Irenes Liebeslied - Anny von Panhuys - E-Book

Irenes Liebeslied E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

„Unsere Zeit ist nüchtern und rauh. Es gibt keine Marquisen mehr, wie sie deine Phantasie malt. Alles ist in Geld und greifbare Werte umgewandelt, die Ideale von einst liegen auf dem Schutt oder in den Rumpelkammern. Unsere Zeit ist vorbei! Glanz und Hofluft, Titel und Orden gehören der Geschichte an. Von drüben über dem Weltmeer wehte ein starker Hauch, der hat alles infiziert, nüchterne Geldmenschen modelte er, wehte fort, was uns groß und mächtig und ewig erschien." So klagt Irene von Felsens Mutter gegenüber ihrer Tochter, dem armen Baronesschen, das sich durch das Anfertigen von Teepuppen für die reiche Frau Bäckermeister Klaußmann ein wenig Geld für die beiden in sehr bescheidenen Verhältnissen lebenden Frauen verdient. Gerne würde Irene ja eine Karriere als Operettensängerin anstreben, was aber die adelsstolze Mutter keinesfalls zulassen will, denn: „Unsereins hat doch Tradition im Blut." Gleichwohl, die große Zeit des Adels ist vorbei – „Menschen wie wir sind zu spät geboren" –, und Irene muss sogar, wenn sie Bohnenkaffee trinken will, zu bürgerlichen Bekannten gehen, denn im blaublütigen Haushalt der Mutter gibt es nur Kaffeezusatz. Zu den Schwierigkeiten zu Hause und in der Karriereplanung gesellen sich natürlich auch noch allerlei Irrungen und Leiden der Liebe – auch wenn sich der freundliche Alfred Grotte für Irene starkmacht –, so dass die arme Baronesse schließlich beinahe auch noch um das Glück der Liebe betrogen wird. Aber Irene ist willens für ihre Träume und Ziele zu kämpfen, und das Schicksal gibt ihr recht … In kaum einem anderen Werk widmet sich Anny von Panhuys so eindringlich ihrem Lieblingsthema: dem bitteren Geschick eines verarmten Adels in einer bürgerlich entzauberten Welt und seinem leidenschaftlichen Festhalten an seinen hohen Träumen in den Tiefen des Alltags.

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Anny von Panhuys

Irenes Liebeslied

Frauen-Roman

Irenes Liebeslied

© 1950 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570258

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Irene von Felsen war soeben mit der Teepuppe fertig geworden, das letzte Samtschleifchen saß fest an dem breit- und steiffaltigen, roten Seidenrock, das weiße Spitzentuch kreuzte sich graziös über der Brust der Rokokodame, deren süßes Porzellangesicht unter der Puderperücke bewußt hochmütig dreinschaute.

Irene blickte kritisch auf ihr Werk nieder, das vor ihr auf dem Tisch stand, seufzte dann leise. Die Mutter, die von ihr abgewandt am Schreibtisch saß, brauchte nicht zu wissen, wie unbefriedigt sie diese Beschäftigung ließ. Die Mutter fand es großartig, daß sie sich Geld verdiente durch das Anfertigen von Teepuppen, Lampenschirmen, Kästen, und wie die verschiedenen Gegenstände noch heißen mochten, die sie auf der Kunstgewerbeschule herzustellen gelernt. Die Mutter war bescheiden geworden, freute sich über das Geld, das auf diese Weise dem engbegrenzten Haushaltungsbudget zu Hilfe kam. Und wieviel mehr hätte sie doch wahrscheinlich verdienen können, wenn die Mutter endlich zugeben wollte, daß sie ihrer Neigung folgen durfte. Wozu hatte ihr der liebe Herrgott die klare Stimme gegeben, wenn niemand sie hören sollte als die Mutter und ein paar alte Verwandte, die vor dem Wort „Theater“ drei Kreuze schlugen und die Ahnen aus ihren Gräbern heraufbeschworen ob des Wortes, sobald sie es aussprach. Lächerlich war das und rückständig!

Irene blickte fast böse auf die Puppe, die sie als Büfettschmuck für die dicke Frau Bäckermeister von nebenan geputzt hatte. Die feine, hochmütige Rokokomarquise würde sich wenig wohl in ihrer neuen Umgebung fühlen.

Sie mußte plötzlich lachen. Ein komischer Gedanke reizte sie dazu.

Die Baronin Felsen drehte sich um, die Augen in ihrem vergrämten, blassen Gesicht fragten.

Irene lachte noch immer.

„Verzeih, Mutter, aber es war so drollig, was mir eben einfiel. Ich stellte mir nämlich meine kleine Marquise hier“, sie strich zärtlich über die weißen Locken der Puppe, „auf dem Teetisch der Frau Klaußmann vor, sah zugleich eine ganze Tischrunde, denn ich kenne doch Frau Klaußmanns Freundinnen. Eine ist immer dicker und röter als die andere, und der Abstand zwischen ihnen und meiner Marquise ist zu groß. Ich weiß, sie wird von allen bewundert werden und wird sicher mehr als einmal das Kompliment hören müssen: Ach, was e schee Püppche! Aber eigentlich ist das Lästerung, denn meine Marquise war doch früher eine sehr gefeierte Dame am Hofe Augusts des Starken und hat seiner Geliebten, der Aurora von Königsmarck, sicher böse Konkurrenz gemacht. Sie ist die Hofluft gewöhnt, leises, gemäßigtes Sprechen, ist gewöhnt, bedient zu werden, und hinter ihrer glatten Stirn wohnen kluge, intrigante Pläne, sie —“

Die Baronin stand auf, trat kopfschüttelnd zu der Tochter.

„Irene, was phantasierst du denn nur alles zusammen über das kleine, starre Etwas, das unter deinen geschickten Händen allerdings ein Kunstwerk geworden ist? Unsere Zeit ist nüchtern und rauh. Es gibt keine Marquisen mehr, wie sie deine Phantasie malt. Alles ist in Geld und greifbare Werte umgewandelt, die Ideale von einst liegen auf dem Schutt oder in den Rumpelkammern.“

Sie lächelte trübe, und ihr schmales Gesicht sah dabei unendlich hochmütig aus: „Unsere Zeit ist vorbei! Glanz und Hofluft, Titel und Orden gehören der Geschichte an. Von drüben über dem Weltmeer wehte ein starker Hauch, der hat alles infiziert, nüchterne Geldmenschen modelte er, wehte fort, was uns groß und mächtig und ewig schien.“

Irene fand in diesem Augenblick eine Ähnlichkeit zwischen dem hochmütigen Gesicht der Puppe und dem der Mutter. Es war fast derselbe Ausdruck, aber auf dem Mutterantlitz störte er sie.

„Ach, weißt du, Mutter, einer toten Zeit soll man nicht nachjammern, soll sich lieber in die lebendige, neue zu finden suchen. Was ich da vorhin geredet, war ja ohne jeden tieferen Sinn, es belustigte mich nur, daß meine ,Dame der ganz großen Welt‘ ausgerechnet Frau Klaußmanns Hausgenossin wird. Im übrigen ist mir Frau Klaußmann sehr sympathisch. Sie sucht für uns immer die größten Brötchen aus dem Korb heraus, und die Torte an meinem Geburtstag war doch wirklich eine liebe Überraschung von ihr.“

„Kindskopf!“ Die Baronin nahm Irenes beide Hände, zog die hübsche, schlanke Tochter ganz nahe an sich heran. „Ist dir für eine geschenkte Torte deine Gesinnung feil? Unsereins hat doch Tradition im Blut, und wenn man auch noch so sehr bestrebt ist, der neuen Zeit Zugeständnisse zu machen, man stolpert doch immer wieder dabei. Ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll, aber ich meine, Menschen wie wir sind zu spät geboren.“

Ihre Augen blickten verloren geradeaus, blieben dann auf dem breiten Wappen am Bilderrahmen eines Herrn in schwarzer Rüstung haften. „Ich muß zuweilen denken, es geht uns wie Menschen, die zu einer Vorstellung wollen und aufgehalten werden, nur noch den tragischen Schlußakt sehen, ohne das große Stück kennengelernt zu haben. Wir sind zu spät gekommen, viel zu spät. Wir durften nur mitspielen, traten ab ohne Beifall, lautlos, und sehnen uns, sehnen uns nach dem, was vor uns gewesen.“

Nun klang ein heimliches Weinen durch die Worte.

Dem Mädchen tat die Mutter leid, die sich so gar nicht in die veränderten Verhältnisse zu fügen verstand.

Sie war anders, und hätte sie ihr Leben nach ihrem eigenen Ermessen anpacken dürfen, so würde sie mit aller Kraft, Sorge und Alltagsnot von der Schwelle dieses kleinen Heims scheuchen.

Aber die Mutter verbaute ihr den Lichtblick auf eine sorgenfreie Zukunft für sie beide durch eine hohe Mauer. Wie ein grimmiger Wächter stand vor ersehnter Zukunftssorglosigkeit die „Tradition im Blute“. Ihre schöne Stimme durfte sich nicht für Geld hören lassen, damit der Name Felsen nicht auf einem Theater-programm stand, sich niemand mit einer Einlaßkarte das Recht erkaufen konnte, eine Baronesse von Felsen in der Operette singen zu hören.

Selbst unter einem Künstlernamen wollte es die Mutter nicht erlauben. Aber sie hatte nichts dagegen, daß Irene Teepuppen und Lampenschirme fertigte.

„Meine Tochter schafft sich ein kleines Taschengeld!“ pflegte sie zu sagen, man tat dem Namen damit keinen Abbruch, man stand dadurch über der Situation.

Irene lächelte wehmütig. Die Mutter war wirklich recht wenig lebensklug. Die lieben Bekannten und Nachbarn waren nicht so ahnungslos, die kleine Dreizimmerwohnung, die alten, vertragenen Kleider und Hüte genügten vollkommen, jedem ein richtiges Bild ihrer Lage zu geben.

Aber über dergleichen durfte sie nicht mit der Mutter sprechen, sie würde ihr wehe tun, ohne irgendetwas zu erreichen. Wie oft hatte sie es vergebens versucht, jetzt fügte sie sich, dachte nur häufig, eines Tages würde es nicht weiter so gehen, denn man war schon beim Rest des ehedem ganz netten Kapitals angelangt.

Und wie leicht hätte man die Sorge bannen können!

Frau Leipholz, bei der sie in besseren Tagen Gesangunterricht genommen und zu der sie sich noch jetzt oft heimlich fortstahl, schalt auf den Eigensinn der Mutter, die von der Vergangenheit träumte und vor der Gegenwart die Augen schloß. Einmal war Frau Leipholz selbst gekommen, hatte der Baronin erzählt, welch große Operettensängerin ihre Tochter sein würde, doch es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre die liebenswürdige Dame, die noch heute zu den Stützen der Frankfurter Oper zählte, von der adelsstolzen Mutter hinausgeworfen worden.

„Weshalb schweigst du denn, Kind? Weißt du kein armseliges Trostwort für mich?“ sagte Frau von Felsen vorwurfsvoll und zerriß damit Irenes Sinnen.

Das junge Mädchen zwang ihre aufrührerischen Gedanken nieder.

„Ja, Muttchen, ich möchte dich gerne trösten, aber womit? Vielleicht heirate ich einmal einen Inder, einen reichen Maharadscha, werde indische Fürstin, und wir wenden allem, was dich kränkt und ärgert, endgültig den Rücken. Vielleicht finden wir dann irgendwo unter Palmen eine neue Heimat. Ich will fleißig Umschau nach dem Maharadscha halten.“

Nun lächelte Frau Olga von Felsen.

„Die Maharadschas laufen bei uns nur im Film herum, Irene, und die Schattengestalten lassen sich nicht einfangen.“

Sie ging langsam an den Schreibtisch zurück, vertiefte sich in eine allzu schwere Haushaltsrechenaufgabe.

Irene packte die Teepuppe sorgfältig ein.

„Ich will nun zu Frau Klaußmann gehen, Mutter.“

Die Baronin nickte nur dazu, ließ sich nicht stören.

Irene atmete tief auf, als sie ins Freie trat. Die warme, strahlende Frühlingssonne tat ihr gut, und vergnügt betrat sie den Bäckerladen.

Ein wohlwollendes, volles Frauengesicht lächelte ihr entgegen.

„Ah, die Baronesse, und mir scheint, das Püppchen ist fertig“, klang es ihr entgegen. „Kommen Sie, bitte, mit ins Zimmer, wir wollen eben Kaffee trinken, vielleicht darf ich Ihnen ein Täßchen anbieten.“

Irene bejahte gerne. Bei der Mutter gab es nur Kaffeezusatz, hier guten, reinen Bohnenkaffee. Auch war es nicht das erstemal, daß sie am Klaußmannschen Tisch Platz nahm.

Bei Irenes Eintritt erhob sich ein schlanker Herr von einem der Stühle, sah auf die bildhübsche, junge Dame, die verwundert sagte: „Ich wußte nicht, daß Sie Besuch haben, Frau Klaußmann, und will lieber ein anderes Mal wiederkommen.“

Frau Klaußmann hielt sie einfach am Ärmel fest. „Das gibt es nicht, Baronesse, nun Sie einmal hier sind, lasse ich Sie nicht gleich wieder fort. Heute gibt’s prima Makronentörtchen und Mohrenköpfe.“

Irenes Augen lachten, und ein begeistertes: „Hm, fein!“ entschlüpfte ihren Lippen.

Der schlanke Herr verbiß ein Lächeln, sagte ernst: „Sie scheinen sehr viel für Makronentörtchen und Mohrenköpfe übrig zu haben, und deshalb rate ich Ihnen ebenfalls zu bleiben. Um so mehr, da ich kaum stören dürfte. Im übrigen gestatten Sie mir, mich Ihnen vorzustellen, ich heiße Alfred Grote und bin so eine Art fahrender Musikant, dazu ein Neffe von Frau Klaußmann.“

Irene neigte leicht den Kopf. „Irene von Felsen.“

Sie sann, weshalb sie der Name Alfred Grote so bekannt dünkte, als hätte sie ihn erst vor kurzem gehört oder gelesen.

Etwas zögernd sprach sie das aus.

Die dicke Frau Klaußmann wollte Antwort geben, doch der Mann kam ihr zuvor.

„Mein Name ist kein allzu seltener.“

Er mochte nicht erwähnen, daß morgen abend im Frankfurter Opernhaus seine erste Operette zur Aufführung kam, daß er deshalb in Frankfurt weilte und bei dieser Gelegenheit die ihm bisher fast unbekannten Verwandten aufgesucht hatte. Er war, wie alle Künstler, ein wenig abergläubisch, und man spricht am besten so wenig wie möglich vorher von erhofften Erfolgen.

Frau Klaußmann merkte die Absicht ihres Neffen und schwieg, so gern sie sich auch ein bißchen wichtig getan hätte, um so lieber, als sie wußte, die Baronesse schwärmte für gute Operetten und wäre vielleicht für einen Freiplatz nicht unempfänglich gewesen. Aber Alfred Grotes ganzes Wesen imponierte ihr. Sie bekräftigte seine Worte noch, stimmte ihm bei. „Grote ist wirklich kein allzu seltener Name. Bin ja auch eine geborene Grote, mein Bruder ist Alfreds Vater.“

Sie rief das Dienstmädchen herbei, das gewandt den Kaffeetisch deckte. Frau Klaußmann entschuldigte sich. „Die Verkäuferin ist heute beurlaubt, sonst brauchten wir ja nicht im Hinterzimmer Kaffee zu trinken, aber ich muß aufpassen, wenn Kundschaft kommt.“ Sie wandte sich an Irene. „Doch jetzt packen Sie aus, liebe Baronesse, ich bin so gespannt auf meine Puppe.“

Alfred Grote fragte verblüfft: „Willst du mit Puppen spielen?“

Frau Klaußmann erklärte: „Bewahre, aber Baronesse von Felsen ist Kunstgewerblerin und versteht entzückende Teepuppen zu machen.“

Der Mann sah plötzlich wie hergeweht einen bitteren Zug um Irenes Mund, der wenig zu ihrer Jugend paßte, und erriet, daß Geldmangel dieses hübsche, blonde Mädchen mit dem klingenden Namen dazu trieb, für Frau Bäckermeister Klaußmann eine Teepuppe zu machen, er verstand plötzlich, daß Makronentörtchen und Mohrenköpfe höchster Feiertagsschmaus für sie waren.

Eine warme Welle des Mitleids spülte über sein Herz hin, und sein Blick suchte den ihren.

Als fühlte sie, was in ihm vorging, so kalt und hochmütig sah sie ihn jetzt an. Deutlich stand auf dem feinen Antlitz geschrieben: Mitleid erträgt mein Stolz nicht.

Da ließen die Augen des Mannes das liebliche Gesicht frei, warteten, was sich aus der Papierumhüllung lösen würde.

Fast zögernd stellte Irene die Teepuppe auf einen kleinen, mit weißer Spitzendecke geschmückten Tisch, ihr Werk gefiel ihr mit einem Male gar nicht mehr.

Frau Klaußmann klatschte geräuschvoll in die molligen Hände.

„Reizend, wundervoll ist die kleine Dame, ich könnte mich beinahe vor ihr fürchten, so vornehm sieht sie aus.“

Alfred Grote nickte ihr zu.

„Stimmt, Tante, das Dämchen hat Rasse, Kultur und alten Adel in jeder Kleiderfalte.“

Frau Klaußmann legte Irene die Hand auf die Schulter.

„Ich glaube, Sie haben das, was mein Neffe eben sagte, ich meine, die Geschichte mit Kultur und Rasse sieht besonders gut aus, weil Sie selbst von altem Adel sind. Das sind Dinge, die müssen angeboren sein, denke ich mir.“

Irene erinnerte sich an die Unterhaltung mit der Mutter.

„Möglich, aber es ist zuweilen entsetzlich langweilig und beengend, von altem Adel zu sein. Wenn man jung ist, nicht allzuviel Geld hat, ist alter Adel ein Fluch.“

Ohne es selbst zu wollen, waren Irene die bitteren, anklagenden Worte entflohen.

Frau Klaußmann blickte ziemlich verständnislos, Alfred Grote aber schwebten warme, linde Worte auf den Lippen, doch vor dem Hochmutsblick, der ihn traf, schwieg er. Er empfand Zorn.

Was fiel denn dieser Baronesse, die für seine Tante, die Frau Bäckermeister Klaußmann, Handarbeiten machte, um sich etwas zu verdienen, nur ein, ihn anzusehen wie eine entthronte Königin einen zudringlichen Diener?

Er befragte seine Uhr, sagte gleichmütig: „Leider muß ich auf das Kaffeestündchen verzichten, da ich, wie mir eben einfällt, eine wichtige Verabredung habe. Du entschuldigst mich wohl, Tante, in einer Stunde bin ich wieder zurück.“

Vor Irene machte er eine knappe Verbeugung, und dann war er gegangen.

Irene warf die Lippen auf.

Sie fühlte noch immer den mitleidigen Männerblick auf sich ruhen, schämte sich, daß dieser Mann sie durchschaute. Er hatte begriffen, weshalb sie für die reiche Frau Bäckermeister die graziöse, hochmütige Marquise geputzt, und er mochte jetzt wohl lächeln über die Bettelbaronesse.

Frau Klaußmann lud zum Niedersitzen ein, goß Kaffee in die goldumrandeten Tassen.

Irene nahm Platz. Wären die Makronentörtchen und die Mohrenköpfe nicht gar so verlockend gewesen, dann wäre sie jetzt wohl auch gegangen, aber so viel Charakterstärke brachten ihre achtzehn Jahre nicht auf. Auch wußte sie von früheren Besuchen her, eine Tüte voll süßer Backwaren erhielt sie für die Mutter mit nach Hause.

In einem Umschlag überreichte ihr Frau Klaußmann das Honorar für die Teepuppe, aber als Irene heimging, brannte ihr das Geld in der Hand, und sie hatte sich doch so sehr darauf gefreut. Obwohl Frau Klaußmann keine Silbe mehr über den Neffen geäußert, hatte Irene fortwährend an ihn denken müssen, dachte noch jetzt an ihn, an seine hohe Gestalt und die scharfgezeichneten Züge. Einen fahrenden Musikanten hatte er sich genannt. Sie wußte nicht recht, was er damit meinte.

Aber es ging sie ja weiter nichts an, am besten war es, gar nicht mehr an den unsympathischen Menschen zu denken. Aber es ist eine alte Geschichte, unangenehme Dinge haften meist viel fester im Gedächtnis als angenehme. Noch in den Traum der Baronesse von Felsen schlich sich Alfred Grotes schlanke Gestalt, sein kühnes Profil und sein mitleidiger Blick.

Sie weinte morgens ein paar zornige Tränen. Was kümmerte sie dieser Mensch!

Was war das nur für ein seltsam unheimliches Gefühl? War sie krank, oder war das Angst vor der ungewissen Zukunft, in die sie mit der Mutter hineinlebte, mit der Mutter, die sich nicht dazu verstehen mochte, der neuen Zeit auch nur die kleinsten Zugeständnisse zu machen. War der Rest des Vermögens aufgebraucht, dann stand man dem Nichts gegenüber.

Irene fror, wenn sie daran dachte. Ihre Jugend sehnte sich nach Freude und Geselligkeit, nach hübschen Kleidern und ungestopften Strümpfen. Aber die Mutter hatte kein Verständnis dafür. Nach ihrer Ansicht wurde der Wert eines gestopften Taschentuchs oder Strumpfes reichlich aufgewogen durch die darin eingestickte siebenzackige Krone. Sie selbst war eine geborene Komtesse, die Wäsche, die aus ihrer Ausstattung stammte, zeigte die neunzackige Krone.

Irene dachte: Es muß schön sein, mutig in die weite Welt hinauslaufen zu dürfen, wie wohl ein Kind auf eine große Wiese hinausläuft, sich Blumen pflückt und nach bunten Schmetterlingen hascht. Draußen, irgendwo in der weiten Welt, flog das Glück umher, wie im Frühling die Schmetterlinge über die Wiesen fliegen, und man konnte es sich, wenn man flink und keck war, einfangen. Aber wenn sie hier in den drei Zimmern der leidlich eleganten Mietskaserne weiterhocken mußte, dann würde sie ein glückloses Altjüngferchen werden mit glattem Scheitel und verbittertem Herzen. Ein armes Altjüngferchen, das dazu verdammt war, am Leben vorbeizueilen.

Aber plötzlich lächelte sie wieder. Sie war erst achtzehn Jahre! Und mancher Mensch braucht überhaupt nicht hinaus auf die Glücksjagd, zu manchem Menschen kommt es von selbst, das Glück, ohne sich vorher anzumelden, und steht mit einem Male vor einem und lacht blankäugig: Hier bin ich!

II

Irene war in der Leihbibliothek gewesen, hatte ein Buch für die Mutter umgetauscht, deren Lieblingsbeschäftigung das Lesen von Romanen war. Darüber vergaß sie am besten die Gegenwartssorgen. Am Roßmarkt begegnete Irene der Opernsängerin Frau Leipholz, die lächelnd eine etwas theatralische Umarmung markierte.

„Baroneßchen, blondes, liebliches, weshalb kommen Sie denn gar nicht mehr zu mir? Sie wissen doch, Kind, wie sehr ich mich freue, wenn Sie mich besuchen!“

Sie schob ihren Arm in den Irenes.

„Ich wollte schon zu Ihnen schicken, aber ich weiß, Ihre Mutter sieht Ihren Umgang mit mir nicht gern, da unterließ ich es lieber. Wollen Sie ’ne Karte fürs Opernhaus heute abend, ja? Hab’ gerade einen feinen Platz, denken Sie, vom Komponisten selbst, und es macht Ihnen vielleicht Vergnügen, einer gediegenen Erstaufführung beizuwohnen. Wissen Sie, Mädel, die neue Operette ,Blütenzauber‘ ist etwas wert, darüber sind wir vom Fach uns alle einig. Unser Opernhaus hat lange nicht mehr solche prima Musik gehört, wie sie dieser Herr —“, sie schnippte mit den Fingern, „ach, dieser unbekannte Dingsda — ich kann keine neuen Namen behalten — bringt. Beim Deiwel, der Mensch hat was los. Man könnte meinen, die ollen seligen österreichischen Vollblutmusiker hätten ihm ein Stück ihrer durch und durch musikalischen Seelen vermacht, so jauchzt und trillert und lebt und tanzt alles in der Operette. Gestern war Generalprobe, da ist unser Star, die Mila Wischer, dem Komponisten einfach um den Hals gefallen vor Entzücken. Also nehmen Sie die Karte, Kind, und spenden Sie recht fleißig Beifall, ich habe auch keine üble Rolle zu spielen.“

Bis jetzt war es Irene noch nicht gelungen, den geringsten Einwurf anzubringen. Aber sie wußte längst, wenn Frau Leipholz sprach, dann sprach sie eben, es war schon am besten, man wartete, bis sie selbst ein Pause machte. Dieser Augenblick schien gekommen.

„Ich danke Ihnen recht herzlich, Frau Leipholz, daß Sie an mich gedacht haben, ich bin nach Ihrem Lob ganz außerordentlich auf das neue Werk gespannt!“

„Das dürfen Sie auch“, nickte die Sängerin, schritt neben Irene her. „Das Interessanteste ist aber, Liebste, niemand hat vordem etwas von dem Komponisten gehört, man sagt, er wäre auch nie vordem mit einer Arbeit hervorgetreten, und nun steht da ein Fertiger. Und Schwung hat der Mensch, Rhythmus zuckt in jedem Takt. Außerdem ein feudal aussehender Herr, nicht mehr ganz jung, sieht aus wie ein früherer Gardeoffizier oder Großgrundbesitzer. Die Komponisten, die ich bisher kennenlernte, sahen alle anders aus.“ Sie drückte Irenes Arm fest an sich. „Kommen Sie rasch auf einen Sprung mit zu mir herauf, damit ich Ihnen die Eintrittskarte gebe.“

Irene lächelte zustimmend. Ach, wie freute sie sich auf den Abend. Die Mutter gönnte ihr sicher die Erholung, obwohl sie für die eigene Person, seit sie sich keine Logenplätze mehr zu kaufen vermochte, nichts mehr für Theater und Oper übrig hatte. Sie zog einen Roman aus der Leihbibliothek vor.

Nachdem Irene ihre Karte erhalten, eilte sie heim, doch machte sie an der nächsten Litfaßsäule halt. Jetzt wollte sie sich doch unterrichten, von wem diese neue Operette eigentlich war. Die zerstreute Frau Leipholz nannte den Komponisten einfach „Herrn Dingsda“, und das klang doch ziemlich unbestimmt.

Sie ging mit suchenden Augen um die Säule herum. Da war das Opernhausprogramm. Mit auffallend dick gedruckten Lettern sprang ihr der klangvolle Titel „Blütenzauber“ förmlich entgegen, und dann las sie den Namen des Komponisten und las ihn noch einmal, schüttelte verwirrt den Kopf, als könne es nicht stimmen, was da stand.

Ihre Lippen bewegten sich, mechanisch murmelte sie vor sich hin, was sie las: Text und Musik von Alfred Grote.

Dann ging sie weiter, dachte nur immer, wie seltsam das war, daß sie den Komponisten der neuen Operette, die so hervorragend sein sollte, kannte, daß es niemand anders war als der Neffe von Frau Klaußmann, der unangenehme Mensch, der ihr mit seinem mitleidigen Blick Zorn ins Blut gejagt.

Nun ward ihr der Sinn klar, weshalb er von sich gesagt, er sei so eine Art von fahrendem Musikanten.

Ob er wirklich so viel konnte, wie Frau Leipholz meinte, oder ob die lebhafte Dame nur so begeistert war, weil ihr selbst in der neuen Operette eine hübsche, beifallssichere Rolle zuteil geworden? Dergleichen fällt bei Bühnenkünstlern sehr ins Gewicht, und sie verwechseln ihre Rolle oft mit dem ganzen Werk.

Warum wünschte sie nur plötzlich, die Operette möchte nichts Besonderes sein? Was kümmerte es sie, ob Alfred Grote Erfolg oder keinen Erfolg hatte, sie mußte den Menschen von seiner Kunst scheiden. War ihr Alfred Grote unsympathisch, konnte er doch als Komponist sympathisch sein.

Zu Ungerechtigkeiten gegen den Künstler durfte sie sich nicht verleiten lassen.

Es war ein schöner Balkonplatz, den ihr Frau Leipholz gegeben, und Irene saß in fiebernder Erwartung, als berühre sie das Schicksal der neuen Operette persönlich. Sie sah Frau Klaußmann, in feierlichem Schwarzseidenen mit großen Brillanten in den Ohren und an den Fingern, neben irgendeiner ihrer Freundinnen im Parkett, doch nirgends entdeckte sie das scharfe Profil Alfred Grotes. Plötzlich wurde der Platz neben ihr besetzt, ein Herr in tadellosem Abendanzug machte ihr, ehe er sich niederließ, eine kleine Verbeugung, und zu ihrer grenzenlosen Verwunderung erkannte sie in ihm Alfred Grote selbst.

Welch ein Zufall führte ihn in diesem großen Haus ausgerechnet auf den Platz neben ihr? Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und ärgerte sich gleichzeitig darüber.

Er beachtete sie weiter nicht, schien vollständig mit seinen Gedanken beschäftigt; fast dünkte es Irene, ihre Nähe sei ihm nicht besonders angenehm.

Sie erinnerte sich, daß Frau Leipholz geäußert, die Platzkarte habe sie vom Komponisten selbst erhalten. Wahrscheinlich besaß er deren zwei, wovon er die eine der Künstlerin zu beliebiger Verwendung gegeben. Der Gedanke, daß gerade sie auf diese Weise seine Nachbarin werden würde, mochte ihm weltenfern gelegen haben.

Plötzlich wandte er sich zu ihr.

„Wissen Sie, daß ich der Komponist der heutigen Operette bin?“ fragte er leise.

Sie neigte ein wenig den Kopf.

„Ich weiß es seit heute vormittag, seit ich Ihren Namen auf dem Programm las.“

Er schien kaum zuzuhören, und Irene bemerkte ein leises Beben seiner Hand, die das Spielverzeichnis hielt.

„Ich bin natürlich etwas erregt, es geht um meine Zukunft“, sagte er leise, als spräche er mit sich selbst. „Hätte unten sitzen können in der Intendantenloge, aber da wäre ich krank geworden. Bin doch ganz durcheinander. Ungekannt, gewissermaßen fremd, will ich der Aufführung beiwohnen. Und deshalb entschuldigen Sie, wenn ich jetzt unsere Bekanntschaft vergesse und mich gar nicht weiter um Sie kümmere.“

Er machte eine leichte Drehung mit seinem Stuhl, fast sah es aus, als wandte er ihr ein wenig den Rücken.

Irene erwiderte keine Silbe. Viel unhöflicher konnte Alfred Grote nicht gut sein, es genügte ihr vollkommen.

Am liebsten wäre sie aufgesprungen, um den Platz nicht zu benützen, der, wenn auch ohne sein Wissen und ohne seinen Willen, doch eigentlich aus seinen Händen kam.

Aber in diesem Moment begann die Ouvertüre, ein jubelndes Vorspiel erklang, und Geigengesang mischte sich mit Flötentrillern zu einem eigenartigen, tanzähnlichen Gebilde, in das jäh und erschreckend unvermittelt ein plumper Dudelsack hineinquengelte. Wie der Tanz von Mondfee und Hirtenknabe über waldigem Plan klang es, den ein alter, bocksbärtiger Satyr stört. Schon hob sich der Vorhang, und unter Blütenbäumen wandelten selige Paare, sangen ein weich verträumtes Sehnsuchtslied.

Irene hatte allen Groll gegen den Mann neben sich vergessen, sie lauschte der süßen, weichen Musik, die fremdartig und doch betörend bekannt schien und sich in ihr Ohr schmeichelte. Nun hob sich aus dem Chor eine Frauenstimme, schwebte klar und in perlenden Läufen auf, füllte das große, weite Haus mit bestrickendem Wohlklang.

Das war ein Lied! Irene vermeinte noch nie zuvor so beseligende Klänge vernommen zu haben, in ihrem Herzen hängte sie sich fest, die bezaubernde Weise, und sie saß atemlos lauschend. Atemlos lauschend saßen mit ihr die vielen, die gekommen waren, um die neue Operette zu hören. Der Akt ging zu Ende, und donnernder Beifall wirbelte hoch, wie von einem starken Sturm emporgetrieben.

Fast in sich zusammengesunken, saß Alfred Grote auf seinem Platz, und niemand ahnte, wer der regungslos vor sich hinstarrende Mann war, niemand ahnte, daß es sein Name war, der jetzt, von lauten Stimmen gerufen, durch den Saal flog wie ein Ball, der ihn treffen sollte.

Der Intendant ärgerte sich. Künstler sind doch wirklich unberechenbar, fand er. Da blieb dieser neue Stern, obwohl er ihn genügend auf Beifall vorbereitet, einfach der Vorstellung fern, denn wenn er sich irgendwo hinter den Kulissen aufhielt, hätte ihn der Spielleiter längst vor die Rampe geschleift.

Irene flüsterte eindringlich: „Zeigen Sie sich doch dem Publikum, bedanken Sie sich für den Beifall!“

Ein finsterer Blick antwortete ihr.

„Bitte, lassen Sie mich, das alles geht nur mich an!“

Irene biß sich auf die Lippen. War sie denn eine zudringliche Bettlerin, daß dieser abscheuliche Mensch sie so behandelte? Ihre Wangen brannten, sie fühlte sich gedemütigt. Sie blickte geflissentlich an dem Mann vorbei, und keine Silbe kam aus ihrem Munde, als sich nach dem zweiten Akt die Rufe nach dem Autor noch verstärkten.

Während des dritten Aktes aber war er plötzlich von ihrer Seite verschwunden, und sie sah ihn dann am Schluß auf der Bühne stehen zwischen den Hauptdarstellern. Beifall umrauschte ihn wie ein brandendes Meer. Sein Gesicht lächelte glücklich, während er sich immer und immer wieder verneigte.