Vampire küsst man nicht - Lynsay Sands - E-Book

Vampire küsst man nicht E-Book

Lynsay Sands

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Beschreibung

Nicholas Argeneau war einst ein erfolgreicher Jäger, der Vampire zur Strecke brachte, die gegen die Gesetze der Unsterblichen verstoßen haben. Doch dann wurde er selbst zum Gesetzlosen. Seit fünfzig Jahren lebt er im Verborgenen, um einer möglichen Strafe zu entgehen. Bis er der attraktiven Josephine Willan das Leben rettet, die von einem Vampir angegriffen wurde. Ein einziger Kuss lässt ihn in tiefer Leidenschaft zu ihr entbrennen. Doch kurz darauf ist Jos Leben erneut in Gefahr. Kann Nicholas sie beschützen und gleichzeitig selbst der Verfolgung durch die Vampirjäger entgehen?

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Inhalt

Titel

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

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17

18

Epilog

Stammbaum Argeneau

Impressum

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Ralph Sander

1

Am Rand des kleinen Hains blieb Nicholas stehen und fluchte leise. Irgendwie musste ihm der Abtrünnige entwischt sein, möglicherweise war er geradewegs an ihm vorbeigegangen. Dieser Gedanke veranlasste ihn dazu, sich umzudrehen und in die Richtung zu schauen, aus der er gekommen war. Dennoch war es genau genommen völlig ausgeschlossen, dass er ihn nicht bemerkt haben sollte. Das Grün entlang der Straße war gerade mal drei Meter breit, und er war bewusst langsam gegangen, um jeden Baum abzusuchen. Er konnte ihn nicht übersehen haben, und doch war das die einzige sinnvolle Erklärung.

Er zog den Empfänger aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Der blinkende Lichtpunkt, der anzeigte, wo sich der Wagen des Abtrünnigen befand, hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Der Kerl hatte also nicht gewendet, um wieder wegzufahren. Nicholas steckte den Empfänger weg und suchte abermals die Zufahrt ab.

Auf keinen Fall konnte der Abtrünnige den Weg zu Fuß zurückgelegt haben, dessen war er sich absolut sicher. Die Zufahrt führte zum neuen Hauptquartier der Jäger, sozusagen ein Polizeirevier für Vampirjäger, das nach allem, was er sehen konnte, besser gesichert war als jedes Gefängnis für Sterbliche. Ein drei Meter hohes schmiedeeisernes Tor schützte vor dem Zutritt durch Unbefugte, und zu beiden Seiten erstreckte sich eine genauso hohe Mauer, die sich nach etlichen Metern zwischen den Bäumen verlor. Im Abstand von höchstens dreißig Zentimetern ragten Metalldorne aus dem Mauerwerk, zwischen denen drei Reihen Stacheldraht gespannt waren, die jeden abschrecken sollten, der mit dem Gedanken spielte, über die Mauer zu klettern. Warnschilder wiesen zudem darauf hin, dass der Zaun unter Strom stand. Als wäre das alles nicht schon genug, fand sich gut fünf Meter hinter dem ersten noch ein zweites Tor aus Maschendraht und ebenfalls mit Stacheldraht gesichert, der ganz sicher auch unter Strom stand.

Nicholas schüttelte kurz den Kopf. Dass er so etwas jemals zu sehen bekommen würde, hätte er nicht für möglich gehalten. Bislang hatten die Vollstrecker keine feste Basis gehabt, sondern waren von Lucian Argeneaus Haus aus losgeschickt worden. Offenbar war sein Onkel nun aber zu dem Entschluss gekommen, das Ganze offiziell zu machen und es besser zu organisieren. Das wurde auch Zeit, fand Nicholas, und eigentlich hätte man so was schon vor Jahrhunderten in Angriff nehmen sollen.

Sein Blick wanderte fort vom Tor und hin zu den Bäumen auf der anderen Seite der Zufahrt. Es war eigentlich undenkbar, dass der von ihm verfolgte Abtrünnige den breiten, ungeschützten Bereich überquert haben sollte, befand sich doch hinter dem Tor ein Wachmann. Und dann war da auch noch die Rufsäule mit Kamera und Sprechanlage vor dem Tor. Der Abtrünnige wäre nicht das Risiko eingegangen, am Tor vorbeizulaufen und dabei von der Kamera erfasst zu werden. Aber entweder hatte er das Risiko trotzdem für vertretbar gehalten, oder Nicholas war tatsächlich an dem Mann vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken.

Während er einen Blick über die Schulter hinter sich warf, sagte ihm sein Verstand zwar, dass er den Abtrünnigen auf keinen Fall übersehen haben konnte, doch insgeheim geriet er in Sorge, seine Instinkte könnten nachgelassen haben.

Ein Motorengeräusch ließ ihn aufhorchen, und als er wieder nach vorn sah, entdeckte er den Transporter eines Catering-Unternehmens, der in die Zufahrt einbog und an der Rufsäule anhielt.

»Ja?«, drang eine blechern klingende Stimme aus der Sprechanlage.

»Cally’s Catering«, antwortete der Fahrer. »Wir möchten unsere Leute und das Geschirr abholen.«

»Fahren Sie durch.« Das erste Tor öffnete sich.

Nicholas ging davon aus, dass der Lieferwagen zwischen den beiden Toren anhalten würde, um dort inspiziert zu werden. Doch dann kam der Wachmann aus seinem kleinen Häuschen und öffnete dem Transporter auch das zweite Tor, und erst nachdem er hindurchgefahren war, gab er dem Fahrer ein Zeichen, damit der anhielt.

Der Wachmann unterhielt sich kurz mit dem Fahrer, ging um den Wagen herum, öffnete die hinteren Türen und warf einen Blick ins Innere. Da er zu sehr auf dieses Geschehen konzentriert war, wäre ihm beinahe der Mann entgangen, der plötzlich unter dem Wagen hervorkam, kurz daneben kauerte und sich dann im Eiltempo in Richtung Wachhaus entfernte.

Fast hätte Nicholas dem Wachmann eine Warnung zugerufen, doch dann hielt er sich noch in letzter Sekunde zurück und griff stattdessen nach seinem Telefon. Dass er soeben den gesuchten Abtrünnigen hatte entwischen sehen, daran bestand kein Zweifel. Der Mistkerl musste am Straßenrand gewartet haben, bis sich ein Fahrzeug näherte, dann hatte er den Fahrer seiner Kontrolle unterworfen, damit der anhielt und er unter den Wagen krabbeln konnte, um sich dort irgendwo festzuhalten, bis sich der Transporter auf dem Grundstück befand.

So ein gerissener Drecksack, dachte Nicholas, während er irritiert weiter nach seinem Handy suchte. Er musste im Haus anrufen, um die anderen zu warnen, damit sie die Schwestern bewachten und das Grundstück nach dem Eindringling absuchten. Und er würde ihnen auch sagen, dass die Wachleute künftig auch einen Blick unter die einfahrenden Wagen werfen sollten. Jedenfalls wollte er das alles machen, sobald er sein verdammtes Telefon gefunden hatte, aber die Suche verlief weiterhin ergebnislos. Was hatte er denn nur mit dem Ding gemacht? Am Abend hatte es zu piepen begonnen, weil der Akku fast leer gewesen war, und daraufhin hatte er es an den Zigarettenanzünder im Wagen angeschlossen, weshalb …

»Verdammt!«, murmelte Nicholas und sah in die Richtung, aus der er gekommen war. Er hatte sein Handy im Wagen liegen lassen. Einen Moment lang überlegte er, ob er zurücklaufen sollte, um es zu holen, aber während der Abtrünnige einfach an den Straßenrand gefahren war und seinen Wagen am Grundstück abgestellt hatte, wollte Nicholas nicht entdeckt werden. Daher stand sein Wagen im Wald in der Nähe des Anwesens, wo er vor wachsamen Blicken gut verborgen war. Der Mann– Ernie Brubaker – stammte aus Leonius’ Brut, und Nicholas hoffte, wenn er ihn lange genug verfolgte, würde er ihn früher oder später zu Leonius selbst führen. Leonius Livius war ein Abtrünniger von der besonders üblen Sorte, der aufgehalten werden musste, und genau das hatte sich Nicholas zur Aufgabe gemacht. Aber seiner vorsichtigen Vorgehensweise bei der Verfolgung verdankte er nun, dass sein Van ein ganzes Stück entfernt geparkt war, und wenn er jetzt erst noch dort hinlief, um sein Handy zu holen und den Anruf zu erledigen, war es Ernie womöglich bereits gelungen, sich eine der Frauen zu schnappen und wieder zu verschwinden.

Jedenfalls waren die Frauen das einzige Ziel, das Nicholas in den Sinn gekommen war, als er bemerkt hatte, dass er dem Mann zum Jägerhauptquartier folgte.

Seufzend drehte er sich um und betrachtete wieder das Tor und die dahinter liegende Zufahrt. Der Wachmann war in sein Häuschen zurückgekehrt, der Lieferwagen war bereits nicht mehr zu sehen. Zweifellos rannte der Abtrünnige in diesem Moment im Schutz der Bäume zum Haus. Er musste sie warnen, aber ohne sein Handy gab es nur eine Möglichkeit: Ihm blieb nichts anderes übrig, als zum Tor zu gehen und dem Wachmann zu sagen, was er beobachtet hatte. Nur würde er sich damit selbst ans Messer liefern, wie er sich eingestehen musste. Bedauerlicherweise blieb ihm keine andere Wahl. Wenn er nicht …

Die Ankunft eines weiteren Wagens riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Van näherte sich der Einfahrt, und als Nicholas darauf den Namen einer Reinigungsfirma las, huschte ein finsteres Lächeln über seine Lippen. Der Wagen fuhr bis zur Säule vor, und das bedeutete, dass er der Kamera die Sicht auf alles nahm, was sich auf der anderen Seite des Vans befand … auch auf Nicholas selbst, wie ihm in diesem Augenblick bewusst wurde.

Ohne erst noch darüber nachzudenken, wie riskant eine solche Aktion für ihn selbst war, verließ Nicholas den Schutz der Bäume und rannte los, bis er sich hinter dem Van befand. Dort hielt er sich am Griff der hinteren Türen fest und stellte sich auf die Stoßstange, wobei er sich bemühte, das Fahrzeug unter seinem Gewicht nicht zu sehr wippen zu lassen. Dann wartete er ab, während der Fahrer dem Wachmann erklärte, dass er gekommen war, um die Reste der Party aufzuräumen.

Der Wachmann bat ihn, kurz zu warten, und Sekunden später öffnete sich das äußere Tor. Der Van fuhr los, und Nicholas klammerte sich wie ein miserabler Spider-Man-Imitator am Wagenheck fest. Ehe er sich darüber im Klaren war, wurde er auch schon von der Überwachungskamera in der Säule erfasst, doch da war es bereits zu spät. Er sagte sich, dass der Wachmann in diesem Moment nicht vor dem Monitor in seinem Verschlag saß und er ihn auch nicht huckepack aufs Grundstück kommen sehen konnte, weil er damit beschäftigt sein musste, das zweite Tor zu öffnen. Kaum hatte der Van das äußere Tor passiert, sprang Nicholas runter und lief zu den Büschen beim Wachhaus, so wie es vor ihm der Abtrünnige gemacht hatte. Dabei konnte er nur hoffen, dass der Wachmann der gleichen Routine folgte wie beim vorangegangenen Wagen. Falls ja, gab ihm der Van Deckung, falls nein, würde er wohl jeden Moment eine Kugel in den Rücken bekommen.

Er hielt so lange den Atem an, bis er sich im Grün hinter der Wachstube in Sicherheit gebracht hatte, ohne dass ihm jemand etwas zurief oder sogar das Feuer auf ihn eröffnete. Erst dann atmete er tief durch und genoss den Schwall frischer Luft, während er den Weg einschlug, den der Abtrünnige vermutlich auch genommen hatte und der geradewegs zum Haus auf dem Hügel führte.

»Oh Mann«, murmelte Jo.

»Was ist?«, fragte Alex und setzte ihr Glas ab.

»Noch mehr Gäste.« Jo deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Tür, wo ihre Schwester Sam mit ihrem Verlobten Mortimer stand und einen weiteren Neuankömmling begrüßte, bei dem es sich einmal mehr um einen großen, gut aussehenden Kerl in Lederkleidung handelte. Jeder der anwesenden Männer trug irgendein Teil aus Leder: eine Hose oder eine Jacke, eine Weste oder auch eine Kombination daraus. Hauptsache, irgendetwas war aus Leder. Einige waren sogar von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet. Das Ganze wirkte wie ein Bikertreffen, nur ohne Tätowierungen. Diese Tatsache war Jo mit als Erstes aufgefallen. Zwar wirkte jeder dieser finster dreinblickenden Kerle wie ein Schlägertyp, und etliche trugen ihr Haar sehr lang, aber nicht ein Einziger von ihnen wies ein Tattoo auf – zumindest keines, das die unbedeckten Hautpartien schmückte. Das waren die ordentlichsten Biker, die sie je gesehen hatte.

Falls das überhaupt Biker sind, dachte sie. Vielleicht waren sie ja auch so wie Mortimer und seine Freunde Bricker und Decker Mitglieder in verschiedenen Rockbands. Sollte das allerdings zutreffen, dann waren sie die gepflegtesten Rockmusiker, die Jo jemals zu Gesicht bekommen hatte.

»Ach, komm schon, so schlimm ist es gar nicht«, meinte Alex amüsiert.

»Findest du?«, konterte Jo bissig.

»Ja, finde ich«, versicherte ihr Alex. »Sieh dich doch nur mal um. Wir stehen hier in einem Zimmer, in dem es von blendend aussehenden Männern wimmelt. So viele Kerle auf einen Haufen, die ich am liebsten alle mal anknabbern würde, habe ich schon lange nicht mehr zu sehen bekommen.«

»Anknabbern?«, wiederholte Jo.

»Ja, du hast mich richtig verstanden. Sieh dich um, Jo, jeder einzelne Kerl hier ist zum Dahinschmelzen. Breite Schultern, muskulöse Brust, schmale Taille.« Sie schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick über die Männer wandern, die in kleinen Grüppchen in dem weitläufigen Zimmer verteilt standen. »Hier hat niemand einen Bierbauch oder schiefe Zähne oder X-Beine.«

»Stimmt, und es könnte richtig nett sein, wenn sie uns nicht wie Aussätzige behandeln würden«, warf Jo ein.

»Das tun sie doch gar nicht«, konterte Alex lachend.

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Sag mal, befinden wir uns beide tatsächlich auf derselben Party, oder kriegst du bloß nichts mit?«, fragte Jo verwundert. »Alex, diese Typen kommen rein, Sam und Mortimer begrüßen sie und reden kurz mit ihnen, und dann stellen sie sie uns vor. Aber jeder von ihnen, und damit meine ich jeden Einzelnen, starrt uns eine Minute lang schief an und redet absolut kein Wort mit uns. Dann drehen sie sich zu Mortimer um, schütteln den Kopf und verziehen sich. Ein paar von ihnen machen sogar auf dem Absatz kehrt und gehen gleich wieder. Der Rest steht rum, unterhält sich und nimmt keine Notiz von uns. Findest du das nicht wenigstens ein bisschen seltsam?«

»Na ja, wenn du es so hinstellst, dann ist es schon irgendwie eigenartig«, musste Alex ihr achselzuckend zustimmen.

»Allerdings«, sagte sie. »Und das ist nicht das einzig Seltsame. Was hältst du von den Sicherheitsvorkehrungen? Sind die nicht eine Spur überzogen?«

»Das schon, aber Sam hat ja erklärt, dass Mortimer und die Jungs Ärger mit einem Fan haben, der ein richtiger Stalker sein muss«, betonte Alex.

»Ja, bestimmt.« Jo stieß ein verächtliches Lachen aus. »Eine Band, die sich noch nicht mal auf einen Namen geeinigt hat, wird von einem Stalker verfolgt.«

»Ich dachte, sie wollen sich Morty and the Muppets nennen«, entgegnete Alex verwundert.

»Alex«, wandte Jo ein, »selbst wenn sie sich inzwischen auf einen Namen geeinigt haben und selbst wenn ihnen ein Fan aus irgendeinem Kuhkaff hinterherrennt und ihnen Ärger macht, möchte ich mal wissen, woher sie das Geld für ein solches Haus und für derartige Sicherheitsvorkehrungen haben. Herrgott, die sind ausgestattet wie ein südamerikanischer Diktator oder ein Drogenbaron. Ich glaube, nicht mal der US-Präsident oder der kanadische Premierminister werden durch so viel Stacheldraht von der Außenwelt abgeschirmt.«

Grinsend sagte Alex daraufhin: »Da hätte ich eine Theorie.«

»Ach ja? Und die wäre?«

»Dass Mortimer eigentlich gar nicht in einer Band spielt und dass das alles nur Tarnung ist, weil er in Wahrheit ein schwerreicher Kerl ist. Vielleicht jemand wie Gates.«

Jo hob die Augenbrauen. »Gates ist ein dürrer alter Typ mit Brille und grauen Haaren. Mortimer ist nicht Bill Gates.«

»Ich hab auch nicht gesagt, dass er Gates ist. Aber vielleicht ist er ja der Sohn von Gates oder irgendeinem anderen reichen Kerl«, stöhnte Alex gereizt. »Ich will bloß sagen, dass er nur so getan hat, als sei er ein mittelloser Rockmusiker in einer erfolglosen Band, damit Sam sich in ihn verliebt, ohne von seinem Reichtum geblendet zu sein.«

»Kann schon sein«, meinte Jo, und genau genommen war das sogar eine viel schlüssigere Erklärung als die Geschichte mit dem Stalker, die ihnen Mortimer, Decker und Bricker auftischten. Vermutlich kannte Sam längst die Wahrheit und würde ihnen früher oder später alles sagen.

Mittlerweile hatten Sam und Mortimer den jüngsten Neuankömmling auf ihrer Party begrüßt und begleiteten ihn zu Jo und Alex. Es war erstaunlich, wie spät die Gäste noch eintrudelten, wo doch schon die Caterer die Reste vom Büfett nach draußen trugen und das Reinigungspersonal sauber machte, wo es nur konnte. Jo drückte Alex ihr Glas in die Hand. »Hier, halt mal, ich muss zur Toilette.«

Alex nahm ihr den Drink ab, sah sie aber argwöhnisch an. »Ich will für dich hoffen, dass du wirklich mal musst. Komm ja nicht auf die Idee, mich mit all diesen Kerlen allein zu lassen.«

»Soweit ich das beurteilen kann«, erwiderte Jo ironisch, »lassen diese Kerle eher dich allein. Du siehst ja, wie sie sich viel lieber untereinander unterhalten, anstatt mit uns zu reden. Bestimmt sind die alle schwul.«

»Meinst du?«, fragte Alex beunruhigt.

Jo verdrehte die Augen und machte sich aus dem Staub, bevor Sam, Mortimer und Mr Zuspätkommer sie erreichen konnten. Während sie sich ihren Weg zwischen den Grüppchen hindurchbahnte, ging ihr eine Sache nicht aus dem Kopf. Diese Männer sahen alle makellos aus. Okay, nicht in dem Sinn, wie ein Unterwäschemodel makellos aussieht. Auch wenn Alex das zwar so meinte, hatten sich nicht nur Traummänner eingefunden. Einige waren ziemlich groß, andere etwas kleiner, manche waren weiß, manche ein wenig dunkelhäutiger, einer hatte eine zu große Nase, bei einem anderen standen die Augen zu dicht zusammen und so weiter. Aber jeder von ihnen war für sich betrachtet makellos: die Haut frei von Unreinheiten, perfekte Haare und ausgesprochen gesunde Körper. Soweit sie das erkennen konnte, gab es nicht einen Pickel zu entdecken, keine Schuppen und nicht ein Gramm Fett. Das genügte, um einer ganz normalen Frau Minderwertigkeitskomplexe zu bescheren. Die meisten Männer, die sie kannte, kümmerten sich nicht um Spliss und hatten auch keine Ahnung von den diversen Gesichtscremes … es sei denn, sie waren schwul.

Vielleicht hatte sie ja gar nicht so falschgelegen, überlegte sie, während sie sich der Tür näherte. Ein Blick über die Schulter, bevor sie in den Flur ging, zeigte ihr, dass Sam und Mortimer mit ihrem Gast bei Alex angekommen waren, der so wie alle anderen zuvor wortlos auf ihre Stirn starrte, als hätte sie da ein mächtiges Furunkel.

Kopfschüttelnd entschwand Jo in den Flur, ging aber nicht wie behauptet zur Toilette, sondern begab sich in die Küche. Zu ihrer großen Erleichterung war der Raum menschenleer, und sie durchquerte ihn, um zu den gläsernen Schiebetüren im gleichermaßen verlassenen Esszimmer gleich nebenan zu gelangen.

Sie seufzte zufrieden, als sie es geschafft hatte, nach draußen an die frische Luft zu gelangen, ohne von irgendwem entdeckt oder daran gehindert zu werden. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschoben hatte, blieb sie kurz stehen, um sich umzuschauen. Zusammen mit Alex war sie am Abend hier eingetroffen, als es noch hell war. Da hatte die großzügig bemessene Wiese am Haus noch einen friedlichen Eindruck gemacht – ein gepflegter Rasen, gesäumt von Bäumen, deren Laub in einer leichten Brise raschelte. Jetzt dagegen wirkte das Ganze auf sie eher unheimlich.

Die bei Tageslicht idyllische Szene hatte sich in der Dunkelheit zu unheimlich tanzenden Schatten gewandelt, und der nächtliche Wind ließ die Baumkronen beängstigend rauschen. Jo überlegte, ob sie besser ins Haus zurückkehren sollte. Doch dann entschied sie sich dagegen, da sie unbedingt etwas frische Luft schnappen und sich ein wenig die Beine vertreten wollte, ehe sie noch weitere sonderbare Begegnungen über sich ergehen ließ, die der einzige Sinn dieser merkwürdigen Party zu sein schienen.

Viel lieber wäre sie sogar nach Hause gefahren und hätte die Füße hochgelegt. Wäre sie doch bloß selbst mit dem Auto gekommen! Wenn sie jetzt versuchte, früher zu gehen, dann würde Sam ihr ewig in den Ohren liegen und wissen wollen, ob etwas nicht stimmte und warum sie aufbrechen wollte. Und Jo wollte ihrer älteren Schwester nicht wehtun, indem sie ihr erklärte, dass sie noch nie auf einer so langweiligen Party gewesen sei.

Da war ja die Arbeit in der Bar an den meisten Abenden in der Woche aufregender. Im Grunde genommen hatten nur Sam und Mortimer mit ihr und Alex geredet, außerdem seine angeblichen Bandkollegen Bricker und Decker sowie Deckers Freundin Dani und deren jüngere Schwester Stephanie. Die waren zwar alle ganz nett, aber gleich nach der Begrüßung waren Decker, Dani und Stephanie irgendwohin verschwunden, und damit blieben Jo, Alex und Sam als die einzigen Frauen im Raum zurück. Diese Tatsache und die Beobachtung, dass die Männer alle einen großen Bogen um sie machten, nachdem es diese kurze, aber seltsame Begrüßung gegeben hatte, beunruhigten Jo. Etwas frische Luft und Ruhe war genau das, was sie im Moment brauchte, und beides konnte sie hier draußen sogar mitten in der Nacht am besten bekommen. So unheimlich es auch war, dank der umfangreichen Sicherheitseinrichtungen rings um das Grundstück fühlte sie sich nicht wirklich unwohl.

Sie ging gerade ein Stück über den Rasen, als ihr einfiel, dass Bricker heute Nacht am Tor Dienst schob. Er hatte sich freiwillig für den Job gemeldet, da er – nach seinen eigenen Worten – Alex und Jo bereits kannte. Jo war diese Bemerkung etwas eigenartig vorgekommen. Zugegeben, Sam hatte gesagt, sie wolle sie beide auf der Party mit Mortimers Freunden bekannt machen, und Mortimer kannten sie tatsächlich schon. Aber trotzdem …

Vielleicht sollte sie zum Tor gehen und nachsehen, ob Bricker sich langweilte oder ob er irgendetwas haben wollte. Sie machte kehrt, um zur Vorderseite des Hauses zu gelangen. Jo mochte Bricker. Okay, nicht so sehr, dass sie sich ihm am liebsten an den Hals geworfen und ihn geküsst hätte. Er war wirklich ganz süß, und sie verstanden sich auch gut, aber gefunkt hatte es zwischen ihnen definitiv nicht. Bricker verkörperte für sie mehr den zu Streichen aufgelegten jüngeren Bruder oder einen guten Freund. Er war einfach ein lässiger und umgänglicher Typ, von dem sie aber nicht mehr wollte. Und das war auch in Ordnung, denn auf der Suche nach einer festen Beziehung war sie nicht. Dafür fehlte ihr nun mal die Zeit. Neben dem Vollzeitjob in der Bar und Vorlesungen in Meeresbiologie, die sie an der Universität besuchte, hatte sie kaum Gelegenheit, sich mit ihren Freunden zu treffen. Wo hätte sie da noch die Stunden abzweigen sollen, die ein aktives Liebesleben in Anspruch nehmen würde?

Vielleicht konnte Bricker ihr ja verraten, was es mit den Männern auf dieser Party auf sich hatte, überlegte sie, als sie um die Ecke bog. Er wusste bestimmt, ob diese ganze Truppe schwul war oder nicht.

Jo hatte nur ein paar Schritte zurückgelegt, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Sie drehte sich um und schnappte überrascht nach Luft, als sie den blonden Mann sah, der aus der Dunkelheit auf sie zugerannt kam. Aus ihrem Keuchen wurde ein Schmerzensschrei, als der Unbekannte mit ihr zusammenprallte und sie von ihm gegen die Hauswand geschleudert wurde. Sie schlug so hart mit dem Kopf gegen die Fassade, dass sie Sterne sah, während die Schmerzen ihr den Atem raubten.

Der Mann sagte irgendwas, Jo konnte ihn einige Worte murmeln hören, die von seinem unangenehm riechenden Atem in ihre Richtung getragen wurden, aber sie ergaben keinen Sinn. Und dann war er auch schon wieder verschwunden.

Da sie von ihm nicht länger gegen das Mauerwerk gedrückt wurde, sackte sie zu Boden und stöhnte auf, als ihr Knie auf etwas schrecklich Hartem aufschlug, was nur noch mehr Schmerz durch ihren Körper jagte. Jo brauchte ein paar Sekunden, um sich in den Griff zu bekommen, erst dann fragte sie sich, wohin ihr Angreifer entkommen sein mochte. Der Schmerz ließ allmählich nach, und sie nahm in unmittelbarer Nähe angestrengtes Schnaufen und wilde Flüche wahr. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und sah, dass sich ein paar Meter von ihr entfernt zwei Männer prügelten.

Jo erkannte in keinem von beiden einen der Gäste von der Party, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihr dort aufgefallen wären. Der Blonde, der sie angegriffen hatte, schaute recht wild drein, er trug seine Haare lang und glatt. Seine dunkle Kleidung machte einen ungepflegten Eindruck, und sie wies etliche Flecken auf, die fast wie getrocknetes Blut aussahen. Der andere Mann hatte dunkles, mittellanges Haar, er trug eine verwaschene, aber saubere Jeans und ein dunkles T-Shirt.

Beide hatten eindeutig vor, den jeweils anderen niederzuzwingen, und das nicht nur für den Moment, sondern für immer. Zumindest war das Jos Eindruck, als sie sah, wie der Blonde die Hände um den Hals ihres mutmaßlichen Retters legte und ihn zu erwürgen versuchte. Im nächsten Augenblick landeten die beiden auf dem Rasen und rollten hin und her.

Jo beschloss, Hilfe zu holen, und versuchte aufzustehen, als sie mit dem Knie abermals auf den Stein geriet, auf dem sie gerade eben gelandet war. Wieder schoss ein Schmerz durch ihren Körper, der ihr den Atem raubte. Als sie nach unten schaute, entdeckte sie, dass der Übeltäter ein gerade mal handtellergroßer Stein war. Instinktiv hob sie ihn auf und suchte mit der anderen Hand an der unebenen Wand in ihrem Rücken Halt, um sich aufzurichten.

Nachdem ihr das gelungen war, musste sie feststellen, dass sie noch sehr wacklig auf den Beinen war und der dunkle Rasen dazu neigte, sich erschreckend schnell vor ihren Augen zu drehen. Ins Haus zurückzukehren und Hilfe zu holen, schien unter diesen Umständen nicht länger sinnvoll, da der Kampf vermutlich schon beendet sein würde, bevor sie die anderen alarmieren konnte – und wer von den beiden am Ende als Sieger dastehen würde, darüber war sie sich keineswegs im Klaren. Also musste sie eingreifen und helfen. Sie atmete tief durch, stieß sich von der Wand ab und stakste mit unsicheren Schritten auf die Männer zu, die inzwischen über die geteerte Auffahrt rollten. Als sie gut zwei Meter von den Kämpfenden entfernt war, gelang es dem Dunkelhaarigen, den Blonden von sich wegzustoßen, dann sprang er auf und packte den Langhaarigen, um ihn vom Boden hochzuziehen und weiter auf ihn einzuprügeln.

Jo stand da und blinzelte verwundert. Die Männer hatten sich so schnell bewegt, dass ihre Augen den beiden nicht hatten folgen können. Es war wie bei einem Film, der im Zeitraffer ablief: Eben noch lag der Dunkelhaarige auf dem Asphalt, dann stand er da, und im nächsten Moment beugte er sich über ihren Angreifer, um ihn auf die Beine zu zerren. Sie musste sich den Kopf schlimmer angestoßen haben als vermutet, überlegte sie, wenn ihre Augen ihr derartige Streiche spielten. Trotzdem ging sie Schritt für Schritt weiter und sah, dass der Dunkelhaarige den Blonden soeben so gedreht hatte, dass der mit dem Rücken zu ihr stand. Schnell holte sie aus und ließ den Stein mit aller Kraft auf den Kopf des Angreifers herabsausen. Eine Sekunde lang fürchtete sie, sie könnte zu heftig zugeschlagen haben, als sie den lauten Aufprall hörte. Hatte sie ihn etwa schwer verletzt oder sogar getötet? Aber dann stellte sich heraus, dass weder das eine noch das andere eingetreten war. Sie hatte den Blondschopf lediglich auf sich aufmerksam gemacht … und ihn gleichzeitig unglaublich sauer gemacht, was ihr klar wurde, als er sich ihr zuwandte und sie wie ein Hund anknurrte und dabei die Zähne fletschte.

Fassungslos starrte Jo ihn an. Seine goldenen Augen, glühten vor Zorn. Erschrocken wich sie vor ihm zurück, doch bevor er ihr etwas tun konnte, verpasste der Dunkelhaarige ihm einen weiteren Schlag. Zumindest schien das der Fall zu sein, da sie sah, wie er ausholte, und fast im gleichen Moment den Treffer hörte. Auf jeden Fall genügte diese Aktion, um den Blonden von ihr abzulenken. Der drehte sich wieder zu dem Dunkelhaarigen um und wollte sich für den Schlag revanchieren, doch der andere Mann war schneller und landete einen weiteren Hieb. Diesmal kam ein leises Röcheln über die Lippen des Blonden, dann sackte er in sich zusammen und stürzte zu Boden.

2

»Alles in Ordnung?« Nicholas stieg über den am Boden liegenden Abtrünnigen hinweg und ging auf die Frau zu, die gut einen Meter von ihm entfernt stand. Sie machte eine entsetzte Miene, ihr Gesicht war kreidebleich, und er konnte Blut riechen. Besorgt nahm er die Frau an den Schultern und drehte sie herum, damit er ihren Hinterkopf begutachten konnte. Insgeheim verfluchte er sich, weil er nicht schnell genug gewesen war, um zu verhindern, dass sie verletzt wurde. Aber er war gerade bis zu den Bäumen in unmittelbarer Nähe des Hauses gekommen, als er sah, wie Ernie über den Rasen lief. Die Frau, auf die der Abtrünnige zuhielt, war ihm erst aufgefallen, als der sie schon fast erreicht hatte.

In diesem Moment hätte er ihn erschießen sollen, dachte Nicholas. Das hätte der Frau die Platzwunde erspart, doch er war in Sorge gewesen, Mortimer und die anderen könnten den Schuss hören und sich auf ihn stürzen. Lieber erledigte er den Abtrünnigen so und tauchte wieder im Dunkel der Nacht unter, anstatt sich völlig unnötig aufzuopfern. Wäre es allerdings erforderlich geworden, dann hätte er dennoch genau das getan. Schließlich hatte er noch viele Dinge vor, auf die er sich freute, und deswegen hegte er ganz bestimmt keine Selbstmordabsichten. Also hatte er seine Pistole stecken lassen und sich stattdessen für rohe körperliche Gewalt entschieden und war mit dem Kerl, der die Frau belästigte, in den Nahkampf gegangen.

Dummerweise war Ernie ein drahtiger kleiner Mistkerl, der mit schmutzigen Tricks kämpfte. Hinzu kam, dass sich Nicholas auch noch ein wenig hatte ablenken lassen, weil er feststellen wollte, wie es der Frau ging. Als sie dann versucht hatte, ihm zu helfen und Ernie mit einem faustgroßen Stein niederzuschlagen, war für ihn klar gewesen, dass er dem Treiben ein Ende setzen musste. Ganz offensichtlich war die Frau nicht schlau genug, sich einfach in Sicherheit zu bringen und Hilfe zu holen. Stattdessen hätte sie sich fast zur Zielscheibe gemacht, da es immerhin möglich gewesen wäre, dass Ernie einen Glückstreffer landete und ihn selbst außer Gefecht setzte. Kurz entschlossen hatte er zum Messer gegriffen und dem Mann die Klinge in die Brust gerammt. Er hatte aber nicht sofort das Herz getroffen, sodass ein zweiter Stich notwendig geworden war, der hoffentlich besser gesessen hatte, da sich der Typ ansonsten innerhalb weniger Minuten erholen und erneut für Probleme sorgen würde.

Der Gedanke veranlasste Nicholas dazu, die Frau loszulassen und sich zu Ernie umzudrehen. Der lag zwar noch am Boden, dafür ertönte nun hinter ihm ein erschrockenes Keuchen, und als er sich wieder der Frau zuwandte, wurde ihm klar, dass er sie zu plötzlich losgelassen hatte. Sie hatte das Gleichgewicht verloren und fiel gerade um, aber Nicholas reagierte noch schnell genug, um sie zu packen und wieder hochzuziehen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte er und hielt sie weiter fest, solange er nicht sicher sein konnte, dass sie in der Lage war, sich auf den Beinen zu halten.

»Ja«, keuchte sie. »Vielen Dank!«

Zögerlich ließ er sie wieder los, und erst nach ein paar Sekunden drehte er sich zu Ernie um.

»Ist er tot?«

Die Frage ließ ihn einen Blick über die Schulter zu der Frau werfen, die um ihn herumspähte.

»Nein, ich habe ihn nur vorübergehend außer Gefecht gesetzt«, antwortete Nicholas finster.

»Sie müssen einen ziemlich harten Schlag haben, wenn Ihnen das gelungen ist«, murmelte sie und trat neben ihn. »Ich habe noch nie gesehen, dass jemand durch einen Schlag auf die Brust zu Boden geschickt wird, und ich hab schon eine Menge Schlägereien miterlebt.«

Nicholas griff nach ihrem Arm, damit sie nicht zu nah an Ernie herankam, und sah sie fragend an, als sie sich zu ihm umdrehte. »Ach, tatsächlich?«, wunderte er sich.

»Berufsrisiko«, erklärte sie und fügte hinzu: »Ich bin Managerin einer Bar in der Nähe der Universität. Da kommt es oft zu Handgreiflichkeiten. Allerdings nicht in der Bar«, ergänzte sie rasch. »Wir haben Türsteher, die so was von vornherein verhindern. Aber vor der Tür geht’s dann schon mal zur Sache.«

Nicholas nickte nur und stellte sich so vor sie, dass sie Ernie nicht sehen konnte. Es war klar, dass sie das Messer, das aus dessen Brust ragte, bislang nicht bemerkt hatte, allerdings war es auch schon dunkel, und er hatte in ihr eine Sterbliche vor sich, die nicht über die gleichen Nachtsichtfähigkeiten verfügte wie er. Wahrscheinlich würde sie außer sich sein, sobald sie das Messer sah, also stellte er sich ihr abermals in den Weg, als sie noch einmal versuchte, um ihn herum einen Blick auf Ernie zu werfen.

»Sie sollten jetzt wieder ins Haus gehen, da sind Sie sicherer aufgehoben«, sagte er leise.

»Ja, aber was wird aus ihm?«, wollte sie wissen.

Erneut war Nicholas gezwungen, ihr die Sicht zu versperren. »Ich kümmere mich schon um ihn.«

»Ah … Na gut …«

Unschlüssig schaute sie zum Haus, woraufhin Nicholas sie ganz in die Richtung drehte und sie – auch geistig – leicht anstieß, damit sie sich in Bewegung setzte. »Gehen Sie.«

Was ihn betraf, sollte das genügen, um die Frau loszuschicken, weshalb er sie im nächsten Moment so gut wie vergessen hatte. Er wandte sich ab und kniete sich neben Ernie, um sich davon zu überzeugen, dass die Klinge auch tatsächlich das Herz des Abtrünnigen durchbohrt hatte. Er musste verhindern, dass der Kerl wieder aufstand und weiter für Ärger sorgte. Wenn das sichergestellt war, konnte er das Grundstück verlassen, zu seinem Wagen zurückkehren und Mortimer anrufen, um ihn wissen zu lassen, dass er ihm ein kleines Geschenk hinterlassen hatte.

»Wie heißen Sie?«

Nicholas spannte unwillkürlich alle Muskeln an und blickte etwas verdutzt über die Schulter. Die Frau hätte längst das Haus erreicht haben müssen, schließlich hatte er ihr den entsprechenden geistigen Schubs gegeben. Stattdessen stand sie dicht hinter ihm und versuchte, einen Blick auf Ernie zu erhaschen. Er sah, wie sie die Stirn runzelte und dabei die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können. »Was ist das da auf seiner Brust?«, wollte sie wissen.

Leise fluchend stand Nicholas auf, nahm ihren Arm und führte sie in Richtung des Hauses. Diesmal beließ er es nicht bei einer allgemeinen Aufforderung, sondern drang in ihre Gedanken ein, um ihr eine klare Anweisung zu erteilen. Abrupt blieb er stehen, als er in ihrem Kopf gegen eine Mauer zu prallen schien.

»Was ist los?« Neugierig sah sie ihn an.

»Ich kann Sie nicht lesen«, erwiderte er verständnislos.

»Mich lesen?« Es war deutlich, dass sie keine Ahnung hatte, was er damit meinte.

Aber Nicholas schüttelte nur den Kopf und versuchte erneut, in ihre Gedanken vorzudringen. Wieder endeten seine Bemühungen an einer Art Wall … was nur eines bedeuten konnte: Sie war seine Lebensgefährtin. Diese Erkenntnis war für ihn ein Schock. Manche Unsterbliche begegneten nur einmal während ihrer gesamten Existenz einer Lebensgefährtin. Andere wurden zwar fündig, verloren sie aber aus den verschiedensten Gründen wieder, um dann Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende später einer neuen Lebensgefährtin zu begegnen. Nicholas hatte seine erste Lebensgefährtin vor fünfzig Jahren kennengelernt und nur wenige Monate später verloren. Er war fest davon überzeugt gewesen, niemals eine andere zu finden. Er hatte einfach nicht geglaubt, dass die Ewigkeit lange genug währte, um so viel Glück zu haben.

»Oh Mann, jetzt nicht Sie auch noch!«

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen und sah die Frau fragend an. »Was meinen Sie?«

»Na, diesen Penis-Blick«, murmelte sie.

»Penis-Blick?«, wiederholte er verständnislos. Nicholas hatte schlichtweg keine Ahnung, was sie da redete.

Ungeduldig trat sie von einem Bein auf das andere, erklärte ihm dann aber: »Sam gibt heute Abend eine Party, damit meine Schwester Alex und ich einige von Mortimers Freunden kennenlernen. Es sind alles Männer, und jedes Mal, wenn uns einer von ihnen vorgestellt wird, steht er vor uns und starrt auf unsere Stirn, als hätten wir da einen Penis.«

»Oh«, murmelte Nicholas, musste sich aber ein Lächeln verkneifen. Der Wunsch nach diesem Lächeln verstummte in dem Moment, als ihm bewusst wurde, dasser lächeln wollte. Seit Langem war in Nicholas’ Leben nichts mehr passiert, worüber er hätte lächeln können. Er räusperte sich und fragte: »Und was passiert danach?«

Sie zuckte mit den Schultern und wirkte sogar noch gereizter als ein paar Sekunden zuvor. »Dann geht er wortlos weg und redet mit den anderen. Im Moment stehen so ungefähr zehn oder zwölf ganz gut aussehende Kerle da im Haus und unterhalten sich, während Alex ganz allein ist und bestenfalls mit Sam und Mortimer spricht.« Sie schürzte kurz die Lippen und fügte dann hinzu: »Ich glaube, die sind alle schwul.«

Nicholas hob die Brauen, da er ihr erneut nicht folgen konnte. »Sam und Mortimer?«

»Sam ist die Abkürzung von Samantha. Sie ist meine Schwester und mit Mortimer zusammen.«

»Ah, ich verstehe«, erwiderte Nicholas. »Und entschuldigen Sie bitte meinen Penis-Blick.«

Sie nickte und wollte sich wieder zu Ernie umdrehen.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er und lenkte damit ihre Aufmerksamkeit schnell wieder zurück auf sich.

Sie sah ihn zwar an, zog dabei allerdings eine finstere Miene. »Das habe ich Sie vorhin auch gefragt, aber auf die Antwort warte ich immer noch.«

»Nicholas Argeneau«, antwortete er ruhig und wartete geduldig auf eine entsetzte Reaktion, auf einen abweisenden Blick oder ein erschrockenes Keuchen. Stattdessen streckte sie ihm die Hand entgegen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Nicholas Argeneau. Ich bin Jo Willan.«

»Jo«, wiederholte er nachdenklich und fand, dass der Name zu ihr passte. »Die Abkürzung von Josephine?«

Sie rümpfte die Nase, nickte aber gleichzeitig. »Ich hasse den Namen.«

»Mir gefällt er«, erklärte er. »Aber Jo passt besser zu Ihnen.«

»Sie kennen mich doch gar nicht«, gab sie lachend zurück. »Wie wollen Sie da wissen, welcher Name besser zu mir passt?«

»Ich weiß es eben«, entgegnete er ernst.

Sekundenlang sah sie ihn schweigend an, dann schüttelte sie den Kopf und murmelte vor sich hin: »Ich muss mir die Birne härter angeschlagen haben als gedacht.«

»Wieso sagen Sie das?«, hakte Nicholas sofort nach. »Haben Sie Schmerzen? Oder sehen Sie doppelt?«

»Nein«, antwortete sie rasch, dann verzog sie den Mund und räumte ein: »Na ja, ein bisschen habe ich wohl was abbekommen. Ich könnte schwören, dass dieser Typ da leuchtend goldene Augen hatte und Reißzähne, und gerade eben habe ich gedacht, ich hätte Ihre Augen silbern aufleuchten sehen.«

Nicholas entspannte sich. Mit ihren Augen war also alles in Ordnung, aber ihre Reaktion verriet ihm, dass sie keinen Schimmer hatte, wer er war. Und mit ihrer Bemerkung über die Leute im Haus unterstrich sie nur ihre Ahnungslosigkeit, was die gesamte Situation anging. Sie war eine nicht eingeweihte Sterbliche, der nicht klar war, dass sie von Unsterblichen umgeben war.

»Und wieso sind Sie zu dieser Party gekommen?«, wollte er wissen.

»Weil meine Schwester Sam mich wahrscheinlich bei lebendigem Leib gehäutet hätte, wäre ich nicht mitgekommen.«

»Ihre Schwester Sam, die die Freundin von Mortimer ist, richtig?«

»Ja, genau«, bestätigte sie und ergänzte: »Die zwei sind unzertrennlich, und ich nehme an, dass sie in Kürze heiraten werden.«

»Aha!« Nicholas nickte zufrieden. Dann war Mortimer also seiner Lebensgefährtin begegnet. Das freute ihn, denn er hatte den Mann schon immer gut leiden können. Allem Anschein nach versuchte diese Sam jetzt, für ihre Schwestern ebenfalls Lebensgefährten zu finden, damit sie sich in naher Zukunft nicht von ihnen trennen musste. Das war keine ungewöhnliche Reaktion einer frischgebackenen Lebensgefährtin, und manchmal ging der Plan sogar auf, wenn auch nur in seltenen Fällen.

Da passte es, dass sich das Schicksal einmal mehr von seiner grausamen Seite zeigte, indem es ihm ausgerechnet Jo als seine neue Lebensgefährtin präsentierte. Jos Schwester Sam würde überhaupt nicht begeistert sein, wenn sie erfuhr, wer er war. Und weder Jo noch er selbst würden sich darüber freuen können, weil Nicholas sie nicht zu seiner Lebensgefährtin nehmen konnte. Es wäre zwar grundsätzlich möglich gewesen, aber das kam für ihn nicht infrage, da er sie damit zu einem Leben auf der Flucht zwingen würde, weil sie die Gejagten wären, aber niemals die Jäger.

»Ich sollte Ihnen wohl dankbar sein, dass Sie mir das Leben gerettet haben.«

Er betrachtete ihre ernste Miene. Ihre großen Augen waren von einem wunderschönen Braun, das wohl zu Gold werden würde, sobald man sie wandelte. Sie hatte eine Stupsnase und verführerisch volle Lippen. Es waren hauchzart wirkende Lippen, die man einfach nur küssen wollte. Ehe er wusste, wie ihm geschah, umfasste er ihre Arme und zog sie daran ein wenig nach oben, während er sich vorbeugte, um sie zu küssen. Es hätte ein schneller, flüchtiger Kuss sein sollen, mehr wollte er sich nicht gestatten. Doch als sich ihre Lippen berührten, kam es in ihm zu einer regelrechten Explosion. Es war so, als würden Glühwürmchen wie verrückt durch seine Adern tanzen … und Jo drückte ihn auch nicht von sich oder wich von ihm zurück.

Er konnte nicht anders und küsste sie noch intensiver, seine Zunge drückte ihre Lippen behutsam auseinander, um sie richtig zu kosten … und damit war er verloren. Sie schmeckte so süß, wie er es sich vorgestellt hatte, mit einem Hauch von Limette und Tequila. Sie hatte also eine Vorliebe für Margaritas, dachte er. Vor fünfzig Jahren hatte er dieses Getränk probiert, als er noch ganz normal gegessen und getrunken hatte, und dieses Aroma war niemals in Vergessenheit geraten. Es war diese süße Schärfe des Drinks gewesen, die ihm so gut geschmeckt hatte, und als er jetzt Jo küsste, war dieser Geschmack zurückgekehrt.

Ein leises Stöhnen von Jo brachte Nicholas zurück ins Hier und Jetzt. Er befand sich auf feindlichem Territorium, ein paar Schritte neben ihm lag ein außer Gefecht gesetzter Abtrünniger, und im nahen Haus tummelten sich mehr als ein Dutzend Vollstrecker – er musste damit aufhören, eine Lebensgefährtin zu küssen, die er niemals würde haben können. Nicholas war sich bislang nicht darüber im Klaren gewesen, dass er eine derart masochistische Ader besaß. Das war so, als würde man vom süßen Guss einer Torte naschen, die man dann aber nicht essen durfte, dachte er und beendete den Kuss. Als er den Kopf hob, hatte Jo noch immer die Augen geschlossen, ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Lippen waren noch feucht. Es kostete ihn große Überwindung, sie nicht erneut zu küssen, doch er widerstand der Versuchung, und als sie die Augen aufschlug, knurrte er: »Damit hast du dich jetzt wohl bei mir bedankt.«

Ein flüchtiges Lächeln umspielte ihre Lippen, dann hob Jo eine Hand und strich über seine Wange. »Mir das Leben zu retten ist doch sicher mehr wert als ein kleiner Kuss, oder?«

Die unmissverständliche Einladung verblüffte ihn, aber er leistete keinen Widerstand, als sie die Hände um seinen Nacken legte und seinen Kopf zu sich herabzog, um ihre Lippen auf seine zu drücken. Diesmal war Jo in seinen Armen alles andere als ruhig, diesmal war sie die treibende Kraft, sie drückte sich fest an seinen Körper und schob ihre Zunge fast schon energisch zwischen seine Lippen. Etwa für die Dauer einer halben Sekunde gelang es Nicholas, nicht auf ihre Bemühungen zu reagieren, doch dann ergab er sich dem, was sein Körper wollte, und anstatt Vernunft walten zu lassen, ließ er es zu, dass in ihm pure Leidenschaft aufstieg. Er ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten, eine legte er in ihr Kreuz, um sie fester an sich zu drücken, mit der anderen umfasste er ihren Po, damit er sie etwas zu sich hochziehen konnte.

Als Jo diesmal aufstöhnte, unterbrach er den Kuss nicht, sondern vertiefte ihn nur noch mehr, als wollte er sie verschlingen. Sie reagierte entsprechend, legte die Hände auf seine Schultern und krallte die Finger in seine Muskeln, während sie den Kuss heftig erwiderte.

In Jo steckte viel Leidenschaft, und ihre Begierde konnte es mit seiner aufnehmen. Tatsächlich spielte Nicholas mit dem Gedanken, Jo einfach mitzunehmen, um anderswo diese Leidenschaft ausleben zu können, als ihm auf einmal ein grelles Licht in die Augen stach. Das hatte in etwa die gleiche Wirkung wie ein Eimer kaltes Wasser, den er über den Kopf bekam, und sofort lösten sich Jo und Nicholas voneinander und wichen jeweils einen Schritt zurück. Nicholas drehte sich in die Richtung des Lichtstrahls, aber noch bevor er überlegen konnte, ob er die Flucht antreten sollte, blitzte ein zweiter Strahl links und ein dritter rechts von ihm auf. Dass ein viertes Licht von hinten auf ihn gerichtet wurde, war eigentlich völlig überflüssig.

»Nicholas.«

»Mortimer?«, fragte Jo unsicher.

Als sie gegen Nicholas’ Arm stieß, wandte er sich ihr zu und stellte fest, dass sie mit einer Hand ihre Augen vor dem hellen Lichtschein abschirmte und sich instinktiv schutzsuchend an ihn drückte. Mürrisch entgegnete Nicholas: »Ich hab schon verstanden, dass ich umzingelt bin. Und jetzt macht die verdammten Taschenlampen aus. Ihr seht damit kein bisschen besser, ihr blendet nur Jo.«

Ausgeschaltet wurden die Lampen nicht, dafür aber zu Boden gerichtet.

»Geht es dir gut, Jo?«, wollte Mortimer wissen, der nah genug herankam, um nach ihrem Arm zu greifen und sie von Nicholas wegzuziehen.

»Ja, natürlich. Mir tut zwar der Kopf weh, aber Nicholas hat mich gerettet, bevor etwas viel Schlimmeres passieren konnte.«

»Nicholas hat dich gerettet?«, wiederholte Bricker, und Nicholas schnitt eine Grimasse, weil der Mann so völlig überrascht klang.

»Ja, vor dem blonden Kerl da.« Jo deutete auf den Rasen hinter Nicholas, und alle Taschenlampen wurden auf die Stelle gerichtet, wo Ernie Brubaker hätte liegen müssen. Jetzt fand sich dort nur noch ein blutverschmiertes Messer.

»Himmel!«, murmelte Nicholas angewidert. Er wusste, er hätte sich vergewissern müssen, ob er auch tatsächlich das Herz getroffen hatte. Stattdessen hatte er … Nicholas hielt inne, schüttelte alle Selbstvorwürfe ab und konzentrierte sich auf das, was jetzt wichtig war. Er betrachtete die vier Männer, die ihn umzingelt hatten: Mortimer, Bricker, Anders und Decker. An Letzterem blieb sein Blick hängen. »Sein Name ist Ernie, er ist wegen deiner Frau und ihrer Schwester hier. Wahrscheinlich ist er weggelaufen, aber du solltest besser reingehen und in der Nähe der beiden bleiben, bis du sicher sein kannst, dass ihnen nichts passiert.«

Decker nickte und wollte sofort loslaufen, aber Mortimer fasste ihn am Arm, um ihn zurückzuhalten. »Nimm Jo mit rein.«

»Aber ich will bei Nicho…« Weiter kam sie nicht, und als er ihr ausdrucksloses Gesicht sah, wusste Nicholas, dass einer der Männer – vermutlich Decker – die Kontrolle über sie übernommen hatte. Warum das sein musste, war ihm klar, dennoch gefiel es ihm nicht, aber er sagte kein Wort, sondern schaute schweigend Jo nach, als sie von Decker weggeführt wurde. Er wusste, dass er sie jetzt wahrscheinlich zum letzten Mal sehen würde. Eine traurige Realität, der er sich stellen musste, und er fühlte, wie ihm ein Stich ins Herz fuhr, als Jo mit Decker um die Ecke bog und damit für immer aus seinem Leben verschwand.

Er spürte seine fünfhundertsechzig Jahre nur allzu deutlich, während er sich zu Mortimer umwandte. »Du musst die Bäume an der Zufahrt auf Höhe der Tore mindestens um sechs Meter zurückschneiden, und die Wagen müssen zwischen den geschlossenen Toren anhalten, um sie zu begutachten, nicht erst, wenn sie schon beide Tore passiert haben. Und deine Wachleute müssen die Fahrzeuge von allen Seiten untersuchen und auch druntersehen, bevor sie das zweite Tor passieren. Dieser Abtrünnige hatte sich unter dem Wagen des Cateringunternehmens festgeklammert, und während sich Bricker mit dem Fahrer unterhielt, konnte der blinde Passagier unter dem Transporter hervorkommen und in den Wald entwischen.«

»Und wie bist du reingekommen?«, fragte Mortimer, dem es gar nicht gefiel, sich solche Vorhaltungen anhören zu müssen.

»Ich musste improvisieren, als ich sah, dass Ernie es aufs Grundstück geschafft hatte«, sagte er. »Er ist einer von Leos unsterblichen Söhnen. Ich bin ihm in der Hoffnung gefolgt, dass er mich zu Leos Versteck führt, und dabei bin ich hier gelandet.«

»Und wie bist du reingekommen?«, wiederholte Mortimer seine Frage.

Nicholas zuckte beiläufig mit den Schultern. »Zum Glück ist gleich darauf der Wagen der Reinigungsfirma gekommen. Ich bin auf der hinteren Stoßstange mitgefahren und habe mich dann in die Büsche geschlagen, als Bricker den Fahrer überprüfte.«

Bricker sah kurz zu Mortimer, dann wieder zu Nicholas. »Warum?«

»Was warum?«, gab der ruhig zurück.

»Warum gehst du das Risiko ein, dich hier blicken zu lassen?«, formulierte er seine Frage genauer.

»Wegen Ernie. Mir war klar, dass keiner von euch wusste, dass er hier ist, und ich dachte mir, ich halte ihn besser auf, bevor er es bis zu den beiden Frauen schafft.«

»Wir sollen dir glauben, dass du so ein Risiko eingehst, nur …«

»Du kannst glauben, was du willst«, unterbrach Nicholas ihn verärgert.

»Warum hast du nicht angerufen?«, wollte Mortimer wissen.

»Ich habe mein Telefon nicht dabei«, räumte er ein und sah hinüber zum Haus, wo soeben eine kleine Armee aus Vollstreckern um die Ecke gestürmt kam. Sarkastisch fragte er: »Himmel, ist heute Nacht überhaupt irgendjemand auf der Straße?«

Mortimer ignorierte ihn und ging zu den Männern, um ihnen in aller Eile Anweisungen zu erteilen. Augenblicke später schwärmten die meisten von ihnen in alle Himmelsrichtungen aus, um das Grundstück abzusuchen, ein paar kehrten zum Haus zurück, um es zu bewachen. Dann kam Mortimer wieder dorthin, wo Nicholas mit Anders und Bricker auf ihn wartete.

»Du bist natürlich heute Nacht unser Gast«, erklärte Mortimer. Dann fügte er mit einem flüchtigen Lächeln hinzu: »Und ich möchte kein Nein hören.«

»Rasend komisch«, murmelte Nicholas bitter.

Mortimer gab seine Bemühungen auf, witzig zu sein, und sagte: »Ich werde Lucian anrufen, sobald wir dich eingesperrt haben.«

»Ihr habt hier die Möglichkeit, Abtrünnige einzusperren?«, fragte Nicholas interessiert.

Mortimer deutete auf ein Gebäude am anderen Ende des Grundstücks. Es war eine riesige Wellblechhalle. »Ein früherer Hangar«, erläuterte Mortimer. »Da stehen jetzt unsere SUVs drin, außerdem haben wir ein Büro und Zellen eingerichtet. Es sollte für dich eigentlich bequem genug sein.«

»Na fein«, knurrte er, und als Mortimer ihm mit seiner Pistole bedeutete, sich in Bewegung zu setzen, folgte er der Anweisung.

»Die Backsteinmauer und den Zaun haben wir ebenfalls gebaut«, erzählte Bricker unterwegs. »Und die Möbel für das Haus haben wir auch noch beschafft. Es war ein ziemlich hektischer Sommer.«

Nicholas reagierte nur mit einem vagen Brummen. Er wusste, dies war nicht das erste Haus, in dem sich die Vollstrecker niedergelassen hatten. Im letzten waren sie nur ein paar Wochen geblieben, bis es Ärger mit Ernies Vater Leonius gegeben hatte und sie gezwungen gewesen waren, ihre Sachen zu packen und sich eine neue Unterkunft zu suchen. Unwillkürlich fragte er sich, ob sie von hier auch bald wieder weiterziehen würden, nachdem einer von Leonius’ Söhnen das Haus entdeckt hatte. Allerdings bezweifelte er das, denn egal, wo sie sich niederließen, der neue Standort ließ sich nie für lange Zeit geheim halten, und ebenso wenig konnten sie jedes Mal umziehen, wenn sie aufgespürt worden waren. Vermutlich hatten sie deswegen diese umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen … und falls sie auf seine Ratschläge hörten, die er ihnen eben gegeben hatte, sollten sie hier eigentlich auch gut aufgehoben sein. Ihn selbst brauchte das aber wohl nicht mehr zu kümmern, denn sobald Lucian benachrichtigt worden war, konnte er sich als toten Mann betrachten.

Jo schloss die Tür hinter sich und ging zum Bett. Sie war sehr müde und konnte es nicht erwarten, sich endlich hinzulegen. Dieser Gedanke ging ihr immer wieder durch den Kopf, als sie am Fenster vorbeikam und die Männer unten auf dem Rasen stehen sah.

Sie stutzte, trat näher an die Scheibe und schaute hinab. Sie erkannte Mortimer und Bricker, aber der dritte Mann, der bei ihnen stand, sagte ihr gar nichts. Die Gruppe befand sich ziemlich weit vom Haus entfernt, doch der Fremde schien ein gut aussehender Mann zu sein. Allerdings konnte sie sich nicht daran erinnern, ihn auf der Party gesehen zu haben. Neugierig geworden, ging sie zur Balkontür, schob sie auf und trat nach draußen.

Die nächtliche Brise trug die Stimmen der Männer zu ihr herauf, und Jo wunderte sich, als sie den fremden Mann reden hörte. Seine Art zu sprechen kam ihr irgendwie bekannt vor, dennoch war sie sich sicher, dass sie ihm noch nie zuvor begegnet war. Sie beobachtete, wie die drei zu dem Wellblechbau hinten auf dem Grundstück gingen, sie hörte sie reden, und wieder fragte sie sich, woher sie bloß diese Stimme kannte. Selbst als die drei in der Halle verschwunden waren, grübelte sie immer noch darüber nach, wieso ihr der Mann so bekannt vorkam. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es eine wichtige Frage war, doch sie kam beim besten Willen nicht auf die Antwort.

Das Rätsel beschäftigte sie immer noch, als sie hörte, wie eine Tür geschlossen wurde. Mortimer und Bricker hatten die Halle verlassen, in der den Worten ihrer Schwester Sam zufolge Mortimers Autosammlung untergebracht war. Die beiden waren auf dem Rückweg zum Haus, und nachdem Jo sie noch einen Moment lang beobachtet hatte, verließ sie den Balkon, um nicht von ihnen gesehen zu werden. Sie war wirklich sehr müde und konnte es nicht erwarten, sich endlich hinzulegen. Dummerweise hatte sie jetzt hartnäckige Kopfschmerzen, und als sie zum Bett ging, strich sie mit einer Hand über ihren Hinterkopf, wobei sie eine Beule spürte.

Sie blieb stehen und berührte die Schwellung vorsichtig, zuckte aber vor Schmerz zusammen. Verwundert begab sie sich in das kleine angrenzende Badezimmer, schaltete das Licht ein und drehte den Kopf zur Seite, um im Spiegel irgendwie einen Blick auf die Beule werfen zu können. Natürlich klappte das nicht, und sie begann, alle Ablagen und Schränkchen nach einem Spiegel oder etwas Ähnlichem zu durchsuchen, damit sie ihren Hinterkopf betrachten konnte. Allerdings stieß sie dabei nur auf Handtücher, Waschlappen und verschiedene Seifen.

Seufzend schloss sie das letzte Fach. Nicht nur, dass sie keinen Handspiegel finden konnte, es gab auch kein Aspirin oder irgendwelche anderen Schmerzmittel. So müde sie auch war und so gern sie sich ins Bett gelegt hätte, musste sie wohl erst noch hinunter ins Erdgeschoss und dort nach Schmerztabletten suchen. Andernfalls würde sie mit diesem unbarmherzig pochenden Kopf keinen Schlaf finden, so viel stand fest.

Wenn sie sich ohnehin schon auf die Suche nach Tabletten machte, würde sie vielleicht auch herausfinden können, was eigentlich mit ihrem Kopf passiert war. Sie hatte keine Erinnerung daran, wo sie sich gestoßen haben sollte, obwohl das bei einer derart großen Beule eigentlich der Fall sein musste. Sie verstand nicht mal, warum ihr die Erinnerung an den Zwischenfall fehlte. Der Gedanke weckte bei ihr die Sorge, dass man ihr etwas in ihren Drink getan hatte. Vielleicht diese K.-O.-Tropfen oder etwas anderes in der Richtung.

Die Sorge darüber, was man womöglich alles mit ihr angestellt hatte, ohne dass sie sich daran erinnern konnte, ließ sie ihre Müdigkeit ebenso vergessen wie den Wunsch, sich möglichst bald ins Bett zu legen und zu schlafen. Als sie in den Flur hinausging, fühlte sie sich bereits wieder hellwach und außerdem sehr beunruhigt. Sie war gerade die halbe Treppe hinuntergestiegen, da wurde die Haustür geöffnet. Schwere Schritte waren zu hören, dann das hastige Klackern von hohen Absätzen im Flur.

»Oh, Mortimer«, hörte sie Sam aufgeregt sagen, »was ist denn passiert? Decker hat Jo ins Haus begleitet, und er will mir nicht sagen, was los ist. Er hat sie nach oben gebracht und in ihr Zimmer geschickt, dann wollte er nach Dani und Stephanie sehen, und bisher ist er nicht zurück. So teilnahmslos, wie Jo war, als sie hereinkamen, nehme ich an, dass er sie kontrolliert hat, richtig?«

»Ja, Schatz, es ging nicht anders.«

Wie erstarrt blieb Jo stehen, als sie Mortimers Worte hörte. Decker hatte sie kontrolliert? Weil es nicht anders ging? Was sollte das heißen?

»Warum denn?«, fragte Sam. »Was ist passiert?«

»Ein Abtrünniger ist auf das Grundstück gelangt«, erklärte er. »Einer von Leos Söhnen. Er hat Jo angegriffen, aber es ist alles unter Kontrolle«, fügte er rasch hinzu, als Sam aufgeregt nach Luft schnappte. »Es geht ihr gut. Nicholas hatte den Abtrünnigen verfolgt und war zur Stelle, um Jo vor Schlimmerem zu bewahren. Jetzt ist sie nur heftig mit dem Hinterkopf gegen die Hauswand gestoßen worden.«

»Nicholas?«, fragte Sam im gleichen Moment, in dem Jo sich den Namen durch den Kopf gehen ließ. Plötzlich sah sie ein Bild des Mannes vor sich, der auf dem Rasen mit Mortimer und Bricker in ein Gespräch vertieft gewesen war. Sie hatte mit ihm in der Dunkelheit gestanden, er hatte ihr in die Augen gesehen und gesagt, sein Name sei …

»Nicholas Argeneau?«, sprach Sam den Namen gerade aus, der Jo im selben Moment wieder einfiel. »Der abtrünnige Nicholas Argeneau? Der war auch hier?«

»Ja. Offenbar war er der Fährte von Leos Sohn gefolgt und hatte ihn beobachtet, wie er sich Zutritt zum Grundstück verschaffte. Er wollte verhindern, dass der Kerl Ärger macht, und dann hat er Jo gerettet.«

Im Erdgeschoss kehrte kurz Ruhe ein, und Jo näherte sich vorsichtig dem Geländer, bis sie auf die Köpfe von Sam und Mortimer hinabblicken konnte. Weiter traute sie sich nicht, weil sie nicht bemerkt werden wollte. Wenn die beiden gewusst hätten, dass sie sich auf der Treppe aufhielt, wäre die Unterhaltung vermutlich sofort beendet worden.

»Dann hat Nicholas Argeneau …«, begann Sam ganz im Tonfall einer Anwältin, wie Jo es von ihr kannte, »… der abtrünnige Nicholas Argeneau … also vor ein paar Monaten Dani und Stephanie das Leben gerettet, und jetzt rettet er meine Schwester und geht schon wieder das Risiko ein, gefasst zu werden. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?«

»Nein.« Mortimer hörte sich erschöpft an, und Jo konnte sehen, wie er sich mit einer Hand durchs Haar fuhr. »Aber genau so ist es gewesen.«

»Aber warum macht er das?«, fragte Sam, dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Ist es eigentlich sicher, dass er ein Abtrünniger ist, Mortimer? Ich meine, ein Mann, der sein eigenes Leben riskiert, um wildfremde Menschen zu retten, das hört sich für mich …«

»Er ist ein Abtrünniger, Sam«, unterbrach er sie entschieden. »Ich weiß nicht, warum er heute Nacht so gehandelt hat. Vielleicht will er Wiedergutmachung für die Vergangenheit leisten. Sei einfach froh, dass er es getan hat und dass es Jo gutgeht.«

Sam seufzte leise, ihr Kopf bewegte sich ein wenig hin und her. »Ich sollte besser mal nach Jo sehen.«

»Lass sie in Ruhe schlafen, Schatz«, widersprach er ihr, und als Jo sich noch ein Stück weiter dem Geländer näherte, konnte sie sehen, wie er Sams Arm festhielt, als sie zur Treppe gehen wollte. »Decker hat ihre Erinnerung gelöscht und ihr eingeredet, dass sie müde ist und nur schlafen möchte. Lass sie bis zum Morgen in Ruhe. Wenn du jetzt noch mit ihr redest, könntest du Erinnerungen zurückholen. Wenn sie bis morgen früh durchschläft, wird alles Gelöschte auch gelöscht bleiben.«

»Meinst du?«, fragte sie besorgt.

»Solange sie weder Nicholas noch Leos Sohn wiedersieht, sollten diese Erinnerungen begraben bleiben«, beteuerte Mortimer. »Und jetzt komm! Ich muss Lucian anrufen, und ich möchte dich in der Nähe haben, bis wir sicher sein können, dass Leos Sohn sich nicht doch noch irgendwo auf dem Grundstück aufhält.«

»Besteht diese Möglichkeit?«, wollte Sam unüberhörbar beunruhigt wissen.

»Wir glauben, er ist geflohen. Als die Männer nach ihm gesucht haben, stand das Tor offen. Wir glauben, er hat sich in den Wald zurückgezogen, als Nicholas und Jo sich geküsst haben, und dann ist er durchs Tor entwischt, als Bricker seinen Posten verließ, um der Unruhe auf dem Gelände auf den Grund zu gehen.«

»Nicholas und Jo haben sich geküsst?« Sams Frage hörte sich an, als habe Mortimer gesagt, dass sie vor den versammelten Partygästen auf dem Wohnzimmertisch Sex gehabt hätten. Aber Jo konnte ihr Entsetzen gut verstehen, denn für sie hatte es auch etwas Schockierendes, das zu hören. Sie hatte einen wildfremden Kerl geküsst, der sie vor irgendeinem Angreifer gerettet hatte?

»Ich werde es dir gleich erklären«, versprach Mortimer Sam. »Aber erst mal muss ich Lucian anrufen. Komm mit!«

»Aber warum haben sie sich geküsst?«, wollte Sam wissen, während Mortimer sie in Richtung Bibliothek dirigierte. Zu Jos Bedauern wurde die Tür hinter den beiden geschlossen, bevor er eine Antwort gab. Die hätte sie zu gern gehört.

Einen Moment lang blieb sie auf der Treppe stehen, da tausend Gedanken gleichzeitig auf sie einstürmten. Der Großteil von Mortimers Erklärungen ergab keinen Sinn. Decker hatte ihre Erinnerung gelöscht? Er hatte ihr eingeredet, dass sie müde sei? Sie war von einem Abtrünnigen – was immer das auch sein mochte –