Ján Kuciak und die Paten von Bratislava - Christoph Lehermayr - E-Book

Ján Kuciak und die Paten von Bratislava E-Book

Christoph Lehermayr

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Am 25. Februar 2018 werden der slowakische Investigativ-Journalist Jan Kuciak und seine Verlobte Martina Kusnirova erschossen in ihrem kleinen Haus aufgefunden. Sie sind 27 Jahre alt, der Tatort liegt 50 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Die Ermittlungen, die auf den Doppelmord folgen, fördern unvorstellbar Geglaubtes zutage. Sie führen zu einer Geschichte von Macht und deren Missbrauch, zu Servilität und Sex, zu einem mafiösen Netzwerk, das Morde beging und weitere geplant haben soll. Zum Vorschein gelangt ein System, dessen Tentakel weit hinein reichen in Justiz, Polizei und bis in die Spitzen der Politik. Als mutmaßliche Auftraggeber werden ein schillernder Millionär und seine verwegene Gefährtin angeklagt. Im September 2020 spricht ein Gericht beide "aus Mangel an Beweisen" frei. Das Urteil in erster Instanz löst einen Schock aus, der weit über die Slowakei hinausreicht. Während die Profikiller langjährige Haftstrafen erhielten, kommen die mutmaßlichen Hintermänner fürs Erste davon. Das Mordrätsel Kuciak bleibt vorerst offen und geht vor das Höchstgericht. Umso aktueller und spannender liest sich das E-Book, das einen der faszinierendsten und zugleich abgründigsten Fälle in Europas jüngerer Kriminalgeschichte erstmals komplett aufrollt. Am Ende war es ein politischer Mord. Jan Kuciak und Martina Kusnirova mussten sterben, weil sie in einem Mafia-Staat lebten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 194

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Danksagungen

Kapitel I: Der letzte Tag im Leben des Journalisten Ján Kuciak

Kapitel II: Die Kočner-Jahre oder wie ein Land zum Mafiastaat wird

Kapitel III: Der Prozess

Kapitel IV: Das Urteil

Personenregister

 

Ján Kuciak – Das Mordrätsel

 

Ein Land wird von der Mafia unterwandert. Am Ende werden der Journalist Ján Kuciak und seine Verlobte ermordet – fünfzig Kilometer östlich von Wien.

Ein True-Crime-Politthriller

 

„Es ist nicht so, dass es den einen großen Fall gibt und danach alles anders ist. Ich glaube vielmehr, dass sich Gesellschaft und politische Öffentlichkeit durch kleine Schritte so kultivieren können, dass Korruption seltener wird. Ich weiß, dass das nicht in einem oder zwei Jahren geschieht. Vielleicht dauert es ein ganzes Leben. Aber womöglich gelingt es mir, zu diesem Wandel ein wenig beizutragen.“

 

Ján Kuciak in seinem ersten Interview, knapp ein Jahr vor seiner Ermordung

Danksagungen

An Jana und Jozef Kuciak, die ihren Sohn verloren haben, mich in ihr Haus einluden und sich viel Zeit für ein Gespräch nahmen, sowie an Jozef Kuciak Jr., den Bruder, der dies ebenso tat. An Marek Vagovič, Leiter des Investigativteams der Nachrichtenseite aktuality.sk, der dort Ján Kuciaks Chef war, ihn förderte und mit Kollegen das Buch „Umlčaní“ (Zum Schweigen gebracht) verfasste, welches an Kuciak erinnert. An Arpád Soltész, Buchautor, Kommentator und Kenner der slowakischen Unterwelt und deren Verbindungen nach ganz oben. An Zuzana Petková, die Kuciak freundschaftlich verbunden war, selbst als Investigativ-Journalistin arbeitete und jetzt die Stiftung „Zastavme korupciu“ (Stoppen wir die Korruption) leitet. An Matthias Settele, Chef des größten slowakischen Privatsenders „Markíza“ und Exil-Österreicher in Bratislava mit viel Einblick. An Matúš Kostolný, Chefredakteur des Portals Denník N und langjähriger Beobachter der slowakischen Politikszene. An die mutigen und wachsamen Journalistinnen und Journalisten der Slowakei, die mit ihren unermüdlichen Recherchen alles daransetzen, dass Gerechtigkeit kein leeres Wort und Ján Kuciaks Tod nicht ungesühnt bleibt. An Iveta Radičová, die ehemalige Premierministerin der Slowakei, welche mich in einem langen Gespräch hinter den Vorhang der Politik blicken ließ. An all jene, die aus guten Gründen ungenannt bleiben. An meinen geschätzten Kollegen im Investigativteam von Addendum, Sebastian Reinhart, der ein früher und kritischer Leser dieses Buches war und mit seinem wachen Verstand das Mordrätsel unzählige Male eifrig mit mir diskutierte. An Lucia Marjanović und Stephan Frank, deren Geduld als Lektoren und Chefs vom Dienst ich mit den zahlreichen Wendungen dieses Falls oft auf die Probe stellte. Und an das gesamte Team der Rechercheplattform Addendum, das dieses Buch erst ermöglichte und mich in dem Vorhaben, es zu schreiben, bestärkt und mit allen Kräften unterstützt hat.

 

Über den Autor

Christoph Lehermayr, geboren 1979, studierte Politikwissenschaft und Slawistik in Wien und Prag. Seit 2019 ist er Investigativ-Journalist bei der Rechercheplattform Addendum. Zuvor leitete er das Auslandsressort des Nachrichtenmagazins News. Er spricht Tschechisch, versteht Slowakisch und gilt als Kenner der Staaten Mittel- und Osteuropas. Seit der Ermordung des Investigativ-Journalisten Ján Kuciak und dessen Verlobter im Februar 2018 beschäftigt er sich intensiv mit dem Fall, führte dutzende Gespräche, sichtete Unterlagen und verfolgte den Prozess gegen die mutmaßlichen Täter und Auftraggeber.

I

Der letzte Tag im Leben des Journalisten Ján Kuciak

Ján Kuciak steht vor dem großen Finale. Sechs Tage noch, und der journalistische Underdog wird die Regierung ins Wanken bringen, den Premier in Bedrängnis und dessen schöne Assistentin halbnackt auf die Straßen der Hauptstadt. Doch Ján Kuciaks Leben wird nur noch zwölf Stunden dauern.

In der Redaktion herrscht jene stille Betriebsamkeit, die man aus Großraumbüros kennt. Spricht jemand lauter, schauen alle gleich hin. Die Journalisten sitzen einander an langen Tischen gegenüber, tippen auf Tastaturen und starren auf Bildschirme. Kuciak hat den zweiten Platz neben dem Fenster. Er ist ein junger Mann, 27 Jahre alt, in Jeans, T-Shirt und Pulli, mit struppigem, dunkelbraunem Haar und Brille. Wie immer trägt er große Kopfhörer, aus denen klassische Musik dringt, deren Klänge eine beruhigende Wirkung entfalten. Kuciak wirkt konzentrierter als sonst und ein wenig angespannt.

Draußen schneit es. Der Winter, mit dem in diesem Jahr kaum noch jemand gerechnet hat, hält die slowakische Hauptstadt plötzlich fest im Griff. Die Temperatur wird an diesem Tag in Bratislava nicht über null Grad steigen, und für das Wochenende sind Neuschneemengen von bis zu dreißig Zentimeter sowie ein Kälteeinbruch angekündigt. Der Verkehr entlang der breiten Ausfallstraße, an der die Redaktion liegt, zieht träger dahin als sonst. Nur die Schneepflüge kämpfen trotzig gegen das Weiß an, das sich still über die Stadt stülpt.

Es ist Mittwoch, der 21. Februar 2018. Kuciak, den seine Kollegen alle nur Janko nennen, ist ein ruhiger, gewissenhafter und zugleich lustiger Typ. „Wie ein großer Plüschbär“, sagt seine Kollegin Annamária Dömeová, „unglaublich lieb, hilfsbereit und zuvorkommend.“ Nennt man Kuciak einen Investigativ-Journalisten, ist ihm nicht ganz wohl dabei. „Sagen wir, ich bin vielleicht auf dem Weg dorthin, einer zu werden“, wendet er dann ein und lächelt. Er ist keiner, der sich selbst inszeniert, so wie es einige in der Branche gern tun, auch wenn ihre Artikel das nicht immer rechtfertigen. Vor Kuciak liegen entscheidende Tage. Seit zweieinhalb Jahren arbeitet er im Investigativteam von aktuality.sk, der zweitgrößten Nachrichtenseite der Slowakei, die zur schweizerisch-deutschen Ringier-Axel-Springer-Gruppe gehört. Er gräbt sich dort in Affären ein, die das Land beschäftigen. Gestrickt sind sie meist aus einem Muster aus Geld, Gier, Korruption und Machtmissbrauch. Im besten Fall bringen die Storys Politiker, Unternehmer oder die beliebte Mischform aus beidem in Bedrängnis. Häufig geschieht aber auch ganz einfach gar nichts: Medien berichten, Politiker dementieren, die Polizei schweigt, die Justiz bleibt tatenlos. Diesmal soll das anders sein. Kuciak ist in den letzten Zügen einer Recherche, die ihn über eineinhalb Jahre kaum losgelassen hat. Nur die wenigsten in der Redaktion wissen von ihr. Und die, die es tun, beschleicht neben der Vorfreude auf einen journalistischen Knüller auch so etwas wie ein ungutes Gefühl. Kuciaks Gegner scheint dieses Mal größer, mächtiger und damit auch gefährlicher.

 

Investigativ-Reporter 2.0

Ján Kuciak ist kein Draufgänger, keiner, der diesem Bild des Reporters entspricht, das gern in Filmen oder TV-Serien gezeichnet wird. Weder trifft er am hintersten Tisch eines verrauchten Lokals besonders oft auf obskure Gestalten, die ihn mit Informationen füttern, noch nimmt er in irgendeiner Tiefgarage in Bratislava dicke Packen Dokumente entgegen. Er bringt vielmehr das mit, was wohl ein Journalist braucht, der im Internetzeitalter investigativ arbeiten will. Wie ein Maulwurf wühlt er sich online in öffentlich zugängliche Daten und Register. Im Unterschied zu Österreich, wo das Amtsgeheimnis noch immer im Verfassungsrang steht, wurde dieses in der Slowakei längst abgeschafft. Das Land verfügt über ein weitreichendes Gesetz zur Informationsfreiheit. So werden etwa Verträge der öffentlichen Hand erst gültig, nachdem sie im Internet veröffentlicht wurden. Das erleichtert seine Arbeit enorm. Parallel dazu scannt er Gerichtsurteile, durchforstet Grundbücher, hebt Firmenbuchauszüge aus, sieht sich Pfandurkunden an und stößt auf ausländische Briefkastenfirmen. Aus all dem vermag Kuciak Fäden zu spinnen, Linien zu ziehen, ein Netz zu erkennen, wo bei anderen nur Verwirrung bleibt. Das Rausgehen, die Arbeit im Terrain, wie es in der Branche heißt, kommt bei ihm im besten Fall erst am Schluss. Dann, wenn er alles gesammelt hat und die Personen im Visier mit seinem Wissen konfrontiert.

So an die Sache heranzugehen, war schon früh sein Traum gewesen. Wenngleich die Realität dann ganz anders aussah, als er vor fünf Jahren neben dem Journalismus-Studium bei der renommiertesten Wirtschaftszeitung des Landes anfing. Ein Jahr blieb er dort und füllte brav die leeren Spalten mit Meldungen. Doch an so vielen Stellen hätte er gern tiefer gegraben, härter nachgefragt und mehr erfahren wollen. „Investigativ arbeiten, bist du verrückt?“, meinte eine Kollegin einmal nur erschrocken. „So was ist doch viel zu gefährlich, gerade wenn du dabei den Falschen auf die Füße trittst.“ Kuciak musste damals nur schmunzeln: „Das Schlimmste, was dir in der Slowakei passieren kann, ist doch, dass sie dich verklagen.“

Als er im Alter von 24 Jahren die Wirtschaftszeitung verließ, war sich Ján Kuciak nicht sicher, ob es das schon war mit ihm und dem Journalismus. Er war in einem kleinen Dorf im Norden der Slowakei aufgewachsen. Außerhalb der Region kannte den Ort keiner, und die, die es doch taten, verorteten ihn nur im Tal der Hungerleider. Er also, plötzlich ein Journalist in der Hauptstadt? Dort, fünfzig Kilometer Luftlinie östlich von Wien, ballte sich der Wohlstand des jungen Landes. Immer mehr Hochhäuser kratzten am Himmel. In den edlen Broschüren der Investoren sprach man bereits von einem Dubai an der Donau, das da entstünde. Große Konzerne hatten in Bratislava ihren Sitz, und die Löhne näherten sich dem an, was gleich jenseits der Stadtgrenze, in Österreich, gezahlt wurde. Die Hauptstadt boomte und prosperierte, staute sich ins Wochenende, wuchs und machte bald Grenzorte wie Kittsee oder Hainburg zu ihren Vorstädten. Immer mehr Bewohner Bratislavas begannen, sich auf der österreichischen Seite Grundstücke und Häuser zu kaufen, da sie dort weit billiger waren als in der eigenen Hauptstadt. Passte Ján Kuciak in diese Stadt und war er bereit für das, was sich hinter den gläsernen Fassaden an Abgründen verbarg? Stoff würde es ihm genug liefern.

Im Herbst 2014 wollte Ján Kuciak es wissen. Das Tschechische Zentrum für Investigativen Journalismus veranstaltete einen Workshop, zu dem es erstmals auch slowakische Uni-Absolventen einlud. Ihr Mentor war der erfahrene Investigativ-Reporter Marek Vagovič, ein drahtiger Kerl, der in der Arbeit meist Hoodies trug und dem schon mal die Autoreifen zerstochen oder tote Katzen vor die Haustür gelegt wurden. Am Ende des Kurses sollte jedes Team eine Story so weit ausgearbeitet haben, dass sie publizierbar wäre. Kuciak geriet in sein Element. Mit den Kollegen entschied er sich, einem anonymen Hinweis zu folgen, wonach große Pharmafirmen slowakische Ärzte zu Urlauben in die Karibik eingeladen hätten. Kuciak erstellte Organigramme, aus denen klar wurde, wer die entscheidenden Player in dem Business waren, welche Verbindungen sie in die Politik besaßen und wie dort die Vergabe von Aufträgen lief. Vagovič merkte, dass Kuciak den richtigen Riecher hatte und die Gabe, Dinge zu kombinieren, wo andere anstanden. Dabei blieb er höflich, wirkte bei der Konfrontation der Ärzte und Pharma-Vertreter nie unsicher, zugleich aber auch nicht arrogant, sondern argumentierte ruhig und sachlich. Ihnen Korruption vorzuwerfen, war für einen angehenden Journalisten keine kleine Sache. Doch Kuciak war seiner Sache sicher. Die „Jäger und Sammler“, wie sich die Gruppe um ihn getauft hatte, präsentierten nach drei Monaten Recherche ihr Ergebnis und landeten auf dem zweiten Platz. Den Sieg errang Kuciak, als ihm sein Mentor Vagovič sagte: „Du kommst gleich mit mir mit und fängst bei uns an.“

 

Das Model und die Mafia

Und jetzt, an diesem bitterkalten Februartag des Jahres 2018 also das Finale, der Knüller, die große Story, an der Ján Kuciak so lange recherchiert hat. In seinem Artikel soll es um die Verflechtungen zwischen slowakischen Politikern, Unternehmern und der kalabrischen ’Ndrangheta gehen – der mächtigsten Mafiaorganisation Europas. Die Sache scheint heikel, weshalb nur ein kleiner Kreis in Kuciaks Recherchen eingeweiht ist. Noch am Nachmittag schickt Kuciak einer Kollegin in Tschechien, mit der er gemeinsam an der Story arbeitet, eine verschlüsselte Nachricht. Er habe eine weitere Verbindung zwischen den Italienern und einem Vertreter der sozialdemokratischen Regierungspartei Smer gefunden. Als sein Chefredakteur die Rohfassung der Story liest, ist er verblüfft. Vor ihm ist es keinem Journalisten gelungen, das Wirken der italienischen Mafia in der Slowakei auch nur annähernd so präzise zu beschreiben.

Kuciak legt in seinem Text nahe, dass die ’Ndrangheta im Osten des Landes Gelder aus ihrem weltweiten Kokaingeschäft wäscht. Dort, fast 500 Kilometer von Bratislava entfernt, am anderen Ende der Republik, sind die Sitten rauer als in der Hauptstadt und die Löhne gleich um die Hälfte niedriger. Kuciak identifiziert einen gewissen Antonino Vadalà als Kopf des Clans. Der Mann aus Kalabrien kam vor Jahren in die Slowakei, nachdem ein Job in Rom, bei dem er einen Mann hätte „bestrafen“ sollen, nicht ganz nach Wunsch ausgegangen war. Im Text wird Vadalàs ganze Geschichte dargelegt, Namen werden genannt, Orte ausgewiesen. Kuciak nimmt an, dass die Drogengelder in den Kauf großer Agrarflächen fließen. So legalisieren die Italiener, die dort längst als Großgrundbesitzer gelten, nicht nur ihr schmutziges Geld, sondern sie saugen mit den erworbenen landwirtschaftlichen Flächen auch noch EU-Fördergelder ab. Für Kuciak ist ab diesem Punkt klar, dass ein solcher Betrug nicht ohne Deckung und mögliche Teilhabe höchster staatlicher Stellen klappt. Weshalb die Krönung der Recherche in einer Erkenntnis besteht: Die langjährige Geliebte und frühere Geschäftspartnerin des Mafioso Vadalà ist heute die engste Assistentin des slowakischen Regierungschefs. Insofern kommt der schönen Mária Trošková in Kuciaks Report eine tragende Rolle zu. Die frühere „Miss Universe“-Teilnehmerin, die auch schon mal für Nacktfotos posierte, wird zur personifizierten Verbindung zwischen der Mafia und der Macht. Nicht umsonst hat der sozialdemokratische Premier Robert Fico bisher jeden Kommentar zu ihrer Rolle an seiner Seite tunlichst vermieden. Erst weit später würde herauskommen, dass sie aus dem Regierungspalast an die dreihundert Mal ihren Ex-Lover, den Mafioso, angerufen hat und auch Fico selbst mit diesem telefonierte. „Damit haben wir ihn! Das kann ein Erdbeben auslösen, die Regierung zum Sturz bringen, vorzeitige Neuwahlen provozieren“, sagt Investigativ-Chef Marek Vagovič an jenem Mittwoch, sichtlich stolz auf Kuciaks Recherche. Gemeinsam besprechen sie mit dem Chefredakteur, was es noch zu erledigen gilt, bevor die Story online gehen kann. Als sich Kuciak am Abend verabschiedet, sieht ihn Vagovič zum letzten Mal. Zehn Tage später wird er vor seinem Sarg stehen.

Ján Kuciak sprintet die Treppen hinunter und stößt die Tür auf. Scharfer, schneegespickter Wind schlägt ihm entgegen. Am nächsten Tag, einem Donnerstag, will er von zu Hause arbeiten, dort seiner Story den letzten Schliff verleihen und sich auf die Konfrontation mit den Italienern vorbereiten. Die hat er sich für den kommenden Montag vorgenommen. Gemeinsam mit einem Fotografen will er die Reise in den Osten antreten und die Männer der ’Ndrangheta auf ihren Ländereien aufsuchen. Von dort aus ziehen sie die Fäden und bedrohen jeden, der sich ihnen in den Weg stellt.

 

Kinder des Sozialismus

In Gedanken ist Kuciak wohl seine Recherchen wieder und wieder durchgegangen, während er durch die Kälte eilt. Er folgt dabei einer Route, die denen, die ihm nach dem Leben trachten, vertraut ist. Von der Redaktion mit dem Bus zum Bahnhof, von dort, wo jede Stunde auch der Regionalexpress aus Wien ankommt, weiter mit dem Zug in die Bezirksstadt Galanta. Gut eine halbe Stunde Fahrt. Und dann die letzten Kilometer mit dem Auto nach Hause. Es ist Kuciaks tägliche Routine – und seine Mörder kennen sie. Ohne dass er es geahnt oder gar bemerkt hätte, ist Kuciak beschattet worden. Fotos, die viel später sichergestellt werden, zeigen ihn beim Verlassen der Redaktion, beim Warten auf den Bus und sogar bei sich daheim, bei Renovierungsarbeiten am Haus. Seine Mörder wissen, wer er ist, wie er aussieht und wo er wohnt. Sie verfügen über Daten, die aus dem Inneren des Sicherheitsapparats stammen. Auf Anweisung von oberster Stelle ist eine „Spinne“ von Kuciak abgerufen und weitergegeben worden. Der Polizeijargon bezeichnet so ein Beziehungsnetzwerk, in dessen Mitte die gesuchte Person steht, samt Meldeadresse, Kfz-Kennzeichen sowie etwaigen Eintragungen im Strafregister. Linien führen von ihr weg zu den Daten der Familienmitglieder. Ján Kuciak ist ausspioniert, beschattet und durchleuchtet worden. An diesem 21. Februar 2018 soll er sterben.

Vor dem Bahnhof von Galanta erwartet ihn eine Frau mit über die Schulter fallendem brünettem Haar: Martina Kušnírová, seine Verlobte. Die beiden gleichaltrigen Studienkollegen haben sich 2013 an der Uni in Nitra kennengelernt und sind seither ein Paar. In gut zwei Monaten, am 5. Mai, wollen sie heiraten. Bis dahin dreht sich alles um die Vorbereitungen auf den großen Tag. Den Nachmittag über ist Kušnírová zu Hause gewesen. Sie hat im Internet nach schönen Aufklebern für die Weinflaschen bei der Hochzeit gesucht. Später ruft sie ihre Mutter an, nachdem ihr diese am Vortag gestanden hat, für die Hochzeit extra einen Kredit aufgenommen zu haben. „Aber Mama, das ist doch nicht nötig“, ärgert sich Kušnírová, „Janko und ich haben genug Geld dafür auf die Seite gelegt.“

Ihre Mutter ist Witwe und hat sich ihr ganzes Leben lang alles vom Mund absparen müssen, um die zwei Kinder und sich über die Runden zu bringen. Auch bei den Kuciaks, die drei Kinder haben, ging es sich trotz harter Arbeit oft hinten und vorne kaum aus. Als die Mutter 1989 mit ihrem ersten Kind Ján schwanger wurde, änderte sich für die Familie alles, was zuvor Gewissheit zu sein schien. Während der Bauch der Frau wuchs, zerbrach draußen das morsche realsozialistische System. Ján Kuciak kam am 17. Mai 1990 bereits in einem anderen Land zur Welt: Die Samtene Revolution war vollbracht, der Systemsturz vollzogen, Václav Havel Präsident, eine neue Ära angebrochen – und in der ging es bergab. Besonders die 1993 vom wohlhabenderen tschechischen Landesteil unabhängig gewordene Slowakei stand am wirtschaftlichen Abgrund. Viele der desolaten Fabriken schlossen, bald war jeder Dritte in der Region ohne Arbeit. Umso stolzer sind die Eltern jetzt auf ihre Kinder. Sie haben es geschafft – Kuciak als aufstrebender Journalist, Kušnírová als Archäologin. Und dort, bei Ausgrabungen im Osten des Landes, sollte sie eigentlich jetzt auch sein und nicht am Bahnhof stehen und auf ihren Verlobten warten. Doch der Schnee, der seit Tagen fällt, und die Kälte, die Mitteleuropa fest im Griff hält, haben ihre Pläne durchkreuzt. Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhofsgebäude steht auch ein alter dunkelgrüner VW Passat Kombi, Baujahr 2003, den sich die beiden vor einiger Zeit günstig gekauft haben und der ihnen seither nur Probleme bereitet. Am Tag zuvor hat ihn Kuciak mit der Fernbedienung nicht mehr aufsperren können. Defekte Batterie, tippte der Schwager in spe am Telefon richtig. Es ist nach halb sieben am Abend, als Kuciak aus dem Zug steigt und seine Verlobte umarmt. Im Finsteren gelingt es ihm, den Kofferraum des Passat zu öffnen, durch ihn nach vorn zu klettern, die Motorhaube aufzumachen und die Batterie zum Aufladen mit nach Hause zu nehmen.

 

Drei Schüsse und zwei Tote

Zehn Kilometer sind es vom Bahnhof in Galanta bis zum Wohnort des Paares im Dorf Veľká Mača. Die Strecke verläuft über flaches und im Sommer äußerst fruchtbares Land, auf dem Weizen, Mais, Zuckerrüben und Gemüse angebaut werden. Das Donautiefland im Süden der Slowakei wird von der ungarischen Minderheit im Land geprägt. Gerade in kleineren Orten ist Ungarisch die dominierende Sprache, wenngleich gemischte Ehen häufiger werden und die Spannungen zwischen den beiden Volksgruppen zuletzt merklich abnahmen. Kuciak und Kušnírová, die beide ursprünglich aus gebirgigeren Teilen der Slowakei stammen, zogen bewusst hierher. Sie sind auf dem Land aufgewachsen, lieben den dörflichen Zusammenhalt und die Natur. Die Vorstellung, in einer kleinen, überteuerten Wohnung in den Häuserschluchten von Bratislava zu leben, schien ihnen nicht gerade reizvoll. Es ist längst dunkel, als Kušnírová am Bahnhof den kleinen Dienst-Pickup startet. Wind fegt über das flache Land. Am Fenster des Fahrzeugs ziehen brache Felder vorbei. Die Erde ist gefroren, und es fällt ein wenig Schnee. Wie Gespenster tauchen im Raureif erstarrte Bäume im Lichtkegel des Scheinwerfers auf.

Sie fährt denselben Weg, den kurz zuvor zwei Männer in einem Citroën Berlingo genommen haben. Um 18.28 Uhr hält dieser Wagen am Rande des Dorfes, noch vor dem Friedhof, gleich beim Ortsschild. Darunter weist eine Zusatztafel auf Slowakisch und Ungarisch darauf hin, dass die Gemeinde videoüberwacht wird. Einer der Männer steigt aus dem Auto. Es ist ein großer, kräftiger Kerl, 35 Jahre alt, muskulös, mit kahlrasiertem Schädel. Ihm ist anzusehen, dass er einmal Berufssoldat war, sich auf Missionen im Ausland verdingte, zuletzt mit der UNO auf Zypern. Nach seinem Ausscheiden heuerte er als Security auf einem der großen Containerschiffe an, die über die Weltmeere kreuzen und ihre Fracht im Indischen Ozean vor Piratenangriffen schützen müssen. Mit Waffen ist er also vertraut, weshalb er auch mit der Luger-Pistole der ungarischen Marke FEG, Modell P9R, die in seiner Jackentasche steckt, gut umgehen kann. Es ist eine halbautomatische Waffe mit einem Kaliber von neun Millimetern, die auch bei der ungarischen Polizei und dem Militär Verwendung findet. Der Mann hat sie im Herbst des Vorjahres erhalten. „Schwarz“ für 700 Euro. Ein Bekannter modifizierte sie, feilte am Lauf und versah die Pistole mit einem Schalldämpfer.

Nun ist sie bereit zum Einsatz, für ihn, den Auftragskiller. Er steigt aus dem Wagen, trägt eine schwarze Kapuze und sieht zu, dass er sofort wegkommt von der Hauptstraße. Keiner soll ihn jetzt sehen, sich später an ihn erinnern oder nur irgendeine Wahrnehmung machen, die sich einmal der Polizei mitteilen ließe. Er richtet den Blick zu Boden, pirscht über den Fußballplatz des örtlichen Vereins und gelangt durch ein größeres Loch im Zaun zurück auf eine Straße. Es ist eine Abkürzung, die er ausgekundschaftet hat. Gemeinsam mit seinem Kompagnon, der sein Cousin ist, fuhren sie das erste Mal vor gut zwei Wochen in das Dorf. Sie entdeckten die Kameras, die an den Kreuzungen den Verkehr aufzeichnen, und fanden einen Weg, sie zu umgehen. Nun ist es nicht mehr weit bis zur Brezová-Straße und dem Zielobjekt. In der Siedlung stehen kleine, ältere Häuser, die noch aus der Zeit des Kommunismus stammen, neben neuerrichteten Bungalows mit gepflasterten Einfahrten, die zu Garagen führen, in denen große Autos parken. Die Strecke kennt der Mann mittlerweile auswendig. Er hat sie studiert und verinnerlicht, um jetzt, wo er unter Druck steht und Adrenalin durch seine Adern schießt, keinen Fehler zu begehen. Das Opfer wohnt im dritten Haus auf der rechten Seite, genau an der Adresse, die ihm und seinem Cousin mitgeteilt worden ist. Dessen Biografie deckt sich mit seiner. Er ist ein ehemaliger Polizist, der später ebenfalls als Security zur See fuhr und sich auf Frachtschiffen vor Afrika verdingte. Als er von dort zurückkam, kaufte er sich ein Motorrad und brach damit zu Touren auf. Immer wieder führten ihn diese auch nach Österreich. Fotos auf Facebook zeigen ihn bei einer Rast am Semmering. Die beiden ehemaligen Männer des Staates sind in ihrer Gegend an der ungarischen Grenze als „Problemlöser“ bekannt. Sie gelten als Typen, die krumme Dinge drehen und die man ruft, wenn sonst nichts mehr hilft. Gemeinsam inspizierten sie Kuciaks Haus. Das gleicht einem Würfel aus Beton und entstammt dem Baukasten des Sozialismus. In der ganzen Slowakei finden sich in den Dörfern Häuser aus dieser Zeit, die genauso aussehen: zwei Fenster auf der Vorderseite, eine schmale, zurückgesetzte Loggia beim Ausgang vom Wohnzimmer, dazu oft ein Schuppen im Garten. Kuciak und Kušnírová haben sich ihr Domizil erst vor ein paar Monaten auf Kredit gekauft. Aus ihm wollen sie sich mit bescheidenen Mitteln und viel Arbeit langsam ein Idyll schaffen. Insgesamt fünfmal haben es die zwei Männer inspiziert, ganz zeitig in der Früh, zu Mittag und auch in der Nacht. Für die Fahrten benutzten sie verschiedene Autos und prüften, ob die Routinen, die ihnen mitgeteilt worden waren, auch stimmten. Sie fragten sich, wann und wie sie ihr Opfer aus dem Weg schaffen sollten. Eines Abends beratschlagten sich die zwei in einer Pizzeria. Sie überlegten, ob sie Ján Kuciak erst entführen und später ermorden könnten. Seine Leiche sollte danach verschwinden, damit sie nie von der Polizei gefunden würde. Genauso lautete zumindest ihr Auftrag. Doch sie verwarfen den Plan. Überall seien heutzutage doch schon Kameras, sagte der eine. Und was, wenn sie die Polizei anhielte und im Kofferraum ein Bewusstloser lag, meinte der andere. Das Risiko erschien ihnen zu groß, die Alternative trat klar hervor: Ján Kuciak muss in seinem Haus erschossen werden. Zwei Tage zuvor hatte der muskulöse Mann den Finger bereits am Abzug gehabt und war bereit, seinen Auftrag zu erfüllen. Bis er durch ein Fenster spähte und dort eine Frau erblickte, von der sie nicht wussten, wer sie war. Sie verschoben die Mission. Auf heute.