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1422 – Frankreich liegt nach dem 100-jährigen Krieg in Schutt und Asche – da bringt der Weltengeist (die Volksseele) aus dem Dunkel der Geschichte drei unerwartete Retter hervor: Den Schatzmeister Jacques Coeur, talentierter Bürgersohn aus Bourges, der den ganzen Hof, den König, und bald ganz Frankreich finanziert – aus welchen geheimnisvollen Quellen? Den schwachen König Charles VII, der nie König sein sollte oder wollte. Dank dem Geschick, dem Weitblick und dem strategischen Denken seines Schatzmeisters, dem Finanzgenie Jacques Coeur, kommen er und Frankreich zu Macht, Einfluss und Reichtum. Die Jungfrau, die mit Engeln spricht, die das ganze Volk, die Soldaten, den König selber ermutigt und begeistert – sie krönt den König, verhilft ihm zu seinem Recht, spornt die Soldaten zu Höchstleistungen an – und wird schliesslich von allen verraten und schmählich als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der überaus geschäftstüchtige Jacques Coeur hingegen findet immer neue Geldquellen, um den König und sich selbst reich zu machen – denn damals wie heute verändern Macht und Geld den Charakter der Meister des Universums bis zur unvermeidlichen Korrektur …
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Seitenzahl: 452
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Schatzmeister des Königs von Frankreich
Aufstieg und Fall eines Finanzgenies
Impressum
© 2024 Edition Königstuhl
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Bild Umschlag: Antiqua Print Gallery / Alamy Stock Foto
Gestaltung und Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern
Lektorat: Manu Gehriger
Druck und Einband: CPI books GmbH, Ulm
Verwendete Schriften: Adobe Garamond Pro
ISBN 978-3-9526231-4-5 (epub)
ISBN 978-3-907339-80-0 (Print)
www.editionkoenigstuhl.com
Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Inhalt
Jacques Cœurs Kindheit
Ausbildung zum Goldschmied
Ausbildung zum Münzer
Macee
Der junge unsichere König – 1417
La Bastille, Paris – 28. Mai 1418
11. Juli 1419, Pouilly-le-fort
10. September 1419, Monterau
Bourges – 1421
Bourges, November 1428 – Jeanne d’Arc
Chinon, 5.3.1429
Jeanne d’Arc überzeugt König und Heer
Reims, 17. Juli 1429
Jacques Cœur expandiert in die Levante
Jacques Cœur – Aufbau seines Imperiums
Zufahrtsstrassen
Charles Einzug in Paris
Juni 1433, Schloss Coudray
13.4.1436: Paris gehört wieder zu Frankreich
Louis XI. 1436–40
25.6.1436
Adelsstand
Neue Reliquie bringt Einnahmen
Tours, Friedenskongress, Agnes Sorel – 1444
Staats-Steuerreform 1444
Privilegien, Freibriefe, 1444–5
Ägyptischer Sultan – Rhodos – 1444
Rhodos, weitere Handelserleichterungen
Belegung Schisma 1446–48
Rom – 28.7.1447
Globale Bewilligung zum Handel mit den Ungläubigen – 1448
Verlobung der Tochter Jeanne mit Jean II. de Bourbon
Der König und sein Financier – Tours, 1449
Einzug in Rouen – 10.11.1449
Jumièges, Februar 1450
Palais Jacques Cœur, Bourges, Frühling, 1450
Jean Cœur wird Erzbischof – Feier 1450
Magische Verwünschungen
Chateau Taillebourg, 1451
Sturz – 31.7.51
Anklagen
Maillé, 26.6.1452
März 1453
Urteil
Versteigerung
Flucht
Im Dienste des Papstes
Kreuzzug
Der König
Charles 1457
Teilweise Wiedergutmachung
Rehabilitation Jeanne d’Arc
Epilog
Über die Autorin
Es war einmal ein junger armer König, der hatte nichts zu essen, wurde verhöhnt, verleumdet, entehrt, war ohne Macht und Land.
Da kam eine wundersame Jungfrau, die vor ihm kniete und ihm und seinen Soldaten neuen Mut und Kraft einflösste. Mit ihrem Glauben und ihrer Begeisterungsfähigkeit gab sie ihm seinen Mut und seine Ehre zurück und schliesslich die Krone.
Ein junger tüchtiger Mann, Bürgersohn, wurde Schatzmeister der Stadt, später des ganzen Königreichs. Mit einem unheimlichen Talent für Geld, Gold, Geschäfte und Finanzen, war er so begabt im Erschaffen von Geld aus dem Nichts, dass man ihn bis zum heutigen Tag als der Alchemie kundig verdächtigt oder verehrt. Jedes Mal, wenn der König Geld brauchte, war der junge Mann zur Stelle und half aus. So stiegen beide und das Land zu höchsten Ehren und Reichtum auf. Viele Neider nagten an seiner Position …
So war der König am Schluss reich, besass viele Schlösser und Reichtümer. Seinen Helfern gegenüber war er jedoch sehr undankbar. Am Schluss des Lebens quälten ihn Albträume und Einsamkeit …
Die Strassen von Bourges sind eng. Die Gassen säumen sich der Hauptstrasse entlang und führen sternförmig bis zum Burghügel, dort, wo die Kathedrale St. Étienne und daneben der Palast des Duc de Berry stehen. Heute war viel los in den Strassen und Gassen – in Bourges gab es Markt. Viele Händler von weit her drängten sich in den engen Strassen und um den Hauptplatz bei der Kathedrale, denn Bourges war einer der wenigen Orte in Frankreich, wo es noch Markt gab. Die vielen Kriege hatten die meisten anderen Städte verwüstet, die gesellschaftliche Ordnung war zusammengebrochen. Händler mussten damit rechnen, überfallen und ausgeraubt zu werden, entweder von marodierenden Banden unter der Anführung eines niedrigen Adeligen oder eines Bastards – eines unehelichen Sohnes der vielen sich bekriegenden Herzöge, Grafen oder Könige. Und wenn es keine raubenden Banden waren, dann musste man sich in Acht nehmen vor verwilderten Viehherden. Viele Bauern hatten ihr Land verlassen und fliehen müssen, die Tiere waren entkommen und sich selber überlassen. Oft näherten sich Wölfe, ganze Rudel, den Städten und Dörfern; sie wurden immer frecher und scharrten in den Friedhöfen nach frisch begrabenen Leichen.
Obwohl Bourges ja nur eine Provinzstadt war, im Rang weit abgeschlagen hinter Paris oder Reims, war hier die Welt noch einigermassen in Ordnung. Die Stadtmauern waren gesichert, die Stadttore auch, es gab einen Wachdienst; die Bürger, die schon lange freie Bürger waren, regierten ihre Stadt selber und sorgten selber für Recht und Ordnung.
Heute war also Markt. In den engen Gassen bauten die Händler ihre Stände auf. Besonders Herzog Jean de Berry, der soeben den Palais neben der Kathedrale erbaut hatte, war interessiert an den Waren, die heute am Markt nach Ostern zum Verkauf angeboten wurden. Der Herzog lebte gerne gut und schön; an seinem Hof wurden manche Feste gefeiert, es wurde gut gekocht, gegessen und getrunken, es waren viele Künstler tätig, vor allem Maler und Kalligraphen, welche die berühmten Handschriften und Stundenbücher schrieben, zeichneten, malten und illustrierten. Im Gegensatz zu den umliegenden Gegenden war Bourges eine Oase der Ruhe, der Kultur, des Handels und des Friedens.
Der kleine Jacques Cœur bahnte sich seinen Weg zum Burghügel. Zum Frühstück hatte es Brei und Milch gegeben – immer denselben Brei und dieselbe fade Milch, keine Abwechslung. Es war ihm langweilig, zu Hause mit seiner Mama zu sitzen und zuzuschauen, wie sie die Futter für die Pelze, welche der Vater zu Mänteln, Capes, Mützen oder Ähnlichem zuschnitt, zusammennähte. Auch der Vater war schon an der Arbeit im unteren Stock des Hauses, wo sich das Atelier und der Lagerraum befanden. Dort roch es zum Teil sehr stark und streng nach frisch gegerbten und gefärbten Fellen – oder muffig nach Pelzen, die schon länger in der Werkstatt lagerten. So war es besser, sie ausserhalb der Wohnräume aufzubewahren. Nun sprang Jacques am Vater vorbei, der dabei war, den Ofen, welcher das ganze Haus wärmte, einzuheizen. «Wohin gehst du, Jacques?», fragte er. «Nur ein wenig nach draussen», antwortete Jacques, «mal schauen, ob Guillaume und Jean schon draussen sind …»
«Ja, dann pass mal gut auf», erwiderte sein Vater, «es ist Markt heute, da läuft eine Menge!»
Eben gerade darauf war Jacques ganz besonders neugierig. Er musste aufpassen, nicht über aufgespannte Zeltseile zu stolpern oder die aufgetürmten Berge von Waren umzuwerfen.
«Pass doch mal auf, du Kleiner!», schrie eine Marktfrau ihn an, «wie alt bist du eigentlich?»
«Acht Jahre alt», behauptete Jacques; eigentlich war er erst etwas über siebenjährig.
«Siehst du, beinahe hättest du die Pakete mit unseren Waren umgeworfen», ermahnte ihn die Marktfahrerin. «Nun mach dich aus dem Staub, ich habe noch zu tun, muss die Waren auspacken und ausstellen!»
Jacques kletterte über die Berge von Paketen und die Zeltseile und machte sich auf den Weg zwischen den Ständen. Was gab es hier nicht alles zu sehen: Stoffe aus dem Norden von Frankreich, Tuch von Flandern, Stände mit Kräutern zum Färben von Stoffen und Leder, orientalische Gewürze. An anderen Ständen türmten sich Körbe, aus denen es gackerte und zwitscherte, weiter hinten waren Schafe oder Ziegen angebunden, die ebenfalls zum Verkauf standen. Dazwischen roch es fein von den Speckseiten, die da hingen; auf dem Dach der Zelte lagen die Säcke mit Getreide. Hier hoch oben waren sie sicher vor Mäusen und anderem Getier. Zuvorderst auf der Auslage gab es etwas, das Jacques besonders lockte: ein mit Nüssen gefülltes dunkelbraunes Ding.
«Willst du mal probieren?», fragte ihn der Händler und gab ihm ein winzig kleines weiches dunkelbraunes Stück zum Kosten. Jacques legte es auf seine Zunge. Noch nie hatte er so etwas Süsses und Weiches geschmeckt, das im ganzen Gaumen einen unvergleichlich runden Geschmack hinterliess. «Wie heisst denn das?», fragte Jacques. «Das ist eine Dattel, aus dem Orient – die wachsen auf Palmen, und besonders gut sind sie zusammen mit unseren Nüssen», erwiderte der Händler und hielt ihm eine Dattel hin.
«Was kostet es?», fragte Jacques zurück.
«Nur sieben Deniers», offerierte der Händler.
Sieben Deniers – dies war im Moment ausgeschlossen für Jacques. Enttäuscht ging er vom Stand weg. Da hatte er nur einen Gedanken: Wie konnte er sich ein kleines Taschengeld verdienen, um sich einmal eine solche Dattel leisten zu können?
Sein Spielkamerad Jean hatte schon einmal eine solche geniessen können. Sein Vater war Gewürzhändler und so durfte die Familie gelegentlich eine Leckerei aus fernen Landen geniessen, von Früchten, die nicht mehr schön genug zum Verkauf waren. Jacques durfte manchmal bei Jean zu Hause insgeheim im hinteren Kontor schnell einen Sack mit Gewürzen öffnen und sich an den wunderbaren Gerüchen berauschen. Natürlich war es verboten, die Gewürzsäcke zu öffnen, denn Jeans Vater legte Wert darauf, dass seine Gewürze, die üblicherweise in kleinen Portionen verkauft wurden, immer frisch waren und stark dufteten.
Diese Gerüche …! – Jacques schloss die Augen – vor ihm wurde es hell, er stellte sich die Länder vor, aus denen diese Gewürze stammten, denn von diesen hatte er schon gehört! Denn in der ersten Unterweisung in biblischer Geschichte und Gebet erzählten die Patres viel von Jesus in der Wüste, von den Wüstenvölkern des Alten Testamentes, den ersten Mönchen des frühen Christentums, die in der Wüste lebten … Einer der Patres war sogar selber einmal nach Jerusalem gepilgert und konnte den neugierigen Kindern viel vom Heiligen Land und den Wüsten erzählen. Er erzählte von den Kreuzrittern, die im Auftrag von Gott und dem Papst immer wieder ins Heilige Land, nach Jerusalem gezogen waren, um die Heiligen Stätten für die Christen freizuhalten und von den Ungläubigen zu befreien. Jacques selber hatte zwar schon manchen der Ritter bestaunt, die hoch zu Ross und zum Teil in ihren aufsehenerregenden schimmernden Rüstungen durch die Stadt gezogen waren, aber noch nie sah er einen Kreuzritter. Zusammen mit den Kameraden spielten sie oft genug «Belagerung der Burg», «Verteidigung gegen die Bösen», und sie spielten Turniere – welcher Ritter ist der Stärkere, wer siegt? Schliesslich lebte die halbe Stadt Bourges davon, dass der Hof von Jean de Berry immer wieder Feste und Turniere veranstaltete und dazu kostbare Kleider, Waffen und anderes Zubehör brauchte, das die Bürger der Stadt noch so gerne herstellten und an den Hof lieferten.
Also, wie konnte er, Jacques, sieben Jahre alt, sich einen kleinen Zustupf verdienen, um sich die ersehnte orientalische Spezialität leisten zu können?
In seiner Schule, die von Mönchen des St. Stephan-Klosters geführt wurde, hatten nicht alle Mitschüler alles. Nicht alle hatten immer die Kreide dabei, um sich auf den Tafeln oder Brettern das zu notieren, was gerade erklärt worden war, seien dies nun Worte auf Lateinisch, um die Bibel oder die Messe in der Kirche besser zu verstehen, oder simple Rechenoperationen. Bei ihm zu Hause lagen jedoch immer überzählige Kreidestücke herum. Sein Vater kaufte den Jägern und den Gerbern die Pelze ab und verarbeitete sie zu Schals, Capes oder Wämsern. Bevor man die Pelzstücke zurechtschnitt, zeichnete man mit der Kreide ein, wo geschnitten werden sollte. Nach der Schule würde er einige behändigen und dann seinen Mitschülern ausleihen – vielleicht für einen Denier pro Tag? Also fragte er seinen Vater nach dem Abendessen:
«Kann ich einige dieser ganz kleinen Stücke haben? Bitte Vater.»
«Wozu denn, Jacques?»
«Wir können die in der Schule brauchen, um uns Notizen auf unseren Tafeln zu machen.»
«Wieso willst du denn mehrere Stücke?»
«Ach weisst du, meine Kollegen haben nicht immer Kreide dabei, da sind sie froh, dass ich ihnen etwas ausleihen oder geben kann», Jacques erwähnte nicht, dass er sie für ein kleines Entgelt vermieten wollte.
Also erhielt er vom Vater einige Stücke abgebrochener Kreide. Bevor Jacques zu Bett ging, spitzte er sie und wickelte sie sorgfältig ein, um den Mitschülern zu zeigen, dass sie für ihre bescheidene Miete einen echten Gegenwert erhalten.
Am nächsten Tag ging er mit einigen Kreidestücken zur Schule. Alle Kinder nahmen vor der Schule an der Frühmesse teil: Da wurde gesungen, Weihrauch geschwungen und die Messe auf Lateinisch gefeiert. Jacques verstand schon einige Worte daraus. Die eintönigen Gesänge der Mönche, zusammen mit dem starken Weihrauch, der vom Priester in die ganze Kirche verteilt wurde, versetzte sie alle in eine andächtige Stimmung, sodass Jacques alles Alltägliche vergass. Ja, auch er wollte Gott in seinem vor ihm liegenden Leben dienen! Da war er sich sicher. Mit geschlossenen Augen summte er den Choral mit.
Nach dem Ende der Messe purzelten alle Kinder in das kleine Schulzimmer im Kloster, das glücklicherweise noch warm vom Vortag war.
«Hört also gut zu und notiert euch, was ihr noch nicht wisst», begann der Professoren-Mönch die Lektion. «Haben alle etwas zum Notieren? Wir beginnen die Schreibübung mit einem Satz aus dem heiligen Evangelium: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.» Nun schreibt das dreimal. Und was ist damit gemeint, Pierre?», wandte sich der Lehrer an Pierre.
«Es ist gemeint, dass wir jeden Tag das Wort Gottes zu uns nehmen sollen und nicht nur Brot», stotterte Pierre. «Sehr gut», lobte der Pater.
Die Kinder grübelten alle in Taschen und Beuteln, um ihre Schreibtafel und Kreide hervorzukramen. Wie immer suchten einige länger als die andern und als sie nichts fanden, schauten sie verlegen suchend herum.
«Hier, möchtest du eine kleine Kreide?», fragte Jacques und offerierte seinem Banknachbarn seine gespitzten, gut eingewickelten Kreidestücke.
«Ja, gerne», sagte Pierre.
«Ich kann dir das geben für einen Denier, den hast du doch sicher dabei?», sagte Jacques.
«Ich kann dir das nachher geben», antwortete Pierre und nahm erleichtert das Schreibwerkzeug. Jacques schaute sich um und entdeckte, dass noch zwei, drei andere Kinder nicht zum Schreiben bereit waren und Hilfe suchend umherschauten. Beflissen reichte er ihnen je ein Stück Kreide, der Unterricht konnte also beginnen. So hatte Jacques bald genug Deniers beisammen, um sich die ersehnte kleine Leckerei leisten zu können.
Am Nachmittag sprang er durch die Gassen nach Hause, an Weiden mit Pferden und Mauleseln vorbei, die ungeduldig und gelangweilt Gras frassen und Löcher in den Boden scharrten. Zu Hause angekommen, sah er seinen Vater zwischen Bergen von Pelzen über die Bücher gebeugt. Pierre Cœur musste aufschreiben, wie viele Pelze er hatte, denn bald kam der königliche Beamte vorbei, um die kleine Steuer auf dem Pelzlager einzuziehen.
Nach dem Mittagessen – schon wieder Brei, diesmal mit Kohl und etwas vom kostbaren Salz zubereitet – nach der Mittagsruhe half Jacques seinem Vater. «Siehst du, mein geehrter Vater, wenn wir die Pelze in Haufen von jeweils fünf aufschichten, ist es nachher viel einfacher, alle zusammenzuzählen», schlug Jacques vor. «So können wir ganz schnell erfassen, wie viele Pelze wir an Lager haben und auch, wie viel wir dem Beamten schulden.» Gerne liess sich Vater Cœur helfen – seine Stärke war es, die Qualität der Pelze zu beurteilen, die Kleidungsstücke zu nähen, mit den Kunden zu verhandeln, Verkaufsgespräche zu führen und den Kunden bei der Anprobe zu schmeicheln … Die Schreib- und Rechenarbeit, die mit der Führung des Kürschner-Geschäfts verbunden war, ermüdete ihn sehr schnell, meistens hatte er nachher Kopfschmerzen.
Der Steuereintreiber hatte sich für den Nachmittag angekündigt. Jacques half seinem Vater zählen und hielt das Auftragsbuch bereit; Pierre versuchte zu berechnen, wie viele Rechnungen aus Lieferungen an den Hof noch ausstehend waren. Er kam auf eine stattliche Summe, bei der Kontrolle kam er sogar auf einen noch höheren Betrag. Jacques hatte die Idee, Orville, dem königlichen Steuereintreiber vorzuschlagen, dass die Kredite aus dem Steuergeld, das der Beamte sicher bei sich hatte, der Familie Cœur zurückbezahlt würden. Es wurde Nachmittag, es wurde dunkel, die Zeit zog sich hin, Pierre Cœur hatte jedoch genug zu tun. Erst um die Abendessenszeit klopfte es an der Türe.
«Guten Abend, die Herren Cœur, sicher sind wir schnell fertig, auch ich bin froh, meinen Feierabend zu haben – wie viel darf ich einkassieren?»
«Hier, schauen Sie die Bücher an.» Vater Cœur legte sein Auftragsbuch vor.
Orville hatte selbstverständlich nur Augen dafür, was das Pelzgeschäft dem Palast schuldete.
«Wir hatten die Idee …», begann Jacques. Orville bedachte den Kleinen mit einem ungläubigen Blick. Was konnte so ein Kind bei solch ernsthaften Angelegenheiten schon für Ideen haben?
Nun wandte sich Pierre Cœur an Orville: «Sehen Sie, was der Hof mir schuldet …»
Damit zeigte er auf die Berechnungen in seinem Auftragsbuch. «Wenn Sie mir das Geld gleich geben, abzüglich der Steuer, die ich Ihnen schulde, da wären wir doch quitt, nicht wahr, und wir hätten die Sache schnell erledigt. Sie und ich könnten den verdienten Feierabend haben.»
Orville staunte. So eine freche Anmassung hatte er noch selten erlebt.
Pierre und Jacques Cœur sahen, dass sie mit diesem Vorschlag auf wenig Gegenliebe stiessen.
Orville bemühte sich, höflich zu sein. «Es tut mir leid, Monsieur Cœur, das geht wirklich nicht, ich wüsste nicht, wie ich das verbuchen könnte … und überhaupt, hier sind viele verschiedene Schuldner am Hofe aufgezählt, wenn ich also die Schulden für all die Leute bezahlen würde, sollte ich denn all denen einzeln hinterherrennen für die Bezahlung? Nein, das geht wirklich nicht, was fällt Ihnen denn ein, … und überhaupt, seien Sie froh, dass Sie so viele Aufträge haben! Nun, kommt schon, hier steht ja der Betrag, haben Sie ihn denn nicht bereit?»
Pierre Cœur kramte in seinen Taschen und Gestellen. Nein, er hatte den Betrag nicht bereit, hatte er doch fest damit gerechnet, dass er diesmal kein Geld bezahlen, sondern erhalten würde.
Kleinlaut bat er Orville um etwas Geduld, bis er einen Teil des Geldes beisammen habe. Diesmal musste Pierre einen Schuldschein ausfüllen für den Rest. Der kleine Jacques war vor Verlegenheit und Empörung ganz rot angelaufen. Nachdem Orville gegangen war, platzte es aus ihm heraus: «Vater, sind diese Leute immer so?»
Dieser wiegte nur resigniert den Kopf.
Jacques und seine Eltern waren in die Schule bestellt zum Gespräch mit den Lehrer-Patres. Es ging darum, ob Jacques weitere Erziehung hier am College St. Étienne stattfinden würde oder bereits ausserhalb Bourges.
«Nun, Jacques, wir würden es begrüssen, wenn du in unserer Schule weitermachst», sprach der Pater, sein Lehrer, zum mittlerweile 10-jährigen Jacques. «Nach unserer Elementarschule kannst du die Sekundarstufe besuchen, die dich unter anderem für das Amt eines Geistlichen vorbereiten wird. Wenn du die erste Weihe nimmst, dich bis dahin ausbilden lässt, erhältst du die Tonsur. Diese Vorbildung öffnet dir den Weg für eine geistliche Karriere, ist aber auch nützlich für alle möglichen anderen Tätigkeiten. Wir haben bemerkt, dass du gute Fähigkeiten in der Organisation und in der Kalkulation mitbringst! Gerade bei den Geistlichen gibt es viel zu organisieren und zu rechnen, in den Stiften, den Klöstern, bezüglich der Abgaben vom Chorstift oder Bischofssitz an die Mutterkirche in Rom …»
Jacques war es noch nicht sehr klar, was er werden wollte. Am liebsten sparte er auf ein Ziel hin: Das nächste Ziel war eine schöne Satteltasche, er hatte eine bei einem Markthändler gesehen. Mittlerweile lieh er nicht nur Kreidestücke gegen Gebühr aus, sondern tauschte noch allerlei Dinge mit seinen Schulkameraden, aber auch mit älteren jungen Leuten.
Eine Nachbarin fragte ihn, ob er ihr eine Spindel besorgen könnte. «Ja natürlich», antwortete er, und hatte schnell herausgefunden, wo er eine solche bekommen könne. «Jedoch – ich brauche die Spindel gleich jetzt, um den Flachsstoff weben zu können. Aber ich habe jetzt kein Geld dafür zur Hand, was können wir da tun?»
«Kein Problem», meinte der junge Jacques, «Sie können die Spindel jetzt haben und mir später dafür einen kleinen Aufpreis bezahlen – einverstanden?» Dankbar nahm die Nachbarin das Angebot an und Jacques notierte auf einem Brett, das er nur für diesen Zweck brauchte, was er wem besorgt hatte, wie viel es kostete, und wann er das Geld erhalten werde.
Bald einmal war Jacques der Beste seiner Klasse. Es machte ihm Spass, die heiligen Texte auf Lateinisch und Französisch zu sprechen und zu kopieren.
Auch die Rechenoperationen machten ihm Freude. Er gab sich Mühe, nicht immer als erster alles besser zu wissen als seine Klassenkameraden. Meistens schwieg er, wenn der Lehrer die Schüler ausfragte und prüfte. Häufig schweifte er in diesen Stunden ab, schaute zum Fenster hinaus, langweilte sich und träumte – er beobachtete den Wechsel der Natur an den Bäumen vor dem Fenster, die herumfliegenden Vögel, die Wolken, die sich mal dunkel auftürmten, dann wieder als kleine weisse Fetzen am hellblauen Himmel vorbeizogen. So erschrak er häufig, wenn er vom Lehrer durch eine Frage wieder in die Realität zurückgeholt wurde:
«Jacques, muss ich meine Frage schon wieder wiederholen? Also, wer war der Begründer des Ordens der Chevaliers du Temple, des Templer-Ordens?»
«Ja, mein Professeur», antwortete Jacques klar und deutlich, «das war doch unser Bernhard von Clairvaux.»
«Und wozu wurde der Orden gegründet?»
«Natürlich um unseren Herrn Jesus Christus und das Heilige Land zu verteidigen», antwortete Jacques ohne Umschweife.
«Gut», antwortete der Pater, «in Zukunft passt du besser auf, hast du dir das gemerkt?»
«Ja, gewiss mein Professeur», antwortete Jacques mit einem Lächeln, im Wissen darum, dass er alle Fragen schon längst beantworten konnte.
Jacques trottete die Strasse hinunter. Die Worte seines Lehrers klangen in ihm noch nach: «Wir schlagen dich zur Ausbildung zum Geistlichen vor – das wird dir viele Türen öffnen.» In seiner Lateinschule hatte er sehr viel gelernt: die Bibel, wichtige Passagen daraus, die Gleichnisse mit denen Jesus in den Evangelien zu seinen Jüngern sprach. Sollten nicht die Geringsten die Höchsten werden? Die Letzten die Ersten sein? Die Armen selig? Wer kommt denn in das Himmelreich?
Wenn er sich so umschaute, merkte er eigentlich wenig davon, dass das Leben gemäss den Lehren der Bibel umgesetzt wird, weder bei seinen Lehrern noch bei seinen Verwandten, z.B. seinem Bruder Nicholas, der vor ihm die Lateinschule absolviert und jetzt in Ausbildung zum Priester und mehr war. Nein, Geistlicher zu werden war ihm wirklich zu langweilig und eintönig.
«Kannst du noch die Pelze an den Hof bringen», fragte ihn sein Vater, «sie brauchen wieder viele, aber wie üblich wird es ja hapern mit der Bezahlung», schob er leise nach.
«Mach dir keine Sorgen», antwortete Jacques, «ich werde wieder eine Quittung mitnehmen und unterschreiben lassen.»
«Unterschriebene Quittungen habe ich schon genug», betonte sein Vater ungehalten, «wir brauchen das Geld! Auch wir müssen unsere Einkäufe und Lieferungen bezahlen!»
«Ich werde dafür besorgt sein, dass wir etwas Geld für unsere Pelze erhalten», beruhigte ihn Sohn Jacques und machte sich auf den Weg in den königlichen Palast, mit zwei grossen Paketen mit Pelzen unter dem Arm.
Dazu musste er kurz aus einem Tor der Stadtmauer hinausgehen. Er sah sich sorgfältig um. Hier galt es aufzupassen, ob sich da Wegelagerer, Plünderer herumtrieben, die fast alles ehemalige arbeitslose Soldaten waren. Bei der Schlacht von Azincourt war alles verloren gegangen, die Franzosen vernichtend geschlagen, das Heer zersplittert. So suchten viele vormalige Krieger etwas zu rauben, um zu essen, indem sie Menschen, die vorbeigingen, überfielen und plünderten. Oder hatte es vielleicht wilde Tiere in der Nähe, die gefährlich werden konnten?
Bald kam Jacques zum nächsten Stadttor, oben am Hügel. Dort trat er wieder in die Stadt ein und zielte auf den Palast zu.
Palast konnte man das Gebäude, in welchem Jean de Berry und wechselnde Mitglieder der königlichen Familie und sein Hofstaat wohnten, eigentlich nicht nennen. Eher ein einfaches burgähnliches Gebäude auf zwei Etagen. Um Heizholz zu sparen, hielt sich der ganze Hofstaat nur in zwei Räumen auf: in der Burgküche und der Kemenate darüber, welche durch die Abwärme des grossen Kochofens geheizt wurde.
Jacques bewegte den Türklopfer und klopfte zweimal – dies war das übliche Zeichen für Lieferanten des Hofes. Der Diener Pierre öffnete und fragte, was er habe.
«Die Pelze, welche von den Damen des Hofes bestellt wurden», antwortete Jacques.
«Die kannst du mir geben», sagte Pierre.
«Ja, lieber Pierre, das geht nicht so ohne weiteres», gab Jacques zu bedenken. «Zuerst muss ich die Bezahlung haben, das kostet ١٣٠ Livres, wenn ihr sofort bezahlt oder 150, wenn das Geld später kommt, und – es stehen ja noch frühere Rechnungen offen.»
«Einen Moment», sagte Pierre, schloss die Türe, um die Wärme im Palast drin zu behalten und stieg die Treppe hoch zum Salon.
«Mes Seigneurs», sprach Pierre die jungen Prinzen an, die sich, locker gekleidet noch im Schlafrock, die Zeit mit Würfel- und anderen Spielen vertrieben, «der Sohn des Kürschners, Jacques Cœur, ist hier mit Pelzen und möchte gerne bezahlt werden.»
Die Prinzen schauten kurz von ihrem Brettspiel auf und sagten lediglich: «Lass es aufschreiben.»
«Verzeihen Sie gnädigst», antwortete Pierre, «der junge Jacques sagt, es sei schon zu viel aufgeschrieben …»
Es klopfte wieder zweimal an der Türe. Jacques hatte eine Idee: «Haben Sie nicht Einnahmen in Aussicht? Die verehrten Monseigneure könnten doch die Steuereinnahmen vom nächsten Monat an uns abtreten», schlug er vor, «wir könnten das Geld selber direkt beim Steuereintreiber oder wo immer Sie es erhalten, selber abholen …»
Mit dieser Idee eilte Pierre wieder die Treppe hinauf zu den Prinzen. Diesen war es wichtig, die Pelze ohne weitere Umstände zu kriegen und sich nicht mehr weiter um lästige Dinge wie Bezahlung zu kümmern. «Dann machen wir das eben so», bestätigte der eine der Prinzen. «Seid Ihr sicher, dass Euer Onkel Jean einverstanden sein wird mit diesem Arrangement?», wollte Pierre wissen. «Das wird schon in Ordnung sein», meinte der Prinz. Nur Jacques war noch nicht zufrieden: «Dies müssen wir aber schriftlich bestätigen», und holte aus seiner Umhängetasche ein Dokument, auf das er schrieb:
«Wir, die Vertreter des Duc Jean de Berry, ermächtigen den Kürschner Cœur, den Betrag von Livres 150 beim Steuereintreiber Bovet jederzeit abzuholen.»
Nachdem beide unterschrieben hatten, übergab ihm Jacques die Pakete. Die Prinzen und ihre Hofleute waren hoch erfreut, packten die Pelze aus, die bereits zu Capes, Hüten und Schals verarbeitet waren, probierten sie an, bewunderten sie gegenseitig und konnten sich nun auf das kommende Fest freuen.
* * *
Jacques marschierte wieder zurück, mit dem unterschriebenen Dokument in seiner Tasche.
Wie immer blieb er beim Vorbeigehen beim Ladengeschäft des Goldschmiedes stehen und wechselte einige Worte mit dem Besitzer. «Woher haben Sie denn das Gold?», fragte er Boucous, den Besitzer.
«Das kommt entweder sehr teuer aus Genua oder günstiger, wenn ich es direkt hier kaufen kann.»
«Wie denn?», fragte Jacques.
«Nun, immer wieder kommen Soldaten vorbei, die mir Goldmünzen aus allen Ländern oder goldenen Schmuck anbieten, wie andere Durchreisende, Landstreicher, Räuber … die solches verkaufen. Woher sie es haben, weiss niemand so genau, ich will es lieber gar nicht wissen. So erhalte ich Gold billiger, um Aufträge auszuführen. Komm doch mal schauen, wenn es dich interessiert», offerierte er Jacques. Dieser kam noch so gerne in das Atelier, um zuzuschauen, wie das Gold geschmolzen und verarbeitet wurde. «Die günstigste Art, Gold einzukaufen, ist natürlich direkt aus dem Orient. Dort liege das Gold geradezu auf dem Boden herum, wird erzählt!» Jacques riss seine Augen weit auf. Unglaublich – das Gold liegt da einfach herum? «Und wie kommt man zum Gold vom Orient?», fragte er beinahe atemlos. In seinem Geiste jagten sich Vorstellungen von Goldschätzen, die auf der Strasse liegen und Schiffen voller Gold.
«Da muss man zuerst gute Beziehungen zu den Ungläubigen haben und man braucht die spezielle Erlaubnis, um mit den Ungläubigen zu handeln – das kriegt nicht jeder!», fügte Boucous hinzu. «Diese Bewilligungen zu bekommen – das ist nicht einfach, da muss man schon sehr geschickt sein.» Jacques Fantasie machte Purzelbäume – wie spannend musste es sein, im Orient zu reisen, mit den legendären Ungläubigen zu verhandeln, denen so viel nachgesagt wurde: Sie hätten unermesslichen Reichtum und in ihren Medresen werde das ganze Wissen des Universums gelehrt, und das seit Jahrhunderten. Ihre Paläste seien riesig, wunderschön dekoriert mit farbigen Halbedelsteinen, auf ihren Märkten kriege man alles vom fernen China bis zum südlichsten Zipfel der Welt, ihre Gelehrten wissen alles, ihre Heilkunst sei unübertroffen …
«Wenn du gerne möchtest, eigentlich könnte ich einen jungen Burschen wie dich gut gebrauchen. Hättest du Lust, bei mir als Gehilfe anzufangen?», holte Boucous Jacques wieder aus seinen Gedankenspielen zurück.
«Nun, ich muss dies zuerst noch mit meinem Vater besprechen», meinte der junge Jacques.
Ganz aufgeregt rannte er nach Hause, übergab dem Vater das von den Prinzen unterzeichnete Dokument und berichtete von der Offerte, beim Goldschmied Boucous, als junger Gehilfe einzutreten.
Jacques gefiel die Arbeit beim Goldschmied Boucous. Nur schon, weil er es mit schönen und wertvollen Dingen zu tun hatte. Er hätte es nicht fertiggebracht, in einem gewöhnlichen Handwerk, das laut, schmutzig, stinkend oder blutig war. Lieber hier den ganzen Tag sein dürfen, um seine Talente und Fähigkeiten einzubringen. Die Materialien – Gold und Silber – sind wertvoll, was Boucous und er anfertigten, war meist für einen edlen Zweck, sei es ein Kirchenschmuck, ein Kreuz, eine Monstranz, ein Becher für die Geistlichen und Bischöfe. Der Königshof bestellte regelmässig bei ihnen: vergoldete Schwertknöpfe, Wappenschilder, Bügelschlösser für Taschen, fein bearbeitete Griffe für Vorschneidemesser, Halterungen für Vasen und festliche Trinkgläser, manche kostbaren Ketten für die edlen Hofdamen und vieles anderes mehr. Es gab wahrlich genug Arbeit. Hier wiederholte sich die Erfahrung, die Jacques schon früher im Geschäft seines Vaters gemacht hatte – so sehr die adeligen Auftraggeber auf die Fertigstellung der Kostbarkeiten drängten, so wenig hatten sie Eile, wenn es um die Bezahlung der Arbeiten ging. Schon viele Male war Jacques nach Ablieferung des Auftrags zuerst lange warten gelassen worden, um schliesslich nur mit einem Schuldschein oder nicht einmal damit ins Atelier zurückzukehren. Schon lange führte er deshalb ein Auftragsbuch, wo genau notiert wurde, wann der Auftrag erteilt, wann er ausgeführt, wann er abgeliefert wurde, was der Preis war und daneben, ob die Bezahlung erfolgt oder zumindest auf welches Datum versprochen war. Er dachte immer wieder darüber nach, wie er schneller zur Bezahlung kommen könnte. Sicher war es erfolgversprechend, wenn die offenen Rechnungen eingefordert werden, wenn gerade Flut herrscht in den adeligen Kassen – also nach Martini, wenn die Bauern ihren Zehnten ablieferten. Eine andere Taktik war, einen dringend benötigten Auftrag zurückzuhalten, mit dem Hinweis, dass zuerst die offenen Kredite gelöscht werden mussten. Oder sich selbst an der Steuererhebung mitbeteiligen – dazu müsste man mit den Regierenden zusammenarbeiten – aber wie denn?
Im Laufe der Monate der Goldschmiedearbeit, wenn nicht zu viele Aufträge zu bearbeiten waren, hatten sein Lehrmeister und Jacques immer wieder den altüberlieferten geheimen alchemistischen Prozess geübt.
Dies benötigt viele Vorbereitungen, höchste Konzentration sowie Gebete und Bitten zu Gott, dass das grosse Werk gelingen möge. In einem abgedunkelten Raum wurde bei gleichbleibender Temperatur mit dem Verschmelzen des alten Metalles begonnen, das beileibe nie reines Gold war. Dazu brauchte es noch gewisse chemische Flüssigkeiten, um das ursprünglich schwarzgraue Metall umzuwandeln und aufzuhellen. Häufig wurde beiden etwas schwindlig dabei. Boucous sagte, dass er dann Bilder und Visionen davon hatte, was die Zukunft bringen würde – auf jeden Fall ein klareres Bild davon, wie das neue Goldstück aussehen sollte. Anschliessend an diesen Prozess folgte die Reinigung, dann die Weissung, dann die Solutio oder Gelbung des Metalls.
Zu ihrer Frustration waren sie jedoch nicht sehr weit damit gekommen, ein unedles Metall in Gold zu verwandeln. Das Goldschmied-Ladenlokal musste in dieser Zeit geschlossen werden, weil für den Prozess höchste ungestörte Konzentration vonnöten war.
Beide, Boucous und Jacques, machten zuerst geistige Übungen, beteten, versetzten sich in einen höheren mentalen Zustand, baten St. Eloi, den heiligen Eligius, um Hilfe beim Prozess, und widmeten der Arbeit ihre höchste und beste Aufmerksamkeit. Jedes Stadium des Prozesses wurde sorgfältigst ausgeführt, von der Reinigung der primären Materie bis zur Vereinigung und finalen Rötung, damit das Gold wirklich die leuchtende goldene Farbe erhielt. Dazu brauchte es noch diverse Tinkturen, die eine noch bessere Farbe und reineres Gold bewirken sollten. Am Schluss dieser Prozesse fühlten sie sich leicht, unbeschwert; zwar drehte sich alles ein wenig, jedoch hatten sie in diesem Zustand viele gute Ideen.
«Eigentlich gefällt mir dieser Zustand recht gut», sagte der alte Boucous.
«Ja, aber während wir den Laden geschlossen haben, verdienen wir auch kein Geld», sagte sein Assistent Jacques, «und wie manchmal haben wir das schon versucht? Bis jetzt haben wir noch nicht aus Blei Gold gemacht.»
«Immerhin haben wir ein reineres Gold mit einer attraktiveren Farbe herstellen können», meinte der alte Boucous, «und wir können in der Coagulatio das Gold auch mit anderen Metallen verschmelzen … und du weisst, dass diese Prozesse streng geheim sind und wir darüber schweigen müssen!»
«Ja sicher, aber das haben wir doch aus altem Gold hergestellt, nicht aus Zinn oder Blei!», warf Jacques ein.
«Nicht nur aus Zinn oder Blei; die anderen Metalle brauchen wir zum Strecken des Goldes», warf Boucous ein, «und damit haben wir doch die Ansprüche des Königs oder der anderen Adligen, die wollen, dass wir die schönen Stücke oder Münzen mit weniger Goldgehalt, also günstiger herstellen, zufriedenstellen können.»
Der junge Jacques sog all dieses Wissen um Verfahren, chemische Zusätze und deren Wirkungen, die Techniken der Herstellung der Goldschmiedearbeiten wie auch die Kenntnisse der politischen Wirkungen der Arbeit mit dem kostbaren Metall gierig auf. Bald einmal war er so tüchtig wie sein Lehrmeister und wurde schon bald etwas ungeduldig.
Nein, Jacques wollte nicht beim Handwerk des Goldschmiedes bleiben. Zwar war es nützlich und das edelste aller Handwerke, aber doch sehr zeitaufwendig. Auch wusste man nie, zu welchem Preis man das Rohmaterial erhalten wird. Da muss es doch einen Beruf geben, der auf dem aufbaut, was ich jetzt mache, der weniger von äusseren Faktoren abhängt, wo ich mehr Möglichkeiten habe, sinnierte er. Immer in dieser gleichen dunklen Werkstatt, immer im gleichen Bourges mit seinen engen Häusern und Räumen das Leben zu verbringen – nein, das stelle ich mir ganz anders vor!
Immer wieder hatte Jacques die kleine Macée getroffen, sei es am Brunnen, auf dem Weg zur Kirche, auf dem Markt oder früher beim Spielen auf der alten römischen Stadtmauer. Dort gab es viele lustige Verstecke. Alle Kinder von Bourges liebten es, sich dort zu treffen, sich als römische Krieger oder Gladiatoren aufzuführen und gegeneinander zu kämpfen. Nun, seit er in der Ausbildung zum Goldschmied war und auch nicht mehr so häufig an den römischen Turnieren teilnahm, hatten sie sich nicht mehr so häufig gesehen.
«Pardon», sagte er, als er in einer der engen Gassen von Bourges in eine junge Frau stiess, die gerade einige Rollen Strickwolle mit sich trug. Erst beim zweiten Blick realisierte Jacques, dass die junge Frau Macée war, die er schon von Kindsbeinen an kannte. Er staunte – das pummelige Kind von einst war zu einem anmutigen jungen Mädchen herangewachsen, mit einem hellen Teint, rosa Wangen, hellblauen Augen, die von dichten Wimpern umsäumt waren. «Schon gut», sagte Macée, «ach, du bist es Jacques? Leider muss ich mich beeilen», und mit einem flüchtig hingeworfenen «bon soir» verschwand sie in der nächsten Gasse.
Als er nach Hause kam, setzte er sich wie immer zu seinem Vater ins Atelier. Auch zu Hause hatte er seine Aufgaben – immer häufiger nahm er seinem Vater die lästigen Aufgaben der Rechnungsführung, Debitoren-Überwachung und Buchhaltung ab. Nach wie vor wurde er auf Botengänge an den Hof geschickt, vor allem dann, wenn es darum ging, den säumigen Zahlern Beine zu machen. Sein Vater wusste, dass Jacques in diesem Bereich erfolgreicher als er selber oder andere Assistenten war. So kannte Jacques mittlerweile die meisten Angehörigen des Hofes, den Herzog Jean de Berry mit seinem Hofstaat, bis zu allen anderen Höflingen und Adeligen, sogar die vorübergehend zu Besuch weilende königliche Familie von Charles VI. mit seiner Gemahlin Königin Isabelle, sowie Königin Yolanthe von Aragon und ihre Familie. Natürlich besuchte Jacques den Hof in seiner Funktion als Assistent des Goldschmiedes. Dieser schickte gerne Jacques, um die Damen und Herren des Hofes daran zu erinnern, was sie dem Goldschmiede-Atelier noch schuldeten.
«Wenn du heute Abend vom Hof zurückkommst, möchten wir nach dem Abendbrot, etwas mit dir besprechen …», kündigte Jacques’ Vater vielsagend an.
Was will er schon wieder von mir?, dachte Jacques. Er hatte so einen ernsthaften Ton in der Stimme – was ist wohl passiert? Können alle Gläubiger nicht mehr bezahlen? Nein, das wüsste ich ja.
Das Abendbrot ging ruhig vorüber. Die Familie Jacques, sein Bruder, seine Schwester, die Eltern und die Diener, Mägde, Köche sassen am grossen Tisch und reichten einander die Schüsseln weiter, alle assen aus ihrem Teller. Wie immer gab es Brei, dazu einige Innereien, verfeinert mit den kostbaren Gewürzen aus dem Orient. Nach dem Abendbrot bedeutete der Vater allen, sich zurückzuziehen. Jacques und seine Eltern gingen ins Atelier. Nun begann der Vater:
«Wir haben ja schon ein paar Mal darüber gesprochen, dass du jetzt im richtigen Alter bist, um zu heiraten – und, hast du dir das auch überlegt?»
Bis jetzt hatte Jacques nicht viel darüber nachgedacht. Gelegentlich hatte er schon Erfahrungen sammeln können, hatte immer wieder ein Techtelmechtel mit einer Magd – aber heiraten? Wen denn? Das macht doch alles noch viel komplizierter …
Sein Vater fuhr fort: «Wir alle fänden es gut, wenn du Macée, die Tochter unserer Nachbarn Léodepart, heiraten würdest. Die Familie passt gut zu unserem Stande, sie sind freie Bürger von Bourges wie wir. Die Familie sucht einen Nachfolger für das Amt des Münzmeisters. Wie du weisst, war der Grossvater von Macée schon Münzer. Das Amt muss immer in der Familie bleiben, damit die Geheimnisse der Münzherstellung gewahrt bleiben. Deine Ausbildung als Goldschmied ist eine ideale Voraussetzung dafür.»
Natürlich, fuhr es Jacques durch den Kopf, es liegt ja auf der Hand, dies ist der Weg, der für mich vorgezeichnet ist; das Amt des Münzmeisters bringt unglaublich viele Privilegien mit sich; vor allem beinhaltet das Amt so viele Möglichkeiten, die in andern Berufen nicht gegeben wären – ich könnte Mitglied der internationalen Zunft der Münzer werden, ich könnte viel reisen, als Münzer geniesst man Rechtsschutz, es ist eine öffentliche Vertrauensstellung, das Amt bietet mir viele Chancen für Gewinne und Reichtum … gerade, wenn es im Moment nicht so gut geht, sehe ich so viele Möglichkeiten vor mir … also heirate ich Macée!
Macée hatte er schon als Kleinkind gekannt: Sie hatten zusammen mit anderen Kindern unten am Fluss gespielt, sich in den Rebbergen versteckt, zusammen auf dem Markt mitgeholfen. Macée war sogar einige Zeit mit ihm zusammen in die der Stephanskirche angeschlossene Lateinschule gegangen. In der letzten Zeit hatten sie sich etwas aus den Augen verloren – sie half ihrer Tante beim Schneidern der Kleider für den Hof und dessen Feste. Das Nähatelier befand sich auf der andern Seite des Burghügels von Bourges,
«Ja», sagte er zu seinen Eltern, «ja, ich habe es mir überlegt, ich glaube, das wäre eine gute Sache, ich könnte mir das vorstellen!»
Die Eltern von Jacques waren begeistert von der Idee dieser Union. Sogleich eilte Madame Cœur zu den Léodeparts, um sie auf ein Glas Wein einzuladen, um die Verbindung zu begiessen und auf die gelingende Zukunft des Paares anzustossen.
«Bevor die Heirat stattfindet», brachte Jacques vor, «möchte ich noch die Bestätigung meiner Schulung bei den Geistlichen, bei der ich die Tonsur erhielt. Die Tonsur öffnet alle möglichen Türen, gibt Zutritt zu höheren geistlichen und anderen Kreisen. Auch gewährleistet sie eine andere Gerichtsbarkeit, man weiss ja nie – im Amt des Münzers ist man häufig exponiert.»
«Gut gedacht», meinten sowohl sein Vater wie der künftige Schwiegervater. «Ich werde mich darum kümmern», bestätigte Jacques.
«Wann wäre dann ein passendes Datum für die Hochzeit?», fragte sich die Runde.
Jacques dachte heimlich, das Datum des heiligen Eligius, des Schutzpatrons der Goldschmiede und Münzer, wäre doch geeignet, das würde ihm, seiner künftigen Frau und der Familie gewiss viel Glück bringen …
So wurde der 1. Dezember festgesetzt, die Einladungen sogar an Mitglieder des königlichen Hofes verschickt. Man wusste, dass auch Herzog Jean de Berry und gewisse Mitglieder der königlichen Familie, die in seinem Palast residierten, gerne an solchen Festivitäten teilnahmen, hatten sie doch häufig nicht genug zu essen.
Und da der Hof den beiden Familien so viel Geld schuldete, wagten sie es ohne weiteres anzufragen, ob die Hochzeit im Saal des Herzogspalastes stattfinden könne.
Die Hochzeit war feierlich, Jacques, gerade gut zwanzig Jahre alt, ein intelligent aussehender junger Mann mit fein geschnittenen Gesichtszügen; die dunklen Augen weit auseinander, so dass man meinen konnte, er beobachte mit jedem Auge etwas anderes, könne also mehr als andere wahrnehmen; das Kinn gut ausgebildet. Einer, der gut zuhörte, bevor er sprach, hatte sich in einer dunklen Farbe einfach gekleidet. Macée hingegen hatte einen grossen Hut auf, die Rüschen rahmten ihr hübsches junges Gesicht ein und liessen die porzellanfarbenen Wangen noch kostbarer erscheinen, die goldblonden, frisch gewaschenen Haare wallten vor der Trauung über das himmelblaue Kleid aus Seide, am Gurt trug sie die Maskottchen der Familien Léodepart und Cœur – selbstverständlich ein Herz. Das Sakrament der Ehe wurde nach der Messe in der Kathedrale von Bourges durch einen Priester, den Jacques und Macée vom Unterricht her kannten, erteilt. Als der Priester die beiden zu Mann und Frau erklärte, lief Macée rot an, unter ihren goldenen Augenwimpern drückten einige kleine Tränen hervor. Überwältigt, konnte sie für längere Zeit nichts sagen und den Gratulanten nicht antworten. Auf dem Platz vor der Kathedrale zogen alle Familien von Bourges vorbei und wünschten dem Brautpaar alles Gute, viel Reichtum, eine glückliche Familie, gesunde Kinder …
Die Hochzeitsgesellschaft drängte sich dann in den Festsaal. Lange Tische bogen sich unter den vielen Platten und Tellern mit Fleisch aller Art; Huhn, Gans, Moorhühner und verschiedene Seiten vom Hirsch und vom Reh. Die Gäste drängten sich auf den Bänken und bedienten sich an den Fleischstücken, die vor ihnen lagen. In der Mitte des grössten Tisches war der Kopf eines Ebers zu sehen, dessen gerösteter Braten einen herrlichen Duft verbreitete. Die Musik spielte auf, die Gäste sprachen dem mit Wasser verdünnten Wein zu. Es gab auch noch Saucen und Pasteten, geschälte Walnüsse, Feigen, weisse und blaue Pflaumen und viele andere Gerichte.
«Hier, Jacques, iss vom Sellerie und von den Artischocken, das ist gut … für … du weisst schon was», und die Gäste kicherten.
Als das Fest noch voll im Gang war, zogen sich Macée und Jacques zurück. Im Hause der Schwiegereltern hatten sie einige Zimmer, eigentlich eine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt erhalten. Obwohl Jacques schon einige Erfahrungen mit Mägden hatte, wusste er nicht genau, was auf ihn zukam. Was er wusste, hatte er den Tieren abgeschaut oder aus einigen zotigen Witzen seiner Kollegen erraten können. Auch Macée war gerade so schüchtern wie er. Sie zog ihre kostbaren Kleider hinter einem Vorhang aus und trat dann im Kerzenschein vor ihn. Er blies die Kerze aus und zog sie an sich. Für eine lange Zeit lagen sie eng beieinander. Noch flogen alle Bilder des ereignisreichen Tages durch ihre Köpfe; der bewegende Moment in der Kathedrale, die vielen Gratulationen vor der Kirche, was die Leute alles zu ihnen sagten, ja sogar der junge Dauphin Charles hatte sie begrüsst! Die Musik, die Fanfaren, als sie sich in das Palais begaben, die vielen Speisen, der Wein, die Musik …, der Kopf drehte sich immer noch von all den Eindrücken. Macée nahm die Hände von Jacques und führte sie über ihren Körper. Beide erschauerten. Bald fanden die Hände von selbst die richtigen Orte an ihren Körpern, bald bäumten sich die Körper auf und bald lag Jacques auf Macée. Sie wusste, es würde das erste Mal etwas weh tun, jedoch war es nicht halb so schlimm, und schliesslich war alles sehr schnell – allzu schnell – vorbei. Friedlich und glücklich schliefen sie nahe aneinander ein.
Paris – Charles, der junge Kronprinz wusste nicht, wem trauen. Das ganze Chaos überforderte nicht nur ihn. Sein Vater, König Charles VI. war geisteskrank, deshalb praktisch regierungsunfähig. Seine Mutter Isabeau von Bayern regierte zwar offiziell, war oft auf Reisen und deshalb meistens abwesend. Die rivalisierenden, um den Vorrang kämpfenden Onkel des jungen Charles – der verstorbene Louis d’Orléans wie auch Jean sans Peur – Johann Ohnefurcht – wollten an Einfluss gewinnen und mit Isabeau regieren. Sehr oft gab es Hochzeiten unter sonst verfeindeten Familienmitgliedern, die sich in stets wechselnden Gruppen bekämpften oder verbündeten. Jetzt war das ganze Schloss in Aufruhr. Aufgeregte Boten präsentierten sich, Dienstboten rannten durch das Schloss. Der Wächter fragte aufgeregt, welche Fahne er vom Schloss wehen lassen solle – die der Valois, der Burgunder oder jene der Orléans, also der Armagnacs?
Hilfeheischend schaute Charles zu seinem Lehrer Robert auf. Dieser war wie jeden Tag hier, um mit Charles Sprache, Rhetorik, Latein, Literatur, Geschichte, Geometrie – kurz alle Fächer, die ein Regent zum Regieren benötigte – zu erarbeiten. Seit seine Brüder kürzlich verstorben waren, war er allein im Unterricht, ab und zu gesellten sich einige junge Ritter dazu. Statt sich auf den Unterricht zu konzentrieren, musste er immer wieder an seine Brüder denken: War Jean de Valois, duc de Touraine im April dieses Jahres wirklich ermordet worden, wie Gerüchte sagen? Er war erst 18 und hatte oft über heftige Ohrenschmerzen geklagt, seinen Kopf immer schiefer gehalten, war am Schluss verwirrt gewesen, oft nicht mehr ganz da – was war nun wahr? Und was war mit Louis geschehen? Auch mit Louis konnte man am Schluss nicht mehr viel anfangen. Zugegeben, er trank immer sehr viel Wein – aber stirbt man daran? – so sinnierte er …
Der Unterricht fand in einem kleinen Raum, angrenzend an den Saal oberhalb der Küche statt. Auch dieser Raum wurde dank des beständigen Feuers, das in der Küche Backofen, Herd und heisses Wasser erhitzte, angenehm warmgehalten. Deshalb befanden sich im Raum stets einige Dienerinnen, die für ihre Handarbeiten warme Hände brauchten – sie spannen Wolle, stickten und nähten. Charles sass vornübergebeugt da und schien nicht allzu interessiert am Lehrstoff zu sein. Robert musste sich stets neue Tricks einfallen lassen, um die Aufmerksamkeit von Charles zu fesseln. «Stell dir einmal vor, die Ritter stehen alle vor dir!», wies er seinen Schüler an und zeigte ihm ein Bild, das ein Heer darstellte. «Und du feuerst sie an mit deiner Rede! Lass uns deine Rede nochmals repetieren», ordnete Robert an.
«Ich, Dauphin Charles, rufe Euch im Namen meines Vaters König Charles an …» stotterte Charles, dessen Stimme noch nicht tiefer geworden war.
Robert trug seinem Schüler theatralisch, mit weit ausholenden Gesten, vor:
«Ich rufe Euch edlen Ritter und Kämpfer auf, mutig zu sein im Angesicht der Feinde.»
Charles wiederholte die Sätze ohne besondere Betonung oder Engagement und rezitierte lakonisch:
«Die schwere Rüstung und die Brustpanzer werden Eure Leiber schützen, die Waffenknechte Eure Truppen, und die Engel schweben über Euch und schützen das Königreich und den König!»
In diesem Moment öffnete sich die Türe und Jean sans Peur von Burgund, einer der Regenten von Charles’ Vater, Beistand von Charles, trat gebieterisch ein, hörte sich die gelangweilte Rede von Charles an und pflanzte sich Autorität heischend vor Schüler und Lehrer auf.
«Monsieur Robert, ich erwarte von Ihnen, dass Charles diese Ansprache viel, viel überzeugender hält!», rief dieser Jean von Burgund, während er hastig an seinem grossen Ring drehte.
«Sie wissen doch, wie wichtig es ist, unsere Männer zu ermutigen und sie in eine kampfbereite Stimmung zu versetzen!»
Charles hatte mittlerweile den Kopf gesenkt, schaute auf seine Füsse und begann, mit seinem kleinen Hund zu spielen, der um ihn herumtanzte und immer wieder einen Ball brachte. Charles bückte sich, hob den Ball auf und warf ihn Richtung Saal. Der kleine Hund rannte begeistert dem Ball hinterher, der unter den Tisch zwischen die Füsse der Minister gerollt war. «Hier kommt der Ball zurück», grinste einer der Minister und warf ihn zurück in den Unterrichtsraum. Nachdem der Ball mehrere Male zwischen den Räumen hin und her gerollt war und der Hund mehrere Male den Ball zurückgebracht hatte, platzte Jean der Kragen:
«Wir sind nicht zum Spielen hier, edler Dauphin, ich möchte deine Ansprache nochmals hören!» Er stellte sich selbst in Pose.
«Und bitte stell dich doch gerade hin, mit hocherhobenem Kopf wie es sich für einen künftigen König gebührt. Halte dich gerade!» Zu Robert gewandt herrschte er diesen an: «Wirklich, hier werden zu wenig Fortschritte gemacht! Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihren Schüler besser anfeuern und begeistern können! Vielleicht ist es besser, wenn wir die Ansprache kürzer halten, was meinen Sie? Also los, nochmals von vorne, und denk daran: Körperhaltung! Stimme! Überzeugender Tonfall!»
Jean von Burgund stand nun hinter Charles, packte ihn bei den Schultern, stemmte ihm seine Faust ins Kreuz, sodass Charles gerade hinstehen musste und der schlaksige hagere Jüngling dadurch beinahe einen Kopf grösser wirkte.
«Ich, Dauphin Charles, rufe Euch im Namen meines Vaters König Charles auf …!» Nun tönte der Jüngling etwas fester und fuhr fort: «… Euch edlen Ritter und Kämpfer auf, mutig zu sein im Angesicht der Feinde.»
«Dies ist besser als vorher», stellte Jean fest, «aber müssen wir immer zu zweit hier sein, bevor du aufwachst und dich einigermassen wie ein künftiger König aufführst? Also, bitte repetieren Sie die nun gekürzte Ansprache noch einige Male mit dem Jeune Homme – pardon dem Dauphin – bis wir ihn vor die Truppen stellen können und er einen einigermassen guten Eindruck macht. Schliesslich haben wir es mit dem künftigen König zu tun, er muss noch viel lernen!»
Wollte Charles denn je König sein oder werden?
Charles schlief nicht gut in dieser Nacht, obwohl er nicht allein war in seinem Zimmer. Die kahlen Mauern der Bastille, der Sitz der Macht in Paris, waren angenehm kühl, verglichen mit der frühsommerlichen Hitze der Strassen von Paris. Als die hölzernen Türen sich hinter ihnen schlossen, sah Charles – geblendet von den Fackeln draussen – nichts in den dunklen Räumen. Instinktiv streckte er seine Hand aus nach Norbert, um Schutz zu suchen. Er hatte den kleinsten Raum für sich ausgesucht, da fühlte er sich am sichersten. Ungern mochte er an die letzten Familienzusammenkünfte denken. Sein Vater, König Charles VI, schien meistens in seiner eigenen Welt zu leben. Er sprach mit Leuten, die nicht anwesend waren, gestikulierte, diskutierte, argumentierte – mit wem? Wenn er in diesen Zuständen in Innenräumen war, wurde er immer unruhiger und unglücklicher.
So führten die Diener ihn jeweils nach draussen an die frische Luft, in das Gelände innerhalb der Burgmauern. Draussen schien er in gleichmässigerer Laune zu sein und erschrak nicht so schnell, wie wenn er im Palast war. Wenn er nach Pinsel, Leinwand und Farbe verlangte, brachten die Diener ihm das bereitwillig. Man wusste, dass das Malen eine aufhellende Wirkung auf ihn hatte, wie das Spielen mit den Hunden.
Der junge Charles hatte Schwierigkeiten mit seiner Mutter Isabeau, die in letzter Zeit nicht mehr häufig anzutreffen war in der Bastille. Viel lieber war er mit der Mutter seiner Verlobten, Yolanthe von Aragon, zusammen; am liebsten weilte er bei dieser Familie. Charles verachtete seine eigene Mutter, entsprach sie so gar nicht dem Idealbild einer fürsorglichen Mutter.
«Steh aufrecht, und häng deinen Rücken nicht so durch», hatte seine Mutter gestern zu ihm gesagt, «du bist jetzt 14 Jahre alt, alt genug um einen richtigen Dauphin darzustellen!» Sie zog seinen weissen steifen Kragen zurecht und drehte den Gurt, der von Halbedelsteinen besetzt war, gerade,
«Und sieh die Leute geradeheraus an», fuhr sie fort. «Immer muss ich dir dasselbe sagen, lernst du eigentlich nie?», herrschte sie ihn an. Nun richtete sich Charles gerade auf, er wurde einen Kopf grösser, sein Gesicht lief rot an, das Feuerzeichen auf seiner Stirn wurde purpurn, als er ausholte: «Was haben Sie mir denn zu sagen, Frau Maman? Wo sind Sie jetzt wieder gewesen, mit wem haben Sie sich herumgetrieben?» Sein Atem ging schneller, seine Stimme wurde lauter. «Wie kannst du dich nur so aufführen …?», schrie er sie an, «du … Hure, und schon wieder neue Kleider? Wer soll denn das bezahlen? Wir haben nicht genug zu essen, müssen den Dienern etwas abbetteln, und du …?!»
Die Augen der Königin traten hervor, die Kiefer begannen zu mahlen, mit gepresstem Atem stiess sie aus:
«Ich bin die Königin, und ich bin dir keine Rechenschaft schuldig!», während sie die Hutbänder um ihren Hals und den Kragen lockerte.
«Ja, aber ich werde König sein!», widersprach Charles, «und überhaupt – wer hat hier etwas zu sagen? Sie sicher nicht!» Die anwesenden Diener schauten sich vielsagend an, war es ja nicht das erste Mal, dass sie solche Szenen miterleben mussten. Pierre schloss schnell die Türen, damit die laute Auseinandersetzung nicht nach aussen drang.
Wessen Sohn bin ich überhaupt, grübelte Charles in seinen schlaflosen Nächten. Mein Vater träumt und spricht mit Geistern, meine Mutter treibt sich herum und kauft alles Mögliche; lauter teures und unnützes Zeug, wie wenn es verboten würde, meine beiden Brüder sind kurz nacheinander gestorben – also bin ich doch der nächste in der Thronfolge, der rechtmässige König! Und doch ist ihm nicht wohl bei dieser Vorstellung.
Mit meinen Onkeln, die mich beraten, verstehe ich mich recht gut, meine Schwiegermutter Yolanthe ist wie eine wirkliche Mutter zu mir, mein Pate war der Connétable d’Albret, der aber am 25.10.1415 in Azincourt gefallen ist. Wenn nur diese Frau, diese meine Mutter, die sich Königin nennt und die ganze Macht für sich beansprucht, nicht wäre …
Draussen wird es immer lauter. Charles sitzt auf in seinem Bett. Was er hört, erschreckt ihn und macht ihm Angst; aufgeregte Schreie, Tumult, entsetzliches Kreischen, dumpfe harte Schläge, er hört Waffen klirren, Stöhnen, Weinen, Gebrüll … Ich muss meinen Lehrer wecken, sagt er sich, steht auf und klopft dem schlafenden Norbert auf den Rücken.
«Norbert, was geht hier vor?», fragt er aufgeregt seinen Lehrer und weiss schon, dass es keine beruhigende Antwort geben kann. Schon poltert es an der Türe. Charles erschrickt, es ist jedoch nur Tanneguy du Châtel, der die rote Armbinde der Armagnacs trägt, ein Gesandter seines Onkels, der durch die Türe ruft: «Dauphin Charles, ich habe die äusserst dringende Nachricht erhalten, dass Sie die Bastille sofort verlassen müssen! Ich werde mit Ihnen fliehen.»
Nun ist auch Norbert aufgewacht und springt auf. Sie packen das Notwendigste zusammen. «Kann ich meinen Altar mitnehmen, denn ich möchte unterwegs beten?»
«Nein, der ist zu schwer zum Tragen, den holen wir ein anderes Mal», antwortet Norbert kurz und knapp, «und – beten geht auch ohne Altar.»
In grosser Eile kleidet Tanneguy sich und Charles in dunkle Überhänge und wirft den beiden die Kapuzen über.