Im siebten Himmel mit einem Vampir - Lynsay Sands - E-Book

Im siebten Himmel mit einem Vampir E-Book

Lynsay Sands

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Beschreibung

Samantha Willan ist Rechtsanwältin und liebt ihren Job über alles. Dennoch ist sie froh, sich im Cottage ihrer Familie einmal eine kleine Auszeit zu gönnen. Nachdem sie gerade erst eine schmerzhafte Trennung hinter sich hat, steht ihr eigentlich nicht der Sinn danach, einen neuen Mann kennenzulernen. Doch als sie die Bekanntschaft ihres gut aussehenden Nachbarn Garrett macht, gerät ihr Entschluss ins Wanken. Was Samantha nicht weiß: Garrett ist ein Vampirjäger. Er sucht nach einem abtrünnigen Vampir, der Menschen angefallen haben soll. Auch Garrett fühlt sich von der hübschen Samantha angezogen. Aber ist er nach achthundert Jahren als Junggeselle bereit für eine ernste Beziehung?

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Inhalt

Titel

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

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16

17

18

Impressum

LYNSAY SANDS

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Ralph Sander

 

Für Dave

 

Prolog

Warme Sommerluft strich über Tanyas Haut, als sie in die Nacht hinaustrat. Zwar war es kühler als zuvor an diesem Tag, aber immer noch heiß im Vergleich zum Coffeeshop mit seiner Klimaanlage. Sie atmete die feuchte Luft ein, als sie losging und ihren Blick über den so gut wie leeren Parkplatz schweifen ließ. Ihr fiel sofort der Van auf, der jetzt neben ihrem schweren Truck stand. Als sie nach der langen Fahrt angehalten hatte, um eine Pause einzulegen, war niemand außer ihr dort gewesen. Zudem war sie bis vor ein paar Minuten der einzige Gast im Lokal gewesen, bis der Fahrer des Vans hereingekommen war. Er war der Grund, weshalb sie jetzt schon wieder aufbrach. Der Mann war groß, schlank und dunkelhaarig, aber etwas an seinem blassen Gesicht und an diesem gierigen Blick, den er ihr zuwarf, brachte sie zu der Überzeugung, dass ihre Pause schon lange genug gedauert hatte.

Sie hatte die Fahrerseite ihres Trucks fast erreicht, da hörte sie hinter sich Schritte auf dem knirschenden Kies. Als Tanya sich argwöhnisch umdrehte, erkannte sie in ihrem Verfolger den Mann aus dem Coffeeshop. Die dunklen Haare und seine düstere Kleidung verschmolzen zwar mit der Nacht, doch sein blasses Gesicht und die silbernen Augen waren nicht zu übersehen.

„Ich wollte Ihnen etwas in meinem Van zeigen“, erklärte er, während er näher kam.

Spöttisch verzog sie die Lippen. Ganz sicher hatte er etwas, das er ihr zeigen wollte. Männer! Kaum fand einer von ihnen heraus, dass sie Truckerin war, schien er prompt zu glauben, das sei nur ein anderer Ausdruck für Schlampe.

„Ich will …“ Ihre Stimme versagte ihr den Dienst, und der Rest des Satzes, dass sie nichts davon sehen wolle, schien sich irgendwie aus ihrem Kopf zu verflüchtigen.

„Keine Angst, es wird Ihnen gefallen.“ Sein Tonfall war besänftigend, fast ein Singsang, und Tanya fühlte, wie sie ruhiger wurde und das Schrillen der Alarmglocken in ihrem Kopf sich in ein leises, fernes Läuten verwandelte.

„Es wird mir gefallen“, wiederholte sie flüsternd.

„Oh ja, ganz bestimmt“, bekräftigte er und bedeutete ihr näher zu treten, während er die Hecktüren seines Vans öffnete.

Sie musste feststellen, dass sie völlig selbstverständlich in den Wagen einstieg. Dann sah sie zu, wie er die Türen schloss und sie von der Welt um sie herum abschottete. Als er sich ihr zuwandte, schien das Silber in seinen Augen in Flammen zu stehen, schien förmlich Blasen zu werfen, während er nach ihren Schultern griff und sie zu sich heranzog. Ihr Blick wanderte zu seinem Mund, den er in diesem Moment öffnete, und sie entdeckte die Reißzähne, die augenblicklich zum Vorschein kamen.

Als er den Kopf vorbeugte, konnte sie den Blick nicht von diesen Zähnen abwenden, und sie folgte ihnen mit den Augen, bis sein Gesicht so dicht an ihrem Hals war, dass sie sie nicht länger sehen konnte. Sie nahm einen leichten Stich wahr, als sich die Zähne durch ihre Haut bohrten, und dann wurde sie von einer Woge der Lust durchflutet, die jedes andere Gefühl hinwegriss.

Ich habe doch gesagt, es wird dir gefallen, hörte Tanya ihn sagen, obwohl es nicht ihre Ohren waren, die diese Worte wahrnahmen.

„Ja … oh, ja“, stöhnte sie voller Ekstase und hob die Arme, um sich an seinen Schultern festzuklammern, während er ihr den Lebenssaft aussaugte.

 

1

„Tut mir leid, dass wir so spät losgefahren sind.“

Samantha Willan wandte den Blick vom sternenübersäten Himmel ab und sah überrascht ihre jüngere Schwester an. Sie hatten es sich auf dem hölzernen Landungssteg vor dem Cottage der Familie bequem gemacht, um die Abendluft und die wunderschöne Aussicht zu genießen. Zumindest hatten sie das getan, bis Jo auf die Idee gekommen war, sich zu entschuldigen. Als Samantha deren betrübte Miene bemerkte, legte sie ihrerseits die Stirn in Falten, beugte sich vor und stieß die junge Frau liebevoll mit der Schulter an. Dabei scherzte sie: „Das ist auch richtig so. Deinetwegen haben wir den Berufsverkehr verpasst, konnten nicht im Schneckentempo fahren und waren viel zu schnell am Ziel. Alles in allem war das zur Abwechslung mal eine schrecklich angenehme Fahrt, und du solltest dich wirklich schämen, dass du uns das zugemutet hast.“

Grinsend schüttelte Jo den Kopf. „Außerdem ist es schon nach zwei, wir haben gerade erst den Wagen ausgeladen, und das Cottage muss auch erst noch auslüften, bevor wir uns schlafen legen können.“ Sie hob herausfordernd die Augenbrauen. „Durch meinen blöden Job wird es für uns alle eine kurze Nacht.“

Sam zog die Nase kraus. Es war Sommer, die Sonne hatte den ganzen Tag auf das Cottage niedergebrannt, in dem es dank geschlossener Fenster und Türen so heiß war wie in einem Backofen. Auch wenn der Abend kühlere Luft mit sich gebracht hatte, stand die Hitze in dem kleinen, bestens isolierten Haus immer noch so, wie bei ihrer Ankunft. Bevor sie das Gepäck aus dem Wagen holten, hatten sie erst einmal alle Fenster weit aufgerissen. Sie hätten ja auch die Deckenventilatoren eingeschaltet, doch da durch ein Unwetter am Nachmittag der Strom ausgefallen war, mussten sie abwarten, dass die Nachtluft allmählich die heiße Luft vertrieb. Das konnte allerdings noch eine Weile dauern.

„Und?“, meinte Sam unbeschwert. „Wir haben ausgepackt, die Betten sind gemacht, und keiner von uns muss früh aufstehen. Wir machen Urlaub, wir können so spät schlafen gehen, wie wir wollen. Und bis dahin entspannen wir uns hier auf dem Steg und genießen die Aussicht. Also hör auf, dir irgendwelche Vorwürfe zu machen. Außerdem“, fügte sie ernst hinzu, „ist dein Job nicht blöd.“

„Ja, klar“, gab Jo lachend zurück. „Du bist Anwältin, Alex ist Köchin in ihrem eigenen Gourmet-Restaurant. Und ich? Ich arbeite in einer Bar.“

„Also bitte, du bist jetzt Managerin der Nachtschicht“, hielt Sam entschieden dagegen. „Und hör auf, dich mit uns zu vergleichen. Alex und ich sind sehr stolz darauf, dass du diese Beförderung bekommen hast. Und vergiss nicht, dass du dir damit dein Studium finanzierst. In meinen Augen ist so ein Job alles andere als blöd.“

Jo beruhigte sich wieder und brachte sogar ein flüchtiges Lächeln zustande. „Vermutlich hast du recht.“

„Du kannst vermuten, so viel du willst, aber ich weiß, es ist so“, beteuerte Sam und stieß sie erneut an. Dann verfielen sie wieder in Schweigen, sahen beide hinauf zum Himmel und erfreuten sich an der mit Sternen gesprenkelten Schwärze. Dass sie nur zwei Autostunden von Toronto entfernt waren, war kaum zu fassen, wirkte dieser Himmel doch, als würde er eine ganz andere Welt überspannen. Der Anblick hatte etwas Ehrfurchtgebietendes an sich.

„Warum haben wir nicht unsere Schlafsäcke mitgebracht?“, seufzte Jo leise. „Dann hätten wir unter freiem Himmel schlafen können.“

„Hier auf dem Steg?“ Sam lachte ungläubig. „Auf gar keinen Fall. Früher oder später würden wir alle drei im See landen. Oder wenn wir aufwachen, haben sich die Streifenhörnchen an uns gekuschelt, und über uns kreisen die Möwen und lassen ab und zu was fallen.“

„Igitt!“ Amüsiert gab Jo ihr einen Stoß und schüttelte dabei den Kopf. „Du bist so eine Pessimistin! Ich schwöre dir, ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der alles so schlechtreden kann wie du.“

„Ich rede nichts schlecht“, widersprach sie. „Ich sehe die Dinge nur realistisch.“

„Von wegen! Für dich ist ein Glas immer halb leer. Ganz ehrlich, du hast an allem irgendwas auszusetzen.“

„Mit anderen Worten, sie verhält sich ganz ihrem Naturell als Anwältin entsprechend.“

Sam und Jo setzten sich auf und sahen in Richtung Ufer, woher die amüsierte Stimme ertönt war. Da nur Schemen in der Dunkelheit zu erkennen waren, griff Jo nach der Taschenlampe und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl zuckte kurz hin und her und erfasste dann die älteste der drei Schwestern. Alex kam soeben die Schräge zum Steg herunter.

„Blende mich nicht“, bat sie und hielt sich eine Hand vor die Augen. Jo richtete den Lichtkegel auf den Boden, damit Alex den Rest des Wegs gefahrlos zurücklegen konnte.

„Danke“, sagte die und kam zu ihnen auf den Steg.

„War mir ein Vergnügen“, gab Jo zurück und drehte sich um, sodass der Lichtstrahl für einen Moment Sams Gesicht traf, ehe sie die Lampe ausschaltete.

Sam sah sekundenlang nur tanzende Flecken vor Augen und musste ein paarmal zwinkern, um die störenden Flecken loszuwerden. Doch gleich darauf schaltete Jo die Lampe wieder ein und leuchtete ihr erneut ins Gesicht.

„Hey!“, rief Sam und schirmte ihre Augen vor dem grellen Licht ab. „Hör schon auf damit!“

„Sorry, aber ich dachte, ich hätte was gesehen … Ich hab was gesehen!“, rief Jo im nächsten Moment triumphierend, als der Lichtstrahl über Sams Hals wanderte. „Du blutest.“

„Diese verdammten Mücken“, murmelte Sam. Die Biester hatten gerade Hochsaison. Mürrisch wischte sie sich über den Hals.

„Andere Seite“, bemerkte Jo hilfsbereit. „Das sind zwei Stiche.“

„Hmm.“ Alex ging in die Hocke, um sich die Stelle besser ansehen zu können, dann begann sie zu grinsen. „Das sind tatsächlich zwei. Dicht nebeneinander. Sieht aus wie ein Vampirbiss.“

„Ja“, stimmte Jo ihr zu und scherzte: „Wäre ich nicht die ganze Zeit über bei dir gewesen, würde ich sagen, Dracula hat dir einen Besuch abgestattet und hinterher nicht richtig sauber gemacht.“

„Mach mit so was keine Witze“, mahnte Sam und schüttelte sich.

Jo lachte über die Reaktion ihrer Schwester. „Den meisten Frauen würde das gefallen. Die haben Fantasien über solche Sachen.“

„Die haben ja auch keine Fledermausphobie“, konterte Sam. „Außerdem bezweifle ich, dass die meisten Frauen darüber fantasieren, von fliegenden Nagern gebissen zu werden.“

„Ich rede nicht von fliegenden Nagern“, gab Jo zurück, „sondern von einem Vampir.“

„Kommt aufs Gleiche raus“, brummte Sam angewidert. „Die verwandeln sich in Fledermäuse, Ratten, Wölfe und was weiß ich noch alles. Tut mir leid, ich stehe nicht auf so was.“

„Oh Gott, du bist ja so eine … so eine …“

„Anwältin?“, kam Alex ihr zu Hilfe.

„Ja, genau!“, rief Jo.

„Sag das nicht immer so, als ob es was Schlechtes sei.“ Sam warf ihren Schwestern einen finsteren Blick zu. „Ich habe lange darauf hingearbeitet, Anwältin zu werden.“

„Das stimmt“, beschwichtigte Alex und ergänzte dann: „Das blutet übrigens immer noch. Vielleicht solltest du es mit der Salbe gegen Insektenstiche versuchen.“

„Gute Idee. Ich wollte mir sowieso noch was zu trinken holen“, meinte Sam, ließ ihren Hals in Ruhe, stand auf und fragte: „Wenn ich sowieso gehe, soll ich noch jemandem was mitbringen?“

„Mir nichts, danke“, antwortete Jo.

„Ich hätte nichts gegen noch ein Bier. Eigentlich wollte ich eins mitbringen, als ich auf dem Klo war, aber dann hab ich es doch vergessen“, sagte Alex und griff nach Sams Ellbogen, um ihr Halt zu geben, da sie etwas wacklig auf den Beinen war. Amüsiert meinte sie: „Vielleicht solltest du für dich besser ein Glas Wasser mitbringen.“

„Sie trinkt bereits die ganze Zeit Wasser“, erklärte Jo, „und nicht einen Tropfen Alkohol.“

Alex sah besorgt zu Sam. „Nicht schon wieder eine Ohrenentzündung, oder?“

Sam nickte zögernd und wunderte sich nicht, dass Alex zu fluchen begann. Da sie wusste, dass dies nur die erste Stufe war, der ein Klagelied über die miesen Ärzte, das nutzlose Gesundheitssystem und die endlosen Wartezeiten bei einem Facharzt folgen würde, beschloss sie, sich das nicht anzuhören. Vorsichtig verließ sie den Steg und ging den leicht ansteigenden Rasen des Ufers hinauf, aber auf halber Strecke zum Cottage bedauerte sie bereits, dass sie nicht Jos Taschenlampe an sich genommen hatte. Sie befand sich nicht in einer Großstadt mit all den Straßenlaternen, die für Helligkeit sorgten. Sondern auf dem Land, wo die Nacht so schwarz wie dunkler Samt war und schwer über allem lag. Auf dem Steg war es ihr noch etwas heller vorgekommen, doch an Land wurde das wenige Licht der Sterne von den Bäumen abgefangen.

Sam hielt sich am Stamm eines jungen Ahornbaums fest, um sich kurz zu orientieren. Gerade wollte sie weitergehen, da hörte sie, wie die Haustür des Cottages gleich nebenan ins Schloss fiel. Alles war dort dunkel, und genauso hatte es schon ausgesehen, als sie angekommen waren.

Genau genommen war dort immer alles stockfinster. Vor zwei Jahren war das Cottage verkauft worden, doch bislang waren sie und ihre Schwestern den Nachbarn noch nicht einmal begegnet. Der neue Eigentümer schien sich nie dort aufzuhalten. Jedes Mal, wenn eine von ihnen dreien dort war, klopfte sie an dem anderen Haus, weil sie hofften, ihren Nachbarn endlich einmal kennenzulernen, aber es wurde ihnen nie geöffnet. Ihr Interesse kam nicht daher, dass sie besonders gesellig waren, aber das Leben dort lief anders als in der Stadt. Man war auf seine Nachbarn angewiesen, und auch wenn man sich gegenseitig mehr oder weniger in Ruhe ließ, wusste man doch ganz gern, mit wem man es zu tun hatte. Dass die Menschen aufeinander achteten, war eine zwingende Notwendigkeit in einer Gegend, in der öfter mal der Strom ausfiel und in der bei einem Notfall Hilfe verdammt weit weg war.

Im letzten Sommer war rund um den See viel über die neuen Eigentümer spekuliert worden. Grant, der Nachbar auf der anderen Seite, der das ganze Jahr über dort lebte, hatte davon berichtet, dass sich im letzten Winter ein paarmal jemand in dem Cottage aufgehalten hatte. Ihm war nachts Licht im Haus aufgefallen, außerdem hatte er einen Mann gesehen, der wiederholt in dem Schuppen gleich daneben verschwunden war, der aber mit niemandem in der Gegend gesprochen hatte. Bei Grant war so etwas auch eher unwahrscheinlich, wusste Sam doch, dass er selbst ein ziemlich verschlossener Typ war, der mit den Leuten rund um den See nur dann redete, wenn er für sie Klempnerarbeiten oder Ähnliches erledigte – und selbst dann beschränkte er sich auf das absolut Notwendige. Vermutlich hätte er seine Beobachtung überhaupt nicht erwähnt, wäre er nicht gefragt worden, ob er denn schon die neuen Nachbarn zu sehen bekommen habe.

Bei diesem Gedanken musste Sam zu Grants unbeleuchtetem Cottage schauen, während sie sich einen Moment lang fragte, ob die Geräusche womöglich aus dieser Richtung gekommen waren. Die Akustik am See war höchst eigenartig, sodass es sich sogar um Lärm handeln konnte, der auf der anderen Uferseite seinen Ursprung hatte.

Mit einem Schulterzucken ließ sie den Baumstamm los und ging weiter zum Haus.

„Cottages!“

Garrett Mortimer musste lachen, als er den angewiderten Tonfall seines Partners bemerkte. „Ich merke, du bist ganz begeistert von unserem Auftrag.“

Justin Bricker verzog den Mund. „Wir sind im Reich der Cottages, Mortimer. Cottages sind gleichbedeutend mit Sonne, Sand und Spaß. Wir sind Vampire. Wir meiden Sonnenschein wie die Pest. Was haben wir hier verloren?“

„Wir suchen einen abtrünnigen Unsterblichen“, erwiderte Mortimer ruhig, wobei es ihm gelang, nicht zusammenzuzucken, als sein jüngerer Partner den Begriff Vampire benutzte. Er konnte einfach nicht anders, ihm war – so wie vielen Älteren ihrer Art – das Wort schlicht zuwider. Es erinnerte ihn an aufständische Dorfbewohner mit Fackeln und Pflöcken.

„Weiß ich“, meinte Bricker spitz. „Aber aus welchem Grund sollte sich ein Vampir hier aufhalten, wenn er noch einen Funken Selbstachtung besitzt? Seit Stunden haben wir keine Straßenlampe mehr gesehen. Da draußen ist alles stockfinster. Ich wäre wirklich erstaunt, wenn außerhalb des Scheinwerferlichts überhaupt irgendetwas existierte.“

Mortimer lachte leise. „Außerhalb des Scheinwerferlichts existiert mehr, als du dir vorstellen kannst.“

„Ja, natürlich. Bären, Rehe, Waschbären und Kaninchen“, sagte Bricker unüberhörbar unbeeindruckt.

Zwar schüttelte Mortimer den Kopf, doch erst nach der nächsten, recht scharfen Kurve erwiderte er: „Seit wir den Highway verlassen haben, sind wir an Hunderten von Cottages und Häusern vorbeigekommen. Glaub mir, in der Dunkelheit halten sich unzählige Leute auf.“

„Meinetwegen“, lenkte Bricker mürrisch ein. „Aber ich garantiere, hier draußen ist kein einziger Unsterblicher unterwegs.“

„Tatsächlich?“ Mortimer hob eine Augenbraue, während seine Mundwinkel zuckten.

„Ja, wirklich“, beteuerte Bricker. „Kein Unsterblicher, der sich auch nur ein bisschen Selbstachtung bewahrt hat, würde sich hierher verirren. Dies ist einfach nicht die richtige Gegend für Leute wie uns.“

„Aha. Und was soll das heißen?“, fragte er ironisch. „Willst du damit sagen, dass alle Unsterblichen mit Selbstachtung momentan auf der anderen Seite des Globus zu finden sind, weil es da Winter ist und die Tage kürzer sind?“

„Nein, natürlich nicht“, knurrte Bricker gereizt. „Trotzdem werden sie sicher nicht in einem Cottage Unterschlupf suchen, sondern sich in Städten wie Toronto oder Montreal aufhalten, wo es ein unterirdisches System von Gängen und Tunneln gibt, damit sie nicht in der Sonne unterwegs sein müssen, wenn sie was zu erledigen haben.“

Mortimer nickte, stimmte den Worten aber weder zu, noch widersprach er ihnen. Tatsache war, dass eine Menge von ihren Leuten sehr wohl den Sommer an Orten wie diesen verbringen würden. Während Sterbliche im Winter den unterirdischen Gängen den Vorzug gaben, weil sie dort vor der bitteren Kälte geschützt waren, und im Sommer dort Schutz vor der Hitze suchten, waren Unsterbliche dort Sommer wie Winter unterwegs, solange die Sonne schien. So wurde ihnen eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, die lange Zeit in keiner Weise zur Debatte gestanden hatte. Am helllichten Tag konnten sie dort unterwegs sein, ohne sich Sorgen zu machen, ihr Körper könne darunter leiden.

Er warf seinem Partner einen Blick zu. Brickers gut aussehendes, kantiges Gesicht wies einen unzufriedenen Ausdruck auf. Ihm entging auch nicht, wie der jüngere Mann sich frustriert durch seine dunklen Locken fuhr. Während er sich wieder auf die Straße konzentrierte, meinte er: „Die Informationen, die wir haben, besagen eindeutig, dass hier in der Gegend ein halbes Dutzend Sterbliche mit Bissspuren gesehen wurde.“

„Ich weiß, aber es ergibt einfach keinen Sinn, dass sich ein Vampir hier herumtreibt.“

„Vielleicht macht er es ja gerade deshalb“, überlegte Mortimer. „Wie du selbst sagst, ist dies der letzte Ort, wo man einen Unsterblichen vermuten würde. Und weil es hier von Cottages wimmelt, herrscht unter den Sterblichen, die alle nur daran interessiert sind, die Sonne zu genießen und ihren Spaß zu haben, ein Kommen und Gehen. Die kümmern sich nicht darum, wer ihr Nachbar ist.“

Bricker reagierte erschrocken. Offenbar hatte er diesen Aspekt bislang nicht in Erwägung gezogen.

„Du musst zugeben, dass es ein verdammt gutes Versteck ist“, fuhr Mortimer fort. „Fast jedes Cottage, an dem wir bislang vorbeigekommen sind, ist von Bäumen umgeben. Außerdem fühlen sich die Leute hier oben sicher, also sind sie nicht besonders wachsam oder skeptisch. Ein abtrünniger Unsterblicher wäre hier der Fuchs im Hühnerstall.“

„Schätze, du hast recht“, murmelte Bricker nachdenklich. „Draußen ist es stockfinster. Er könnte sich an Leute heranschleichen, die um ein Lagerfeuer herumsitzen, und einen von ihnen weglocken, um mal eben zuzubeißen. Und dann könnte er gleich wieder verschwinden, ohne dass ihn irgendjemand zu Gesicht bekommt.“

Mortimer brummte zustimmend, während er auf die kleinen grünen Schilder im Blattwerk am Straßenrand achtete, von denen jedes eine Abzweigung von der Hauptstraße kennzeichnete, die zu einem Cottage führte, das irgendwo in der Dunkelheit verborgen lag. Ihr eigenes Cottage entpuppte sich als das letzte, zu dem ein Pfad von dem Kiesweg führte, auf dem sie unterwegs waren. Mortimer bog ab und verzog den Mund, als der Wagen über den Feldweg holperte. Die Bäume zu beiden Seiten schienen kein Ende zu nehmen, dann endlich tauchte im Licht der Scheinwerfer ein bräunliches Gebäude auf.

„Willkommen am Ende der Welt“, knurrte Bricker, der sich während der Fahrt über die Holperstrecke die ganze Zeit über am Griff über der Beifahrertür festgeklammert hatte. Fast tonlos fügte er dann noch hinzu. „Das hier ist ja so gar nicht meine Welt.“

Mortimer lächelte flüchtig und gab zu: „Meine auch nicht, aber irgendjemand fühlt sich hier richtig wohl, sonst wären wir jetzt nicht da.“

„Genau. Unser Abtrünniger“, murmelte Bricker missbilligend.

„Und Decker ebenfalls“, fügte er hinzu. „Immerhin ist es sein Cottage, in dem wir uns einquartieren, solange wir hier oben sind.“

„Stimmt, allerdings war er auch schon immer ein komischer Kauz“, hielt der Jüngere dagegen. „Er ist der Einzige, dem es Spaß machen kann, irgendwo in der Pampa zu wohnen.“

Die Beleidigung gegenüber ihrem Kameraden Decker Argeneau Pimms entlockte Mortimer ein schiefes Grinsen. Als Jäger des Rates arbeiteten sie immer wieder mit anderen Teams zusammen, und besonders häufig bestand dieses andere Team aus ihren Kollegen Decker und Anders. Die vier kamen gut miteinander aus, und sie mochten sich, auch wenn ein zufälliger Beobachter das nicht hätte glauben wollen, wenn er sah, wie sie sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen.

„Dass Decker ein komischer Kauz ist, finde ich auch“, unterstrich Mortimer amüsiert, dann ergänzte er: „Aber offenbar fühlt sich von dieser Gegend mindestens ein weiterer Unsterblicher angezogen, denn es muss einer von unseren Leuten gewesen sein, der die Bissspuren entdeckt und sie dem Rat gemeldet hat.“

Diese Meldung war der Grund, weshalb sie gekommen waren. Sterbliche zu beißen war verboten, und der Rat hatte sie beide losgeschickt, damit sie der Sache nachgingen. Ihre Aufgabe war es, den Schuldigen zu finden und ihn zum Rat zu bringen, damit der sich weiter mit ihm befassen konnte.

„Wissen wir, von wem diese Meldung kam?“, fragte Bricker neugierig.

„Lucian weiß das mit Sicherheit, trotzdem hat er mir keinen Namen genannt.“ Einen Moment später ergänzte er: „Vermutlich ist das auch nicht weiter wichtig.“

„Vermutlich nicht“, stimmte der andere Mann zu, dann flüsterte er: „Jesus!“

Mortimer hatte den Motor abgestellt, gleichzeitig gingen die Scheinwerfer aus, sodass sie in ihrem Wagen schlagartig nur noch von Schwärze und Stille umgeben waren.

Die Dunkelheit war so vollkommen, dass Mortimer fast glauben konnte, tatsächlich das Ende der Welt erreicht zu haben und jetzt in die Leere des Alls zu starren. Er sprach aber nicht aus, was ihm durch den Kopf ging, stattdessen saß er da und wartete, dass sich seine Augen an die Finsternis gewöhnten. Es dauerte einen Moment, dann wich die Schwärze verschiedenen Grauschattierungen.

„Hörst du das?“, fragte Bricker leise.

„Was?“, gab Mortimer verwundert zurück. Ihm fiel nichts auf.

„Nichts“, antwortete Bricker. „Absolute Stille.“

Mortimer lachte lautlos und atmete aus, dann nahm er den Rucksack vom Rücksitz, öffnete die Fahrertür und kletterte aus dem Wagen. Er streckte und dehnte sich, um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bekommen. Zwar hatten sie unterwegs einige Male Rast gemacht, aber der letzte Abschnitt ihrer Fahrt war der längste gewesen, und alle seine Gelenke waren steif.

„Jesus.“

Der erneute Ausruf, der diesmal fast ehrfürchtig hingehaucht wurde, veranlasste Mortimer, sich prompt zu Bricker umzudrehen, der neben der geöffneten Beifahrertür stand und mit weit aufgerissenen Augen in den Himmel starrte. Mortimer folgte dem Blick und betrachtete genauso gebannt den Sternenhimmel, der an eine schwarzblaue Leinwand erinnerte, auf der man eine Handvoll Diamanten verstreut hatte. Für Mortimer war das kein ungewohnter Anblick, denn vor der Bevölkerungsexplosion und dem Siegeszug der Elektrizität hatte man in jeder Nacht so etwas sehen können. Aber natürlich war Bricker nicht so alt wie er, weshalb er diese Zeit nicht hatte miterleben können. Mortimer sah den faszinierten Mann an. „Schön, nicht wahr?“

„In meinem ganzen Leben habe ich noch nicht so viele Sterne gesehen“, murmelte Bricker, der den Anblick des Himmels begierig in sich aufnahm.

Nach einem letzten Blick nach oben folgte er langsam dem unebenen Weg zum Cottage, das viel größer war als erwartet. Es war ein richtiges, vollwertiges Haus von überdurchschnittlicher Größe. Es war in dunklem Holz gehalten, und die Wände schienen überwiegend aus Fenstern zu bestehen. Unwillkürlich legte Mortimer die Stirn in Falten, denn so etwas hatte er vom Zuhause eines Unsterblichen nun wirklich nicht erwartet.

„Warte auf mich“, zischte Bricker ihm zu und eilte hinter ihm her, als Mortimer die Stufen zu der um das Haus verlaufenden Veranda hinaufstieg.

Mortimer wurde langsamer und ging die Veranda entlang zur Tür. Nirgends brannte Licht, das Gebäude war offenbar verlassen. Dennoch stutzte er, als er die Tür verschlossen vorfand. Decker hätte dort sein sollen. Nach kurzem Zögern tastete er die Oberseite des Türrahmens ab, bis seine Finger auf einen Schlüssel stießen.

Sofort ließ seine Anspannung ein wenig nach, er schloss auf und spürte, wie ihm stickige Luft entgegenschlug. Den Lichtschalter fand er auf Anhieb, doch als er ihn umlegte, geschah nichts.

„Vermutlich muss die Sicherung eingesetzt werden“, meinte Bricker, während Mortimer es weiter vergeblich versuchte. „Ich suche nach dem Sicherungskasten, dann haben wir gleich Licht.“

Mortimer nickte nur und ging weiter, damit der andere Mann ebenfalls eintreten konnte. Seine Tasche stellte er auf dem Tisch ab, und als er sich umdrehte, sah er noch, wie Bricker sein Gepäck neben der Tür auf dem Boden deponierte. „Ich hole die Kühlbox, du kümmerst dich um das Licht.“

Als er auf die Veranda zurückkehrte, hörte er Bricker zustimmend murmeln. An der obersten Stufe blieb er stehen, da von irgendwoher lautes weibliches Lachen an seine Ohren drang. Er suchte die Dunkelheit ab, da er nicht wusste, aus welcher Richtung das Gelächter gekommen war. Die Quelle schien sich ganz in der Nähe zu befinden, aber sie waren an einem See, und er wusste, über Wasser legten Geräusche weite Strecken zurück.

Am Fuß der Treppe angekommen, ging er nicht zum Wagen, sondern umrundete das Haus, bis er sich auf der dem See zugewandten Seite befand. Zu entdecken war nichts. Vor ihm erstreckte sich eine Wiese bis zur gut fünfzehn Meter entfernten Uferlinie, die zwischen den dichten Baumreihen links und rechts des Hauses rund dreißig Meter maß.

Ein recht großes Bootshaus stand am Ufer, der Rest war freier Strand, der einen wunderschönen Blick auf die ruhige Wasseroberfläche des kleinen Sees ermöglichte. Das gegenüberliegende Ufer war lediglich als schwarzer Streifen erkennbar, der sich nur geringfügig von dem nicht ganz so schwarzen See abhob. Der Anblick machte Mortimer stutzig, da auch dort nicht ein einziges Licht zu sehen war. Nichts wies darauf hin, dass die Bewohner der Cottages zu Hause waren, obwohl das der Fall sein musste. Zugegeben, es war bereits nach zwei Uhr nachts, und wahrscheinlich schliefen sie alle längst, aber wenn sie auf dem letzten Stück des Wegs nicht die Hinweisschilder für die anderen Cottages gesehen hätten, dann wäre er jetzt bereit gewesen zu glauben, dass er und Bricker dort oben ganz allein waren.

Ausgelassenes Kichern machte diese Illusion schon im nächsten Moment zunichte. Mortimer drehte ruckartig den Kopf nach links, kniff die Augen zusammen und spähte zwischen den Bäumen hindurch. Er konnte den großen, dunklen Umriss des benachbarten Cottages sehen, daneben ein umgedreht liegendes Kanu, einen Steg, an dem zwei Boote vertäut lagen, außerdem zwei Gestalten, die Seite an Seite auf diesem Steg saßen. Sie wirkten entspannt, hatten die Beine ausgestreckt und übereinandergeschlagen und stützten sich auf die nach hinten genommenen Arme, während sie zum Himmel hinaufsahen und weiter leise lachten.

Frauen!, erkannte er, als er ihre sehr femininen Formen genauer betrachtete. Eine von ihnen hatte kürzeres Haar, das sie zum Bob geschnitten trug und das kaum bis zu ihren Schultern reichte. Die andere trug ihr Haar länger und zum Pferdeschwanz gebunden.

Das Geräusch einer zufallenden Fliegengittertür lenkte seinen Blick auf das benachbarte Cottage, und er sah den Lichtstrahl einer Taschenlampe auf den Stufen hin- und hertanzen, dann erkannte er, dass dort eine dritte Frau unterwegs war. Mit Erstaunen beobachtete Mortimer, wie die Frau mit unsicheren Schritten über den Rasen tapste und leise etwas vor sich hinmurmelte. Ihm war nicht der Gedanke gekommen, die beiden sterblichen Frauen auf dem Steg könnten betrunken sein, aber für diese dritte galt das auf jeden Fall. Plötzlich machte sie einen Schritt zur Seite und fiel hin. Er erkannte, dass er das nicht als Einziger wahrgenommen hatte, denn die zwei auf dem Landungssteg drehten sich um, und der Strahl einer anderen Taschenlampe erfasste die auf dem Rasen liegende Gestalt, die sich eben wieder aufrappelte.

„Sam? Alles in Ordnung?“

Im Schein der Lampe konnte Mortimer die dritte Frau gut sehen. Ihre Gesichtszüge ließen die Vermutung zu, dass sie mit den beiden anderen verwandt war, allerdings wies sie einen deutlich anderen Körperbau auf. Die zwei auf dem Landungssteg waren kurvenreich und vollbusig, sie dagegen wirkte groß und schmal, und ihre Brüste waren im Vergleich erheblich flacher. Ihr Haar war so schwarz wie die Nacht und fiel glatt auf ihre Schultern, ihr Gesicht wurde von den großen, dunklen Augen beherrscht, die Nase wirkte ein wenig schief, und den Mund mit den ausgeprägten, vollen Lippen hatte sie vor Verlegenheit verzogen.

„Ja, ja“, antwortete die Frau namens Sam lachend, während sie über einen großen dunklen Fleck auf ihrem T-Shirt wischte. Sie war nicht nur über ihre eigenen Füße gestolpert, sie hatte sich auch ihr Getränk über das Oberteil geschüttet.

Mit einem verärgerten Kopfschütteln drehte sich die Frau zum Cottage um. „Bin gleich zurück.“

„Ach, zieh dich doch jetzt nicht noch um, Sam“, rief die Frau mit der Bobfrisur ihr nach. „Hier gibt’s niemanden, den du beeindrucken könntest.“

„Das nicht, aber das Zeug klebt, Alex“, beklagte sich Sam.

„Na und? Wir müssen sowieso noch unsere erste Runde Nachtschwimmen absolvieren. Dann wird das wieder abgewaschen.“

„Stimmt.“ Sam begann zu grinsen und ging zurück zum Steg.

Ein leiser anerkennender Pfiff gleich neben ihm veranlasste Mortimer, sich umzudrehen. Bricker hatte sich zu ihm gesellt und beobachtete die weibliche Nachbarschaft mit männlichem Kennerblick.

„Vielleicht ist es hier ja doch nicht so übel“, flüsterte Bricker und fragte Mortimer leise: „Du hast dich wohl ablenken lassen, wie?“

„Ich habe Gelächter gehört und wollte der Sache auf den Grund gehen.“

Der jüngere Unsterbliche nickte, sein Blick kehrte zu der Gruppe zurück. „Ja, das machen Frauen oft, wenn sie zu mehreren zusammensitzen. Jedenfalls sind meine Schwestern so. Da wird gelacht und gekichert und …“ Er verstummte, als nebenan wieder schallendes Gelächter ertönte.

Mortimer sah, dass Sam am Bootssteg angekommen war. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe huschte über die beiden anderen Frauen, die beide aufstanden. Er musste grinsen, als die zwei sich dabei den Rücken zuwandten und mit dem Po aneinanderstießen, woraufhin sie beide den Halt verloren und vom Steg fielen.

„Und ich muss mir von euch immer anhören, ich sei tollpatschig!“, beschwerte sich Sam, während sie sich gespielt beleidigt mit einem Ruck von ihren beiden Schwestern abwandte. Ihre Worte verloren aber jede Wirkung, als sie durch zu viel Schwung selbst fast aus dem Gleichgewicht kam und beinah auch im Wasser gelandet wäre, ohne dabei die Entschuldigung vorbringen zu können, dass sie ebenfalls geschubst worden war.

Angesichts dieser Albernheiten und der nächsten Runde Gelächter konnte Mortimer nur den Kopf schütteln. Das Trio hatte ganz offensichtlich zu tief ins Glas geschaut. Der Gedanke war noch nicht ganz zu Ende gedacht, da sagte Sam entrüstet. „Lieber Gott, wenn mich jemand so sieht, wird er noch glauben, ich sei betrunken.“

„Nicht, wenn derjenige dich schon länger kennt und weiß, wie ungeschickt du normalerweise bist“, zog die Frau mit dem Pferdeschwanz sie auf.

„Und? Wen kümmert’s?“, warf die Frau mit dem Bob ein, die von Sam Alex genannt worden war. „Wir machen hier Urlaub. Sollen die Leute doch denken, was sie wollen.“

„Oh! Igittigitt!“

Das Trio hielt an, Sam richtete die Taschenlampe auf die junge Frau mit Pferdeschwanz. „Was ist los, Jo?“

„Ich glaube, ich bin auf ein Froschbaby getreten“, kam die entsetzte Antwort.

Der Lichtstrahl wanderte sofort zu Jos Füßen, die einen Fuß hob.

„Sieht aus wie Schlamm“, meinte Sam beschwichtigend.

„Es war kalt und glitschig“, erklärte Jo verunsichert. Während sie wie ein Storch dastand, musterte sie ihre Fußsohle. Fast wäre sie dabei aus dem Gleichgewicht geraten und im Gras gelandet, hätte Alex nicht ihren Arm ergriffen und sie gestützt.

„Schlamm ist auch kalt und glitschig“, hielt Alex dagegen.

„Und abgesehen davon … wärst du auf ein Froschbaby getreten, dann wäre das jetzt so platt wie ein Pfannkuchen, aber ich kann da keinen Froschpfannkuchen entdecken.“

Sam ließ den Lichtstrahl über den Boden wandern. „Definitiv kein Froschpfannkuchen“, stellte sie schulterzuckend fest. Der Strahl der Taschenlampe zuckte durch die Dunkelheit, als sie sich blitzartig umdrehte. „Wer als letztes im Wasser ist, muss morgen das Frühstück machen!“, rief sie und rannte los.

Alle Frauen kreischten, und Mortimer sah blasse Haut im Mondschein silbern leuchten, als die drei zu einem kurzen Stück Strand liefen, der sich am Rand des Grundstücks befand – und in unmittelbarer Nähe der Stelle, an der Mortimer und Bricker standen und das Geschehen verfolgten. Auch wenn die drei Frauen kreischten und quiekten, war ihnen dennoch anzumerken, dass sie versuchten so wenig Lärm wie möglich zu machen, um niemanden zu stören. Angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit und der Tatsache, wie weit jeder Laut über das Wasser getragen wurde, war das verständlich und rücksichtsvoll, wie Mortimer fand. Plötzlich stutzte er, während die Frauen weiter in Richtung Ufer liefen. Keine von ihnen war ins Haus gegangen, um einen Badeanzug oder einen Bikini anzuziehen. Die drei wollten doch nicht etwa …

„Ziehen die sich jetzt aus?“, flüsterte Bricker ihm mit einem hoffnungsvollen Unterton zu.

Anstatt zu antworten, ging Mortimer leise weiter auf den See zu, bis er wieder fast auf gleicher Höhe mit den Frauen war. Fast, denn die Frauen hatten in aller Eile ihre Kleidung abgelegt und stürmten bereits ins Wasser, als er seine Position erreichte.

„Verdammt“, stöhnte Bricker, der ihm gefolgt war, und blieb neben ihm stehen, um zuzusehen, wie die Frauen im See plantschten. „Ich glaube, hier könnte es mir doch gefallen.“

Nur mit Mühe verkniff sich Mortimer ein Lachen, als er diese Bemerkung hörte. Manchmal vergaß er, wie alt sein Partner war, aber dann ereignete sich etwas in dieser Art, und ihm wurde vor Augen geführt, dass Bricker noch keine hundert war und noch immer all diese Begierden verspürte, mit denen sich ältere Unsterbliche nicht mehr herumschlagen mussten. Der Mann war in fast jeder Hinsicht unersättlich, ob es ums Essen, Trinken oder um Sex ging.

Mit der Zeit würde sich das ändern, dachte er mit einem Anflug von Bedauern. Getränke und Speisen schmeckten nach einer Weile gleich, auch wenn sie noch so unterschiedlich waren, und nach und nach verlor man das Interesse daran, bis man gar keine Lust mehr hatte, etwas zu essen oder zu trinken. Und was Sex anging … nach ein paar Hundert Jahren wurde sogar Sex zu einer Angelegenheit, die man nur als zeitraubend und lästig empfand. Sobald der Zustand erreicht war, wurden alle Aktivitäten in dieser Richtung ziemlich schnell aufgegeben. Die Anzahl der Stellungen war begrenzt, ausgefallene Orte verloren über kurz oder lang ihren Reiz, und wenn man jeden Gedanken und jeden Wunsch einer Frau lesen konnte, strapazierte das schon ziemlich die eigenen Nerven. Nachdem er Tausende, sogar Hunderttausende von Menschen gelesen hatte, war Mortimer zu der Ansicht gelangt, dass Frauen diejenigen Vertreter der menschlichen Spezies waren, die sich um alles und jeden Sorgen machten. Ihre Gedanken schienen unentwegt um Dinge zu kreisen, die ihnen Sorgen bereiteten – ob es nun das Wetter war oder die Frage, was es zum Abendessen geben sollte. Sie waren besorgt um die Gesundheit jedes einzelnen Menschen, der ihnen am Herzen lag, sie sorgten sich um die Finanzen, um die Frage, ob sie allen Erwartungen gerecht wurden, die von den unterschiedlichsten Seiten an sie gerichtet wurden. Die wachsende Kriminalität, die Bedrohung durch Terroristen, das Alter … Die Liste war unendlich lang, und es ermüdete ihn allein schon, all diese Dinge nur in ihren Gedanken vorzufinden. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es sein musste, ein Leben zu führen, das so sehr von Ängsten und Befürchtungen geprägt wurde.

Im Gegensatz dazu ließen es die Männer offenbar viel lockerer angehen. Nach dem zu urteilen, was er in deren Köpfen vorgefunden hatte, gab es für sie nur zwei Gebiete, die für sie Grund zur Sorge waren: die Arbeit und das Bett. Bei der Arbeit hing das Ausmaß der Sorgen vom Job ab, den jemand ausübte – wobei sich die Gedanken üblicherweise nur um das Gehalt drehten. Das andere Gebiet … nun, da spielten Größe und Stehvermögen die wesentliche Rolle, auch wenn das nicht für alle Männer galt. Einige Vertreter dieser Gattung hielten sich für ausgesprochen gut gebaut und fanden, dass sie im Bett die Größten waren. Ein kurzer Blick in die Gedanken der Ehefrau oder Freundin ergab jedoch in der Mehrzahl der Fälle, dass da aufseiten der Männer eher Wunschdenken vorherrschte.

Lautes Platschen holte ihn aus seinen Gedanken, und er sah wieder zu den Frauen. Die Wasseroberfläche reflektierte den Mondschein, der auch ihre nasse Haut glitzern ließ, sodass Mortimer sie besser erkennen konnte. Diese Haut war außergewöhnlich blass, zumindest ließ das fahle Licht des Mondes es so scheinen.

„Die drei sind Schwestern“, flüsterte Bricker ihm zu, damit die Frauen ihn nicht hörten. „Das Cottage gehört der Familie, und sie sind vor etwa einer Stunde angekommen, haben den Wagen ausgeladen und ihre Sachen ausgepackt. Und das hier ist das traditionelle Nacktbaden am ersten Abend.“

Er nickte nur. Es war offenbar, dass Bricker in den Gedanken einer der Frauen – oder aller drei Frauen gleichzeitig – las. Mortimer hatte sich bislang nicht die Mühe gemacht und er wollte sich auch jetzt nicht die Mühe machen. Stattdessen betonte er: „Wir müssen unsere Sachen auch noch auspacken.“

„Ja, aber wir sollten warten, bis die Ladys mit dem Bad fertig sind. Sie könnten aus irgendeinem Grund in Schwierigkeiten geraten, und dann brauchen sie auf einmal Hilfe. Oder …“ Bricker verstummte, als er Mortimers Gesichtsausdruck bemerkte. „Ja, schon gut. Wir packen aus.“

Mortimer wandte sich schnell ab, damit der andere Unsterbliche nicht sein Lächeln bemerken konnte, das seine Mundwinkel umspielte.

 

2

„Ich nehme an, du hast den Sicherungskasten nicht gefunden“, meinte Mortimer, als sie an dem immer noch dunklen Cottage vorbeigingen.

„Doch“, gab Bricker zurück. „Ich habe jeden einzelnen Schalter umgelegt, aber es tut sich nichts. Dieses Unwetter am Nachmittag muss die Stromversorgung lahmgelegt haben.“

„Was denn für ein Unwetter?“, wollte Mortimer wissen, als sie sich dem SUV näherten.

„Na, ein richtiges Unwetter eben. Heute Morgen hatte ich mir vor dem Zubettgehen noch den Wetterbericht angesehen, und da wurde für den Nachmittag ein Unwetter vorhergesagt, das wohl den Stromausfall ausgelöst hat“, erläuterte der jüngere Unsterbliche.

Mortimer brummte zustimmend und öffnete die Heckklappe des Geländewagens, um einen Blick auf die Ladefläche zu werfen. In diesem Fall handelte es sich um ein Argeneau-Fahrzeug. Manchmal blieb ihnen nichts anderes übrig, als einen Leihwagen zu nehmen, doch in aller Regel stellte ihnen Argeneau Enterprises oder eines der Subunternehmen für ihre Aufträge ein Fahrzeug zur Verfügung – so wie diesen SUV. Der war mit allen erdenklichen Extras ausgestattet, unter anderem einem hochmodernen GPS, spezialbehandeltem Glas, um die UV-Strahlung der Sonne abzuhalten, getuntem Motor, der mehr Leistung brachte, speziellen Vorrichtungen und Ablagefächern, um die benötigten Waffen unterzubringen, dazu Anschlüsse für eine Kühlbox, in der das Blut gelagert werden konnte.

Das war genau genommen eine Neuentwicklung. Form und Größe der Box entsprachen denen einer Kühltasche, wie man sie zum Picknick mitnahm, aber in Wahrheit handelte es sich um einen Kühlschrank mit einem speziellen Stecker, den man sowohl im SUV als auch in einem Haus an jeder beliebigen Steckdose anschließen konnte. War keine externe Stromversorgung möglich, wurde die Kühleinheit von einer wiederaufladbaren Batterie gespeist. Einer der Argeneau-Wissenschaftler hatte sie entwickelt, und was sich hier im Wagen befand, war der Prototyp, der zum ersten Mal regulär zum Einsatz kam. Mortimer hielt das Prinzip auf jeden Fall für praktisch.

Bricker beugte sich vor und fasste nach den Griffen von zwei länglichen, rechteckigen Lederkoffern. Sie waren voller Waffen und wogen entsprechend viel, doch er nahm sie hoch, als seien sie federleicht.

Kaum hatte er sich vom Wagen entfernt, schnappte sich Mortimer die Kühlbox und zog sie an den Rand der Ladefläche.

„Wird sich das Blut in der Box halten, bis wir wieder Strom haben?“

Mortimer nickte, während er die Kühleinheit aus dem Wagen hob. „Für heute Nacht sollte das genügen, aber morgen früh müssen wir wohl irgendwo Eis beschaffen.“

„Wann wird Decker hier aufkreuzen?“

„Eigentlich sollte er längst da sein“, räumte Mortimer etwas irritiert ein, als er erneut die Treppe hinaufging.

„Ach, tatsächlich?“, fragte Bricker überrascht. „Tja, ich habe im Cottage in jedes Zimmer einen Blick geworfen, und hier ist er nirgends.“

Mit einem Schulterzucken entgegnete Mortimer: „Vielleicht musste er noch irgendwas erledigen.“

Während ein Sterblicher mit Unglauben reagiert hätte, dass jemand um diese Zeit noch einmal das Haus verließ, um etwas zu erledigen, nickte Bricker lediglich. Für sie war dies der Tag, jetzt kümmerten sie sich um die Dinge, die sich mitten in der Nacht noch erledigen ließen. Mürrisch meinte er dann nur: „Man sollte meinen, dass er hätte warten können, bis wir da sind. Er wusste schließlich, dass wir unterwegs waren.“

„Stimmt“, bestätigte Mortimer, ergänzte dann aber mit bedeutungsschwangerem Tonfall: „Allerdings wollten wir auch um Mitternacht hier eintreffen, nicht erst nach zwei Uhr.“

Bricker grinste und zog eine Unschuldsmiene. „Klingt fast so, als sei das meine Schuld.“

„Hör bloß auf“, erwiderte Mortimer schroff. „Erst musste ich anderthalb Stunden warten, bis du endlich gepackt hattest. Und dann wolltest du auch noch, dass ich unterwegs an jedem Lokal anhalte, von McDonald’s bis hin zu diesem fettverschmierten Diner. Ganz ehrlich: Wenn du kein Unsterblicher wärst, dann würde ich dir höchstens noch fünf Jahre geben, bei so viel Fett, das du in dich hineinschaufelst. Ich schwöre dir, du riechst allmählich wie eine wandelnde Frittenbude.“

„Ist überhaupt nicht wahr!“, protestierte Bricker. Dann runzelte er die Stirn und fragte: „Oder doch?“

Mortimer schüttelte abermals den Kopf und ging weiter nach oben. Am Cottage angekommen, stützte er die Kühlbox auf seiner Hüfte ab und öffnete die Tür, damit Bricker vor ihm hineingehen konnte.

„Ich weiß nicht, warum Lucian darauf bestanden hat, dass wir so viele Waffen mitbringen“, meinte Bricker. „Und genau genommen weiß ich nicht mal, warum er glaubt, wir müssten hier mit drei Jägern anrücken. So wie es sich anhört, jagen wir nur einen einzelnen abtrünnigen Vampir, der nichts weiter macht, als hin und wieder mal einen Sterblichen zu beißen. Er stellt doch für niemanden eine ernsthafte Bedrohung dar.“

„Ja“, sagte Mortimer, während er ihm folgte und die Kühlbox auf den Tisch stellte. „Aber Decker ist sozusagen eine Beigabe. Eigentlich soll er hier Urlaub machen, allerdings liegt dieses Cottage äußerst günstig. Außerdem mag die Sache auf den ersten Blick nach einem einzelnen Blutsauger aussehen, doch möglicherweise ist das nur die Spitze des Eisbergs. Darum ist es besser, wenn wir auf Nummer sicher gehen. Das ist schließlich Lucians Motto.“

Bricker erwiderte nichts, sondern stellte nur die Taschen ab.

„Ich schließe den Wagen ab“, ließ Mortimer ihn wissen und ging zur Tür. „Bin gleich wieder da.“

Kaum hatte er den SUV abgeschlossen, wollte er erneut die Treppe hinaufgehen, da ließ ihn ein entsetzter Aufschrei aus der Ferne erstarren. Reflexartig sah er zu der Baumreihe zwischen den Cottages. Nach kurzem Zögern lief er in Richtung Ufer, um sich davon zu überzeugen, dass den Frauen nichts passiert war.

„Was war denn?“, fragte eine der Frauen nervös.

„Etwas hat mich unter Wasser angestoßen“, kam die Antwort, die nach Jos Stimme klang.

„Wahrscheinlich nur ein Fisch“, meinte Sam beschwichtigend.

Sams Versuch, die Aufregung zu lindern, wurde im nächsten Moment von Alex zunichtegemacht, als die sagte: „Allerdings gibt es hier Schnappschildkröten.“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, als die drei Frauen sich gegenseitig anstarrten, dann drehten sie sich um und verließen fluchtartig das Wasser. Mortimer stand völlig reglos da und sah ihnen zu, wobei sein Blick immer wieder zu der tollpatschigen Sam zurückkehrte. Aus einem unerfindlichen Grund faszinierte ihn der Anblick ihrer blassen Haut, die, von Wassertropfen überzogen, das Mondlicht reflektierte.

„Schöne Aussicht.“

Ruckartig drehte Mortimer den Kopf herum, als er die geflüsterten Worte hörte, und entdeckte Bricker, der abermals neben ihm stand. „Eine von ihnen hatte geschrien, und ich wollte mich vergewissern, dass ihnen nichts passiert ist.“

„Ich habe es auch gehört. Die Kleine hat verdammt kräftige Lungen.“

Mortimer nickte und sah den Frauen nach, als sie im Cottage verschwanden. Das Licht der Taschenlampen wanderte hinter den Fenstern durch die Zimmer, dann machte sich allmählich Helligkeit breit, als Kerzen angezündet wurden, um die Finsternis zu vertreiben. Kurz darauf wurde der Lichtschein der Kerzen schwächer, als die Frauen zu Bett gingen und jede von ihnen sich mit einer Kerze in ihr Zimmer zurückzog.

„Ich werde mal nachsehen, ob wir auch Kerzen im Haus haben.“ Bricker wandte sich ab, um zum Cottage zurückzukehren.

„Ich helfe dir suchen“, erklärte Mortimer, folgte ihm aber nicht sofort. Im letzten Fenster auf dieser Seite des Cottages tauchte ein Licht auf, und er beobachtete, wie sich in dessen Schein Schatten durch das Zimmer bewegten. Er konnte es nicht erklären, doch er wusste mit absoluter Sicherheit, dass es sich dabei um Sams Schlafzimmer handelte. Schweigend betrachtete er das Fenster, bis die Kerze erlosch.

Erst da bemerkte er links von sich ein schwaches Flackern, und er sah, dass Bricker offenbar eine Kerze gefunden hatte, die jetzt durchs Fenster zu sehen war.

Während er einen letzten Blick auf das Nachbarhaus warf, fragte er sich, ob die Frauen wohl ein Problem darstellen würden. Er glaubte es allerdings nicht, sonst hätte Decker Lucian vorgewarnt. Dennoch durften sie die Anwesenheit der drei nicht völlig außer Acht lassen. Er machte kehrt und überquerte die Wiese.

„Nur ein Argeneau kann so was als Cottage bezeichnen“, meinte Bricker ironisch, als Mortimer das Haus betrat.

Er blieb in der Tür stehen und ließ seinen Blick durch den weitläufigen Raum schweifen, der Küche, Essbereich und Wohnzimmer umfasste. Die Decke war so hoch, dass man sich wie in einer Kirche fühlte, in der Mitte hing ein großer, altmodischer Deckenventilator. Die Küche befand sich rechts von ihm und war durch eine große L-förmige Theke mit marmorner Arbeitsplatte vom Rest des Raums abgetrennt. Boden und Regale waren aus Kiefernholz, die Küchengeräte aus Edelstahl und außer Herd und Kühlschrank gab es auch eine Mikrowelle und eine Geschirrspülmaschine. In der Mitte stand eine großzügige Kücheninsel, darüber war ein Regal an der Decke montiert, in dem Gläser standen und an dessen zahlreichen Haken Kochtöpfe und Pfannen aus Messing hingen.

Der Essbereich zu seiner Linken erstreckte sich an der gläsernen Außenwand entlang, von wo aus man den See überblicken konnte. Dort herrschte ebenfalls Kiefernholz vor. Um einen langen Tisch herum waren zwölf Stühle angeordnet.

Das Wohnzimmer nahm die andere Hälfte des großzügigen Raums in Anspruch, dort dominierten Polstermöbel in weißem Leder das Bild, dazu Tische mit Steinplatten. An einer Seite stand ein Flachbildfernseher mit einer Bilddiagonale von mindestens einem Meter fünfzig.

Aller Komfort, den man sich wünschen kann, dachte Mortimer amüsiert. Dieses war das, was sich ein reicher Mann unter einem Cottage vorstellte – aber schließlich war Decker ja auch reich.

„Es gehört keinem Argeneau“, bemerkte er, während er sich umdrehte, um endlich die Haustür zu schließen. „Vergiss nicht, das hier ist Deckers Cottage.“

„Ja, aber er ist der Sohn von Martine, und die ist eine geborene Argeneau“, wandte der jüngere Unsterbliche ein.

Dagegen konnte Mortimer nichts einwenden. Martine war tatsächlich eine geborene Argeneau, und sie war sogar die älteste Argeneau-Tochter. Zwar hatte sie den Familiennamen ihres Mannes angenommen, als sie Aloysius Pimms heiratete, trotzdem wechselten sie mit jedem neuen Jahrhundert zwischen Argeneau und Pimms hin und her, um die Tatsache zu kaschieren, dass keiner von ihnen alterte. In diesem Jahrhundert war Decker ein Pimms, doch ein Argeneau blieb ein Argeneau, ganz gleich, welchen Namen er trug.

„Ich hätte Decker nie für einen Cottage-Typ gehalten“, merkte Bricker an und unterbrach Mortimers Gedankengang. „Ich fand immer, dass er viel zu viel Klasse hat.“

„Ja, aber du hast selbst gesagt, dass das hier nicht mehr viel mit einem Cottage im eigentlichen Sinn zu tun hat“, gab Mortimer zurück und sah sich um. Alle Fenster standen offen, doch er hätte schwören können, dass das nicht der Fall gewesen war, als er das erste Mal das Haus betreten hatte. Bricker musste sie geöffnet haben, damit die Nachtluft zirkulieren konnte.

„Hier oben gibt es drei Schlafzimmer, unten zwei, außerdem einen Fitnessraum und eine Waschküche“, ließ Bricker ihn wissen und deutete auf die Tür, durch die sie gerade ins Cottage gekommen waren.

Mortimer folgte seinem Blick und stellte überrascht fest, dass sich die Treppe gleich neben dem Eingang befand.

„Jede Außenwand auf dieser Etage besteht aus Glas“, fuhr der jüngere Mann fort. „Ich habe keine Ahnung, wie gut diese Verglasung uns schützt, aber die unteren Schlafzimmer haben gar keine Fenster, darum habe ich unsere Sachen nach unten gebracht. Mein Zeug ist im Zimmer gleich neben der Treppe, du hast den Raum am anderen Ende.“

„Danke“, murmelte Mortimer und ging am Tisch vorbei in den düsteren Wohnbereich. Es überraschte ihn, dass einer von ihrer Art in einem Haus mit so viel Glas lebte, das so viel von dem schädlichen Sonnenlicht ins Innere ließ, dennoch war das im Moment sogar äußerst praktisch, da durch die großflächigen Fenster zumindest das wenige Licht ins Haus vordrang, das die Sterne ausstrahlten. So wie jeder nachtaktive Jäger besaß auch Mortimer ein hervorragendes Nachtsichtvermögen, und auch ohne Strom genügte ihm das wenige Licht, um genau zu sehen, wohin er trat, als er sich der Tür näherte, die in einen Flur führte.

„Hier oben und unten gibt es jeweils ein Badezimmer“, erklärte Bricker, als Mortimer den Flur durchquerte und durch eine offene Tür in ebenjenes Badezimmer schaute.

Er nahm die standardmäßigen Armaturen zur Kenntnis, dann ging er weiter durch den Flur, warf einen Blick in ein Schlafzimmer und steckte den Kopf durch die Tür des zweiten Schlafzimmers. Das letzte entdeckte er am entgegengesetzten Ende des Flurs, dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück.

„Und?“, fragte Bricker, als Mortimer sich zu ihm stellte und sie beide durch die gläsernen Schiebetüren auf die Veranda schauten. „Was machen wir, bis Decker zurückkommt?“

Er verzog den Mund, als er die Frage hörte. Sie mussten ihre Sachen auspacken, die Blutkonserven aus der Kühlbox holen und in den Kühlschrank legen und außerdem ihre Waffen einsatzbereit machen. Wenn das erledigt war, würde er die Landkarten ausbreiten, die die Umgebung des Cottages zeigten, und sich ansehen, wo überall gebissene Sterbliche beobachtet worden waren. Gemeinsam würden sie sich mit dem Ganzen befassen, um einen Plan zu entwickeln, wie sie am besten dem Abtrünnigen auf die Spur kamen, der hier in der Gegend sein Unwesen trieb.

Aber ohne Strom konnten sie sich keine Karten ansehen und somit auch keine Pläne schmieden.

„Viel können wir im Moment nicht tun“, räumte er schließlich ein.

„Hast du Hunger?“, fragte Bricker plötzlich.

Mortimer sah den jüngeren Unsterblichen amüsiert an. Er hatte schon seit Jahrhunderten keinen Hunger mehr verspürt. Bricker konnte das aber nicht wissen, da Mortimer von Zeit zu Zeit einen Happen aß, nur damit er ihm Gesellschaft leisten konnte. Und selbst das war noch eine übertriebene Formulierung, denn im Grunde stocherte er nur eine Weile in seinem Essen herum und schob es auf dem Teller hin und her.

„Außer Blut befindet sich nichts in der Kühlbox, richtig?“, überlegte Bricker, als Mortimer nicht sofort antwortete, und beklagte sich prompt: „Ich habe Hunger.“

„Du hast immer Hunger“, konterte Mortimer und wandte sich vom Fenster ab. „Dann komm mit. Wir suchen uns ein Restaurant, das die ganze Nacht geöffnet hat und wo wir Licht haben, damit wir uns die Karten ansehen können, die Lucian uns mitgegeben hat.“

 

3

„Die arme Alex.“

Sam sah zu Jo, die am Esszimmertisch saß. Eigentlich sollte sie Mais schälen, doch jetzt war der zur Hälfte bearbeitete Maiskolben in ihrer Hand vergessen, und sie sah aus dem Fenster des Cottages. Ihr Mund war vor Sorge verkniffen, wie Sam feststellte. „Was ist denn mit Alex? Hat sie sich verletzt?“

„Nein“, beteuerte Jo. „Aber sie macht da draußen so einen jämmerlichen Eindruck.“

Sam legte die noch nicht ganz geschälte Kartoffel zur Seite und riss ein Blatt von der Küchenrolle ab, um sich die Hände abzuwischen, während sie durchs Zimmer ging, um auch aus dem Fenster zu sehen. Einen Moment lang schwiegen sie beide und sahen ihrer älteren Schwester zu, die einen Rasenmäher über die Wiese vor dem Cottage schob. Sie hatte sichtlich Mühe, das alte Ding auf der leichten Schräge von der Stelle zu bewegen. Der Schweiß lief ihr in Strömen über die Stirn, da die heiße Nachmittagssonne vom Himmel brannte. Tatsächlich machte sie einen jämmerlichen Eindruck. Ihr Gesicht war knallrot und so mürrisch verzogen, dass Sam fürchtete, dieser Ausdruck könnte vielleicht nicht wieder weggehen.

„Ich habe ihr angeboten, das Rasenmähen für sie zu übernehmen, aber sie hat darauf bestanden, es zu tun“, erklärte Sam ratlos. „Das ist ihr offensichtlich lieber, als das Essen vorzubereiten.“

„Na, ich schätze, wenn man die ganze Woche in der Küche stehen muss, weil man sich so seinen Lebensunterhalt verdient, möchte man in den Ferien so wenig wie möglich damit zu tun haben“, meinte Jo mitfühlend.

Sam schnaubte. „Dafür hat sie in ihrer Küche doch ihre Lakaien, die alles vorbereiten. Sie hat sich wohl eher gedacht, dass sie lieber den Rasen mäht, ehe sie sich selbst zum Lakaien macht. Aber da hat sie die Rechnung ohne die Bremsen gemacht.“

„Ist das dieser graue Schleier um ihren Kopf herum?“, fragte Jo beunruhigt. „Warum hat sie sich nicht eingesprüht, damit ihr die Biester fernbleiben?“

„Das hat sie gemacht. Mit dem extrastarken Mittel und sogar zwei Schichten. Aber so heiß, wie es da draußen ist, schwemmt der Schweiß alles gleich wieder weg.“

Schweigend sahen sie zu, wie Alex und der Schwarm soeben in entgegengesetzter Richtung den Rasen überquerten. Sie war mit dem Mähen nicht mal zur Hälfte fertig, und wenn sie so weitermachte, würden die Bremsen sie bald bei lebendigem Leib aufgefressen haben.

Plötzlich ging Samantha zur Tür. „Ich werde ihr helfen, die Plagegeister zu verscheuchen.“

„Und wie willst du das anstellen?“, fragte Jo verwundert.

Die Frage ließ Sam innehalten und kehrtmachen. Sie benötigte irgendeine Art von Waffe, wenn sie Alex helfen wollte.

„Was um alles in der Welt macht die Frau denn da?“

Mortimer zuckte leicht zusammen, als er Decker Pimms’ erstaunte Frage hörte, und drehte sich zu ihm um. Er hatte aus dem Fenster gesehen und sich so sehr auf das konzentriert, was sich nebenan abspielte, dass er überhaupt nicht gehört hatte, wie der andere Mann sich ihm näherte. „Da bist du ja. Lucian meinte, du seist hier, aber das Cottage war leer und ich hatte schon überlegt, ob es wohl ein Missverständnis war.“

„Nein, das war kein Missverständnis“, erwiderte Decker beiläufig. „Ich war hier, um Ferien zu machen, da hat Mutter angerufen und mir ausgerichtet, dass Onkel Lucian versucht hatte, mich wegen dieser Beißergeschichte zu erreichen.“

Mortimer nickte, verkniff sich aber jegliche bedauernde Äußerung, dass Deckers Urlaub dadurch ruiniert worden war, denn der wusste Mitgefühl ohnehin nicht zu schätzen.

„Mir wurde allerdings gesagt, dass ihr zwei gegen Mitternacht eintreffen würdet.“

Bei dieser Bemerkung verzog er zwar das Gesicht, beschränkte sich jedoch auf eine vage Äußerung. „Die Fahrt hat länger gedauert als erwartet.“

„Ich nehme an, du hast an jedem Restaurant anhalten müssen, weil Bricker was essen wollte, richtig?“, gab Decker amüsiert zurück.

„Richtig“, bestätigte Mortimer und hob eine Augenbraue. Jeder, der schon einmal mit ihnen beiden zusammengearbeitet hatte, wusste von Brickers unersättlichem Appetit.

Lächelnd erklärte Decker ihm: „Ich habe bis zwei Uhr gewartet, doch als ihr bis dahin noch nicht aufgetaucht wart, habe ich mich auf den Weg gemacht, um noch verschiedene Dinge zu erledigen. Nachdem ich in der Stadt ein paar Briefe eingeworfen hatte und noch an der Mülldeponie vorbeigefahren war, kam ich wieder her, aber ihr wart immer noch nicht hier. Darum bin ich allein losgezogen, um schon mal ein paar Nachforschungen anzustellen.“

„Zur Mülldeponie?“, wiederholte Mortimer zweifelnd. „Wird hier der Abfall nicht abgeholt?“

Decker schüttelte den Kopf. „Außerdem kann man keine leeren Blutbeutel in die Tonnen im Schuppen werfen, weil das Bären anlockt. Dem Kerl von der Mülldeponie stecke ich immer ein gutes Trinkgeld zu, damit er mich so spät noch reinlässt.“

„Aha“, meinte Mortimer und musste ebenfalls grinsen.

Decker zuckte mit den Schultern. „Kurz nach Tagesanbruch war ich dann wieder hier.“

„Scheint so, als hätten wir uns verpasst“, ließ Mortimer ihn wissen. „Wir waren um kurz nach zwei hier und danach haben wir uns auf die Suche nach einem Restaurant gemacht, das rund um die Uhr geöffnet hat, weil Bricker noch was essen wollte.“

„Ich nehme an, ihr habt den Schlüssel auf dem Türrahmen schnell gefunden.“

„Auf Anhieb“, versicherte Mortimer ihm.

Decker nickte zufrieden. „Hier oben schließen die wenigsten Leute die Haustür ab, und ich würde es eigentlich auch nicht tun. Aber ich habe Angst, dass Nachbarskinder oder besonders neugierige Zeitgenossen ins Haus kommen und die Blutkonserven entdecken.“

Mortimer verstand gut, was der andere Mann meinte. Ihre Art wurde von Geburt an darauf gedrillt, vor aller Welt zu verbergen, was sie waren, und auch jeden Beweis verschwinden zu lassen, der sie verraten könnte.

„Ich habe gesehen, dass du dich unten im Gästezimmer einquartiert hast“, fuhr Decker fort.

„Ja. Bricker hat meine Sachen in das Zimmer gebracht, als wir angekommen sind“, antwortete er und runzelte die Stirn. „Ist das ein Problem?“

„Nein, überhaupt nicht“, versicherte Decker ihm und verzog den Mund zu einem ironischen Grinsen. „Ein Problem war nur, dass er sich mein Zimmer ausgesucht hatte. Als ich ihn da vorfand, habe ich ihn gebeten, sich ein Schlafzimmer hier oben zu nehmen, dann habe ich mich schlafen gelegt.“

Mortimer grinste, da er Decker gut genug kannte, um zu wissen, dass diese Bitte vermutlich in der Form geäußert worden war, dass er ihn aus dem Bett gezerrt hatte. Er konnte für den jüngeren Mann nicht viel Mitgefühl aufbringen. Als er das große Schlafzimmer gesehen hatte, war ihm bereits der Gedanke gekommen, es könne Decker gehören, aber Bricker hatte den Hinweis mit der Bemerkung abgetan, wenn Decker das Zimmer haben wolle, würde er es eben räumen. Dass das am helllichten Tag passieren könnte, damit hatte Bricker wohl nicht gerechnet.

Es erstaunte Mortimer, dass er von dem Lärm nicht aufgewacht war, hatte er doch für gewöhnlich einen sehr leichten Schlaf. Aber als an diesem Morgen sein Kopf auf das Kissen gesunken war, da hatte ihn die Müdigkeit übermannt, obwohl er in einem fremden Bett liegen musste. Bis vor zwanzig Minuten hatte er tief und fest geschlafen, doch dann war er von dem lauten Knattern des Rasenmähers auf dem Nachbargrundstück aufgeweckt worden. Zunächst hatte er versucht, das Geräusch zu ignorieren, aber das war ihm nicht gelungen. Der Auspufftopf des Mähers musste wohl einen Defekt haben … sofern ein Rasenmäher so was überhaupt besaß.

„Jesus“, sagte Decker, der sich wieder dem Nachbargarten zugewandt hatte. „Was macht die Frau da nur?“

Mortimer drehte sich um und schaute abermals aus dem Fenster. Deckers Cottage war in einen Hügel hineingebaut worden. Das obere Stockwerk befand sich komplett über der Erde und wurde von einer Veranda umgeben, während unten nur der Fitnessraum aus dem Hügel herausragte. Die Zimmer im rückwärtigen Teil, die nicht zum See, sondern zur Straße hin gelegen waren, hatte man ins Erdreich gebaut, was erklärte, warum die Schlafzimmer hier keine Fenster aufwiesen. So wie im Stockwerk darüber bestand die zum See weisende Wand aus einer Reihe von großen, von der Decke bis zum Boden reichenden Fenstern, die alle im Schatten der Veranda lagen. Auf diese Weise entstand ein wunderbar schattiger Platz, von dem aus man zwischen den Bäumen hindurch auf den Rasen des Nachbarhauses blicken konnte, wo die beiden Frauen mit dem Mähen beschäftigt waren.

Obwohl … genau genommen mähte nur eine von ihnen, nämlich die Schwester namens Alex. Die andere, die tollpatschige Sam, ging neben ihr her und fuchtelte mit einem Küchentuch und einer Fliegenklatsche um deren Kopf herum.