Irondead - Der achte Tag - Wolfgang Hohlbein - E-Book

Irondead - Der achte Tag E-Book

Wolfgang Hohlbein

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn die Wirklichkeit schlimmer ist als jeder Albtraum ...

Privatdetektiv Quinn Devlin nimmt einen bizarren Auftrag an: Er soll der unglaublichen Behauptung eines Marineoffiziers auf den Grund gehen, eine Meerjungfrau habe seinen Vorgesetzten ermordet. Bei der Befragung im schottischen Burggefängnis der Royal Navy gerät Quinn in einen Hinterhalt: Gitterstäbe zerfließen wie Quecksilber, der Boden windet sich schlangengleich. In letzter Sekunde können er und sein Begleiter in die unterirdische Stadt der Toten fliehen. Sie finden sich in ihrem schlimmsten Albtraum wieder: Die Maschinenwesen sind zurück!

Der zweite Band von Wolfgang Hohlbeins »Irondead«! Jetzt als eBook von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 602

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Weitere Titel des Autors

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

Weitere Titel des Autors:

Das Herz des Waldes

Die Chronik der Unsterblichen:

1 – Am Abgrund

2 – Der Vampyr

3 – Der Todesstoß

4 – Der Untergang

5 – Die Wiederkehr

6 – Die Blutgräfin

7 – Der Gejagte

8 – Die Verfluchten

8½ – Blutkrieg

9 – Das Dämonenschiff

10 – Göttersterben

Über dieses Buch

Privatdetektiv Quinn Devlin nimmt einen sehr bizarren Auftrag an: Er soll der unglaublichen Aussage eines Marineoffiziers auf den Grund gehen, der behauptet, eine Meerjungfrau habe seinen Vorgesetzten ermordet. Bei der Befragung im schottischen Burggefängnis der Royal Navy gerät Quinn in einen Hinterhalt: Gitterstäbe beginnen wie Quecksilber zu zerfließen, der Boden sich schlangengleich zu winden. In letzter Sekunde können er und sein Begleiter in die unterirdische City of the Dead fliehen und finden sich in ihrem schlimmsten Albtraum wieder: Der Hive und die Maschinenwesen sind zurück …

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist der erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor der Gegenwart. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch Märchenmond. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen hat Wolfgang Hohlbein erhalten, vom »Preis der Leseratten« 1983 über »Bester Autor National« Deutscher Phantastik-Preis 2004 bis zum internationalen Literaturpreis NUX 2012. Weitere Informationen unter: www.hohlbein.de

WOLFGANG HOHLBEIN

IRONDEAD

Der achte Tag

Roman

beBEYOND

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2015 by INK.digital

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Dieter Winkler

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

unter Verwendung von Motiven © Geoffrey Ernault

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-6334-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Southampton, 9. Juni 1911

Die See war kabbelig in dieser Nacht. Tanner hatte dieses Wort vor vielen Jahren von einem deutschen Seemann gelernt: Er war fast noch ein Kind gewesen, hatte Wasser gehasst und sich nicht einmal im Traum vorstellen können, jemals auch nur einen Fuß auf etwas zu setzen, das nicht auf guter, alter englischer Erde ruhte. Aber das war lange her. Heute tat er Dienst auf der RMS Carpathia, einer 450-Fuß-Fregatte mit zwei Ehrfurcht gebietenden Zwillingsgeschützen an Bug und Heck und annähernd dreihundert Mann Besatzung. Das letzte Mal, dass er wirklich festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, lag schon fast drei Wochen zurück. So änderten sich die Zeiten.

Außerdem begann er zu ahnen, was dieses seltsame deutsche Wort bedeutete. Ihm war speiübel.

Dabei hätte man meinen können, dass das gewaltige Kriegsschiff reglos wie ein Stein in der Dünung lag. Irgendwie tat es das auch. Es war absolut keine Bewegung zu sehen und auch nicht wirklich zu spüren. Dennoch war da etwas, das seine Sinne beeinträchtigte und seinen Körper auf unangenehme Art in Anspannung hielt.

Kabbelig, pah! Er war müde, weil er die zweite Wache hintereinander schob, ihm war so kalt, dass er sich beherrschen musste, um nicht mit den Zähnen zu klappern, und die Übelkeit machte ihm zunehmend zu schaffen. Das war alles.

Tanner schluckte zum wiederholten Mal sauren Speichel hinunter und drehte sich um, als er Schritte hinter sich hörte. Der Wind trug die staubfeine eisige Gischt heran, der er bisher den Rücken zugedreht hatte. Nun klatschte sie ihm wie eine kalte Hand ins Gesicht, sodass er blinzeln musste, um die Züge der hoch aufgeschossenen schlaksigen Gestalt zu erkennen, die auf ihn zuhielt.

Tanner war plötzlich sehr froh, dass er trotz der vorgerückten Stunde das Gewehr vorschriftsmäßig geschultert trug. Er salutierte zackig und knallte die Hacken zusammen. Es dröhnte wie ein Pistolenschuss über das menschenleere Deck.

Piletti erwiderte seinen Gruß nachlässig. Sein Blick tastete zugleich aufmerksam über Tanners gesamte Erscheinung, zweifellos auf der Suche nach einer Kleinigkeit, die ihm Anlass für eine Zurechtweisung lieferte.

»Sub Lieutenant«, sagte Tanner schließlich unbeholfen, nachdem mindestens eine Minute vergangen war, ohne dass Piletti irgendetwas anderes getan hatte, als ihn durchdringend und feindselig anzustarren.

»Immerhin erinnern Sie sich noch an meinen Dienstrang, Entrance«, erwiderte Piletti, »wenn auch an sonst nichts anderes.«

Tanner hütete sich, etwas zu sagen. Dass ihn Piletti nicht gleich bei einer Verfehlung ertappt hatte, machte es nicht besser. Er musste auf der Hut bleiben.

»Irgendwelche besonderen Vorkommnisse, Entrance?«, bellte Piletti.

Das war nicht sein Rang. Trotzdem verneinte Tanner nur in möglichst neutralem Ton.

Was sollte denn hier schon vorkommen? Sie bewachten ein leeres Schiff in einem fast verlassenen Hafen, und das noch dazu auf so große Entfernung (um nicht unnötig Öl ins Feuer zu gießen, wie die offizielle Begründung lautete, ha, ha, ha), dass man das Schiff schon wegtragen oder versenken musste, bevor es irgendjemandem hier draußen auffiel.

Piletti funkelte ihn an, als fühlte er sich durch seine Antwort nur noch zusätzlich provoziert, trat dann aber kommentarlos neben ihn an die Reling und setzte den Feldstecher an, der an einem schmalen Lederband vor seiner Brust hing. Tanner sah in dieselbe Richtung.

Auch ohne Fernglas und mitten in der Nacht war das gewaltige Schiff nicht zu übersehen, das die dunkel daliegenden Hafen- und Kaianlagen dahinter wie ein abgebrochener Berg überragte. Tanner hatte eine Menge großer Schiffe gesehen, seit er vor zwei Jahren in die Royal Navy eingetreten war, einige davon so gewaltig wie schwimmende Städte, doch sie alle verblassten zur Dimension von Rettungsbooten neben der Olympic. Seltsam war nur, dass er das riesige Schiff zum ersten Mal ohne eine Unzahl von Lichtern an Deck hinter den häuserblockgroßen Aufbauten sah. Wobei seltsam vielleicht nicht das richtige Wort war. Eher schon …

»Gespenstisch«, stellte Piletti genau in diesem Augenblick fest, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Meinen Sie nicht auch, Entrance?«

»Was?«, fragte Tanner.

Piletti ließ den Feldstecher sinken. »Das Schiff so zu sehen. Jetzt warten wir schon seit über zwei Wochen, und ich habe es noch nie anders als taghell erleuchtet gesehen. So wirkt es irgendwie … tot.«

Tanner beschloss, auf der Hut zu sein. »Ich habe gehört, dass sie drüben in Belfast gerade ein noch größeres Schiff bauen.«

Piletti schüttelte den Kopf und setzte den Feldstecher wieder an. »Nicht größer, aber sehr viel luxuriöser. Ein schwimmendes Luxushotel für die Mächtigen und Reichen. Eine Überfahrt in der ersten Klasse kostet wahrscheinlich mehr, als Sie und ich in unserem ganzen Leben als Sold einstreichen, und …« Er fuhr ganz leicht zusammen, und seine Finger schlossen sich fester um das Fernglas. »Was ist denn das?«

»Sir?«, fragte Tanner alarmiert. Natürlich bekam er keine Antwort, aber Piletti blickte endlose Sekunden lang mit höchster Konzentration durch das Glas. Tanner strengte die Augen an, konnte jedoch nicht erkennen, was den Sub Lieutenant so sichtlich aufgeschreckt hatte.

»Sir?«, hakte er noch einmal nach.

»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen«, murmelte Piletti. »Dabei sollte hier in der Nacht überhaupt nichts los sein.«

»Nur weil die Heizer und Schauerleute streiken, muss nicht gleich das ganze Schiff verlassen sein«, gab Tanner zu bedenken.

Piletti ließ das Fernglas sinken und warf ihm einen giftigen Blick zu. »Nicht auf dem Schiff, Sie Dummkopf. Im Wasser, zwei Strich backbord.«

Er reichte Tanner den Feldstecher, und dieser suchte sehr gründlich und sehr viel länger als Piletti den bezeichneten Bereich ab. Er kam jedoch zu keinem Ergebnis. »Vielleicht nur eine Spiegelung. Oder ein Tümmler. Angeblich sollen sie sich manchmal sogar bis hierher verirren.«

»Ja, warum nicht gleich eine Meerjungfrau?«, zischte Piletti. Er riss ihm das Fernglas aus der Hand und sah auf die zitternde See hinab – auch jetzt vergebens. »Vielleicht habe ich mich doch getäuscht. Wir bewachen dieses verdammte Ding jetzt schon seit zwei Wochen. Da kann man sich um ein Haar ja fast wünschen, es ginge endlich los.«

»Was?«, fragte Tanner.

Piletti sah ihn mit gefurchter Stirn an. »Was meinen Sie?«

Wollte er ihn auf den Arm nehmen, oder war das die Ouvertüre für eine neue Bosheit? »Sie haben gesagt, Sie wünschten sich fast, es ginge endlich los, Sir.«

Piletti erschrak sichtlich. »Das habe ich nicht!«, blaffte er. »Reden Sie nicht so einen Unsinn, Mann, sonst muss ich Sie melden!«

»Natürlich, Sir«, antwortete Tanner hastig. »Verzeihen Sie, Sir. Ich muss mich wohl getäuscht haben, Sir.« Er hielt Piletti gewiss nicht für einen geduldigen Mann, doch dieser Ausbruch überraschte ihn dann doch. »Darf ich … fragen, warum wir eigentlich hier sind, Sir?«

»Sie dürfen, Entrance«, antwortete Piletti. »Es geht Sie zwar nichts an, aber es ist auch kein Geheimnis. Es geht um diesen blödsinnigen Streik. Er ist illegal. Das Werk von diesen verdammten Kommunisten und irgendwelchem anderen Gesindel, das es auf unsere Regierung abgesehen hat!«

Tanner war verwirrt. »Und was hat die Royal Navy damit zu tun?«

»Ich habe Kapitän Harks dieselbe Frage gestellt, Mister Tanner, aber …« Piletti unterbrach sich mitten im Satz, legte den Kopf schräg, um zu lauschen, und setzte das Fernglas dann erneut an. Sicherlich zwei Minuten vergingen, in denen er konzentriert das Meer absuchte.

Aber es war Tanner, der es schließlich entdeckte. Wortlos legte er Piletti eine Hand auf die Schulter und wies mit der anderen auf die Meeresoberfläche, ein ganzes Stück weit entfernt von der ersten Sichtung des Sub Lieutenants.

Piletti ließ eigens den Feldstecher sinken, um ihm einen ärgerlichen Blick zukommen zu lassen, hob ihn dann aber wieder und suchte aufmerksam das Meer ab. Er sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.

Tanner beugte sich so weit über die Reling, wie er es wagte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er brauchte kein Fernglas, um zu erkennen, was Piletti erschreckt hatte. Wäre es nicht so dunkel gewesen, wäre es ihm wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen, denn was immer es war, befand sich nicht auf, sondern unter der Wasseroberfläche. Ein fahlgrünes Licht, wie der Strahl eines sonderbaren Scheinwerfers, der sich der Carpathia lautlos näherte.

»Was zum Teufel ist denn das?«, flüsterte Piletti. Seine Hand umklammerte das Fernglas so fest, als versuchte er es zu zerbrechen … und war das Angst in seiner Stimme?

Das Licht erlosch schlagartig von einem Sekundenbruchteil auf den anderen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, und Piletti ließ das Glas mit einem vernehmlichen Keuchen wieder sinken. Er suchte das Meer mit bloßem Auge ab, dann noch einmal mit dem Feldstecher und schließlich erneut mit bloßem Auge. »Haben Sie das gesehen, Tanner?«, keuchte er. »Haben Sie das gesehen?«

»Ja, Sir«, antwortete Tanner mit belegter Stimme.

»Aber was war das?«, stammelte Piletti.

»Das weiß ich nicht, Sir.« Tanners Gedanken überschlugen sich. »Aber vielleicht … vielleicht sollten wir Alarm geben. Oder wenigstens dem Kapitän oder dem Ersten Offizier Meldung machen.«

»Ja, zweifellos«, schnaubte Piletti, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern starrte weiter auf das Meer hinab.

Tanner tat es ihm gleich und strengte seine Augen so sehr an, dass sie zu schmerzen begannen. »Wir sollten wirklich Meldung machen, Sir.«

»Ja, eine wunderbare Idee, Entrance. Dann laufen Sie doch schon einmal voraus und tun Sie das … ach ja, und was genau wollen Sie melden, wenn ich fragen darf?« Piletti sah ihn – jetzt wieder verächtlich – über die Schulter hinweg an. »Dass Sie ein grünes Licht gesehen haben, das sich dem Schiff unter Wasser genähert hat und plötzlich verschwunden ist?«

»Aber genau das haben wir doch gesehen!«, protestierte Tanner, konnte gerade noch die Veränderung in Pilettis Blick deuten und fügte ein hastiges »Sir« hinzu.

»So, das haben Sie also gesehen, Tanner«, sagte Piletti. »Ich wäre ja fast versucht, Sie zu begleiten, nur um mitzuerleben, wie Sie das dem Kapitän erzählen.«

Tanner musste sich auf die Zunge beißen, um nicht darauf zu antworten, aber er musste sich noch sehr viel mehr beherrschen, um nicht das Gewehr von der Schulter zu nehmen und dem Kerl den Kolben ins Gesicht zu rammen. Das Allerschlimmste war, dass Piletti recht hatte. Sie hatten beide dieses Was-auch-immer gesehen, aber wer würde ihm glauben? Tanner konnte ja selbst kaum beschreiben, was ihn so erschreckt hatte. Und auch in Pilettis Gesicht erkannte er blanke Angst. Das Schiff war ganz sicher nicht hier, um irgendwelche verdammten Kommunisten in Schach zu halten. Es gab einen ganz anderen und viel schlimmeren Grund, das wusste er.

»Dann sollen wir es einfach verschweigen, Sir?«

»Was verschweigen, Entrance?«, blaffte Piletti. »Mir ist nichts aufgefallen. Haben Sie etwas gesehen?«

Das hatte Tanner, und er sah es jetzt wieder: Ein grünes Leuchten durchdrang das Wasser, nur ein kurzes Stück von der Carpathia entfernt, viel, viel näher, als es in der kurzen Zeitspanne eigentlich möglich sein sollte. Gleichzeitig begann es zu schäumen und zu brodeln, und ein tiefes Wummern erfüllte die Luft. Tanner erkannte etwas Verschwommenes, Riesiges, Dunkles. Ehe er auch nur im Entferntesten begriff, was er da vor Augen hatte, tauchte inmitten des unruhigen, nun wie zerrissen wirkenden Wassers des Hafenbeckens ein dunkler Schatten auf: ein Koloss, beinahe so lang wie die Fregatte selbst und von so deutlicher Präsenz, dass Tanner unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

»Aber was …?«, entfuhr es Piletti, doch er sprach diesen Satz nicht zu Ende, denn es hatte ihm offensichtlich ebenso die Sprache verschlagen wie Tanner.

Keiner von ihnen konnte sagen, was er da sah. Sicher kein Schiff, denn obwohl Tanner das Gefühl hatte, dass der Koloss aus Metall war, konnte er zugleich riesige glotzende Augen, hervorstehend und glubschig wie bei einem Frosch erkennen, jedes einzelne annähernd so groß wie ein Mann. Dazu ein gewaltiger Zackenkamm, der sich über einen gleichermaßen kantigen wie runden Schädel erhob und bis zu einer zyklopischen Schwanzflosse in mehr als hundert Fuß Entfernung zog, gepanzerte Flanken und etwas, das an ein zahnbewehrtes geiferndes Maul erinnerte und zugleich doch so anders war, wie es nur möglich war. Ganz gleich, was es in Wahrheit auch sein mochte, für Tanner war es ein leibhaftiges Meeresungeheuer, das direkt aus den düstersten Seemannslegenden emporgestiegen war, um sie alle zu verschlingen.

Piletti schien es ganz ähnlich zu ergehen, denn er hatte die Hände so fest um die Reling geballt, dass seine Knöchel wie weiße Narben durch die Haut stachen, und starrte aus weit aufgerissenen Augen und ohne auch nur zu blinzeln, auf die unheimliche Erscheinung hinab. »Das ist … das ist doch nicht … nicht möglich«, stammelte er. »Laufen Sie zum Kapitän! Holen Sie ihn her! Aber kein Wort zu den anderen! Zu niemandem!«

Tanner stürmte los, hielt aber nach zwei Schritten inne, als Piletti hinter ihm so erschrocken die Luft einsog, dass es fast wie ein Schmerzenslaut klang. Zugleich erscholl von irgendwoher ein schrilles Kreischen, das an das Geräusch mächtiger eiserner Scharniere erinnerte, jedoch auf entsetzliche Weise lebendig klang. Tanner wirbelte herum und erstarrte angesichts des Anblicks, der sich ihm bot.

Das grüne Licht war wieder da, ungleich näher und irgendwie giftiger als beim ersten Mal, sodass er nun zwei scharf gebündelte Strahlen ausmachen konnte, die das Meer aufleuchten ließen. Schatten und bizarre Umrisse waren darin zu erkennen, die ihn schier an seinem Verstand und der Sehkraft seiner Augen zweifeln ließen. Dutzende, wenn nicht Hunderte umschwärmten den gewaltigen Umriss wie eine Meute ausgehungerter Piranhas einen verletzten Wal; mit unmöglich schnellen Bewegungen schossen sie hin und her, wechselten blitzartig die Richtung und jagten das eine oder andere Mal auch zur Wasseroberfläche hinauf, nur um dann im letzten Moment mit einer eigentlich unmöglichen Drehung wieder umzukehren.

Dann blitzten winzige Lichter auf einer noch tieferen Ebene unter dem Meeresspiegel auf, wie Funken oder maritime Glühwürmchen, Dutzende, Hunderte, vielleicht Tausende in rasender Folge, sodass Tanner nun einen vagen Eindruck von der wirklichen Form und vor allem Größe des schwimmenden Kolosses bekam. Der Anblick verschlug ihm schier den Atem. Wenn das ein Lebewesen war, dann von geradezu absurden Abmessungen, wie sie die Natur unmöglich hervorbringen konnte.

»Dort!« Piletti beugte sich gefährlich weit über die Reling und deutete nach unten. »Sehen Sie das? Da sind Menschen im Wasser!«

Tanner war mit einem Satz wieder neben ihm und sah konzentriert nach unten. Tatsächlich waren da hektische Bewegung und spritzende Gischt, aber einen Menschen vermochte er in all dem Chaos nicht auszumachen.

»Schnell, kommen Sie!« Piletti fuhr herum und zerrte ihn hinter sich her auf das hintere Fallreep zu. Tanner versuchte sich loszureißen, erreichte damit aber nur, dass er noch rücksichtsloser mitgezerrt wurde.

»Aber der Kapitän!«, keuchte er. »Wir müssen Meldung machen, und …«

»Später!«, schnitt ihm Piletti das Wort ab. »Dort unten ist jemand in Seenot! Wollen Sie ihn ertrinken lassen?«

Natürlich wollte er das nicht. Aber er glaubte auch keine Sekunde lang daran, dass sein Vorgesetzter aus reiner Menschlichkeit handelte.

Piletti schlug mit der Faust auf den Riegel, der das Fallreep sicherte, und konnte kaum die anderthalb Sekunden abwarten, die die eiserne Treppe brauchte, um zur Wasseroberfläche hinunterzurasseln. Das Klirren der Ketten und das protestierende Quietschen der rostigen Scharniere waren sicher bis in den letzten Winkel des Schiffes zu hören, ebenso wie das Dröhnen von Pilettis Schritten auf den Metallstufen. Tanner rechnete damit, das Deck über sich vom Schrillen einer Pfeife und dem Trappeln harter Stiefelsohlen widerhallen zu hören. Doch erstaunlicherweise blieb alles still, sowohl über ihnen als auch auf dem Meer.

Zwei Fuß von den grauen Wellen entfernt, die an den Flanken der Carpathia zerspritzten, hatte Tanner den Eindruck, nur noch den Arm ausstrecken zu müssen, um die gepanzerten Flanken des Kolosses zu berühren. Das lautlose Lichtgewitter unter Wasser war von hier aus sehr viel deutlicher zu sehen, enthüllte dabei seltsamerweise aber eher noch weniger Details.

»Dort!« Piletti deutete schon wieder in eine Richtung, in der Tanner nichts als spritzenden Schaum und reine Bewegung erkennen konnte, fiel auf die Knie und hielt sich mit der linken Hand an der rostigen Kette fest, die als Geländer diente. Gleichzeitig beugte er sich so weit vor, dass sich sein Gesicht kaum eine Handbreit über den Wellen befand. Den freien Arm tauchte er bis zur Schulter ins Wasser. Es sah absurd aus – und sehr gefährlich.

»Helfen Sie mir, verdammt!«, keuchte sein Vorgesetzter. »Halten Sie mich fest!«

Tanner tat, wie ihm geheißen, krallte sich mit einer Hand an die Kette, um auf den rutschigen Metallstufen nicht den Halt zu verlieren, und packte mit der anderen Hand Piletti. Der planschte so wild und vor Anstrengung schnaubend im Wasser herum, als hätte er den Verstand verloren und versuchte mit bloßen Händen Fische zu fangen. Dann gab es einen Ruck, der nicht nur ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte, sondern auch Tanner, und irgendwo dicht unter der Wasseroberfläche zappelte etwas Großes und Helles, sodass salziges Wasser schäumend bis über ihre Köpfe spritzte, sie binnen weniger Augenblicke bis auf die Haut durchnässte und wie Säure in Tanners Augen brannte.

Er griff noch fester zu und versuchte sich zusätzlich irgendwo mit dem Fuß zu verhaken, zumal Piletti zu seinem Entsetzen nun auch noch mit der anderen Hand zupackte, sodass er kopfüber ins Meer gestürzt wäre, hätte Tanner die Finger nicht mit aller Kraft in den Stoff seiner Uniformjacke gekrallt. Ein Schrei ertönte, ein durchdringender Laut wie das Grollen eines Nebelhorns, den er bis in den kleinsten Knochen seines Körpers zu spüren glaubte. Irgendwo – gerade jenseits der Grenze des wirklich Erkennbaren – war die Bewegung von etwas ungeheuerlich Großem und Furchteinflößendem. Unter der Wasseroberfläche zappelte und wand sich etwas Helles und Riesiges, vollkommen fremdartig und zugleich auf schreckliche Weise vertraut. Tanner spürte, wie seine Hand ebenso langsam wie unbarmherzig ihren Halt zu verlieren begann, mobilisierte noch einmal all seine Kräfte und ließ die Kette los, um sich nur noch mit dem Fuß irgendwo zu verkeilen und mit beiden Händen Piletti festzuhalten.

Gemeinsam – und buchstäblich den Bruchteil eines Atemzuges bevor sie beide im Wasser gelandet wären – gelang es ihnen, Pilettis Fang aus dem Meer ein Stück zu sich heraufzuziehen.

Es verschlug Tanner den Atem, so unglaublich war der Anblick.

Es war eine Frau. Nicht irgendeine Frau, sondern die schönste Frau, die Tanner jemals gesehen hatte. Ihr langes Haar, das gerade noch wie goldfarbener Tang im Wasser geschwebt hatte, umrahmte ein schmales, perfekt geschnittenes Gesicht mit einer edlen Nase, hoher Stirn und wunderschönen Augen, die leicht schräg standen und an die einer Katze erinnerten, auch wenn sie nun fast schwarz vor Angst waren. Und diese Perfektion setzte sich fort, von den schlanken Linien ihres Halses über die schmalen und doch erstaunlich muskulösen Schultern, den kleinen, perfekt geformten Brüsten bis hinunter zu ihrer Wespentaille …

… aus der ein gut anderthalb Fuß langer Pfeil ragte.

Das Bild war so bizarr, dass Tanners Griff sich lockerte und die verwundete Frau mit einem gewaltigen Platschen ein Stück weit wieder ins Wasser zurückglitt. Aus der Angst in ihren Augen wurde etwas anderes und tausendmal Schlimmeres, während sie unerbittlich tiefer im Meer versank. Sie warf die Arme in die Höhe und krallte sich mit beiden Händen an Piletti fest, der nun seinerseits noch weiter abrutschte.

Tanner zerrte und riss verzweifelt an seinem Vorgesetzten, und gerade als er zu spüren meinte, wie etwas in seiner Hüfte zu brechen drohte, schoss die Frau mit einem plötzlichen Ruck aus dem Wasser, sodass Piletti und er regelrecht nach hinten flogen und der Sub Lieutenant halb unter ihr begraben wurde. Auch Tanner verlor das Gleichgewicht, knallte mit dem Hinterkopf gegen den Stahl der Bordwand und sah Sterne, während er halb benommen rücklings auf die Treppe sank. Piletti schrie irgendetwas, das er nicht verstand. Als sich sein Blick wieder klärte, konnte er nur noch die junge Frau anstarren, die halb über Piletti lag und ihn mit ihrem Gewicht auf die eisernen Treppenstufen drückte.

Genauer gesagt starrte er auf ihren Unterleib, der nicht wirklich ein Unterleib war, sondern ein schuppiger Fischschwanz, dessen breite Flosse noch immer das Wasser peitschte.

»Tanner, um Himmels willen!« Pilettis Stimme war ein schrilles Kreischen, nur noch einen Deut von reiner Hysterie entfernt. »Helfen Sie mir! Nehmen Sie dieses Ding von mir herunter!«

Tanner erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Während er sich ungeschickt und mit dröhnendem Schädel aufzurappeln versuchte, erkannte er, dass Pilettis Panik möglicherweise nicht ganz unberechtigt war, denn die Meerjungfrau (eine Meerjungfrau! Großer Gott, es war eine leibhaftige Meerjungfrau!) krallte sich noch immer mit einer Hand in seine Jacke, während die Finger ihrer anderen nach seinen Augen grabschten. Tanner sah jetzt auch, dass es zumindest zwei Dinge (drei, wenn er den peitschenden Fischschwanz mitzählte) gab, die ihre engelsgleiche Schönheit störten: Das eine waren die dünnen, halb durchsichtigen Schwimmhäute zwischen ihren Fingern, das andere die messerscharfen Krallen, die aus ihren Fingerspitzen ragten und Pilettis Gesicht bereits in eine Landschaft aus heftig blutenden Schnitten verwandelt hatten. Piletti warf verzweifelt den Kopf hin und her, und es war ihm bisher immerhin gelungen, sein Augenlicht zu retten, doch das würde allerhöchstens noch Sekunden so bleiben.

Tanner gönnte Piletti ja im Prinzip alles Schlechte der Welt, aber das nun doch wieder nicht.

Mit einer hastigen Bewegung war er über den beiden und versuchte das groteske Geschöpf von Piletti herunterzureißen. Er brauchte zwei Anläufe und all seine Kraft dazu, denn das Wesen war unglaublich stark. Nicht genug damit, peitschte der gewaltige Fischschwanz plötzlich aus dem Wasser und traf ihn wie eine riesige nasse Hand im Gesicht, sodass er das Gleichgewicht verlor und halb benommen gegen die Bordwand torkelte.

Es tat weh, aber diesmal blieb er bei klarem Verstand, sodass er sah, dass die Meerjungfrau sich unverzüglich wieder auf Piletti stürzte. Gedankenschnell blockierte dieser mit dem Unterarm ihre Krallen, die schon wieder auf seine Augen zielten, und sie versuchte nun, ihm mit den Krallen der anderen Hand die Kehle aufzuschlitzen. Piletti entging um Haaresbreite auch diesem Angriff und reagierte instinktiv, indem er das Knie in die Höhe riss, was jeden männlichen Angreifer auf der Stelle ausgeschaltet und selbst einer Frau sehr wehgetan hätte.

Zu Pilettis Pech war die Meerjungfrau weder das eine noch das andere. Tanner hörte nur einen dumpfen Schlag, dem aber der erhoffte Schmerzensschrei nicht folgte. Piletti warf sich herum und griff nach dem Pfeil, der aus der Seite der Meerjungfrau ragte. Das Ergebnis war ein schrilles Heulen, das durch und durch unmenschlich war und unmögliche Höhen erreichte. Das Geschöpf bäumte sich auf, schlug in blinder Agonie mit dem Schwanz um sich und wäre ins Wasser entkommen, hätte Piletti nicht noch einmal brutal an dem Pfeil gezerrt. Der Schrei der Meerjungfrau wurde noch schriller, und Piletti warf sie mit einem Ruck auf den Rücken und schlug ihr so hart mit der Faust ins Gesicht, dass ihre Bewegungen auf der Stelle erlahmten.

Als er ein zweites Mal zuschlagen wollte, war Tanner neben ihm und hielt seine Hand fest. »Das reicht, Piletti.«

Piletti riss seinen Arm los und funkelte ihn an. »Was fällt Ihnen ein, Entrance?«

»Able, Sub Lieutenant«, antwortete Tanner. »Mein Dienstrang ist Able Warant. Und es ist nicht nötig, sie … es … noch mehr zu verletzen. Wissen Sie überhaupt, was wir da haben?«

Piletti wollte aufbegehren, doch dann konnte Tanner regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann. »Sie meinen …?«

Tanner sollte nie erfahren, worauf Piletti hinauswollte, denn in diesem Moment flogen die Augen der grotesken Zwitterkreatur auf, und im gleichen Sekundenbruchteil begann sich ihre Hand zu verändern. Die Finger verloren ihre Farbe und schimmerten plötzlich wie Quecksilber, und genau wie solches flossen sie mit einem Male zusammen und wurden schlanker, spitzer und verwandelten sich binnen eines einzigen Lidschlages in eine breite, zweischneidige Messerklinge, die nach Pilettis Brust stieß.

Piletti reagierte mit erstaunlicher Schnelligkeit und riss den Arm in die Höhe, aber diesmal nutzte es ihm nichts. Die Messerklinge traf sein Handgelenk, durchstieß es ohne die geringste Mühe und nagelte seinen Arm an seine Brust, bevor sie sich in sein Herz grub und rot und triefend aus seinem Rücken wieder austrat. Piletti blieb nicht einmal mehr die Zeit für einen Schrei, so schnell starb er.

Da Tanner wenig Lust verspürte, sein Schicksal zu teilen, sprang er hastig zurück, trat nach dem Geschöpf und versuchte gleichzeitig, das Gewehr von der Schulter zu zerren. Sein Tritt zeigte keine Wirkung. Was ihn rettete, das war wohl einzig der Umstand, dass sich die unheimliche Schwerthand der Kreatur in Pilettis Rippen verkeilt zu haben schien, denn sie hatte sichtliche Schwierigkeiten, ihre bizarre Waffe zu befreien. Die zwei oder drei Augenblicke, die sie dafür benötigte, reichten Tanner, das Gewehr auf sie anzulegen und durchzuladen.

Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Sie war noch immer die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte, so wunderschön, dass es fast wehtat, sie anzublicken, trotz all des Blutes auf ihrem Gesicht und dem, was aus ihrer linken Hand geworden war. Aber er hatte auch gesehen, was sie Piletti angetan hatte, und als sie die Klinge aus der Brust des Sub Lieutenants zog, drückte Tanner ab.

Die Gewehrmündung war weniger als einen halben Meter von ihr entfernt, und Tanner hatte sicheren Stand auf den metallenen Treppenstufen. Er konnte gar nicht danebenschießen. Und er tat es auch nicht.

Die Kugel traf sie genau zwischen die Augen, prallte ab und flog als heulender Querschläger davon.

Tanner war so fassungslos, dass er nicht einmal auf den Gedanken kam, noch einmal zu schießen, doch sein Selbsterhaltungstrieb war trotz allem stark genug, ihn gerade noch rechtzeitig zurückprallen zu lassen. Die Messerklinge traf das Gewehr ein winziges Stück vor seiner Hand, schnitt Holz und Metall gleichermaßen mühelos entzwei und ließ die Hälfte der Waffe in hohem Bogen in die Dunkelheit und mit einem gewaltigen Platschen im Meer verschwinden. Tanner starrte den verbliebenen Rest des Gewehrs in seinen Händen und das unheimliche Wesen gleichermaßen fassungslos wie entsetzt an, stolperte einen weiteren halben Schritt zurück und versuchte vergeblich, auf seinen Verstand zu hören, der ihm zuschrie, die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen, so schnell er konnte.

Es hätte ihm vermutlich ohnehin nichts genutzt, denn die Kreatur wirbelte mit einer Behändigkeit herum, die für ein Wesen ohne Beine ganz und gar unmöglich sein sollte, richtete sich auf ihre Schwanzflosse auf wie eine angreifende Kobra und stieß mit ihrer schrecklichen Messerhand nach ihm.

Dann war ihr Kopf plötzlich verschwunden. Funken sprühten und zischten, und es stank durchdringend nach brennendem Gummi und heißem Metall.

Tanner blickte dem abgeschlagenen Kopf der Meerjungfrau verständnislos nach, bis er über die letzte Treppenstufe rollte und im Wasser verschwand, dann hob er den Blick und sah sich einem Mann gegenüber, der wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war. Er war sehr groß, trug einen einteiligen schwarzen Anzug, der sich wie eine zweite Haut an seinen Körper schmiegte und vor Nässe glänzte, und absurderweise einen ebenfalls schwarzen Turban auf dem Kopf.

Noch absurder war vielleicht nur der meterlange Krummsäbel, den er in der rechten Hand hielt, denn die Klinge war in ein Netz knisternder kaltblauer Funken gehüllt.

»Aber … aber was …?«, stammelte Tanner.

Der Fremde hob sein Schwert, dann …

… nichts mehr.

1

»Sie läuft in einer Woche aus«, sagte Watson, während er mit der aufgeklappten Gazette raschelte, deren gelbes Papier er wie einen Schutzschild zwischen sich und das gemeine Volk im Club hielt. Etwas an der Art, in der er das halbe Dutzend Worte aussprach, ließ mich vermuten, dass sie für ihn von großer Wichtigkeit waren. Ich sah von der Lektüre meines eigenen Journals auf, auf das ich seit einer geschlagenen Viertelstunde starrte, ohne auch nur ein einziges Wort gelesen oder eines der vielen Bilder wirklich betrachtet zu haben. Wir saßen jetzt seit mindestens einer Stunde im Rauchsalon des nobelsten Clubs von Belfast, ich trank mittlerweile den dritten türkischen Kaffee, der mir noch viel weniger schmeckte als die beiden davor (ich habe nie verstanden, was die Leute so sehr an diesem bitteren Gebräu fasziniert, dass sie wahre Unsummen dafür ausgeben und seine Zubereitung und seinen Genuss fast wie eine Religion zelebrieren), und hatte immer größere Mühe, dem Drang nach einer weiteren Zigarre zu widerstehen. Aber in dem abgegriffenen Lederetui in meiner Brusttasche befanden sich nur noch drei Zigarren, die für den Rest des Tages reichen mussten, und es war noch nicht einmal ganz Mittag.

Watson raschelte noch einmal demonstrativ mit seiner Zeitung, und als das keine Reaktion von mir bewirkte, knickte er sie mit beiden Zeigefingern dergestalt um, dass ihr oberes Drittel perfekt herunterklappte und ich dem vorwurfsvollen Blick seiner Augen begegnete. »Die Titanic«, sagte er.

Nun war klar, dass er eine gebührende Erwiderung auf diese weltbewegende Eröffnung erwartete, und ich zerbrach mir auch einige Sekunden lang angestrengt den Kopf über eine solche. »Aha!«

Watson wirkte ein bisschen verletzt, klappte die Zeitung aber nur mit ganz erstaunlicher Fingerfertigkeit wieder hoch, um dahinter zu schmollen, während ich endlich vor meinem inneren Schweinehund kapitulierte und eine meiner letzten Zigarren zückte. Noch bevor ich das dazugehörige Streichholz anreißen konnte, tauchte ein livrierter Butler wie aus dem Nichts neben mir auf und reichte mir Feuer. Mit der anderen Hand vollbrachte er ein weiteres Zauberkunststück, indem er einen blitzsauberen Aschenbecher dorthin platzierte, wo einen Sekundenbruchteil zuvor noch der benutzte gestanden hatte. Ich bedankte mich mit einem wortlosen Nicken, das er ebenso stumm erwiderte, aber in seinen Augen meinte ich einen Ausdruck leiser Missbilligung zu erkennen. Ich war nicht ganz sicher, ob sie meinem schäbigen Anzug, der fragwürdigen Qualität meiner Zigarre oder ganz allgemein der Tatsache galt, dass sich jemand wie ich in einen der mondänsten Clubs des Landes verirrt hatte. Der Blick, mit dem ich ihn verabschiedete, fiel jedenfalls um mehrere Nuancen kühler aus.

Natürlich war mir klar, dass ich dem Mann unrecht tat, der mich immerhin genauso zuvorkommend behandelte wie jeden anderen hier. Wenn, dann sollte sich mein Unmut eher gegen den Doktor richten. Sosehr ich mich auch gefreut hatte, nach fast einem Jahr wieder etwas von Watson zu hören, und sosehr mir die Einladung in diesen noblen Club auch schmeichelte, der als inoffizieller Treffpunkt der wirklich allerbesten Gesellschaft galt, so enttäuschend war dieses Treffen bislang verlaufen. Watson hatte es sich nicht nehmen lassen, mich höchstpersönlich am Eingang zu empfangen. Den Grund für seine überraschende Einladung hatte er mir trotz meiner entsprechenden Nachfrage nicht verraten. Wenn man es ganz genau nahm, hatte er mir überhaupt nichts verraten, sondern nur eine Handvoll Worte mit mir gewechselt, während wir uns gesetzt und auf den Kellner gewartet hatten. Seither las er in seiner Zeitung.

Ich nahm einen tiefen Zug aus meiner Zigarre, blätterte weiter in einem Journal, das über Dinge berichtete und Waren feilbot, von denen ich noch nie gehört hatte und die ich nicht brauchte. Im Gegensatz zu dem osmanischen Gebräu schmeckte die Zigarre ausgezeichnet, was mich wenigstens halbwegs mit der Situation versöhnte, wenn auch vermutlich nicht für lange.

Hinter seiner Zeitung bewegte sich Watson unruhig. Ich sollte es vermutlich nicht sehen, aber mir entging nicht, dass er zum wiederholten Mal seine Taschenuhr aus der Weste zog, genauso wenig wie das charakteristische Geräusch, mit dem er den Deckel auf- und nach einer guten halben Minute wieder zuklappte. Möglicherweise war ich ja nicht der Einzige, der auf etwas wartete. Doch ich würde ihm bestimmt nicht den Gefallen tun, ihm meine Ungeduld auch noch zu zeigen.

Nach drei weiteren Zügen aus meiner Zigarre, die ihr Ende beinahe weiß aufglühen ließen, fragte ich: »Habe ich mich eigentlich schon für die Einladung bedankt, Doktor?«

Watson schwieg gerade lange genug, damit ich zu zweifeln begann, ob er sich überhaupt zu einer Antwort herablassen würde, knickte das obere Drittel seiner Zeitung erneut auf diese beeindruckende Weise um (ich nehme an, das hatte er lange geübt) und sah mich stirnrunzelnd an. »Zweimal, glaube ich. Vielleicht auch dreimal. Ich muss Sie jedoch noch um ein wenig Geduld bitten, Mister Devlin.«

»Geduld bis wann?«, fragte ich durch eine Wolke grauen Zigarrenqualms. Ich wusste, dass Watson Zigarrenrauch verabscheute. Bisher hatte ich darauf Rücksicht genommen und darauf geachtet, den Qualm nicht in seine Richtung zu blasen. Jetzt beugte ich mich wie zufällig ein gutes Stück vor und sah ihn erwartungsvoll an.

»Wir sind zum Essen verabredet, Mister Devlin«, antwortete Watson.

»Wir?«

»Sie und ich und eine dritte Person, der ich Sie gerne vorstellen möchte«, erwiderte Watson kryptisch.

Er faltete seine Zeitung sorgsam in der Mitte zusammen und legte sie präzise zur Kante ausgerichtet auf den Tisch. Ganz zufrieden schien er mit seinem Werk jedoch nicht zu sein, denn nach einer Sekunde beugte er sich noch einmal vor und benutzte den kleinen Finger der linken Hand, um sie erneut zu verschieben – vielleicht einen halben Millimeter, schätzte ich. Erst dann fuhr er fort: »Ich muss mich entschuldigen, Mister Devlin. Mein Gast wollte eigentlich schon früher hier sein, aber wie es scheint, wurde er wohl aufgehalten. Ich bin jedoch sicher, dass er pünktlich zum Essen eintreffen wird. In …« Er zückte schon wieder seine Taschenuhr, um auf das Ziffernblatt zu sehen, obwohl hinter mir und damit in seiner direkten Sicht eine barocke Standuhr thronte, deren lautstarkes Ticken mir schon die ganze Zeit auf die Nerven ging. »… einer knappen Viertelstunde.«

»Und um wen handelt es sich bei Ihrem geheimnisvollen Bekannten?«, fragte ich.

Watson schüttelte tadelnd den Kopf. »Einmal Detektiv, immer Detektiv, wie? An unserem Gast ist rein gar nichts Geheimnisvolles. Ich denke allerdings, dass Sie erfreut sein werden, seine Bekanntschaft zu machen.«

»Warum?«, fragte ich zwar, ärgerte mich zugleich aber auch über mich selbst. Natürlich hatte er das nur gesagt, um meine Neugier zu wecken, und ich schnappte brav nach dem Köder.

Watson antwortete mit einer Gegenfrage. »Wie lange haben wir uns jetzt nicht gesehen, Mister Devlin? Ein gutes Jahr, nicht wahr?«

Ich nickte. Worauf wollte er hinaus?

»Ich habe gehört, Ihre Geschäfte laufen nicht besonders gut«, fuhr Watson fort. »Das bedauere ich. Warum haben Sie sich nicht bei mir gemeldet, Mister Devlin? Sie wissen, dass ich Ihnen damals meine Hilfe angeboten habe, sollten Sie sie benötigen.«

Das hatte er, genau wie Nikola, Harland und sogar mein Intimfeind Adler. Ich habe jedoch noch nie Almosen genommen. Darüber hinaus weckte die Nähe jeder einzelner dieser Personen so schmerzliche Erinnerungen, dass ich sie einfach nicht ertragen hätte.

»Ich hatte schon schlechtere Zeiten«, antwortete ich.

»Aber auch schon bessere, nehme ich an«, erwiderte Watson. »Sie sind ein stolzer Mann, Mister Devlin. Das respektiere ich. Und ich verstehe auch, warum es Ihnen auf Dauer nicht möglich war, meine Nähe und die der anderen zu ertragen. Auch wenn ich persönlich und als Arzt der Meinung bin, dass es ein Fehler ist.«

»Haben Sie schon einmal einen geliebten Menschen verloren, Doktor?«, fragte ich, selbst ein wenig erschrocken über die Schärfe, die unterschwellig in meiner Stimme mitschwang.

Watson reagierte jedoch nur mit einem dieser Ärztelächeln, die Patienten dazu bringen konnten, ihre Doktoren zu erwürgen. »In der Tat, das habe ich. Wie die meisten Menschen. Der Verlust geliebter Personen ist fester Bestandteil unseres Lebens.«

»Aber nicht so!«, antwortete ich in einem Ton und so laut, dass etliche der anderen Gäste die Köpfe hoben und nicht mit missbilligenden Blicken geizten.

»Nein, zweifellos«, entgegnete Watson. »Aber wenn Sie schon nicht auf den Rat eines Freundes hören wollen, dann nehmen Sie meinen ärztlichen Ratschlag an. Manchmal hilft es, vor einem Schmerz davonzulaufen oder einfach die Augen davor zu verschließen. Aber nur selten und so gut wie nie auf Dauer. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Auch wenn es wehtut – letzten Endes muss man sich den Dämonen stellen, wenn man nicht will, dass sie einen für den Rest seines Lebens verfolgen.«

»Doktor Watson, ich danke Ihnen für diese Einladung«, sagte ich, so ruhig ich konnte, wenn auch mit großer Entschlossenheit, »aber wenn Sie mich hierherbestellt haben, um mich zu therapieren …«

»Nichts liegt mir ferner, Mister Devlin«, unterbrach mich Watson, und auch das tat er auf jene ganz bestimmte Art, zu der nur Ärzte imstande sind, die den Umgang mit renitenten Patienten gewohnt sind. »Es war lediglich ein freundschaftlicher Rat. Sie können ihn beherzigen oder auch nicht. Darüber hinaus möchte ich Sie mit jemandem bekannt machen, der sich möglicherweise ihrer Dienste versichern möchte.«

»Meiner Dienste?«, fragte ich misstrauisch.

»Als privater Ermittler«, präzisierte Watson. »Sie arbeiten doch noch als Privatdetektiv, nehme ich an?«

Im Prinzip schon, auch wenn das mit der Arbeit zurzeit nicht gerade rosig aussah. Seit einem guten Jahr, um genau zu sein. Ich nickte.

»Mein Bekannter sucht jemanden, der ihm bei gewissen … sagen wir pikanten Nachforschungen behilflich ist. Keine Sorge.« Er hob die Hand, um meinem erwarteten Widerspruch zuvorzukommen. »Es ist vollkommen legal und wahrscheinlich nicht einmal gefährlich. Dennoch wird möglicherweise ein Mann mit Ihren speziellen Fähigkeiten benötigt.«

»Meinen speziellen Fähigkeiten?«

»Sie sind ein guter Detektiv, Mister Devlin«, antwortete Watson. »Davon konnte ich mich persönlich überzeugen. Und Sie können schweigen.«

»Und worüber?«, fragte ich.

Watson lächelte milde wie ein Vater, der ein kleines Kind bei einer naiven Schwindelei ertappt hatte. »Ich weiß selbst nicht, worum es genau geht.«

»Woher wollen Sie dann wissen, dass es legal ist?«, hakte ich unverzüglich nach.

»Weil ich die Person kenne, über die wir reden«, antwortete er. »Sehr gut kenne. Und ich kann Ihnen versichern, dass sie niemals etwas Gesetzeswidriges oder auch nur Fragwürdiges tun würde. Aber ich muss Ihnen nicht sagen, dass es durchaus Dinge gibt, die nicht in die Öffentlichkeit gehören, auch wenn es sich nicht um etwas Illegales handelt. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ganz einfach weil ich nicht mehr weiß.«

»Und Ihr Bekannter …?«

»… hat explizit nach Ihnen gefragt, Mister Devlin«, führte Watson den Satz zu Ende. »Und ich habe natürlich nur zu gerne zugesagt, Sie beide zusammenzubringen.«

»Weil Sie mich so sehr ins Herz geschlossen haben?«

»Weil ich von Ihren Fähigkeiten überzeugt bin, Mister Devlin.«

Er stand auf, bevor ich antworten konnte. »Kommen Sie, Mister Devlin. Lassen Sie uns ins Restaurant gehen. Mein Bekannter kommt sicherlich gleich, und wir können vor dem Essen noch einen Aperitif nehmen. Außerdem riecht es mir hier zu sehr nach Zigarrenqualm.«

Ich verstand den Wink, nahm einen tiefen Zug und drückte die noch nicht einmal zu einem Viertel aufgerauchte Zigarre im Aschenbecher aus. An jedem anderen Ort hätte ich sie eingesteckt, um sie später in Ruhe zu Ende zu rauchen, aber hier verzichtete ich darauf – schon weil ich mir das missbilligende Stirnrunzeln des Butlers vorstellen konnte, wenn er mich dabei beobachtete.

Das Restaurant befand sich gleich nebenan. Trotz seiner beeindruckenden Größe und des Umstandes, dass ein Mittagessen hier vermutlich mehr kostete, als ein durchschnittlicher Arbeiter in einem Monat verdiente, waren nahezu alle Tische besetzt. Es herrschte eine vornehme Stille, denn sämtliche Gespräche wurden im Flüsterton geführt. Selbst das gelegentliche Gläserklirren und das Geräusch des Bestecks erschien mir sonderbar gedämpft. An den Tischen saßen ausnahmslos Männer. Allison hätte ihre helle Freude daran gehabt und vermutlich wieder zu einem stundenlangen Diskurs über die Rechte der Frauen und die Ungerechtigkeit der Gesellschaft im Allgemeinen ausgeholt, die weiblichen Wesen den Zutritt zu noblen Clubs verbot.

Wie sehr ich sie vermisste!

Ein anderer (genauso borniert wirkender) Butler geleitete uns zu einem der letzten freien Tische, der direkt neben dem Kamin stand, in dem ein unangemessen fröhliches Feuer prasselte. Als er mir ungefragt ein Glas Portwein einschenkte, musste ich mich beherrschen, ihn nicht anzufahren. Aber das wäre ungerecht gewesen, und ich hatte auch keinen wirklichen Grund, Watson böse zu sein. Sicher, die Erinnerungen an Allison und der Schmerz kamen mit Macht zurück, wie immer, wenn ich ihm oder einem der anderen begegnete, die damals dabei gewesen waren. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte und den Moment, in dem sie in meinen Armen gestorben war. Der Schmerz schien mit jedem verstreichenden Tag ein wenig schlimmer zu werden. Vielleicht hatte Watson ja recht.

»Schmeckt Ihnen der Wein nicht?«, fragte Watson.

Eine Weile sah ich ihn nur verständnislos an, blickte danach auf das Glas hinab, das ich in die Hand genommen und halb angehoben hatte, und begriff erst dann, dass ich womöglich schon minutenlang so dasaß und ins Leere starrte. Ich trank umso hastiger einen kleinen Schluck und stellte das Glas so hart auf den Tisch zurück, dass ich einen Tropfen verschüttete und einen hässlichen Fleck auf dem teuren Damasttuch produzierte. Hoffentlich wurde ich dafür nicht öffentlich ausgepeitscht.

»Das ist es nicht, Doktor.«

»Ich weiß.« Watson nickte. »Möchten Sie darüber reden?«

»Nein.«

»Auch auf die Gefahr hin, dass es Ihnen entweder abgedroschen erscheint oder Sie der Meinung sind, dass es mich nichts angeht …«

»Oder beides.«

»… aber Miss Carters Tod war nicht sinnlos. Sie hat uns allen das Leben gerettet. Vielleicht der gesamten Stadt und vielleicht sogar noch mehr als das.«

Als ob ich das nicht wüsste! Aber machte es das etwa besser?

»Mister Mulligan hat es genauso getroffen«, fuhr Watson ungerührt fort. »Am Anfang ging es ihm übrigens noch viel schlechter als Ihnen. Immerhin hat er …«

»Ich weiß, was er getan hat«, unterbrach ich ihn, begleitet von einem eisigen Blick, der ihn aber ebenso wenig beeindruckte wie alles andere zuvor.

»Er ist fast daran zerbrochen, Mister Devlin«, fuhr er ungerührt fort. »Ich weiß, Mulligan ist ein Mann, dem man so etwas nicht zutraut, aber unter der rauen Schale des rauflustigen Ganoven verbirgt sich ein weicher Kern. Das ist übrigens oft so, gerade bei Menschen wie ihm. Zu seinem desolaten Zustand passt auch, dass er das ganze letzte Jahr in meinen Diensten geblieben ist, statt wie üblich neue Herausforderungen zu suchen. Ich hatte also genug Gelegenheit, ausführlich mit ihm über den tödlichen Schuss …«

»Warum haben Sie das gesagt?«

Watson blinzelte. »Was gesagt?«

»Das mit der Titanic«, antwortete ich. »Sie haben gesagt, dass sie nächste Woche vom Stapel läuft.«

»Vom Stapel ist sie schon vor einem Jahr gelaufen«, belehrte mich Watson. »Aber sie sticht nächste Woche zu ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York in See. Ich dachte, dass Sie das interessiert.«

»Dieses Schiff hätte niemals fertig gebaut werden dürfen«, sagte ich. »Und das wissen Sie auch.«

»Sir Harland war da wohl anderer Meinung«, antwortete Watson. »Und seine Geldgeber und die Eigner der White Star Line auch. Ich weiß, dass Sie sich aus nachvollziehbaren Gründen schon seit Langem von der Werft und vor allem dem Schiff ferngehalten haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass die Titanic so gründlich untersucht wurde, wie es Menschen nur möglich ist.«

Das glaubte ich ihm sogar, aber genau das war ja das Problem: menschenmöglich. Wie wir alle – auch Watson – nur zu gut wussten, gab es durchaus Dinge, die nicht menschenmöglich waren, aber dennoch schreckliche Realität.

»Es sind keine Spuren mehr zurückgeblieben, das versichere ich Ihnen«, fuhr Watson fort, »weder auf dem Schiff noch – ah, da ist er!«

Watson sprang auf und eilte um den Tisch herum, während sich ein Ausdruck ehrlicher Freude auf seinem Gesicht breitmachte. Ich verdrehte mir beinahe den Hals, um den Neuankömmling zu erspähen, und erblickte einen hochgewachsenen Mann in den späten Dreißigern oder frühen Vierzigern, der elegant gekleidet war, einen buschigen Schnauzbart sowie Hut und Stock trug und mindestens genauso erfreut zu sein schien, Watson zu sehen, wie dieser umgekehrt ihn. Sein Gesicht kam mir vage bekannt vor, auch wenn ich nicht sagen konnte, woher, und die beiden fielen sich zwar nicht gerade um den Hals, begrüßten sich aber so euphorisch, dass man förmlich darauf wartete. Es gab ein großes Hallo, das zur Abwechslung ihnen die missbilligenden Blicke der anderen Gäste einbrachte und erst endete, als einer der Butler sich so diskret räusperte, dass man es vermutlich noch draußen auf der Straße hörte.

Derart gut gelaunt, dass ich es in meinem momentanen Zustand schon fast obszön fand, kehrten sie an den Tisch zurück, und Watson deutete mit einem breiten Grinsen auf seinen schnauzbärtigen Begleiter. »Mister Devlin, das ist mein guter alter Freund Arthur, von dem ich Ihnen bereits erzählt habe.«

Ich sah den Mann mit dem Strohhut an, und dann meinte ich regelrecht zu hören, wie es hinter meiner Stirn klick! machte, und wäre um ein Haar vor lauter Ehrfurcht vom Stuhl aufgesprungen. »Sir Arthur …«

»Das genügt«, unterbrach mich Arthur scharf, aber mit einem derart entwaffnenden Lächeln, dass ich ihm nicht gram sein konnte. Er nahm am Tisch Platz und wartete, bis der Butler ihm ebenfalls einen Schluck Portwein eingeschenkt hatte, und fuhr dann in freundschaftlichem Ton und mit einem dazu passenden Gesichtsausdruck fort: »Ich bin gewissermaßen inkognito hier, und es wäre mir aus verschiedenen Gründen lieber, wenn der Belfast Telegraph davon keinen Wind bekäme.«

»Aber das verstehe ich doch«, versicherte ich hastig. »Sie können sich auf mich verlassen!«

Arthur bedankte sich mit einem artigen Lächeln, nippte an seinem Wein und bedeutete dem Butler dann, ihm nachzuschenken. Er trank jedoch nicht, sondern stellte das Glas auf den Tisch zurück. Er sprach erst weiter, als der Domestike diskret wieder außer Hörweite verschwunden war.

»Sie sind es tatsächlich«, sagte ich. »Der berühmte Sir Arthur! Was für eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich wusste gar nicht, dass Sie sich zurzeit in Irland aufhalten.«

»Das weiß so gut wie niemand«, erwiderte Arthur. »Und wie ich bereits erwähnt habe, wäre es mir recht, wenn das auch so bliebe.«

Ich nickte hastig und gab mir Mühe, das spöttische Funkeln in Watsons Augen zu ignorieren. Natürlich wusste ich selbst, dass ich mich ziemlich kindisch benahm, aber ich konnte nicht anders, und warum auch? Immerhin saß ich unversehens einem wirklich berühmten Mann gegenüber.

Arthur wirkte jedoch eher amüsiert als genervt, und er beantwortete auch brav alle meine Fragen, von denen ich wahrlich eine Menge hatte. Wir redeten, bis die Vorspeise kam, und ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht wirklich zur Kenntnis nahm, was ich da in mich hineinstopfte. Arthur ließ alles klaglos über sich ergehen und hätte es vermutlich auch noch eine geraume Weile länger getan, hätte sich Watson nicht schließlich seiner erbarmt und die peinliche Situation mit einem demonstrativen Räuspern beendet. Arthur reagierte auch darauf nur mit einem freundlichen Schmunzeln, während ich selbst spürte, wie meine Ohren rot aufleuchteten, als mir endlich klar wurde, wie albern ich mich in der zurückliegenden Viertelstunde aufgeführt hatte. Arthurs Lächeln wurde auf eine Art verständnisvoll, die ich ihm fast schon wieder ein bisschen übel nahm.

»Nun, Mister Devlin«, begann er schließlich. »Ihr Interesse an meiner Person und meinem Werk ehrt mich. Wie Ihnen mein guter Freund Watson sicherlich schon mitgeteilt hat, bin ich jedoch aus einem ganz bestimmten Grund hier.«

»Sie haben ein Problem«, stellte ich widersinnigerweise ein bisschen enttäuscht fest.

»Ich? Nein.« Arthur schüttelte den Kopf und nickte gleich darauf widerstrebend. »Oder doch, das kommt ganz auf die Betrachtungsweise an, wenn Sie verstehen.«

»Nein.«

Arthur wirkte jetzt leicht gequält, und ich mutmaßte, dass er ganz froh war, als nun der Hauptgang aufgetragen wurde und er so einen Vorwand hatte, nicht sofort antworten zu müssen. Sein Verhalten irritierte mich, auch wenn es mir zugleich auf nicht unbedingt angenehme Art bekannt war. Das Gefühl von Beinahe-Ehrfurcht, das noch immer vage von mir Besitz ergriffen hatte, wollte darauf beharren, dass ein Mann von solcher Reputation unmöglich ein Problem mit dem Gesetz haben konnte. Ich war allerdings zu lange Polizist gewesen, um nicht zu wissen, dass Ruf und Stellung eines Mannes rein gar nichts mit seinem wirklichen Charakter zu tun haben müssen.

Ich wartete, bis wir wieder allein waren und zu essen begonnen hatten, dann sagte ich: »Sir Arthur, Sie können ganz offen zu mir sein. Und das sollten Sie auch, wenn Sie möchten, dass ich Ihnen helfe. Das kann ich nämlich nur, wenn ich auch weiß, worum es geht.«

Arthur begann an einem Stück Fleisch herumzusäbeln, und sein Lächeln wurde nun eindeutig verlegen. »Ja, Doktor Watson hat mir bereits gesagt, dass Sie ein Mann sind, der das offene Wort liebt. Und er war auch voll des Lobes über Ihre Fähigkeiten. Wie ich sehe, hat er nicht übertrieben. Ich denke, Sie sind genau der Mann, den ich brauche.«

»Und wofür?«

»Das ist … ein wenig schwierig zu erklären«, begann Arthur. »Oder auch ganz einfach, je nachdem.«

Ich hatte solche Gespräche schon zu oft geführt, um jetzt etwas zu sagen, und fasste mich innerlich in Geduld. Ganz gleich, wer im Laufe der Jahre schon vor mir gesessen hatte, die meisten drucksten erst einmal eine Weile herum, und je eifriger sie versicherten, dass alles im Grunde ganz harmlos und allenfalls ein großes Missverständnis war, desto größer war im Allgemeinen dann der Knall, der am Ende folgte.

»Ich muss ein wenig weiter ausholen«, sagte Arthur. »Sie wissen, wer ich bin und womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene.«

»Das, worüber ich nicht reden soll«, vermutete ich. »Wenigstens nicht allzu laut.«

»Es wird sich nicht ganz vermeiden lassen«, warf Watson ein. »Erzählen Sie ihm von dem Brief, Arthur.«

Ich sah kurz zu Watson hin, und während ich es tat, hatte ich das irritierende Gefühl, dass etwas nicht stimmte; als wäre mein Blick über eine Kante der Wirklichkeit gestolpert, die noch nicht zu sehen war, aber auch schon zu groß war, um sie ohne Erschütterung zu passieren. Was für ein seltsamer Gedanke! Er hätte fast von Allison stammen können.

»Sie haben also einen Brief erhalten?«

»Ja«, antwortete Arthur, schüttelte den Kopf und rettete sich in ein nervöses Lächeln, das so gar nicht zu diesem selbstbewussten und eloquenten Mann passen wollte. »Oder eigentlich auch nicht. Ganz wie man es nimmt.«

»Aha!«

»Der Brief war nicht an Arthur adressiert, sondern an den Bewohner eines bestimmten Hauses in der Baker Street in London, Mister Devlin«, sprang ihm Watson bei. »Die betreffende Hausnummer gibt es gar nicht, davon hat sich Arthur überzeugt, bevor er sie benutzt hat, aber das ändert nichts daran, dass dort täglich mehrere Briefe eingehen. Dutzende manchmal.«

»Oder auch noch mehr«, bestätigte Arthur.

»Sie bekommen Briefe an Sher…«, begann ich ungläubig und vermutlich auch ein wenig zu laut, denn Arthur brachte mich mit einer hastigen Geste und einem warnenden Blick zum Verstummen.

»In der Tat habe ich eine Vereinbarung mit der zuständigen Poststelle, die die entsprechenden Briefe an mich weiterleitet.«

»Verstößt das gegen das Briefgeheimnis?«

»Im Prinzip schon«, bestätigte Arthur unbeeindruckt. »Allerdings nicht, wenn es sich um eine Person handelt, die nicht existiert.«

Da war es wieder, dieses wirklich irritierende Gefühl, über etwas gestolpert zu sein, das gar nicht da war. Diesmal ignorierte ich den sachten Spott, mit dem mein Verstand darauf reagieren wollte, und sah direkt in die entsprechende Richtung. Da war jedoch nicht mehr als das versteinerte Antlitz eines Butlers, von dem ich nicht einmal genau sagen konnte, ob es derselbe war, der uns an den Tisch neben dem Kamin geführt hatte. Irgendwie schienen diese Burschen alle gleich auszusehen.

»Sie lesen also all diese Briefe«, vergewisserte ich mich.

»Natürlich nicht alle«, gestand Arthur. »Das meiste ist eher amüsant, aber es kann auch sehr traurig sein. Menschen, die nach einem verschwundenen Verwandten oder einem geliebten Menschen suchen oder die sich ungerecht behandelt fühlen oder ihre Nachbarn anschwärzen wollen …« Er hob die Schultern, um klarzumachen, dass er beliebig lange so fortfahren könnte. »Wie gesagt, ist das meiste entweder traurig oder amüsant oder auch beides, aber dann und wann …«

»… ist ein Brief darunter, der eine gute Geschichte ergibt?«, fragte ich unumwunden.

Watson sah nicht begeistert aus, aber Arthur wirkte eher amüsiert. »Dann und wann«, bestätigte er. »Aber eher selten. Doktor Watson hat mir berichtet, dass Sie Polizist waren, bevor sie privater Ermittler wurden. Dann muss ich Ihnen nicht erklären, dass die allermeisten Kriminalfälle höchst unspektakulär sind, um nicht zu sagen banal. Aber dann und wann ist doch etwas dabei, das mein Interesse weckt.«

»So wie dieser spezielle Brief«, vermutete ich.

»Der Hilferuf eines jungen Mitglieds der Royal Navy«, bestätigte Arthur. Er hatte sich perfekt in der Gewalt, aber ich spürte dennoch, wie schwer es ihm fiel weiterzusprechen. »Zu dem Zeitpunkt, an dem er besagten Brief verfasste, wartete er gerade auf seine Verhandlung vor dem Kriegsgericht.«

»Warum?«, fragte ich.

»Man wirft ihm vor, seinen Vorgesetzten ermordet zu haben«, antwortete Arthur prompt, »einen Mann, der ihn offensichtlich monatelang gedemütigt und gequält hat. Er selbst beteuert seine Unschuld.«

Natürlich tat er das. »Und Sie glauben ihm?«

»Ich war nicht dabei«, erwiderte Arthur. »Das war niemand. Es gibt keine Zeugen, also kann ich nicht beurteilen, ob er die Wahrheit sagt oder nicht.«

»Warum glauben Sie ihm dann?«

Arthur sah mich auf sonderbare Weise an. »Ich habe nicht gesagt, dass ich das tue«, erwiderte er. »Es waren eher die besonderen Umstände dieses angeblichen Mordes, die mein Interesse geweckt haben.«

»Und was sind das für Umstände?«

»Besondere Umstände eben«, beharrte Arthur. »Seltsame Umstände, um es vorsichtig auszudrücken, und Umstände, über die ich zurzeit noch nicht reden möchte. Nicht bevor ich nicht gewisse weitere … Erkundigungen eingeholt habe.«

»Ich verstehe«, sagte ich und bemühte mich auch um den dazugehörigen Gesichtsausdruck. In Wahrheit musste ich mich beherrschen, um mir nicht anmerken zu lassen, was ich wirklich von dieser Antwort hielt. Sehr vorsichtig fuhr ich fort: »Aber ich kann Ihnen schwerlich helfen, wenn ich nicht einmal genau weiß, wobei.«

»Oh doch, das können Sie, Mister Devlin«, versicherte Arthur. »Wie gesagt: Dieser junge Mann erzählt eine wirklich seltsame Geschichte. Man könnte sie auch haarsträubend nennen.«

»Und noch dazu wendet er sich damit an einen Detektiv, von dem eigentlich jeder weiß, dass es ihn gar nicht gibt«, fügte ich mit einem bedächtigen Nicken hinzu. Da war etwas in meinem Augenwinkel, das ich nicht fassen konnte, das mich aber ungemein störte. »Das spricht nicht unbedingt für ihn.«

»Oder es zeigt, wie verzweifelt er ist«, sagte Arthur.

Beinahe hätte ich gelacht. »Und Sie wollen wirklich nicht verraten, was in diesem ominösen Brief stand? Nicht einmal eine Andeutung?«

»Nein«, sagte Arthur. »Sie waren Polizist, Mister Devlin. Ich bin ein …« Er legte eine Pause ein. »Sagen wir: ein Mann des Wortes. Ich bin nicht ganz sicher, wer von uns beiden einer fantasievollen Geschichte leichter erliegen würde und wer eine Lüge besser durchschaut.«

Ich dachte über seine Bemerkung nach. »Sie meinen, Sie möchten, dass ich ihn verhöre und Ihnen hinterher sage, welchen Eindruck ich habe.«

»In der Tat«, sagte Arthur. »Doktor Watson hat nicht übertrieben, als er mir von Ihnen erzählte. Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Wir sind uns also einig?«

»So einfach ist das nicht«, antwortete ich. Ich musste mich immer angestrengter konzentrieren. Hier war etwas falsch. Aber es hatte nichts mit Watson oder Arthur zu tun. »Sehen Sie, selbst wenn ich es wollte – und ich habe noch nicht Ja gesagt –, komme ich wahrscheinlich gar nicht an ihn heran. Der Mann ist Soldat bei der Royal Navy und wartet auf seine Verhandlung vor dem Kriegsgericht, das haben Sie selbst gesagt. Man wird uns kaum zu ihm vorlassen. Die Navy hat ihre eigene Gerichtsbarkeit.«

»Ich bin ein paar Jahre zur See gefahren, Mister Devlin«, antwortete Arthur in gönnerhaftem Ton. »Ich kenne mich ein wenig in diesem Metier aus.«

»Dann wissen Sie ja auch, dass man in einem solchen Fall nicht einmal die Polizei zu ihm vorlassen würde, ganz zu schweigen von einem privaten Ermittler«, antwortete ich eine Spur kühler.

»Lassen Sie das getrost meine Sorge sein«, erwiderte Arthur noch ein bisschen gönnerhafter. Ich war mir mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob ich ihn mochte. »Wären Sie bereit, diesen Auftrag anzunehmen, wenn ich dieses Hindernis aus dem Weg räume?«

Statt sofort zu antworten, sah ich ihn eine ganze Weile nachdenklich an. Nicht nur, weil mich diese ganz sachte Spur von Überheblichkeit in seinen Worten allmählich ernsthaft zu ärgern begann, sondern weil ich mit jedem einzelnen Wort (und vor allem denen, die er nicht aussprach) sicherer war, dass er mir etwas verschwieg. Etwas Wichtiges.

Zu meinem Verdruss trat ein Butler an unseren Tisch, um Watsons Glas nachzufüllen, sodass ich nicht sofort antworten konnte. Während er sich umwandte, um sich ebenso diskret zurückzuziehen, wie er indiskret gestört hatte, fiel mir etwas Seltsames auf. Es war schon fast ein bisschen unheimlich. Er drehte den Kopf, und es war – so bizarr dieser Gedanke auch war –, als drehte sich sein Gesicht nicht ganz in derselben Geschwindigkeit mit. Seine Züge schienen sich zu verformen, flatterten den Bruchteil eines Augenblickes hinter der eigentlichen Bewegung her und schwappten wie zähes Pech in ihre ursprüngliche Form zurück. Und für eine noch kürzere Zeitspanne meinte ich, etwas vollkommen anderes darunter zu erkennen, etwas wie ein (verrückt, aber es war so) zweites unterschiedliches Gesicht, das sich unter dem sichtbaren verbarg. Nicht das Gesicht des Butlers. Vielleicht nicht einmal das Gesicht eines Mannes, sondern …

Ich brach den Gedanken mit einer gewaltigen Anstrengung ab und schloss die Augen. Als ich sie wieder aufmachte, war der Spuk vorbei und alles wieder, wie es sein sollte.

Alles, wie es sein sollte, verbesserte ich mich in Gedanken. Das Wort wieder war eindeutig fehl am Platze. Es gab kein wieder, weil sich nichts verändert hatte und nichts geschehen war. Es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas mehr oder weniger ausgeprägt erlebte, seit jenem schrecklichen Augenblick auf der Werft unten am Hafen. Ich hatte gehofft, dass es im Laufe der Zeit nachlassen würde, aber das Gegenteil war der Fall.

»Ist alles in Ordnung, Mister Devlin?«, fragte Watson.

»Ja«, versicherte ich hastig. »Ich war … in Gedanken. Verzeihen Sie.«

Watsons Blick machte sehr deutlich, was er von dieser Behauptung hielt, aber er beließ es dabei, und so wandte ich mich wieder an Arthur und nahm den unterbrochenen Faden auf.

»Wo befindet sich dieser Matrose gerade? Ich nehme an in London, bei der Admiralität?«

Arthur lächelte, als hätte ich etwas ungemein Komisches gesagt. »So läuft das im richtigen Leben nicht, Mister Devlin. Mister Tanner befindet sich gerade in einem Militärgefängnis in Edinburgh, wo er auf seinen Prozess wartet. Der übrigens in fünf Tagen beginnt.«

»Edinburgh?«, vergewisserte ich mich.

»Das liegt in Schottland«, sagte Watson.

Ich schenkte ihm einen ärgerlichen Blick. Das immerhin wusste ich. »Das heißt, wir müssen über den irischen Kanal nach Schottland setzen«, wandte ich mich an Arthur.

»Sie, Mister Devlin«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich selbst kann aus gewissen Gründen nicht persönlich in Erscheinung treten, aber ich würde selbstverständlich alles für Sie vorbereiten. Wir werden uns hinterher in Southampton treffen.«

»Southampton? Das liegt nicht in Schottland, sondern ganz im Süden am Ärmelkanal.«

»Ja«, lächelte Arthur. Watson sah mich böse von der Seite an.

»Darf ich fragen, was Sie dort wollen?«

»Die Titanic, Mister Devlin«, antwortete Watson an Arthurs Stelle. »Ich habe Ihnen davon erzählt, Sie erinnern sich?«

»Sicher, aber …« Dann verstand ich. »Sie gehen mit der Titanic auf Jungfernfahrt, Sir Arthur?«

Arthur und Watson tauschten einen Blick, der mir sehr viel mehr verriet, als den beiden klar sein mochte. Arthur lächelte. »Nichts, was ich lieber täte. Ich habe sogar eine Einladung zu den Feierlichkeiten anlässlich ihrer Abfahrt. Bei dieser Gelegenheit können wir uns das nächste Mal persönlich austauschen – vorausgesetzt Sie haben dann bereits mit Mister Tanner gesprochen. Mir ist sehr daran gelegen, dass Sie unvoreingenommen an diese Sache herangehen.«

Was ich nach allem, was er mir bisher erzählt hatte, wohl kaum noch konnte. »Ich dachte, Sie wären hier der Superdetektiv«, sagte ich, nicht ohne eine gehörige Portion Spott.

»Nein«, antwortete Arthur ungerührt. »Ich habe ihn mir nur ausgedacht. Also, wie entscheiden Sie sich, Mister Devlin? Nehmen Sie mein Angebot an?«