fehlentscheidungen« gegeben hat und dass ich den Preis dafür zahlte, zahlen musste, teils bis heute.

Preise, die mir oft viel zu hoch schienen für das Vergehen, das ich begangen habe.

Das Vergehen, zu lieben, Zuneigung zu schenken, helfen zu wollen, dabei zu sein, wenn sich Träume anderer verwirklichen, diese auch zu fördern und mich daran zu erfreuen, während meine eigenen auf der Strecke blieben, als seien sie wertloses Gerümpel.

Selbst schuld, werden die einen vielleicht zu Recht sagen, während die anderen sich fragen werden, ob sie das aus ihrem eigenen Leben nicht ebenfalls kennen.

Der tiefe, nahezu verzweifelte Wunsch, geliebt, gemocht und manchmal vielleicht einfach nur gesehen und wahrgenommen zu werden, liegt nämlich, ähnlich wie bei vielen anderen Menschen, möglicherweise auch bei mir schon in meiner Kindheit verankert, aber, da jeder ja schließlich durch seine ureigene Geschichte hindurchmuss, frei nach der Redensart: »Jeder ist seines Glückes Schmied«, die ja besagt, dass man angeblich mit »Mühe und Ausdauer« in der Lage sein soll, sein Leben zu verbessern, ähneln sich zwar viele Prägungen, aber natürlich sind es nicht die gleichen, denn ziemlich sicher hat nicht jeder denselben Einsatz an »Mühe und Ausdauer« geleistet, und ob diese Redensart tatsächlich stimmt und dann auch für alle Leben gilt, wage ich, ehrlich gesagt, stark zu bezweifeln.

Dennoch. Die Realität wahrzunehmen und sich ihr zu stellen, bedeutet ja auch, dass man seine Einstellung ändern kann, sein Handeln, also nicht nur die Richtung des Denkens, sondern auch die des Lebens und Wirkens an sich.

Ich habe unendlich viele Stunden mit der Analyse meines Lebens, Denkens, meiner Erfahrungen, meiner Verletzungen, meiner manchmal aufkeimenden Bitterkeit, meiner Sturheit, meiner Strenge und auch meiner verlorenen Leichtigkeit verbracht und versucht, daraus meine Schlüsse zu ziehen, vor allem aber, daraus resultierend mein Verhalten zu ändern.

Dummerweise muss ich mir allerdings eingestehen, dass es Muster gibt, die sich wiederholen, und als hätte ich das Geschehene zwar begriffen, tappe ich dennoch hin und wieder in dieselbe Falle, obwohl ich mir ganz fest vorgenommen habe, dass mir genau dies oder jenes nie mehr passieren werde.

Oft betrifft es mein überdimensionales Bedürfnis, anderen zu helfen. Aber warum benenne ich überhaupt den Akt der Hilfeleistung als »Falle«?

Ich habe mir einige Male in letzter Zeit die Kritik anhören müssen, dass ich wohl versuche, ein »Gutmensch« zu sein, vor allem, wenn ich über soziales Engagement sprach oder schrieb, und war und bin verärgert und empört darüber, denn das Wort »Gutmensch« ist leider eher negativ belastet, dabei sollte es doch für jeden Einzelnen erstrebenswert sein, ein »guter Mensch« zu werden oder am besten gleich »zu sein«.

Dass es immer wieder Menschen gibt und geben wird, die das im negativen Sinne für sich auszunutzen wissen, ist traurig, manchmal tragisch, aber letztlich wohl unbestritten. Ist also die eigentliche »Falle« möglicherweise einzig das menschliche Gegenüber?

Wie auch immer es ist, ich kann und werde mich niemals dafür rechtfertigen oder schämen, dass in mir etwas zutiefst glauben will, an etwas Gutes glauben will, und bin ich in einer Situation von Menschen enttäuscht worden, möchte ich es dem Nächsten, der durch die Tür kommt, nicht vorwerfen, dass sein Vorgänger »verbrannte Erde« hinterlassen hat.

Viele meiner Erfahrungen geben mir dabei recht und bestätigen diesen Gedanken und somit auch mein Handeln. Immer wieder aufs Neue, denn ich hege die Überzeugung, dass nahezu jeder eine Chance verdient, manchmal sogar eine zweite. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, und so habe auch ich eine dieser »Leichen im Keller«, einen Menschen, für den es bisher in mein Leben absolut kein Zurück mehr zu geben scheint.

Dennoch habe ich mich immer wieder im Verzeihen und Vergeben geübt und kann und möchte das Leben nur so begehen, auch wenn es dadurch keinesfalls leichter wird.

Spannender allemal, denn diese Entscheidung bedeutet, vielleicht sogar öfter als einmal über seinen eigenen Schatten springen zu müssen, was ich nur jedem wärmstens empfehlen kann.

In den vielen unterschiedlichen Gesprächen der letzten Jahre, vor allem mit älteren Menschen, hat sich etwas herauskristallisiert, das mir sehr zu denken gegeben hat.

Der Spruch dazu heißt: »Wer A sagt, muss auch B sagen«, was für diese Menschen nahezu gleichbedeutend damit ist, dass sie ihre Meinung keineswegs mehr ändern oder angleichen werden, egal, was passiert.

Eine Entscheidung, die oft auf allen Seiten viel Leid hinterlässt, viel Traurigkeit.

Bei näherer Betrachtung der Themen allerdings, die dazu geführt haben, zum Beispiel den Kontakt zu einem Menschen komplett abzubrechen oder zumindest nicht aufrechterhalten zu wollen, hat sich allerdings meist herausgestellt, dass es sich um ein Missverständnis gehandelt hat, oder um einen klitzekleinen Riss, der wahrlich zu kitten gewesen wäre.

Ich bin allerdings auch nicht esoterisch genug, um zu glauben, dass dies mein Karma sei, das sich in vorhergegangenen Leben schon abgezeichnet hat, unweigerlich für mich vorgesehen, und ich daher den Lauf der Dinge im »Hier und Jetzt« nicht aktiv verändern kann, eben alles so akzeptieren muss, wie es geschieht.

Oder doch?

Nein! Ich nehme das Leben tagtäglich weiter »bei den Hörnern«, stelle mich, finde mich ein, wohlgemerkt nicht »ab«, und suche nach einem Weg, der das Leben lebenswert macht. Für mich, aber auch für andere, indem ich das, was mir begegnet, in mir aufnehme, und wenn ich es für verbesserungswürdig erachte, versuche, wenn möglich, zu verbessern.

Und meine Erfahrung ist: Irgendwas geht immer.

Ist doch was.

3

Als mein Vater mich vor vielen Jahren am Telefon fragte, warum ich eigentlich mein Vermögen in den Sand gesetzt habe, behauptete ich, ich wisse es nicht genau, obwohl ich es natürlich hätte beschreiben können. Ich wusste ja, wie ich mich verhalten hatte, was ich wann gemacht und wo ich mich gegen mich entschieden hatte, gegen mein Bauchgefühl, gegen mein besseres Wissen, gegen nahezu alles, was ich gelernt hatte, aber wer wird schon gern nach der größten Misere seines Lebens gefragt und daran erinnert?

Ich selbst konnte mir mein Versagen zwar eingestehen, meine Hingabe mit allem Drum und Dran, meine fehlende Einschätzung, meinen fast exzentrischen, vor allem aber fast bis zur Selbstaufgabe zerstörerischen Drang, mein Wort und somit mein Versprechen, das ich gegeben hatte, zu halten, mir aber zu verzeihen, dass ich so weit gegangen war und bin, nahezu alles zu verlieren, was ich mir in vielen Jahren hart erarbeitet hatte, fällt mir auch heute noch manchmal schwer.

Dann hadere ich kurz mit mir, mein Gesicht bekommt mindestens eine Falte mehr, aber sehr schnell komme ich zu mir zurück und gehe weiter, Schritt für Schritt, schüttle mich, werfe den Kopf in den Nacken, wissend, es gibt kein Zurück. Es geht immer nur vorwärts.

»Du warst schon immer so«, hatte mein Vater damals am Telefon gesagt. »Als du klein warst, haben wir dich oft mitgenommen, zu Freunden oder auf Reisen. Meist hast du dann eine Tafel Schokolade geschenkt bekommen.«

Ich erinnere mich gut an die leckere Milka-Schokolade, die man erst aus dem starren, lilafarbenen Papier herausholte und dann mühsam aus dem eingeschweißten Stanniolpapier befreien musste.

»Du hast die Tafel dann in viele kleine Teile zerbrochen, bist losgelaufen und hast jedem davon ein Stückchen angeboten. Am Ende war kein Stückchen mehr für dich übrig.«

»Aha. Und was habe ich dann gemacht?«

»Du hast mich mit großen Augen angesehen.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich habe gesagt: Katy, erst nimmt man sich selbst ein Stückchen, und dann erst verteilt man, wenn man es möchte, den Rest an die anderen.«

»Schade, dass du mir diese Geschichte erst jetzt erzählst«, hatte ich erwidert, »sie sagt wirklich viel über mich aus. Vielleicht hätte ich mit diesem Wissen an mancher Stelle anders entschieden. Aber es ist, wie es ist.«

Diese Geschichte in einem der seltenen längeren Telefonate mit meinem Vater sagte in Wahrheit nicht nur viel über mich aus, sondern vor allem über ihn.

In seinem Leben kam er immer an erster Stelle und alle anderen danach, in meinem Leben kam ich eigentlich immer erst an zweiter Stelle.

Ich wollte und musste also unbedingt endlich lernen, die Nummer 1 in meinem Leben zu werden und zu sein.

Aber wie macht man das?

Eine langjährige Freundin riet mir vor Jahren, mich jeden Morgen vor den Spiegel zu stellen und laut zu sagen:

»Du bist die Königin.«

Das natürlich am besten gleich mehrfach hintereinander, bis das »Mantra« mein Inneres erreichen und ausfüllen würde. Ich habe es eine Weile versucht und tatsächlich stellte sich schon nach kurzer Zeit ein Gefühl größeren Selbstwertes ein.

Das ist allerdings schon sehr lange her, ich glaube, ich fing damals an, mich dabei zu langweilen. Aber jetzt, wo es mir gerade in den Sinn kommt, könnte ich es eigentlich mal wieder in meine tägliche Routine aufnehmen.

Aber zurück. »Nein« sagen zu lernen, wurde eine der größten Herausforderungen, die ich leider bis heute nicht beherrsche. Entscheidungen habe ich mir schon in meiner Jugend nie wirklich leicht gemacht, denn ich habe sie gefühlt mein ganzes Leben lang allein treffen müssen, oft ohne Beratung, ohne ein Gegenüber, ohne einen Sparringspartner, ohne den Schutz wärmender Arme, in die ich kriechen oder fallen konnte, wenn etwas schieflief.

Alles in allem habe ich einfach versucht, gewissenhaft mit mir, meinem Leben und dem Leben anderer umzugehen, was mir leider bei anderen bis heute immer noch besser gelingt als bei mir selbst. In gewissen Bereichen bin ich einfach extrem empfänglich, vor allem wenn es um Kinder, ältere Menschen und Tiere geht.

Anstrengend und nervig, weil ich dann auch zu einem gewissen Korinthenkackertum neige, aber so ist es nun mal, und ich kann und komme irgendwie nicht aus meiner Haut.

Glücklicherweise bin ich mit vielen Tieren aufgewachsen und hatte immer eine große Zuneigung zu den unterschiedlichsten Arten.

Als ich noch klein war, hatten wir Hamster, Schildkröten, Wellensittiche, Meerschweinchen und einen schwarzhaarigen Mischlingshund namens Toxi.

Toxi war in der Nachbarschaft in Duisburg zur Welt gekommen, als ich circa sechs Jahre alt war.

Ich hatte von meinen Freundinnen, die in meiner Straße wohnten, gehört, dass es »um die Ecke« einen Wurf gab, aber ich hatte die kleinen Hunde bis dato nie gesehen.

Eines Tages erzählte mir jemand auf der Straße, dass alle Welpen bis auf einen inzwischen abgegeben worden waren, aber für dieses eine kleine Hündchen, das angeblich so hässlich war, dass es niemand haben wollte, wurde noch dringend ein Besitzer gesucht.

Da die Familie aber nur einen Hund halten durfte, müsse der Kleine ganz schnell weg, sonst würde man ihn ertränken.

Ich war von dieser Erzählung so geschockt, dass ich spontan beschloss, das Hündchen aufzunehmen.

Natürlich hatte ich zu Hause niemanden um Erlaubnis gefragt. Ich klingelte bei den Nachbarn, bat darum, mir das Hündchen ansehen zu dürfen, war sofort schockverliebt in das kleine, pelzige Wesen, das mir fröhlich entgegenlief, und da ich auf die Frage, ob meine Eltern mir erlaubt hätten, ein Hündchen zu halten, einfach »Ja« gesagt hatte, gab man mir das Tierchen. 1968 war das kein Problem, heute natürlich undenkbar und das ist auch gut so.

Zu Hause angekommen, schummelte ich Toxi zu mir ins Zimmer, nahm ein gehäkeltes rotes Bändchen als Leine, und erst dann führte ich das kleine schwarze, vielleicht neun oder zehn Wochen alte Bündel meiner Mutter vor, nicht ohne dazu die dramatische Geschichte des bevorstehenden Mordes zu erzählen und damit das Herz meiner Mutter zu erweichen. »Dein Papa wird das nicht gut finden«, hat sie gesagt, aber Papa war wieder einmal nicht da, und ja, als er zurück war, fand er es auch nicht gut.

Vor allem, da Toxi sich nicht nur an den Tapeten, sondern auch an seinen Schuhen zu schaffen machte. Dennoch durfte Toxi bleiben und hat uns viele Jahre große Freude bereitet.

Ich glaube, in mir manifestierte sich damals der Gedanke, dass ich unserer Hündin Toxi das Leben gerettet und somit eine gute Tat vollbracht hatte.

Und natürlich erinnere ich mich auch intensiv daran, wie ich meinen ersten Wellensittich bekam.

Meine Schwester hatte schon einen Wellensittich, der gelb und grün schillerte. Aber Wellensittiche sind nicht gern allein, schon gar nicht in Gefangenschaft, und daher beschloss meine Mutter, dass ich zu meinem Geburtstag auch einen haben dürfe. Manche Tiere wurden damals noch auf dem Markt angeboten, und so ging meine Mutter eines kalten Tages mit mir über den Markt, und wir hielten an einem Stand, an dem sich viele Vögel in unterschiedlichen Käfigen und Volieren befanden. Während die Vögel auf unterschiedlichen Stangen saßen und manche davon tirilierten, hing ein Vogel einfach nur mit den Krallen an den Stäben der Seitenwände und zitterte herzzerreißend.

Er schimmerte helllila und die Federn unter seinem kleinen Bäuchlein waren fast silbern. Den wollte ich.

Den oder keinen. Dieses Häufchen Elend würde ohne mich keine Überlebenschance haben, dessen war ich gewiss.

Ich weiß noch genau, wie meine Mutter mich davon zu überzeugen versuchte, mir ein anderes Vögelchen auszusuchen.