Unbekannte Reise nach Irkutsk - Reinhard Bernhof - E-Book
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Unbekannte Reise nach Irkutsk E-Book

Reinhard Bernhof

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Beschreibung

Unbekannte Reise nach Irkutsk ist eine literarisch dichte, autobiografisch gefärbte Nachbetrachtung einer DDR-Dienstreise nach Sibirien im Jahr 1978. Reinhard Bernhof nimmt die Leser mit auf eine faszinierende Reise in das sowjetische Irkutsk, mitten hinein in eine fremde Welt zwischen Propaganda, Gastfreundschaft, spiritueller Tiefe und stillem Zweifel. In seinem poetischen und zugleich scharfsinnigen Stil reflektiert er über Begegnungen, Geschichte und die ideologischen Brüche seiner Zeit. Zwischen Baikal, Bratsk und sibirischer Steppe entsteht ein vielschichtiges Panorama von Menschen und Orten, das sowohl vom utopischen Glanz als auch vom realen Zerfall durchzogen ist – ein ebenso nachdenkliches wie unterhaltsames Zeugnis einer vergangenen Epoche.

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Seitenzahl: 113

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Reinhard Bernhof

Unbekannte Reise nach Irkutsk

Eine Nachbetrachtung

ISBN 978-3-68912-544-8 (E-Book)

Das Buch erschien 2017 im Leipziger Literaturverlag.

In memorian für Tim (1971 -1979) und Gerhard Lahr (1938 - 2012), Berlin. In Verbundenheit auch mit Anne Lahr.

Für die übersetzerische Beratung möchte ich mich bei Anna Bretschneider ganz herzlich bedanken. Ebenfalls für die gute Begleitung 1978 bei Reiner Putzger (Alexander) – Potsdam, Alja (Antonina) – Moskau, Professor Wassiliy Truschkin – Irkutsk, besonders aber bei Mark Sergejew – Irkutsk, der die sibirische Mohrrübe zerbrach …

Das Cover wurde mit KI erstellt.

© 2025 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Vergessene Konvolute

1978 bekam ich vom DDR-Schriftstellerverband eine Reise nach Sibirien zugesprochen. Ich hatte mich in Berlin beworben. Sie war nichts Ungewöhnliches damals, ich besaß das kleine Mitgliedsbüchlein mit der Unterschrift von Anna Seghers: NR. 692. Viele meiner Freunde und Kollegen hatten schon den „ersten sozialistischen Staat der Welt“, wie es pathetisch hieß, besucht, und waren hinterher begeistert. Und „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ Das war die Losung der Losungen, an der alle anderen verblassten. Aber sie literarisch umzusetzen?

Ich schrieb kein Tagebuch, aber ich machte mir Notizen, wollte so genau wie nur möglich meine Eindrücke schildern. Hatte zuvor noch nie etwas über Sibirien gelesen, wusste nur das eine oder andere – als Klischee: Für alle Kriminellen und Monarchiegegner Verbannungsland, besonders für die revolutionären Dekabristen, Adlige und Gardeoffiziere – die sogenannten Dezemberaufständischen mit ihren Anhängern – wenn sie Glück hatten, dem Galgen zu entkommen … Und ebenfalls Verbannungsland für die vielen Nichtindoktrinierten und Saboteure nach der Oktoberrevolution, Neuland, wie man es verheißungsvoll nannte, sie wurden zu den unterschiedlichsten „Froststufen“ deportiert und – wenn sie nicht mehr arbeitsfähig waren – dem ewigen Eis anheimgegeben. Später hießen die Lager der sowjetischen Gefangenenindustrie Gulag. Auch einige tausend deutsche Exilanten waren darunter. Letztere kamen erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU nach und nach in die inzwischen existierende DDR zurück. Sie erhielten sofort den Status VVN – Verfolgte des Naziregimes, obwohl sie doch auch Opfer des Stalinismus waren …

Ebenfalls meine Lehrerin vom Leipziger Literatur-Institut „Johannes R. Becher“, Erna Barnick, Dr. phil. – alias Trude Richter – zuständig für russische und sowjetische Literatur. Einst KPD-Mitglied, 1931, wurde sie ein Jahr später Erste Sekretärin des „Bundes proletarischer Schriftsteller“. Als die Gestapo sie zu beschatten begann, emigrierte sie 1934 zu ihrem bereits schon nach Moskau gegangenen Lebensgefährten, Dr. jur. Hans Günther – bedeutender Nationalökonom der Kommunistischen Partei und Autor des Buches „Der Herren eigener Geist“. In Moskau unterrichtete Trude Richter am Pädagogischen Institut.

„Wy nascha“, Sie sind Unsere, diese zwei Worte hörte sie immer öfter von ihren Kollegen. Darüber war sie besonders stolz, wurde sowjetische Staatsbürgerin und hieß seitdem Gertruda Friedrichowa. Es war die glücklichste Zeit ihres Lebens mit Hans Günther … Aber langsam verwandelte es sich zu einem „Leben unter falschem Verdacht.“ Es kamen die berüchtigten Jahre 1937/38, in deren blutigem Mahlstrom Hunderttausende Sowjetbürger zum Opfer fielen … Trude Richter und Hans Günther wurden in dieser Zeit verurteilt nach dem sogenannten Buchstabenparagrafen KRTD „konterrevolutionäre-trotzkistische Tätigkeit“ und ohne Prozess von einem Schnellgericht in ein Straflager in die Region Kolymar verbracht. 1938 verstarb Hans Günther bereits in einem dieser Lager … Erst 1946 wurde Trude Richter entlassen und durfte sich in Magadan am Ochotskischen Meer ansiedeln. Aber 1949 verschlechterte sich ihre Lage erneut … und man schickte sie „zu ewiger Verbannung“ nach Ust Omtschug. Dort arbeitete sie als Fremdsprachenlehrerin und Pianistin im Kulturklub… Über 19 Jahre war sie Zwangsarbeiterin, Verbannte und freie Verbannte … Erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU wurde Trude Richter rehabilitiert und durfte durch die Initiative von Anna Seghers zurückkehren … Sie hatte zuvor von Trude einen Brief bekommen und ihr geantwortet: „… endlich haben wir Dich gefunden. Ich gebe Dir mein Wort, dass Du in zwei Monaten bei uns sein wirst …“

Dieser Satz hat mich besonders erschüttert und sehr nachdenklich gemacht. Und in der DDR wollte Trude Richter weiter in der „Geschichte“ leben, weiter an etwas Großartigem beteiligt sein …

Nun befand ich mich Gott sei Dank nicht in Trudes Richters Kolymaregion mit 40 bis 60 Grad Minus mitunter, wo im Frostboden noch immer Kohle, Kobalterze, Zinn, Gold und Diamanten auf Ausbeute warten … wo einem jeden der Atem gefriert, das Blut erstarrt – ohne Recht auf Briefwechsel, nein, nicht auf dieser Komandirowka, командировка – „Dienstreise“, sondern ich landete friedlich, freudig und voller Erwartung im 5-Sterne-Hotel „Angara“, Irkutsk.

Meine Aufzeichnungen über Irkutsk, Bratsk, Nowosibirsk, Akademgorodok kamen mir mit der Zeit riskant vor … zu naturalistisch die Menschen, würden die mir bei „Aufbau“, deren Autor ich war, vorhalten, ich hätte vielleicht zu wenig „ideologische Reife“ an den Tag gelegt und mich mit dem allgemeinen Überheblichkeitsklischee eines „typischen Deutschen“ gleichgestellt; außerdem müsse so ein Manuskript der Beäugung der Botschaft der UdSSR „Unter den Linden“, standhalten. Sakrilegisch vielleicht auch der immer wieder von mir beschriebene und hervorschimmernde Bronzemann in seinen verschiedenen Legierungen … Unmöglich, allgemein zu bestehen, dachte ich und lachte spöttisch in mich hinein, als hätte ich besondere Fähigkeiten zur Telepathie … Schien sie zu haben, hörte ich doch ständig das derangierende Politbüro jeden Dienstag, 10 Uhr, nach Lenins berühmter Sitzung, oder das Plenum des ZK mit den immer gleichen Mustern … Wusste im Grunde genommen genauestens Bescheid, legte die „Undialektik“ meiner Arbeit zur Seite und vergaß alsbald mein Vorhaben, meine Fotos und panoramaartigen Ansichtskarten …

Irgendetwas liegt da noch verborgen, dachte ich nach 1989 und nach dem unerwarteten Sturz von Gorbatschow und der damit verbundenen Beendigung der Sowjetunion, als sich die Nomenklatura – „Kinder eines strengen Vaters“ – der Partei- und Staatsbürokratie – anfangs noch halbherzig für die Perestroika, aber bereits um ihre Privilegien fürchtend in der Jelzin-Ära – kannibalisch auf Volkes Eigentum stürzte und es zu ihrem persönlichen Eigentum ummünzte. Die Energie sozialen Schöpfertums, gepaart mit Idealismus und Romantik, wenn auch verklärend und kafkaesk mitunter, erlosch augenblicklich. Und die überwiegend freiheitlich gesinnten Menschen in Russland – viele gute Köpfe der Inteligenzja darunter – sind inzwischen in den Zuggurten der Armut gelandet, melken in Gummistiefeln Ziegen und haben nur noch ihre Mittellosigkeit zu vererben. Unterdessen sprechen viele von ihnen wie auch die meisten der Sowjetbürger von „Dieben und Monstern des monopolistischen Nomenklaturkapitalismus“, von denen es einige geschafft haben, in kürzester Zeit 10 bis 15 Milliarden Dollar anzureichern … Der Westen bewundert diese in Freiheit Angekommenen – einst Kommunisten – nun „Burshui“ – Bourgeois mit hoher Netzwerkdichte, öffnet ihnen die Bankportale in aller Welt und die Katakombensafes in den Schweizer Alpen … Wie lange braucht ein Mensch, um nur bis eine Milliarde zu zählen? Sie hat 9 Nullen. 126,8 Jahre. Also unmöglich.

Ein Dokumentarfilm erzählte vor kurzem von den Preisen in Moskau und St. Petersburg und von den vielen Leuten, die inzwischen wie ein Kippenstummel am Gullyrand hängen, über kiffende Straßenkinder und über deliriumssiechende Köchinnen, die einstmals den Staat regieren sollten (Lenin). Die Kameras halten nur drauf: Neuer Ismus – Voyeurismus. Die Augen müssen gefüttert werden …

Mein Kopf war nicht frei in dieser Zeit, trotz Grenzbeseitigung in der DDR und einig Vaterland nebst Treuhand und Reprivatisierung des Volkseigentums, wo jeder wieder meine-meine schrie und gnadenlos den Arm anwinkelte … Fühlte mich nach 89 weiterhin gefangen von allem in einer anderen Art sozialer Schlinge, in der mein Kopf schon vorher immer hing, obwohl ich als frei Gewählter für die neuen mitbegründeten Vereine laufend zu den Foren ging … Aber langsam blieben die Leute aus. Die Kirchenbänke wurden immer leerer. Wer nicht tanzen konnte, taumelte ums Goldene Kalb. Kaufen und verkaufen die neue Freiheit, die Frauen gleich mit …

Erst 2015 hatte ich den Einfall, meine fast vergessenen Konvolute – nostalgisch inzwischen – zu reorganisieren und mich noch einmal auf „Meine unbekannte Reise nach Irkutsk“ zu begeben.

Flog nach Sibirien

trank Mineralnaja woda aus dem Baikal

Aß Omul, den Mark Sergejew vom Gebietskomitee

   besorgte

spülte nach mit Stolitschnaja

Sah schwebende Mädchen mit krapproten Lippen aus dem

Trolleybus hüpfen

und schwere Frauen beim Straßenbau

Hörte vokalreichen Gesang in einer grünkuppligen Kirche

kaufte ein Marienbild vom bärtigen Popen hinterm Devotionalienstand

Fuhr über die Staumauer des Wasserkraftwerkes

   in Bratsk

In Erfüllung ging meine erste Science-Fiction-Vision

I Ankunft Moskau

Ankunft Moskau

Im cremefarbenen Wolga, ein Bariton vibriert im Radio

Zum aufgesockelten Panzer zeigt Ignatjewa

Bjelomor rauchend

Bis hierhin sind also die Fritzen gekommen, nicht weiter

Der Sänger mit koketten Seufzern

Morgens zum Flugplatz, weinroter Moskwitsch

durch dunkle Straßen, die aus dem Dämmer heraustraten

in halbverschlafenem Schweigen sich mit Menschen anfüllten

Nach zwei Stunden Flug: Moskau–Scheremetjewo

Ein Tag mit Marina Ignatjewa, die ständig summt

zischt, pfeift, Wyssozki verehrt wie einen Gott

Hotel Peking: Majakowskis Standbild vis-à-vis

Oh, armer Dichter, der sich selbst auflauerte

im Namen Puschkins, im Namen Jessenins:

Peng. Kaputt

Mit Ignatjewa auf dem Roten Platz

Er war aus Stein, aus Bronze, Papier und Gips, von zwei Zentimetern bis zu mehreren Metern Größe, auf allen Plätzen waren wir ihm zu Füßen, den bestiefelten, aus Stein, Bronze und Gips

Nazim Hikmet.

Amerikaner, Bürstenhaarschnitt, Rolleiflexkameras

vor dem Bauch, Porträts der ermordeten Kennedy-Brothers

   auf dem Revers

Mandeläugige Frauen mit schwarzen Burjatenzöpfen

Wie schnell sie ihre Sonnenblumenkäfer in den Mund befördern,

zwischen Lippen bewegen und ihre Flügel ausspucken

Vor dem Mausoleum:

Gruftbewahrer: Wachablösung, Stechschritte

Ihnen im Wege, würden sie durch mich hindurchmarschieren

   sagt Ignatjewa

Feuerspringerin über dem Tarstner Urman einst

An der Kremlmauer, hinter Sibirientannen

nach oben verjüngt

   Stoi!

Nicht gleich zu entdecken Jossif Wissarionowitsch

der große Verschließer

Ihn zu entfernen, hieße

dem Tourismus den Zauber nehmen, sagte sie

Dschughaschwili

Liegt er auch begraben

an der berühmten Mauer des Kremls

ist er auch ins ewige Eis eingegangen

sein Geist entweicht noch immer

seiner Urne

Vergebliche Transplantation

Die Klassiker verwandeln

zu Fleisch. Fleisch

misstraut dem Porphyr

dem Glimmergestein, der Bronze. Stößt ab

was es bedroht

Gagarins Kapsel

Im Allunionspavillon, kugelförmiges

Verlies

   das Gagarin perfekt gefangenhielt

Eins geworden im Gefängnis

das abhob (Körper in einer Zelle)

und als erster die Erde aus dem bulley gesehen:

zartgrün schimmernd, zerbrechliche

von der Sonne gefleckte Schmuckkugel

Sich drehende Kuppeln der Observatorien

sich hebende, senkende Refraktoren

ihn zu orten

   von Pulkowo bis Jewel Brinks

Wie er, Gott konkret, Enkel des Neanderthalers

übers Armaturenbrett zu sprechen

zu grüßen begann

So viel Raum neben ihm, über ihm, unter ihm

niemandes Eigentum

Futurist, Entdecker, Träumer

– Lukmorje suchend, Meeresbogenland im All –

den ich noch seh

   lächelnd

II Russisch-Amerika

Doppelsprung Irkutsk

I

Achtzehn Uhr dreißig, Moskau im August

in Sonnenuntergangs-, Sonnenaufgangszeit entgegen

Wenn, kurz die Nacht

der Morgen eingeht in den Tag. Zeit

der wir entgegenfliegen

II

Die Stadt

zieht sich zusammen, ein Muskel

Häuser, Wolkenkratzerkathedralen schrumpfen

Mosaik geometrischer Formen

Der Qualm aus einer Schornsteinzigarrettenspitze

Vereinzelte Seen wie große Zungen

Flüsse in rötlichen Tinten

verlieren sich im Glast. Sanft

in einer Nebelwand

(Werkstätten des Regens, des Lichts)

Zenons jagender Pfeil

in Ruhe

Leicht die Erde im Jet

(wie sie uns durchwebt

mit Wurzeln, Fasern der Bäume)

Augen starren aus Bulleyes

Nichts zu sehen: Wolkenpropyläen

ferne Planeten im Dunkelwerden

schwebende Ewigkeit

III

Blick auf die Uhr

Nahtlos übergegangen der Kontinent

in einen andren

Damen in Kornblumenblau servieren Dampfwasser

für den instant coffee. Heiß

einen Schluck auf die fröhliche Luftfahrt

einen zweiten auf Dädalus, den Veteran

(er verlor seinen Sohn, als sie

auf Feder- und Wachsschwingen

dem Gefängnis entflohn)

einen dritten auf Roger Bacon

(er versuchte mit ätherischer Flüssigkeit

in einer Hohlkugel aus dem Mittelalter auf-

und auszusteigen)

einen vierten auf Lilienthal & Co

(sechshundert Jahre später)

Den Rest auf Graf Zeppelins abgestürztes

und mit Musketen, Heugabeln der Bauernsoldaten

in Stücke gerissnes Himmelsungeheuer

All ihre Erfahrungen

in dieser TU

IV

Gesang der Düsen. Weite

die nichts verrät

Assoziationen, Vermutungen:

Schneisen, Fallensteller irgendwo am Fluss

trinken aus der ledernen Höhle

ihrer Hand. Geologen

befragen die Erde mit einem Hammer

nach ihrem Alter. Und über trigonometrische Punkte

sind turmhohe

menschenfreundliche Gestelle gebaut

V

Kaum Wolken

das Lichtmeer von Omsk

Das Flugzeug setzt auf, wir steigen aus

alsbald wieder ein

Sibirien berührt (auf ein Mineralnaja Woda

im Aeroport)

Nichts gesehen in der für Ausländer verbotenen Stadt

und weiter mit den Gestirnen allein

VI

Abgeschlossne Welten

Saure Sümpfe zwischen Verbannungsdörfern

(Oh ihr armen Schweine damals

beim Eisbärenhüten für den Zar

für Josef Wissarionowitsch – Väterchen

von den Solowetzker Inseln bis Kamschatka

Was sie gesagt

schwebt ewig im Ozon

Von den Schwingen aufgegangner Sonne

Schlafaugen durchspeert

Erwartende Erde, die uns schnürt, benagt

Festschnallen! – milchiges Nichts

Erschütterungen: Die Hydraulik des Rädergestells

Land biegt sich hinweg in einer Kurve

Birkenhaine – Wolken in gewellten Ebenen

Füße schlagen an – ein Luftloch

nach irgendeinem Grund

Sonne kippt ab

Erde am Gesäß, an den Hoden

Rollbahnen: Schwanzflossen versammelter Luftflotten

propellerige Oldtimer

für den Nahverkehr

Der Jet setzt auf. Sprung

über Millionen von Bäumen hinweg

Druck in den Ohren

Haare wehn von Bord zur Pier

Wir betreten in wenigen Augenblicken

den Planeten Sibirien

Boden, der sich schwererloser als sonst unter den Füßen

entgegenstemmt. Aber Mark Sergejew

hält uns die Hand …

VII

Baumstammtransporter, Dumper, Trambahnen

mit O-Bus-Gleitstangen

Taxen, Kehrmaschinen, Sprengwagen

Flotten von Omnibussen segeln dahin

Rauch aus metalloiden Düsen

(Auch hier wird gebuttert

für mehr Zivilisation)

Nur wenige Kirchen

die arbeiten: die Snamenskaja-Kathedrale, umgeben

von Gräbern der Dekabristen

Am Eingang wenige Frauen, Greise

zedernholzrindige Gesichter

Sie leben nach altem Glockensystem

Einer bettelt, paddelt auf einem Brett

mit Kinderwagenrädern

Kantige Bärte der Popen: Messingglanzgesichter

wie Ikonenheilige

Wir kaufen bleistiftdünne Kerzen, zünden sie an

(Der heilige Nikolaus

unser Zeuge)

Frugale Typen

in der Vorstadt, City

Menschen wie überall Menschen sein können

auf hartem Boden schwebend zu gehen

Die Stadt wächst: knisternde Frauen

nach Krasnaja Moskwa duftend

quellen aus Instituten

nie kassierte Küsse rasen durch meine Wirbel

Trotzdem - Land

schwer entzifferbar vor so viel Vergangenheit

Zukunft

VIII

Im Hotel

(noch immer in Gedanken unterwegs

mit allen Gliedern)

Störeier auf dem Abendbrot

Teerpisten durch rötende Wälder

abfallende Berge in den zellulosefreien Baikal

klarster Erdspiegel

aus dem die wilde Angara zu den Turbinen strömt

nach Bratsk

Leninabzeichen

neben Tinnef und Prawdas im Kiosk

aluminiumbeschlagene Kochwagen:

dampfendheißen Piroggen

von rundlichen Babuschkas beherrscht

Kinder tauschen Orden gegen Chewinggum

Oh ihr verschiedenen Legierungen

der Bronzemänner

Irkutsk gesehen (inoffiziell

für Jahre: Hauptstadt von Russisch - Amerika)

Die Geschichte - und welche Möglichkeiten

an Gags

Ein Fünftel der Erde mit Utopie vermischt

Zuletzt die Frage, ob alles so war?

Oder waren es nur Abschweifungen

Halluzinationen, Details

eine deiner vielen geteilten Meinungen

Beobachtungen, zufällige Augenblicke

im richtigen Moment?

Aufgesetzt in Irkutsk