In meinem Herzen steckt ein Speer - Anja Caspary - E-Book

In meinem Herzen steckt ein Speer E-Book

Anja Caspary

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Beschreibung

Für die meisten von uns ist es die größte Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren oder eine schwere Krankheit zu bekommen. Doch wie kann ein Leben gelingen, wenn einem beide Katastrophen widerfahren?  In ihrem bewegenden Buch schreibt Anja Caspary darüber, dass ein Leben auch angesichts existenzieller Verluste möglich ist. Und darüber, dass eine Liebe auch den Tod überdauern kann.  

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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In meinem Herzen steckt ein Speer

Die Autorin

ANJA CASPARY, langjährige Moderatorin von radioeins (rbb), ist seit August 2015 Musikchefin des Programms. Ihr Mann war der Musiker (»Die Ärzte«) und Musikredakteur (Tip) Hagen Liebing, der im September 2016 mit nur 55 Jahren an einem Hirntumor starb.

Das Buch

Als Anja Caspary die Diagnose Brustkrebs erhält, ist der Schock zunächst riesig. Statt sich mit der Frage nach dem Warum aufzuhalten oder die Krankheit zu verschweigen, nimmt sie ihr Schicksal selbstbewusst in die Hand. Sie spricht frei und ohne Tabus über ihr Leben mit dem Krebs und trifft unkonventionelle Entscheidungen – auch gegen den Rat der Ärzte, aber immer mit der 100-prozentigen Unterstützung von Hagen, ihrer großen Liebe seit mehr als 20 Jahren. Dann erkrankt Hagen schwer. Das mutige Buch einer Frau, die zwei schwere Schicksalsschläge bewältigen muss – und trotzdem zuversichtlich bleibt.

Anja Caspary

In meinem Herzen steckt ein Speer

Das Jahr, das alles veränderte

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

© Ullstein extra ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbHwww.ullstein-extra.de

ISBN 978-3-8437-2399-2

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagfotos: © Annette ApelAlle Rechte vorbehaltenE-Book Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Part 1

Un-Break My Heart

I Got You Babe

Rising

So ’ne kleine Frau

The Storm

Love’s Sweet Exile

Both Sides Now

You’re so Vain

The Faith Healer

Cry Baby

Cut off the Top

Harden my Heart

This Girl Is On Fire

Dinge von denen

Signposts and Instruments

I Want to Sleep with You

Sister Midnight

Novocaine For the Soul

Blood

Choices

Death Walks Behind You

I’m Set Free

Psycho Chicken

Es wird morgen vorbei sein

The Soundtrack of my Death*

PART II

Save Me

Electric Man

I’m Bound to Pack It Up

Eldorado

This Messiah Needs Watching

Nimm einen Joint, mein Freund

Swingin Party

Satisfied Mind

No Expectations

Felt Mountain

Night Shop

Blues von der letzten Gelegenheit

Body Love

Lazy Old Sun

Lay, Lady, Lay

Embryonic Rendezvous

It’s All Over Now, Baby Blue

Hidden Track

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Part 1

Redaktionelle Anmerkung

Der Titel dieses Buches »In meinem Herzen steckt ein Speer« ist ein leicht verändertes Zitat aus dem Lied: REISE, REISE. Musik & Text: Till Lindemann, Doktor Christian Lorenz, Richard Z. Kruspe, Paul Landers, Oliver Riedel, Christopher Doom Schneider. © Musik Ed. Discoton GmbH, Rammstein Musikverlag, Tamtam Fialik Musikverlag

Abbildungen:

S. 47, © Kai-Uwe Heinrich; S. 147, © Annette Apel; S. 272, © Artwork: Sebastian Rohde/Firma Freimauer

Die Ratschläge in diesem Buch sind von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für kompetenten medizinischen Rat. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie seitens des Verlags oder der Autorin. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ebenfalls ausgeschlossen.

Widmung

Strip away the secrecy and the shame.Because that is what makes us stronger.

Scarlett O’Connor in der Serie

Nashville

Widmung

Für Kim und Campbell. Danke.

I Got You Babe

Sonny & Cher

9:15 Uhr. Röntgeninstitut am Rathaus Steglitz. Die Damen an der Rezeption sind nett. Die in der Röntgenkabine auch. Beruhigend sanft sprechende, höfliche Menschen. Keine groben Schwesternsadistinnen, wie man sie manchmal früher auf Station in Krankenhäusern erlebt hat. Meine Brüste werden nacheinander ins Gerät geklemmt. Das Röntgen geht schnell, aber dann muss ich warten. Lange, scheint mir. Die beiden kommen zurück: »Wir würden gerne noch einmal die Aufnahme der linken Brust wiederholen.«

Ich finde das nicht gut. Sage es auch laut: »Wieso denn das? Ist das wirklich nötig? Ich habe doch gar nicht gewackelt!« Erkläre auch, warum ich dagegen bin: »Röntgenstrahlen machen doch Krebs, für meine Gesundheit wäre es besser, nicht noch einmal zu röntgen!« Mir fällt nicht auf, dass die beiden betreten wirken.

»Die Ärztin hätte noch gerne einen Bereich abgebildet, der bei der ersten Aufnahme nicht erfasst wurde.« Sie lassen nicht locker, na gut.

Alle zehn Jahre kann ich mich auch mal mit Strahlen verseuchen lassen. Es wird noch einmal eine Aufnahme der linken Brust gemacht. Diesmal geht es schneller, und kurz darauf rauscht die flotte dunkelhaarige Ärztin mit den Aufnahmen herein und erklärt mir irgendwelche hellen Punkte als Mikroverkalkungen. Macht mich nicht misstrauisch. Habe das Wort noch nie gehört. Im Alter verkalkt doch so einiges – die Arterien, das Hirn, warum nicht auch die Brust. Ich bin schließlich fünfzig, längst nicht mehr taufrisch. Das weiß man doch: Ab dreißig geht es schleichend bergab mit dem Körper, und spätestens ab Mitte vierzig grüßen im Spiegel die welke Haut am Bauch, der leicht hängende Busen, der Winke-Unterarm, ich bin fast belustigt über die Mikroverkalkungen. Wir gehen nach nebenan zum Ultraschall. Sie beschallt lange. Links und rechts, rechts und links. Dann sagt sie: »Sie haben einen Knoten.«

Bin immer noch unerschüttert: »Das ist bestimmt eine Verhärtung vom Stillen damals«, sage ich, »rechts hatte ich nämlich eine Brustdrüsenentzündung.« Ich bin mir einfach sicher, dass da nichts sein kann.

Sie sonografiert stumm weiter, ewig scheint mir, bis sie irgendwann den Stab zurückstellt, mich fest anschaut und sagt: »Es sieht aus wie Brustkrebs. Sie haben in beiden Brüsten einen Befund.«

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Mein Mund öffnet sich, wortlos. Ich schließe ihn wieder. Setze mich langsam auf. Bekomme Papiertücher zum Abwischen des Ultraschallgels. Ihr Satz rotiert in meinem Kopf. Ich habe Krebs. Ich habe Krebs? Alles ist unwirklich. Die, die hier sitzt, bin das überhaupt ich? Bin stumm und taub. Ich komme mir so klein vor. Wie ein Kind. Ich glaube, meine Füße berühren den Boden nicht und baumeln von der Pritschenkante herab. Da sitze ich nun, so klein, meine Augen füllen sich mit Tränen. Habe ich wirklich Krebs?

Sie ist sehr nett, man merkt, dass ich ihr leidtue. Schon erstaunlich, denn sie erlebt das bestimmt jeden Tag und Hunderte Male im Jahr.

»Natürlich muss man noch abklären«, sagt sie, »ob es wirklich Malignome sind, und eine Biopsie machen, eine histologische Untersuchung. Aber auf der linken Seite ist es ziemlich sicher bösartig. Haben Sie einen guten Arzt?«

Habe ich? Ich weiß nicht, ich kann nicht denken.

Scheiße.

Ich soll Krebs haben? Krebs. Krebs. Krebs. Das bedeutet, ich sterbe bald. Das ist doch viel zu früh.

Ich habe Brustkrebs und fühle mich vollkommen gesund. Wie kann das sein? Krank diagnostiziert zu werden, obwohl man sich vollkommen gesund fühlt, ist abstrus. Vor zwanzig Minuten war ich noch das blühende Leben, und jetzt bin ich todkrank? Was ist das für eine Krankheit, die sich nur auf Monitoren abbildet und keine Symptome macht? Ich fühle mich wie immer. Mein Körper ist derselbe. Nirgendwo ist eine Beule, er sieht aus wie davor. Aber in meinen beiden Brüsten sind fiese Geschwüre? Knoten, die meine Brüste zerfressen und ihre tödlichen Samen überallhin streuen? Ich bin wie betäubt. Bekomme nichts mehr mit. Kann nichts sagen.

Anfang des Jahres hat mich doch die Frauenärztin abgetastet, da gab es keinerlei Befund. Ich selbst habe auch nichts gefühlt, wenn ich beim Duschen mit eingeseiften Händen meine Brüste geknetet habe. Da war nur das übliche Geschnurpse, nichts auffällig anderes. Ob sie sich irren? Vielleicht ist es ein Fehlbefund? Aber das Mitleid in ihren Augen ist real und spricht eine andere Wahrheit.

Sie redet mit mir, artig nicke ich, höre aber gar nicht hin. Ich bewege mich wie ein Automat, mache, was man mir sagt. Ich ziehe mich wieder an. In meinen Händen sind irgendwelche Zettel. Haben die Sprechstundenhilfen etwas zu mir gesagt? Ich frage nicht nach. Ich will nur weg. Ich will hier nicht vor aller Augen zusammenbrechen. Offenbar verabschiede ich mich normal, denn man lässt mich unbehelligt gehen. Als sei ich zurechnungsfähig und im Besitz meiner Kräfte. Bin ich überhaupt nicht. Als ich meinen rot-gelben Cross-Helm in der Garderobe liegen sehe, kommt mir alles noch absurder vor. Der Helm soll mir gehören? Dieses schreiend bunte Stück Plastik, dieses Insignium von Spiel und Spaß? Jemand mit Krebs hat doch nicht so einen Helm! Jemand mit Krebs ist doch halb tot und liegt im Bett.

Dann stehe ich auf dem Bürgersteig vor meinem Motorrad. Ich sehe nichts, meine Augen sind voller Tränen. Ich weiß, dass ich jetzt ganz bestimmt nicht fahren sollte. Nicht nur wegen des Schleiers vor den Augen, auch wegen meiner seelischen Verfassung. Ich bin im Schockzustand. Da ist doch die Teilnahme am Straßenverkehr viel zu gefährlich. Aber halt, welche Gefahr soll das sein? Dass ich einen Unfall habe und sterbe? Ha, ha, ha. Das ist doch gar keine Bedrohung mehr. Was bedeutet schon Gefahr, wenn man Krebs hat.

Nichts, was vorher von Bedeutung war, ist es noch. Ich denke an mein Babe, an meine Kinder, wie leid sie mir tun, wenn ich es ihnen erzählen werde. Wie wird Hagen reagieren? Wir waren uns doch so sicher, dass wir zusammen alt werden. Ich dachte, ich würde hundert werden. Die Spielsachen unserer Kinder habe ich aufgehoben und für die Enkel in spe auf dem Dachboden verstaut. In Kartons mit Beschriftung. Ich habe mir schon die Freude vorgestellt, sie eines Tages vor neugierigen Kinderaugen wieder auspacken zu können: die Brio-Eisenbahn, das Piratenschiff, die Playmobil-Pyramide, die bunten Bauklötze, die Baby Born mit Wiege und Pferd, die Hot Wheels, Gogos, Yu-Gi-Oh!-Karten. Und jetzt erlebe ich keine Enkel mehr. Wie wird unsere Tochter reagieren? Was weiß sie überhaupt von Krebs, sie ist doch erst dreizehn. Und unser 21-jähriger Sohn – der ist gerade in Korea und arbeitet auf einer Weinmesse, dem kann ich es ja wohl schlecht am Telefon erzählen. Wann sag ich es ihnen überhaupt? Irgendwann später. Nicht jetzt, wo mein Gehirn noch halb betäubt und die Wahrheit zu groß zum Verstehen ist. Ich kann hier auf dem belebten Bürgersteig neben meinem Motorrad nicht denken, nicht agieren. Ich muss etwas tun, aber weiß nicht, was. Aber hier stehen bleiben will ich auch nicht. Nach einem Moment gebe ich mir einen Ruck. Ich entscheide, dass ich erst einmal einfach weitermache. So, wie geplant. Ich hatte etwas vor, und das führe ich jetzt durch. Also setze ich mich aufs Motorrad und fahre auf die Stadtautobahn. Weinend.

Zu Hause verbiete ich mir, irgendjemanden anzurufen. Ich dusche mich. Und weine. Und verbiete mir zu weinen, damit ich nicht aussehe, als hätte ich geweint. Ich entscheide mich für ein weißes Kleid, benutze Mascara und Lippenstift. Mehr nicht, meine Wangen sind schon gerötet – meine Augen glänzen. Nur ich weiß, warum. Die Fahrt zum Sender geht schnell. Während ich die Masurenallee überquere, strecke ich mich innerlich nach meinem alten Ich aus: Wie würde ich mich in diesem Moment fühlen, ohne das Wissen um den Krebs? Wie würde ich mich bewegen, was würde ich denken, wenn ich nicht wüsste, was los ist? Wie wäre ich gestern über diese Straße gegangen? Um zu funktionieren, muss ich es schaffen, mein altes Ich anzuzapfen. Wird es mir gelingen? Ich verbiete mir, über den Krebs nachzudenken, verbiete mir Gedanken wie: Wozu soll ich jetzt noch was Arbeitstechnisches verhandeln, wenn es mich eh bald nicht mehr gibt. Diese Gedanken ploppen auf wie Wolken – ich wische sie weg. Wie beim Meditieren.

Und es funktioniert: Ich verhandele eloquent und charming mit dem Leiter der Personalabteilung, verkaufe mich gut und so plausibel, dass die Konditionen noch verbessert werden. Ich unterzeichne den veränderten Vertrag. Bin ganz locker, mache Scherze und bin dennoch nicht die alte. Ich beobachte mich nämlich staunend selbst. Als wäre ich eine Kamera oben rechts in der Ecke. Wie kann ich so mühelos gut gelaunt sein? Und das nicht gekünstelt, sondern wie früher. Wieso geht das noch, obwohl ich doch die schreckliche Diagnose erfahren habe? Verdränge ich die Realität? Nein, sonst würde ich mich doch nicht über mich selber wundern. Jetzt weiß ich es: Ich bin zwei. Zwei verschiedene Anjas. Die alte freie, glückliche und die neue mit der schweren schwarzen Last. Ich kann beide zugleich sein. Bin ich eine gespaltene Persönlichkeit, bin ich schizophren? Darf ich den Bürobau überhaupt so erleichtert und beschwingt verlassen, wie ich es tue? Morgen beginnt für mich der neue Job. Darüber darf ich mich doch freuen. Aber es freut sich nur ein Teil von mir, und der tut es unter einer Käseglocke, weil der andere dunkle Teil mitschwingt. Die Freude kommt nicht überall im Körper an. Ich changiere hin und her, ändere meine Stimmungsfarben wie ein Chamäleon. Fahre nach Hause, sacke zusammen, stiere stumpf vor mich hin. Wattegefühl. Die Welt ist verlangsamt, es fühlt sich an, als wäre ich nach einer OP eben im Aufwachraum zu mir gekommen. Was tue ich jetzt? Was will ich zuerst machen?

Ich weiß, es ist bestimmt egoistisch und unpassend von mir, meinen Mann auf der Arbeit anzurufen. Er sitzt total beengt in einem Großraumbüro in Kreuzberg, sie sitzen sich fast gegenseitig auf dem Schoß. Womöglich hören alle anderen jedes Wort von mir? Auf jeden Fall bekommen sie seine Reaktion mit. Vielleicht muss er weinen? Soll ich warten, bis er um fünf nach Hause kommt? Aber dann wird er so glücklich um die Ecke biegen, mein Gesicht sehen und sich erschrecken, ich sollte ihn vorwarnen. Er ist doch mein Babe. Der tollste Mann ever, für mich geschaffen. Er muss es doch als Erster wissen. Umgekehrt würde ich das auch erwarten. Ich rufe Hagen beim TIP Magazin an. Er nimmt sofort ab und meldet sich mit seinem Vornamen: »TIP Magazin – Hagen.« Macht er immer so. Keine spießigen Höflichkeitsfloskeln, kein Nachname, immer Rock ’n’ Roll, in seinem Fall Punk. Denn er war einer. Einer der ersten von West-Berlin. Eigentlich war er schon Punk in den Sechzigern, als er in einem blauen Müllsack in die Schule ging. Die Story kenne ich auch von seiner Mutter. Es fiel ihm nicht schwer, die spießigen Eltern zu schocken. Später lief er mit rot und blau gefärbtem Iro herum … bei seinem Upbringing galt das schon als krasser Affront. So zurückhaltend und soft er zu sein scheint, in Hagens Brust pocht ein großes aufsässiges, gerechtigkeitsliebendes, anarchistisches Punkerherz.

Und das werde ich jetzt brechen. Müssen.

»Babe, ja, ich hab unterschrieben. Ja, ich hab sogar noch was Besseres rausgehandelt. Aber der Termin zur Mammografie war scheiße. Sitzt du? Kannst du sprechen? Es ist … ich bin so traurig … sie sagen, ich habe Krebs. Brustkrebs. In beiden Brüsten! Was soll ich denn jetzt machen?«

Hagen ist geschockt.

Ich heule: »Babe, Krebs in deinen Brüsten! Die du so liebst! Ich hasse sie jetzt. Diese Verräter.«

Hagen bleibt ruhig. So ist er immer. Sagt, dass es bestimmt eine Lösung gibt und er sofort nach Hause kommt. Das beruhigt mich. Dann bin ich nicht mehr alleine mit dem Scheißkrebs. Ich lege auf. Mein Babe wird kommen. Ich nenne ihn so, und er nennt mich so. Seit 1991. Als wir uns ineinander verliebt haben, haben wir uns gegenseitig Kassetten mit unseren Lieblingsliedern aufgenommen. Wir nannten sie auch Kassetten, nicht wie spätere Generationen Mixtapes. »I Got You Babe« von Sonny & Cher war auf einer seiner Kassetten. Das blieb an uns kleben. Komisch, dass es unseren Kindern nie seltsam vorgekommen ist, dieses ständige Ge-Babe-se.

Ich höre auf zu weinen. Atme tief durch. Es ist hell, mitten am Tag. 14:00 Uhr. Die Sonne scheint. Alles so unschuldig, so normal. Aber in mir ist nichts mehr normal. Nie wieder. Sehe mir die Zettel an, die mir in die Hand gedrückt wurden. Es ist ein Zwei-Seiten-Brief an meine Frauenärztin. Da steht: »Verdacht auf Mammakarzinom links 1 Uhr. Unklarer Herdbefund rechts 9 Uhr, auch hier ist ein Malignom nicht auszuschließen.«

Ich habe keine Probleme, Ärztedeutsch zu verstehen. Ich bin schließlich ausgebildete Krankengymnastin oder, wie man heute sagt, Physiotherapeutin. Ich habe jahrelang lateinische medizinische Begriffe benutzt, habe in Krankenhäusern mit Patienten gearbeitet. Ich weiß, dass »maligne« bösartig heißt und ein Karzinom eine Krebsgeschwulst ist. Ich ziehe das Kleid aus und taste meine Brüste ab. Ganz genau, jeden Zentimeter. Kann nichts finden, was anders wäre als sonst. Ja, da ist das knotige Gewebe, aber das war schon mein ganzes Leben lang da. Ob sich das bei anderen Frauen auch so anfühlt? Ich weiß es nicht, ich habe noch nie die Brüste einer anderen Frau abgetastet. Sollte ich das jetzt überhaupt tun – an meinen Brüsten herumdrücken? Am Ende verteile ich den Krebs auch noch? Wie doof bin ich eigentlich, wieso weiß ich rein gar nichts darüber? Ich weiß ja weniger über meine Krankheit als über Aids, dabei ist Krebs viel häufiger.

Die Ärztin empfiehlt in dem Brief eine »histologische Klärung des Befunds«. Es müssen also Proben entnommen werden, die jemand in der Histologie zwischen die Glasplättchen unters Mikroskop legt. Diese Person schaut dann nach, ob das Gewebe wirklich bösartig ist. Wie sehen wohl entartete Zellen aus?

Diese Gedanken wecken mich auf. Ich kriege einen Adrenalinschub, habe das Gefühl, ich muss jetzt schnell handeln. Das Böse in mir wächst jede Minute! Es muss weg, bevor es metastasiert und mich von innen auffrisst. Wenn es das nicht schon getan hat. Plötzlich habe ich Panik, dass mir die Zeit davonläuft. Vielleicht muss ich nicht sterben, vielleicht kann ich gerettet werden, wenn der Krebs schnell entfernt wird. Schnell, ich muss schnell reagieren. Nehme mir Zettel, Stift und Telefon und gehe nach draußen in den Garten. Ich brauche frische Luft. Hocke mich auf den Boden und wähle Hillas Nummer.

Rising

Lhasa de Sela

Hilla ist meine älteste Freundin. Ich kenne sie länger als Hagen. Als ich 1987 nach Berlin kam, um mein Anerkennungsjahr als Krankengymnastin im Uniklinikum Westend zu machen, war sie meine Vorgesetzte. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Wie sie aus einem der efeuumrankten Fenster des Backsteingebäudes aus dem ersten Stock auf mich hinunterblickte und lachte, dieses Bild werde ich nie vergessen. Die zehn Jahre ältere Blondine mit der Brigitte-Nielsen-Frisur war eine Erscheinung. Hochgewachsen, energetisch, strahlend, sportlich und immer gut gelaunt. Keine protestantisch-miesepetrige Kleingeist-Westberlinerin, sondern ein Star. Eine Frau mit einer Wahnsinnsaura. Ich lernte nicht nur viel von ihr, wir hatten gemeinsam als Physiotherapeutinnen viel Spaß auf den Stationen, und ich war beeindruckt von ihrer Effektivität und ihrem mitreißenden Schwung: Kein Patient konnte ihr etwas abschlagen, niemand ihrer Motivation entgehen. Wenn Totgeweihte zur Überraschung der Ärzte auf den Gängen entlangschlurften, war garantiert Hilla im Spiel. Diese Frau holte jeden aus dem Bett.

Obwohl ich nur ein Jahr mit ihr in der Klinik arbeitete und danach ausstieg, um Journalistin zu werden, blieb unsere Freundschaft bestehen. Wir teilen auch die Leidenschaft für Musik, für Sängerinnen. Von Felt Mountain, dem ersten Album von Goldfrapp, und seinem cinemaskopischen Breitwandsound waren wir beide hingerissen. Auch Lhasa de Sela habe ich durch Hilla kennengelernt, die Sängerin aus Montréal, die 2009 ihr erstes englischsprachiges Album Lhasa veröffentlichte, ein unglaublich intensiv-trauriges Album. Ob sie bei den Aufnahmen schon wusste, dass sie krank war? Lhasa de Sela starb 2010 im Alter von 37 Jahren.

An Brustkrebs.

Hilla hatte auch Brustkrebs. Zehn Jahre vor mir. Sie ist die Einzige, die ich kenne, die Brustkrebs hatte. Mit fünfzig. Zweimal. Alles, was ich bis zu meiner eigenen Diagnose über Brustkrebs weiß, stammt von Hilla. Ihr Krebsgeschwür saß in der rechten Brust, es wurde herausoperiert, danach kam die Bestrahlung. Weil der Krebs noch nicht in die Lymphknoten gestreut hatte, war keine Chemotherapie nötig, aber die Strahlentherapie erschien mir schon schlimm genug. Ihr gesamter Oberkörper war mit Edding-Linien bemalt, um das Bestrahlungsgerät daran auszutarieren. Ihre wunderschönen Brüste kamen mir entweiht vor, verseucht, krank. Ich konnte mir partout nicht vorstellen, wie ihr neuer Lover diese Brüste beim Liebesspiel kneten konnte. Was das für ein unsensibler Typ sein musste, dass er mit einer krebskranken Frau schlafen konnte. Es war mir ein Rätsel.

Aber weil sie meine beste Freundin ist, interessierte mich auch ihr Krebs. Und ich lernte, dass es neben dem Operieren und Bestrahlen noch zwei weitere Behandlungsmethoden gibt: die Einnahme von zelltötenden Medikamenten (Chemotherapie) und von hormonunterdrückenden Medikamenten (Antiöstrogene). Brustkrebs ist meist östrogenaffin, das heißt, Östrogene lassen ihn wachsen. Hemmt man diese, unterdrückt man auch das Tumorwachstum. Hilla bekam Tamoxifen verordnet, was sie über Nacht ins Klimakterium stürzte. Seit den Siebzigern bekommen 80 Prozent aller Brustkrebspatientinnen Antiöstrogene wie Tamoxifen verabreicht, das von einem britischen Chemiekonzern entwickelt wurde, der auch Xyladecor (Holzschutzlasur), Hammerite (Metallschutzlack) und Dulux-Farben herstellt. Milliarden muss diese Firma verdient haben, und ihre jetzigen Besitzer tun es noch. Den Frauen wird erzählt, sie seien durch das Mittel vor einem Rezidiv geschützt.

Hilla bekam dennoch nach vier Jahren erneut Brustkrebs. Diesmal links. Wieder dieselbe Prozedur: OP, Bestrahlung, Antiöstrogene. Diesmal angeblich sanftere, sogenannte Aromatasehemmer.

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Part 1