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James Joyce hat mit seinen Werken, vor allem mit dem legendären «Finnegans Wake», Deutungslawinen ausgelöst. Kaum ein Autor unserer Tage, der sich nicht auf Joyce beruft; selbst Popkultur und Dublin-Tourismus haben ihn entdeckt. Seine Hauptwerke – «Dubliner», «Ein Porträt des Künstlers als junger Mann», «Ulysses» und «Finnegans Wake» – reflektieren die fragile Welt des Autors, in der Instabilität und Bewegung Gesetz zu sein scheinen. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2016
Friedhelm Rathjen
James Joyce
Ihr Verlagsname
James Joyce hat mit seinen Werken, vor allem mit dem legendären «Finnegans Wake», Deutungslawinen ausgelöst. Kaum ein Autor unserer Tage, der sich nicht auf Joyce beruft; selbst Popkultur und Dublin-Tourismus haben ihn entdeckt. Seine Hauptwerke – «Dubliner», «Ein Porträt des Künstlers als junger Mann», «Ulysses» und «Finnegans Wake» – reflektieren die fragile Welt des Autors, in der Instabilität und Bewegung Gesetz zu sein scheinen.
1891 schreibt James Joyce, als Neunjähriger, seinen ersten und einzigen politischen Text, nämlich das Gedicht Et tu, Healy, mit dem er den Fall des irischen Politikers Charles Stewart Parnell kommentiert. Dem protestantischen Grundbesitzer Parnell, der seit 1875 im Londoner Unterhaus saß, war es gelungen, die verschiedenen Strömungen irischer Nationalisten zu bündeln und aussichtsreich auf eine bedingte Unabhängigkeit Irlands von der britischen Kolonialmacht hinzuwirken, doch 1890 stolperte er über eine Scheidungsaffäre: Ein ehemaliger Mitstreiter verklagte ihn wegen Ehebruchs, Parnell verlor die Unterstützung der katholischen Kirche, großer Teile der eigenen Partei und seines Stellvertreters Tim Healy, der ihn noch kurz zuvor seiner Gefolgschaft versichert hatte. Politisch und moralisch gebrochen, starb Parnell am 6. Oktober 1891 und wurde von seinen Anhängern zum ungekrönten König Irlands und zum Märtyrer stilisiert.
Über das Gedicht des kleinen James Joyce ist dessen Vater, ein glühender Parnellianer, so sehr erbaut, dass er es drucken lässt und unter seinen vielen Bekannten verteilt. Überliefert sind dennoch nur drei Schlusszeilen, die den toten Helden als Adler beschreiben, der über die Kleingeistigkeit seiner Widersacher erhaben ist: Er horstet nun, hoch im Geklipp der Zeit,/Wo des […] Jahrhunderts roher Lärm/Ihn nimmermehr beirrt.[1] Es mag Zufall sein, dass der Dichter in spe schon hier zum Bild eines hochfliegenden Vogels greift, um die Befreiung des einsamen, aber stolzen Helden aus den Niederungen von Treuebruch und Verrat zu veranschaulichen; kein Zufall aber ist es gewiss, dass der jähe Absturz von der Erfolgsleiter auf die Arglist falscher Freunde zurückgeführt wird, denn dies entspricht der Familientradition. Vor allem John Stanislaus Joyce, der Vater des Dichters, wird zeitlebens nie müde, andere Menschen für sein eigenes Versagen verantwortlich zu machen.
John Stanislaus Joyce wurde 1849 als einziges Kind eines prosperierenden Pferdehändlers und Grubenbesitzers in der südirischen Hafenstadt Cork geboren. Auch sein Vater und sein Großvater waren schon Einzelkinder, was für Katholiken jener Zeit sehr ungewöhnlich, dem Wohlstand der Familie allerdings förderlich war. Weiteren Wohlstand und vor allem Ansehen hatte seine Mutter in die Ehe eingebracht, eine entfernte Verwandte des Nationalhelden Daniel O’Connell. Zwei Bankrotte und sogar den Tod des Vaters überstand das Familienunternehmen relativ schadlos, zumal man Sorge getroffen hatte, dass dem Stammhalter John Stanislaus bei dessen Volljährigkeit ein beträchtliches Vermögen an Grundbesitz und Barmitteln zufließen sollte. Bis es so weit war, exzellierte John Stanislaus als Sportler, Sänger und Amateurschauspieler, freilich nicht als Student. Ein Medizinstudium brach er nach drei Jahren ohne Abschluss ab, nahm sodann sein Erbteil entgegen, trat der Irisch-Republikanischen Bruderschaft (einem nationalistischen Geheimbund) bei und durchlief eine Serie wechselnder Berufstätigkeiten, die alle auf persönliche Beziehungen (meist familiärer Natur) gegründet und mit viel Zeit für Müßiggang verbunden waren.
Medizinstudent, Ruderer, Tenor, Amateurschauspieler, brüllender Politiker, kleiner Hausbesitzer, kleiner Aktionär, Trinker, guter Kerl, Geschichtenerzähler, Sekretär von jemand, irgendwas in einer Brennerei, Steuereinnehmer, Bankrotteur und augenblicklich Verherrlicher seiner eigenen Vergangenheit.
Die Karriere von Simon Dedalus (Porträt, S. 519f.) gleicht weitgehend derjenigen von John Stanislaus Joyce
Anfang 1873 wurde John Stanislaus Joyce von einem Geschäftsfreund seines Vaters als Sekretär und Teilhaber einer Whiskeybrennerei eingestellt, die im Dubliner Vorort Chapelizod errichtet werden sollte, und zog mit seiner Mutter in die irische Hauptstadt. Allerdings lief die Brennerei nicht gut und musste nach fünf Jahren liquidiert werden; John Stanislaus Joyce verlor Arbeit und Kapitaleinlage und erfand die Familienlegende, der Bankrott sei durch Unterschlagungen des Geschäftsführers herbeigeführt worden. Über Beziehungen gelang es ihm schließlich, Sekretär eines liberalen Wahlvereins zu werden, der bei Parlamentswahlen 1880 seine Kandidaten durchsetzen konnte. John Stanislaus Joyce brüstete sich später: «Ich war’s, der die Wahl in Dublin gewann.»[2] Zum Dank erhielt er auf Lebenszeit einen mit wenig Arbeit verbundenen Posten in der Dubliner Steuerbehörde. Auch privat hatte er seine Wahl getroffen: Im Mai 1880 heiratete er die zwanzigjährige Mary Jane Murray, allerdings gegen den Willen seiner eigenen Mutter, die allen Kontakt abbrach und verbittert nach Cork zurückzog, und auch seines zukünftigen Schwiegervaters, der sich daran stieß, dass John Stanislaus Joyce schon zweimal verlobt gewesen war. Der Bräutigam hielt fortan Distanz zu den verhassten Verwandten seiner Frau und verlangte auch von ihr, sich von der Familie fernzuhalten.
Die zwanzigjährige Mary Jane (genannt May), eine warmherzige Frau mit Sinn für Humor, die freilich nach den strengen Regeln des Katholizismus erzogen worden war, und der ein Jahrzehnt ältere John Stanislaus Joyce, dessen Nationalismus in stark antiklerikalen Familientraditionen wurzelte, waren ein ungleiches Paar, doch einig waren sie sich, was die Erwartungen an eine Zukunft im Zeichen sozialen Aufstiegs betraf. Tatsächlich ging es mit ihm bald steil bergab, wie drei Zahlen plastisch veranschaulichen. Von 1880 bis 1896 zeugte das Paar mindestens sechzehn Kinder, von denen vier tot zur Welt kamen und zwei weitere kurz nach der Geburt starben: Es blieben ihnen (zunächst) vier Söhne und sechs Töchter. Zwischen 1883 und 1894 nahm John Stanislaus Joyce elf Hypotheken auf den beträchtlichen Immobilienbesitz in Cork auf, den er zwischenzeitlich von seiner Mutter geerbt hatte: Dann war nichts mehr davon übrig. Und zwischen 1880 und 1903 zog man sechzehnmal um: Dann zerfiel die Familie mit Mays Tod weitgehend.
Das erste überlebende Kind kommt am 2. Februar 1882 am Brighton Square in Rathgar, einem Mittelklassevorort Dublins, zur Welt und wird nach seinem Corker Großvater James Augustine Joyce genannt. Der schmächtige Junge erweist sich als aufgeweckt und fröhlich; er ist sofort der Liebling seiner Eltern und wird diesen Rang zeit ihres Lebens nicht wieder einbüßen. Trotz der vielen Geschwister, die er mit den Jahren bekommen wird, spielt er in mancherlei Hinsicht die Rolle eines Einzelkinds. In der Familie trägt er seines sonnigen Gemüts wegen lange den Spitznamen «Sunny Jim».
Als der Junge fünf ist, zieht sein Vater mit der Familie in den Badeort Bray, fünfzehn Kilometer südlich Dublins, wo man ein geräumiges Reihenendhaus am Meer mietet. Zum Haushalt gehören wechselnde Bedienstete und Dauergäste, so eine gewisse Hearn Conway, die als Erzieherin für die Kinder eingespannt wird. Für James’ jüngeren Bruder Stanislaus Joyce ist sie im Rückblick «mit Abstand die bigotteste Person, der ich je das Unglück hatte zu begegnen»[3]. Ihre verbitterte Einstellung zur Welt resultiert daraus, dass sie von einem Mitgiftjäger um ihr Vermögen gebracht wurde. Den kleinen James entsetzt sie mit sadistischen Höllenschilderungen und pflanzt ihm eine lebenslange Furcht vor Gewittern ein.
Das unbeschwerte Leben als Liebling seiner Familie endet für James, als er im August 1888 in die Internatsschule Clongowes Wood eingeschult wird, eine von Jesuiten geleitete Erziehungsanstalt, die als beste katholische Schule Irlands gilt. Rektor der Schule ist Pater John Conmee, ein milder und liebenswürdiger Humanist[4], zu dem die Familie von May Joyce möglicherweise Beziehungen hat. Im Schulprospekt steht: «Unsere besondere Sorge gilt sehr jungen Buben. Ihnen wird Unterstützung durch eine weibliche Betreuung gewährt, und Kost und Studien werden ihrem zarten Alter angepasst. Die Buben werden ab einem Alter von sieben Jahren aufgenommen.»[5] Joyce ist allerdings erst sechs, als er in die Schule eintritt (vermutlich als ihr jüngster Schüler aller Zeiten), und schläft deswegen in seinem ersten Jahr nicht mit den anderen Schülern in einem der Schlafsäle, sondern unter der Obhut einer Krankenschwester im Infirmarium.
Die Schüler werden in Clongowes in drei Klassenstufen eingeteilt, doch selbst in der untersten sind die Mitschüler großteils vier oder fünf Jahre älter als der kleine Joyce, der hier eine Art Nesthäkchendasein führt. Die Vermutung liegt nahe, dass der Schritt aus der Familie in diese fremde Umgebung für ihn mit großen Ängsten verbunden gewesen sein muss, doch nach Augenzeugenberichten ist er in Clongowes «in keinster Weise ein melancholisches, verängstigtes Kind […], sondern ein fröhlicher und glücklicher Junge»[6]. Schon in seinem ersten Jahr lernt er freilich auch die Strenge des Schulregiments kennen: Er wird mehrmals bestraft, unter anderem wegen des Gebrauchs «vulgärer Ausdrücke»[7], wie das Strafbuch der Schule vermerkt.
Joyce hat sich späterhin durchaus dankbar über die Jesuitenerziehung geäußert: Ich habe gelernt, die Dinge so zu ordnen, daß es leichtfällt, sie zu überblicken und zu beurteilen.[8] Früh eignet er sich in Clongowes die intellektuellen Grundfertigkeiten an, trainiert vor allem sein Gedächtnis. Für die diversen Zwischenprüfungen haben die Schüler innerhalb weniger Wochen Hunderte von Seiten aus dem Maynooth-Katechismus oder biblische Geschichte auswendig zu lernen; diese Stoffe bleiben Joyce zum Teil jahrzehntelang im Kopf. Bei seiner Erstkommunion wählt er sich zum Namensheiligen bezeichnenderweise den Jesuiten Aloysius von Gonzaga, den Schutzheiligen der studierenden Jugend.
Mit zunehmendem Alter wächst Joyce langsam aus der Sonderrolle als jüngster Schüler heraus, zeichnet sich durch gute Leistungen aus, übernimmt Nebenrollen bei Schulaufführungen und erhält in seinem dritten Jahr auch Klavierstunden. Zu Beginn seines vierten Jahres ist er «immer noch ein kleiner Junge, immer noch schüchtern in Gesellschaft, reserviert gegenüber den Mitschülern, gehorsam und pflichtbewusst gegenüber den Lehrern»[9]. Dieses Jahr wird er freilich nicht beenden; irgendwann Ende 1891 (es ist das Jahr, in dem Parnell stirbt) nimmt ihn sein Vater von der Schule. Anlass sind die gravierenden Finanzprobleme der Familie.
1891 verliert John Stanislaus Joyce seine Lebensstellung als Steuereinnehmer und wird vorzeitig pensioniert. Er hat sich nie durch besonderen Diensteifer hervorgetan und gehört zu den zwangsläufigen Opfern einer Verwaltungsreform, sieht sich freilich stattdessen als politisches Opfer des «Verrats» an Parnell, dessen offener Anhänger er war. Er ist erst 42, wird aber zeit seines Lebens keiner dauerhaften Arbeit mehr nachgehen: Statt der 500 Pfund Jahresgehalt hat er nur noch eine karge Pension von 132 Pfund zur Verfügung, um seine Familie zu ernähren.
Sohn James besucht für geraume Zeit überhaupt keine Schule, dann eine Armenschule, die seinem Hunger auf Bildung keineswegs gerecht wird. Er nutzt die plötzlich gewonnene freie Zeit, um ohne Anleitung zu lesen, was immer ihm in die Finger kommt. Im März 1893 schließlich erhält er (zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Stanislaus) auf Betreiben von Pater Conmee, der mittlerweile am Belvedere College in Dublin unterrichtet, dort einen Freiplatz. Belvedere, wiederum eine Jesuitenschule, ist weniger prestigeträchtig als Clongowes Wood, doch die Qualität der Ausbildung ist ähnlich gut. James ist zunächst Zweitjüngster in seiner Klasse (seine Nesthäkchenrolle kann er weiterspielen), fällt jedoch schnell durch seine überdurchschnittlichen Leistungen auf und wird zum Liebling aller Lehrer, insbesondere des Englischlehrers George Stanislaus Dempsey, in dessen Unterricht er Charles Lambs «Adventures of Ulysses» und wahrscheinlich auch erste Byron-Gedichte kennenlernt.[10]
Die Lehrprinzipien, die in Belvedere (wie auch schon in Clongowes Wood) angewandt werden, sind eine revidierte Form der jesuitischen «Ratio studiorum», die auf die Fähigkeiten des Gedächtnisses, der Vorstellungskraft, des Verstands und der Willenskraft zielt. Unterrichtstexte werden nach einem festen Fünfstufensystem (Lektüre – Übersetzung – Erklärung – Analyse der poetischen oder rhetorischen Struktur – Erudition) durchgenommen, das inzwischen auch schon für die Lektüre von Joyce-Texten empfohlen worden ist.[11] Grundlegende Methode ist die ständige Wiederholung des Stoffs; dem Ansporn der Schüler dient ein Wettbewerb: Gute Leistungen werden belohnt. Solcher Lohn wird auch James Joyce zuteil. Mehrmals erhält er ansehnliche Geldpreise, so 1897 ein Stipendium von 30 Pfund und zusätzlich drei Pfund für den besten Englischaufsatz seiner Altersstufe in Irland. Diese Preise tragen zeitweise erheblich zum Familieneinkommen bei. Eine weitere Auszeichnung ist, dass Joyce früh in die Sodalität der Heiligen Jungfrau Maria aufgenommen und als jüngster Bewerber bald zu ihrem Präfekten (dem Bindeglied zwischen Schülern und Schulleitung) gewählt wird: Er überflügelt seine älteren Schulkameraden in allen Bereichen.
Der Heuchler ist die schlimmste Spielart des Schurken, denn unter dem Schein der Tugendhaftigkeit verbirgt er das schlimmste aller Laster.
Joyce in seinem Schulaufsatz «Der Schein trügt» (KS, S. 70) von 1896
Aber das Schuljahr 1895/96 wird ein verlorenes Jahr, weil er zu jung ist, um in die Mittelstufe versetzt zu werden. Da er in der Schule in dieser Zeit nicht gefordert wird, betreibt er eine Art Privatstudium und liest alles, dessen er habhaft werden kann. Er gewöhnt sich an, stundenlang allein durch Dublin zu streifen. Allwöchentlich ist er zu Gast im Salon des Parlamentsabgeordneten Sheehy, dessen Söhne aufs Belvedere College gehen, nimmt an Scharaden und Stegreifspielen teil und himmelt die Töchter des Hauses an, vor allem Mary, die jüngste, für die er jahrelang vage schwärmt, ohne es ihr zu verraten. Die charakteristische Schüchternheit des Jüngsten in der Gesellschaft Älterer wird noch verstärkt durch das Wissen, dass sich der soziale Abstand zwischen dem eigenen Elternhaus, das sichtlich zu verelenden beginnt, und gutbürgerlichen Kreisen immer mehr vergrößert.
Als Vierzehnjähriger beginnt Joyce 1896 Gedichte (Moods) und Prosastücke (Silhouets) zu schreiben; gleichzeitig führt ihn während seiner Stadtwanderungen eine Prostituierte in die Geheimnisse der Sexualität ein. Ende des Jahres allerdings finden im College Exerzitien statt, die das Gewissen des Heranwachsenden so sehr bedrücken, dass er sich einige Monate lang vom Dubliner Rotlichtbezirk fern hält und seine Energien erneut auf die Schule konzentriert.
In seiner Lektüre hat er sich derweil vom Kanon der Jesuitenschule entfernt; Shakespeare rangiert ihm inzwischen unter Dante, er schwärmt für William Blake, und als er das Werk Henrik Ibsens entdeckt, schert er vollends aus den Reihen der Jesuiten aus. Zuvor hat er möglicherweise sogar mit dem Gedanken gespielt, Priester zu werden, doch als die Schulleitung mit einem entsprechenden Vorschlag an ihn herantritt, lehnt er ab. Innerlich steht er dem Glauben schon fern. 1898 schreibt er sich am University College Dublin, der katholischen Universität, als Student der modernen Sprachen ein.
Auch das University College wird zu dieser Zeit von Jesuiten geführt, die freilich aus unterschiedlichen Gründen die hehren Ziele und Ansprüche ihres Ordens hier nicht verwirklichen können. Das intellektuelle Niveau der Lehrveranstaltungen ist äußerst schwach, die Anforderungen des Curriculums bleiben im Fach Englisch zum Teil hinter dem zurück, was Joyce schon in Belvedere gelernt hat, und deswegen gewöhnt er sich rasch ab, die Seminare zu besuchen. Halbwegs regelmäßig geht er hingegen zu den Fremdsprachenkursen (er hat Französisch und Italienisch gewählt), in denen er gelegentlich mit den Dozenten fast allein ist und gelehrte Diskussionen über literarische und philosophische Themen führt. Zu dieser Zeit ist es unüblich, dass junge Männer moderne Sprachen studieren, und ebenso unüblich ist der Umgang zwischen männlichen und weiblichen Studierenden – Joyce hat sich schon durch die Wahl seines Studienfachs weitgehend isoliert.
Sein engster Freund an der Universität wird rasch John Francis Byrne, den er bereits vom Belvedere College flüchtig kennt. Der körperlich robuste Farmerssohn, der drei Jahre älter und schon vor Joyce auf der Universität ist, nimmt dem Jüngeren gegenüber zunächst eine Art Beschützerrolle ein. Zum Freundeskreis gehören außerdem der Sportsmann und Nationalist George Clancy, der unbedarfte Vincent Cosgrave, der idealistische Sozialist Francis Skeffington und der scharfsinnige Internationalist Thomas Kettle. Alle sind sie etwas älter als Joyce, der es freilich versteht, sie in seinen Ambitionen und mit Proben seines Intellekts bald zu überflügeln – vielleicht mit Ausnahme Kettles.
In Ermangelung eines ambitionierten Lehrplans spielt sich das intellektuelle Leben der Universität vor allem in informellen Diskussionen und halboffiziellen Debattierclubs ab. Von Kettle und Skeffington lässt sich Joyce in die Literarische und Historische Gesellschaft des College einführen, in deren geschäftsführenden Ausschuss er 1899 (wieder einmal als jüngstes Mitglied) gewählt wird. Bei einer Diskussion vor der Gesellschaft verteidigen Joyce und Kettle vehement die moderne Literatur gegen den Vorwurf, mit den Leistungen früherer Zeiten nicht mithalten zu können. Joyce hat um diese Zeit zwei große literarische Vorlieben, zum einen die französischen Symbolisten, unter deren Einfluss er selbst Verse zu schreiben versucht, und zum anderen den Realismus der Dramen Ibsens, den Joyce nicht (wie die meisten Zeitgenossen) als düster und trostlos, sondern geradezu als heroisch empfindet; zur Ibsen-Schule rechnet er bald Gerhart Hauptmann, Gabriele d’Annunzio und schließlich sogar Maurice Maeterlinck, der den Bogen zurück zum Symbolismus schlägt.
Die Reihe der genannten Autoren wird verständlicher, wenn man in den Erinnerungen des Bruders Stanislaus von Joyce’ «mangelnder Achtung für Schriftsteller, die nur mit Literatur spielen», liest: «Meinem Bruder galt derjenige Mann der Feder, der Literatur nur aus geistiger Kurzweil betreibt, als wenig vertrauenswürdig.»[12] Joyce begreift sich nicht mehr einfach als Leser von Literatur, sondern er hat es darauf abgesehen, selbst zum Künstler zu werden, und deshalb liest er Bücher nun mit besonderem Blick auf die persönliche Statur des jeweiligen Autors. «Mit siebzehn modellierte sich Joyce bewusst nach dem Vorbild von D’Annunzio und Ibsen», erinnert sich einer seiner Kommilitonen[13]; es geht ihm also nicht (nur) darum, die Schreibweise dieser Autoren gutzuheißen und vielleicht irgendwann zu kopieren, sondern um eine Orientierung des eigenen Verhaltens an ihren Lebensmustern. Als Joyce im März 1901 an Ibsen schreibt, schildert er rückblickend, wie er das, was ich dunkel von Ihrem Leben erahnte, mit Stolz betrachtete, wie Ihre Kämpfe mich inspirierten – nicht die äußeren, konkreten Kämpfe, sondern jene, die hinter Ihrer Stirn ausgetragen und gewonnen wurden, wie Ihr willentlicher Entschluß, dem Leben sein Geheimnis zu entringen, mir Mut machte, und wie Sie in völliger Gleichgültigkeit gegen kanonisierte öffentliche Maßstäbe der Kunst, gegen Freunde und Schibboleths Ihren Weg im Licht Ihres inneren Heroismus gingen[14]. Ibsen wird für Joyce zum Lehrmeister bei seinem Aufbegehren gegen alle Konvention und Verstellung.
In einen Kampf, der hinter seiner Stirn ausgetragen werden soll, zieht nun auch Joyce. Später wird er diese Phase seiner Entwicklung entsprechend stilisieren: Er sah jetzt rasch genug, daß er seine Angelegenheiten im geheimen abmachen müsse, und Reserve war je nur eine leichte Buße gewesen.[15] Ende 1899 bemerken die Kommilitonen an Joyce eine Tendenz zur Selbstisolation, er gibt sich unnahbar und unzugänglich, öffnet seine Gedankenwelt am ehesten noch seinem Bruder Stanislaus, dem er gleichzeitig zu verstehen gibt, wie wenig er ihn, den Jüngeren, eigentlich ernst nehme.
An studentischen Diskussionen und Debatten nimmt Joyce kaum noch teil, doch am 10. Januar 1900 hält er vor der Literarischen und Historischen Gesellschaft einen Vortrag über Drama und Leben, in dem er ein dynamisches, dabei kompromissloses Kunstkonzept zu formulieren versucht: Unter Drama verstehe ich das Zusammenspiel von Leidenschaften in der Absicht, die Wahrheit zu porträtieren; Drama ist Kampf, Evolution, Bewegung, in welcher Form es sich auch entfaltet. Vom dramatischen Kunstwerk (das durchaus auch ein Bild oder eine Plastik sein kann) verlangt er Wahrhaftigkeit statt ethischer Regeln und Realismus statt Schönheit: In Zukunft wird das Drama mit der Konvention kämpfen müssen, wenn es sich wahrhaft verwirklichen will.[16]
Ich habe in der «Fortnightly Review» eine Besprechung von Mr. James Joyce gelesen, oder mir vielmehr zusammenbuchstabiert, die sehr wohlwollend ist und für die ich dem Verfasser herzlich gern danken möchte, wenn nur meine Sprachkenntnisse ausreichten.
Ibsen an Archer, 16. April 1900 (Briefe I, S. 68)
Die Reaktion seiner Zuhörer fällt wohlwollender aus, als Joyce es später gern darstellt; einige kritische Einwände, die es natürlich gibt, widerlegt der Vortragende mit beeindruckender Eloquenz. Angesichts des umfassenden Themas und der begrenzten Zeit seines Vortrags kann er freilich seine Bewunderung für Ibsen nur knapp skizzieren und überlegt sich, das Werk des Norwegers anderswo eingehender darzustellen. Er tut dies in einer Rezension des neuesten Ibsen-Stücks «Wenn wir Toten erwachen», die in der Londoner «Fortnightly Review» (seinerzeit eine der angesehensten englischen Kulturzeitschriften) erscheint.
Die Tatsache, dass der junge Student einen umfangreichen Artikel in einer solchen Zeitschrift veröffentlicht, schlägt am University College wie eine Bombe ein; Joyce avanciert vom belächelten Spinner zum bewunderten Intellektuellen. Zudem erhält er einen Brief des englischen Ibsen-Übersetzers William Archer, der ihm den Dank des Dramatikers übermittelt. Geschmeichelt schreibt Joyce zurück: Ich bin ein junger Ire, achtzehn Jahre alt, und ich werde die Worte Ibsens mein Leben lang in meinem Herzen bewahren.[17]
Im Sommer 1900 schreibt Joyce sein erstes eigenes Theaterstück, A Brilliant Career, dem er eine selbstbewusste Zueignung voransetzt: Meiner/eigenen Seele/widme ich das erste/echte Werk meines/Lebens.[18] Das Stück (es geht darin um einen Mann, der der eigenen Karriere wegen seine Geliebte verstößt) schickt Joyce an Archer, der daran allerdings wenig Gefallen findet und es auf wohlwollende, aber unmissverständliche Weise kritisiert; Joyce akzeptiert die Kritik und vernichtet das Werk schließlich, ebenso wie ein kurz darauf geschriebenes Versdrama namens Dreamstuff. Parallel zu den Stücken schreibt er Gedichte, die von den französischen Symbolisten und Joyce’ Landsmann William Butler Yeats angeregt sind und in denen es von romantisierenden Floskeln nur so wimmelt: Kristallenes Mondlicht am Gestad’ beschwört ferne Musik herauf; das lyrische Ich will Beim Quietschen der Fiedelsaiten genesen und lauscht den Klängen von Viola, Flöte, Harfe und der Gitarr’.[19] Joyce’ Schwärmerei für lyrische Empfindsamkeit steht in schroffem Widerspruch zu seiner Bewunderung für Ibsens realistische Härte.
Ein erster Versuch, zwischen beiden Polen zu vermitteln, stellen die Prosaskizzen dar, die Joyce Epiphanien (also eigentlich Erscheinungen göttlichen Wesens) nennt. In fragmentarischer Form notiert er erlebte Situationen, Traumfetzen oder kurze Dialoge. Diese Notate, die zwar auf die symbolische Offenbarung einer höheren, unausgesprochenen Wahrheit zielen, dabei aber stets von präzis aufgezeichneten Weltdetails ausgehen, sind die eigentliche Keimzelle des Joyce’schen Werks. In ihrer Konzentriertheit zielen sie auf jene ästhetische Qualität, die Joyce in seinem Ibsen-Aufsatz an seinem Vorbild gerühmt hat: