Jeder Stein erzählt von einem Leben - Jackie Kohnstamm - E-Book
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Jeder Stein erzählt von einem Leben E-Book

Jackie Kohnstamm

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Beschreibung

Wie mich die Stolpersteine meiner Familie zu einer Reise in die Vergangenheit inspirierten – die bewegende Geschichte von Jackie Kohnstamm und ihren Großeltern Max und Mally

Einer spontanen Eingebung folgend, durchforstet Jackie Kohnstamm im heimischen London das Internet nach ihren Großeltern, Max und Mally Rychwalski. Sie kann ihren Augen kaum glauben, als sie tatsächlich auf einen wichtigen Hinweis stößt: In Berlin wurden nur wenige Tage zuvor Stolpersteine für die beiden verlegt. Seit sie denken kann, liegt das Schicksal von Max und Mally wie ein Schatten auf ihrer Familie, selbst wenn alle Details unausgesprochen bleiben. Für Jackie bedeutet die Zufallsentdeckung im Netz den Beginn einer Reise in die Vergangenheit. Was sie bei der Spurensuche erfährt, wird sie erschüttern und schockieren – und doch ihr und ihrer Familie erst Heilung, Frieden und Versöhnung bringen.

Von der »Fit-für-die-Zukunft«-Jury der Deuschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur als Hoffnung-Buchtipp des Monats Februar 2024 empfohlen!

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Seitenzahl: 383

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ZUMBUCH

Einer spontanen Eingebung folgend, durchforstet Jackie Kohnstamm im heimischen London das Internet nach ihren Großeltern, Max und Mally Rychwalski. Sie kann ihren Augen kaum glauben, als sie tatsächlich auf einen wichtigen Hinweis stößt: In Berlin wurden nur wenige Tage zuvor Stolpersteine für die beiden verlegt. Seit sie denken kann, liegt das Schicksal von Max und Mally wie ein Schatten auf ihrer Familie, selbst wenn alle Details unausgesprochen bleiben. Für Jackie bedeutet die Zufallsentdeckung im Netz den Beginn einer Reise in die Vergangenheit. Was sie bei der Spurensuche erfährt, wird sie erschüttern und schockieren – und doch ihr und ihrer Familie erst Heilung, Frieden und Versöhnung bringen.

ZURAUTORIN

Jackie Kohnstamm wuchs im Norden Londons auf, wo sie auch heute noch lebt. Für ihre Doktorarbeit untersuchte sie eine historische jüdische Gemeinschaft in Frankreich, ohne zu ahnen, wie sehr ihre Recherchefähigkeiten ihr später bei der Suche nach ihrer eigenen Familiengeschichte helfen würden. Sie arbeitete als Dozentin und schrieb Kurzgeschichten, Theaterstücke und Hörspiele, die u. a. im Radio der BBC liefen. Jackie liebt ausgedehnte Mahlzeiten mit verwandten Seelen, ihren verwilderten Garten und Tennis zu spielen, selbst wenn sie nur mit viel Glück einmal gewinnt. Jeder Stein erzählt von einem Leben ist ihr erstes Buch.

JACKIE KOHNSTAMM

JEDER STEIN ERZÄHLT VON EINEM LEBEN

Auf den Spuren meiner Familie

Deutsch von Regina Jooß

LIMES

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Memory Keeper: A Journey into the Holocaust to Find My Family« bei Canongate Books, Edinburgh.

Das Gedicht »Bleibtreu heißt die Straße« von Mascha Kaléko [>>] stammt aus »In meinen Träumen läutet es Sturm: Gedichte und Epigramme aus dem Nachlaß«, hg. Gisela Zoch-Westphal und Mascha Kaléko, München 1977. Mit freundlicher Genehmigung von dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.

Alle Fotos und Abbildungen stammen aus dem Privatbesitz der Autorin mit Ausnahme von: [>>] von Roni G. Ronen (Rosner), [>>] aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA), Rep. 36A Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg Nr. 5039, [>>] von Lonnie Zwerin, [>>] aus den Arolsen Archives, [>>] aus Národní archiv, Praha, Matriky židovských náboženských obcí v českých krajích, Ohledací listy – ghetto Terezín; Rychwalski Max, svazek 74.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by Jackie Kohnstamm

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Limes Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Friedel Wahren

Umschlaggestaltung: © Favoritbüro unter Verwendung

von Familienfotos aus dem Besitz von Jackie Kohnstamm

BSt · Herstellung: DiMo · Len

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29941-5V002

www.limes-verlag.de

Gewidmet der Erinnerung an meine Großeltern, Max und Mally Rychwalski, und an meine ganze Schattenfamilie.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorbemerkung der Autorin

Dezember 2005

Teil 1   BERLIN, JANUAR 2006

Hinter der Tapete

Treffen mit meinen Großeltern

Verbindungen

Am Kipppunkt

Teil 2   IHRESTIMMENHÖREN

Erste Briefe

Geld

Zehn Jahre Stolpersteine

Den Code entschlüsseln

Der Damm bricht

Entscheidende Monate

Das Wagnis eingehen

Krieg

Teil 3   DERNEBELDESDAZWISCHEN

»Was sind Juden?«

Die Familie in der Öffentlichkeit

Türschwellen

Übertretung

Die Straße überqueren

Teil 4   DERSCHRANKISTGELÜFTET

Der Preis des Zurückforderns

Wiederverbinden

Wenn die Würfel anders fallen

Treffen mit mir selbst

Die letzte Türschwelle

Zurück an den Beginn

Quellen

Appendix

Danksagung

VORBEMERKUNG DER AUTORIN

Einige Namen wurden geändert, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, und gelegentlich wurden die Erlebnisse zweier Personen verschmolzen, damit die Erzählung einfach und klar bleiben konnte.

Sämtliche Briefe wurden sorgfältig transkribiert, in ihrem ursprünglichen Wortlaut belassen und nicht an die aktuell gültige Rechtschreibung angepasst.

Die Bekannten und Berühmten zu ehren ist einfach. Doch es sind die Unbekannten, die Geschichte schreiben.

Walter Benjamin

Familie Rychwalski, 1908. In der mittleren Reihe stehend Moses Rychwalski (Mitte), zu seiner Rechten Max, Mally, Siegfried und Marie Greiffenhagen

DEZEMBER 2005

Ruhelos. Ich war ruhelos. Unfähig, irgendetwas in Ordnung zu bringen. Dann brachte der Zufall alles ins Rollen. Anders kann ich es mir nicht erklären. Es war nichts als ein glücklicher Zufall.

Ich stehe an der Tür zum Garten, in der Hand halte ich eine Hose, von der ein Knopf abgegangen ist. Eigentlich möchte ich draußen sein, aber was ist Anfang Dezember im Garten noch zu tun? Sträucher und Büsche warten darauf, dass die Sonne ihre Wurzeln erreicht und sie zu neuem Leben erweckt.

Es ist jetzt mehr als zwei Wochen her, dass ich diese Hose getragen habe. Etwas zu essen hätte ich sofort zubereitet. Kochen finde ich entspannend, den Rhythmus beim Schnippeln beruhigend. Meine Gedanken machen sich dann selbstständig, schweben davon, und am Schluss ist die Mahlzeit fertig. Nähen und Flicken hasse ich aber.

Also begebe ich mich in die Küche, öffne den Kühlschrank und leere das Gemüsefach. Dann werfe ich Karotten, Zwiebeln, Sellerie, Lauch und Kartoffeln – das ganze Wurzelgemüse des Winters – in einen großen Topf und gebe getrocknete Kräuter dazu, denn die frischen sind alle komplett verwelkt. Ein weiterer Grund, warum der Sommer bald kommen sollte. Zum Schluss füge ich noch ein bisschen Brühe und Knoblauch für den Geschmack bei. Während die Suppe vor sich hin köchelt, gehe ich hinaus in den letzten traurigen Rest Tageslicht und schmiede Pläne für den Frühling.

Es ist schwer vorstellbar, dass der Stumpf des Rosenstrauchs neue Triebe bildet, der zum Skelett verkommene Jasmin seine duftenden Blüten über den Zaun hängen lässt oder dass ich noch vor wenigen Monaten meine eigenen Feigen gegessen habe. Muss das Feigenbäumchen umgetopft werden, oder lasse ich es am besten unberührt? Immerhin ist es winterhart, im Gegensatz zu der Geranie, die ich mit noch mehr Vlies umwickele und dicht an die Wand rücke.

Jetzt ist es komplett dunkel. Ich gehe hinein und löffele meine Suppe.

Würde ich im Mittelalter leben, so würde ich jetzt in meinen Nachttopf pissen, ihn aus dem Fenster kippen, die Kerze ausblasen und zu Bett gehen. Der Einbruch der Dunkelheit wäre eine Erleichterung. Durch den elektrischen Strom und die Technik haben wir allzu viele Möglichkeiten, uns zu zerstreuen, und mir gefällt keine davon. Ganz bestimmt will ich nicht nähen. Um mich abzulenken, schalte ich den Fernseher ein. Das ist am einfachsten. Diesen Knopf zu drücken, ohne darüber nachzudenken und ohne zu begreifen, was ich da getan habe.

Ich schnappe mir die Fernbedienung und schalte auf Channel 4. Gerade steigt ein großer Mann in den Kofferraum eines Autos – wahrscheinlich aus freien Stücken, denn er lacht in die Kamera. Er krümmt sich sogar zusammen und lässt sich im Innern des Wagens einsperren. Dann schwenkt die Kamera über mehrere Reihen von Autos, bis nur noch ein dicht besetzter riesiger Parkplatz zu sehen ist. Von den Autos darf keines bewegt werden, denn das würde das Spiel verderben. Channel 4 hat ein Team von Hellsehern aufgefordert, den einen Wagen mit dem Mann im Kofferraum zu finden.

Das ist genau die Ablenkung, die ich brauche, um mich auf das Einfädeln zu konzentrieren. Immer wieder blicke ich zum Fernseher hinüber, während es den Hellsehern nacheinander ganz, fast oder überhaupt nicht gelingt, den Mann zu finden. Auf selbstgefällige und verärgerte Hellseher folgen Werbeunterbrechungen und kleine Psychotests für uns, die Zuschauer zu Hause. Ich steche die Nadel in den Stoff und ziehe sie wieder heraus, dabei mache ich alle Tests und erreiche zwei von zehn Punkten. Was hatte ich auch erwartet? Noch nie habe ich die geringste übersinnliche Begabung verspürt. Zu diesem Zeitpunkt sitzt der Knopf mehr oder weniger fest. Also gehe ich zu Bett.

Also, genau genommen gehe ich nicht zu Bett. Zwar habe ich es vor, aber auf dem Weg ins Schlafzimmer gebe ich bei Google den Mädchennamen meiner Mutter ein: Rychwalski. Merkwürdigerweise habe ich wirklich keine Ahnung, warum ich diesen Augenblick dafür auswähle. Rychwalski ist ein ungewöhnlicher Name in England, nicht aber in Osteuropa oder in den USA. Schon früher habe ich nach dem Namen gesucht, aber nie zielgerichtet, sondern nur so, als würde ich nach jemand entfernt Bekanntem suchen. Auch wenn mir mein gesunder Menschenverstand sagt, dass sie alle längst tot sein müssen.

Ich scrolle die Ergebnisse durch, bis mich zwei Einträge stutzig machen: Max und Amalie Rychwalski. Meine Großeltern. Verdammt, was haben sie auf meinem Bildschirm verloren? Ich klicke auf den Eintrag und gelange auf die Seite des Berliner Bezirks, in dem sie lebten. Bleibtreustraße 32. Ich lese, dass vor ihrem Wohnblock zwei Stolpersteine in das Straßenpflaster eingelassen wurden. Was zum Teufel sind Stolpersteine?

Ein weiterer Klick. Vor meinen Augen erscheint ein Bild, und ich werde in das Kino der 1950er Jahre zurückversetzt. Ich sehe Charlton Heston als Moses, wie er in dem Film Die zehn Gebote eine heiße Steinplatte aus der Presse Gottes entnimmt. Doch statt mir zehnmal Du sollst nicht zu sagen, lese ich auf der einen Platte:

HIERWOHNTE

AMALIERYCHWALSKI

GEB. MESERITZ

JG. 1878

DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT

ERMORDET 13. 11. 1942

Und auf der anderen:

HIERWOHNTE

MAXRYCHWALSKI

JG. 1864

DEPORTIERT 1942 THERESIENSTADT

ERMORDET 31. 01. 1943

Schockiert von diesem unerwarteten Treffen mit meinen Großeltern und von dem Wort ermordet, starre ich auf den Bildschirm. Meine Eltern haben es nie verwendet. Gestorben haben sie gesagt, bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen diese Tatsache überhaupt erwähnt wurde. Oder verschwunden. Nicht aber ermordet.Ermordet ist ein brutales Wort.

Man sollte meinen, dass ich nach mehr als fünfzig Jahren an all dies gewöhnt bin. Dass ich mein Leben lebe, die Straßen ganz gelassen entlangschlendere und mich im Geschäft an der Kasse anstelle, ohne dass irgendwelche Gedanken an platt gewalzte Leichen in meinem Kopf aufploppen. Doch plötzlich ist da ein Bild – oder eine Schlagzeile –, oder ich schnappe irgendwo ein paar Worte auf und … wusch! Meine Großeltern tauchen auf.

Ich war elf, als ich die Wahrheit herausfand. Da hatte ich bereits begriffen, dass meine Großeltern mütterlicherseits gestorben sein mussten. Aber ich wusste nicht, wo oder wie, nicht so wie beim Vater meines Vaters, der vor meiner Geburt einen Herzinfarkt erlitten hatte und tot umgefallen war. Da gab es nichts Geheimnisvolles. Er und meine Großmutter väterlicherseits – die Einzige meiner Großeltern, die ich gekannt hatte – hatten es in letzter Sekunde geschafft, aus Deutschland nach England zu fliehen.

»Immerhin sind sie nicht dort umgebracht worden«, hatte meine Mutter angemerkt und damit impliziert, der Tod in einem Konzentrationslager habe verschiedene Abstufungen.

Theresienstadt war ein Durchgangslager. Dort gab es keine Gaskammern, und ihre Eltern waren nicht erschossen worden, also hatte keine einzelne Handlung ihr Leben beendet. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich herausfand, was tatsächlich mit ihnen geschehen war.

Ich eile zu einem seit Langem verschlossenen Schrank, hole eine Kladde mit Papieren der Familie hervor und wühle darin herum, bis ich zwei vergilbte Totenscheine vom Roten Kreuz finde. Zurück am Computer, vergleiche ich die Daten. Sie stimmen genau überein. Dann fällt mir etwas anderes auf: Verlegt am 30. November 2005. Heute ist der 4. Dezember 2005. Ihre Stolpersteine wurden am letzten Mittwoch platziert. Vor nur vier Tagen.

Sehen Sie! Ich glaube ja gern, dass es Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten gibt. Tatsächlich behauptet eine meiner Freundinnen, Vorahnungen in Form von Bildern zu empfangen, aber ich doch nicht. Schon immer bin ich mit beiden Beinen fest auf der Erde gestanden. Vernünftig. Logisch denkend. So war ich schon als Kind, von Geburt an, soweit ich weiß. Sicherlich ist das jetzt nur ein Zufall, oder?

In letzter Zeit habe ich mehr an die Familie meiner Mutter gedacht als in den ganzen Jahren zuvor. Erst letzte Woche holte ich ihre Familienfotos hervor, als könnte mir das Betrachten helfen, irgendetwas zu begreifen. Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, das ich mein ganzes Leben lang hatte und das zuletzt stärker geworden war. Vielleicht würden mir die Fotos diesmal helfen, damit fertigzuwerden. Ich hatte gebannt auf meine Großmutter gestarrt, die kurz vor ihrer Hochzeit ganz in edle weiße Spitze gekleidet war, dem letzten Schrei im Jahr 1903. Auf einem anderen Foto ist mein Großvater in angeregtem Gespräch mit ihr zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt muss er schon über siebzig gewesen sein, mit Bart, dicken Augenbrauen und tiefen Furchen in den Wangen. Sogar unter seinem Homburg sah er aus wie ein Prophet aus dem Alten Testament.

Das Gefühl, nicht dazuzugehören, war wie ein Eisbrocken, tief in meinem Innern versenkt. Die meiste Zeit bemerkte ich ihn gar nicht. Doch in meiner Jugend überfielen mich hin und wieder Kältewellen. Die Fotos zu betrachten half mir dann, diese Gefühle zu verdrängen. Sie wurden in einer Schuhschachtel in dem Schränkchen unter dem Fernseher aufbewahrt. Von dort holte ich sie mir und breitete eine ganze Großfamilie in Schwarz-Weiß um mich herum aus: Großtanten, Großonkel, Cousins und Cousinen. Meine Mutter als Baby, das aussah wie eine Puppe, Hilde mit ihrem älteren Bruder Ernst und Charlotte. Meine Großeltern, Max und Mally, von denen immer nur die Vornamen verwendet wurden. Mally war die Abkürzung von Amalie. Ihre ältere Schwester hatte Emilie geheißen. Wie seltsam!, dachte ich. Emilie und Amalie. Wie Hanni und Nanni.

Hilde und Max

Auf den Bildern sah ich, wie Mally sich veränderte, von dem Mädchen mit dem wilden Haar und dem schicken Kleid über die Braut mit der Wespentaille bis zu der molligen Frau in Knickerbockern und modischer Jacke, die mit einem Fuß auf einem Schlitten neben Max posierte. Noch später wurde sie eine korpulente ältere Dame, die sich sorgsam mit passendem Hut, Handschuhen und Handtasche ausstaffierte, unter deren traurigen Augen aber dunkle Schatten lagen.

Mein Großvater Max veränderte sich weniger als sie, er war stets groß, bärtig und hatte eine beginnende Glatze. Er blickte selten in die Kamera, außer bei den gestellten Fotos. Ich mochte es, ihn über die Zeitung gebeugt oder beim Lesen einer Postkarte zu entdecken, die er soeben geschrieben hatte. Auf einem kleinen Schnappschuss standen er und Mally am Meer. Im Vordergrund lag ein gestreifter Frotteebademantel zusammengeknüllt im Sand. Ich bezweifelte, dass er Max gehörte. Da er Anzug und Fliege trug, hätte er sich wohl kaum ausgezogen und wäre schwimmen gegangen. Wie auch immer, wenn Max einen solchen Bademantel besessen hätte, so wäre er ordentlich gefaltet und knitterfrei abgelegt worden. Meine Mutter beschrieb ihn als ordentlich und penibel, mit einer besonderen Formschale, um seinen Bart einschließlich Schnurrbart sauber zu halten. Seine Hände dufteten, und die Nägel waren sorgfältig manikürt.

Mally und Max

Als Kind hatte ich mich immer über die Schuhschachtel gekauert und so lange hineingestarrt, bis sich die Gestalten bewegten, wie wenn die Wochenschau kurz hängen geblieben war und sich dann wieder belebte. Ich stellte mir vor, wie ich über Mallys Pelzkragen strich, Max’ große Hand hielt, die der meiner Mutter so ähnelte. In diesen Zeiten kamen mir meine schwarz-weißen Großeltern viel bunter vor als die Familienangehörigen, mit denen ich aufwuchs.

Das schloss auch meine Mutter mit ein, deren Schwarz-Weiß-Version durchweg unterhaltsamer war als jene, mit der ich zusammenlebte. Mutter war für gewöhnlich zu müde, um mit mir zu spielen, hatte zu viel Arbeit oder Migräne. Nur in der Schuhschachtel fand ich mit Sicherheit die humorvolle, aktive Frau, die Grimassen zog, Räder schlug, flotte Hüte trug und vor ihrer Zeit in England in Pluderhosen und knappen Oberteilen an sonnigen Berliner Seeufern posierte.

Hilde

Meine Kindheit war geprägt von drei unterschiedlichen Zeiträumen. Meine Eltern hatten die aufregende, glamouröse und gefährliche Welt des Davor überlebt. Sie waren aus Nazi-Deutschland entkommen, hatten sich als Flüchtlinge in England getroffen und vor den Bomben der deutschen Luftwaffe in Sicherheit gebracht. Ich hingegen wurde in der grauen, trüben Sicherheit der Nachkriegszeit geboren, im Zeitalter des Danach. Erst mit der Zeit wurde mir bewusst, dass es einen dritten Abschnitt gab, der nach dem Davor, aber vor dem Danach lag und der nur uns betraf, nicht die Familien meiner Schulfreunde, zumindest soweit ich das einschätzen konnte. Meine Schulfreunde wurden zwar wie ich nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und wuchsen bei Eltern auf, die ihn überlebt hatten. Dieser dritte Zeitabschnitt – der zu Hause für ein frostiges Klima sorgen konnte – tangierte sie jedoch nicht.

Diese eisige Welt des Dazwischen bestimmte meinen Alltag, obwohl sie schwer zu greifen war und nur selten darüber gesprochen wurde. Wenn ich wütend war oder von irgendetwas die Nase voll hatte, dann versuchte ich, es nicht zu zeigen. Indem ich mir immer auf die Zunge biss – oder mich schlecht fühlte, weil ich es nicht geschafft hatte –, verlor ich allmählich den Zugang zu den starken, lauten und bunten Gefühlen, die als schrecklich galten. Gute Gefühle hingegen waren angenehm fad, hell und nicht bedrohlich. So unterließ ich es lange, die Frage über meine Großeltern zu stellen, auf die ich mir am sehnlichsten eine Antwort wünschte. Bis zu einem Samstag, als ich gerade elf Jahre alt war.

Für gewöhnlich ging ich mit heiklen Fragen zu meiner Mutter. Mit Fragen wie diesen: Entsprachen die Gerüchte über Geschlechtsverkehr, die von den Jungen in der Schule verbreitet wurden, tatsächlich der Wirklichkeit? Schon am nächsten Morgen fing ich sie damit ab, als sie gerade den Ofen säuberte, und sie bestätigte es, während sie weiter die Asche zusammenkehrte. Konnten sie und mein Vater es vielleicht noch einmal damit versuchen, damit ich einen Bruder oder eine Schwester bekam? Offenbar nicht.

Diese ganz spezielle Frage musste ich allerdings meinem Vater stellen. Er saß auf dem Treppenabsatz und hatte seine Schuhe für die wöchentliche Putzaktion vor sich aufgereiht. Ich drückte mich an der Eingangstür herum, während er die Dose mit schwarzer Cherry-Blossom-Schuhcreme öffnete. Ich wartete, bis er das erste Paar fertig hatte, das zweite, das letzte … »Mummys Eltern!«, platzte ich heraus. »Was ist mit ihnen passiert?«

Er nahm einen viel zu großen Klecks Schuhcreme heraus, das sah sogar ich, und verschmierte die Creme immer im Kreis. Einiges davon verklebte sogar die Schuhbänder. »Sie wurden nach Theresienstadt gebracht«, murmelte er, ohne aufzusehen. »Wir wussten nicht viel während des Krieges. Die Nachrichten kamen nicht durch. Das stellte sich erst hinterher heraus.« Er versuchte, die überschüssige Creme abzuwischen, und verteilte sie auf seinen Händen. Ein wildes Nachbürsten folgte. »Ich habe die Artikel natürlich vor Mum versteckt.« Plötzlich stand er auf, ließ die Schuhe und das Reinigungszeug zurück und ging in die Küche.

Dort fand ich die beiden, wie sie flüsternd an der Spüle standen. Meine Mutter sah mich nur ganz kurz an, bevor sie weiter Kartoffeln schälte. »Es war nicht das schlimmste Lager«, erklärte sie. »Zumindest wurden sie dort nicht umgebracht.«

»Aber wenn sie nicht umgebracht wurden …« Die Frage platzte aus mir heraus, bevor ich sie zurückhalten konnte. »Wie sind sie dann gestorben?«

Mit gekrümmten und steifen Schultern ließ meine Mutter das Messer sinken. »Sie hatten nichts zu essen!«, stieß sie mit ungewohnt schriller Stimme hervor. »Sie sind verhungert.«

Eine halbe Stunde später setzten wir uns zum Mittagessen an den Tisch. Fisch, Erbsen, neue Kartoffeln. Ich versuchte, nicht an die Hände meiner Großeltern zu denken, an diese sanften Hände, von denen ich mir so gern vorstellte, dass sie mich in einer Umarmung festhielten. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie sich diese Hände nach Essensresten ausstreckten. Nicht das schlimmste Lager. Bitte, lass es besser sein zu verhungern. Ich starrte auf meinen Teller, kaute und kaute, doch das Schlucken fiel mir schwer.

Und plötzlich sind sie hier, meine verhungerten und ermordeten Großeltern, auf meinem Computerbildschirm.

Ich weiß nicht, wie lange ich auf ihre Namen starrte und darauf wartete, dass sie mir erklärten, was sie dorthin verschlagen hat. Was sind überhaupt Stolpersteine? Ich klicke herum und erfahre, dass das Wort erfunden wurde, aber es ist selbsterklärend. Es sind eben Steine, über die man stolpert. Der Künstler, Gunter Demnig, ist ein Zeitgenosse von mir. Er wurde 1947 in Berlin geboren, und seine Arbeit ist inspiriert von der Wut über die von der Generation seiner Eltern begangenen Verbrechen. In einem früheren Projekt hatte er ein Kupferband durch Köln verlegt, um die Einwohner der Stadt an ihre früheren Sinti- und Roma-Nachbarn zu erinnern, die sie inzwischen vergessen hatten oder an die sie sich nicht mehr erinnern wollten.

Die Stolpersteine sind jeweils einzelnen Personen gewidmet. Es handelt sich dabei um messingbeschichtete kleine Steinwürfel, die vor der Eingangstür von Holocaustopfern in das Straßenpflaster eingelassen werden. Passanten stoßen zufällig darauf und halten inne, um die eingravierten Beschriftungen zu lesen. Damit holen sie die Ermordeten aus der Vergessenheit genau dorthin zurück, wo sie einst wohnten und sich frei bewegten.

Ich frage mich, ob das vielleicht jemand genau jetzt für Max und Mally macht. Wie spät ist es? Beinahe Mitternacht hier in London, früher Montagmorgen in Berlin. Eiskalt, sollte ich denken. Die Bleibtreustraße hell erleuchtet und leer. Ich stelle mir ein junges Pärchen vor, wie es eng aneinandergekuschelt mit wackeligen Schritten die Straße entlanggeht. Sie lässt etwas fallen … Was? Schlüssel. Kichert. Versucht, sie wieder aufzuheben, doch er ist schneller und hält sie neckisch so, dass seine Freundin sie nicht erreicht. Sie starrt aber immer noch zu der Stelle hinunter, an der die Schlüssel aufgekommen sind. Ein kleines Messingquadrat zwischen den Pflastersteinen, in das eine Inschrift eingeprägt ist. Sie liest, was darauf steht und auf dem Stein daneben. »Schau nur!«, ruft sie.

»Ja!«, schreie ich den Bildschirm an. Zum ersten Mal seit ihrer Deportation sind meine Großeltern zu ihrem rechtmäßigen Zuhause zurückgebracht worden.

1996, als Gunter Demnig seine ersten Stolpersteine verlegte, war dies ein Akt des Widerstands. Antiautoritär. Antibürokratisch. Eine Mantel-und-Degen-Aktion. Ohne Erlaubnis das Straßenpflaster aufbohren. Doch inzwischen unterstützten und befürworteten überall in Deutschland Stadträte und Verwaltungen das Projekt. Jede und jeder kann Stolpersteine in Auftrag geben, Verwandte, die überlebt haben, genauso wie jetzige Bewohner eines Hauses von Opfern.

Wer also hat die Stolpersteine meiner Großeltern in Auftrag gegeben?

Ich finde die Betreffenden auf der Seite der Bezirksverwaltung und entdecke eine Telefonnummer. Am folgenden Morgen rufe ich an. Eine Frau meldet sich. Ich nenne meinen Namen und füge hinzu: »Aber das wird Ihnen nichts sagen. Meine Großeltern hießen Rychwalski, Max und Amalie, genannt Mally …« Ich verstumme. Warum sagt sie nichts? »Ich habe mich also gefragt: Wer könnte das organisiert haben? Sie müssen wissen, dass ich ihr einziges Enkelkind bin. Sonst gibt es niemanden mehr. Die Letzte aus ihrer Familie, könnte man sagen …«

Ich höre so etwas wie einen tiefen Seufzer, als hätte die Frau die Luft angehalten und stoße sie jetzt aus. »Wir haben die Steine doch gerade erst verlegt!«

»Aber wer sind Sie?«

Wieder Stille.

»Hallo?«

Keine Antwort. Sie scheint sich entfernt zu haben.

Dann kommt ein Mann ans Telefon. »Knoll.«

Herr Knoll erzählt mir … Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, was er mir erzählt. Ich bemühe mich, ihm zuzuhören, aber in meinem Kopf redet ihm ständig eine Stimme dazwischen. »Das ist unglaublich. Wer hätte das gedacht? Völlig fremde Menschen tun das für Max und Mally. Wirklich, wer hätte das gedacht?«

»Warum haben Sie sich meine Großeltern ausgesucht?«, frage ich irgendwann laut.

Herr Knoll muss offenbar komplett wiederholen, was ich beim ersten Mal nicht gehört habe. Dabei spricht er sehr langsam. Er ist ein Freimaurer. Das war Max auch – was mir neu ist –, beide bei derselben Loge. Einer Freimaurerloge, die von Nichtjuden und Juden gegründet wurde. Viele von ihnen wurden Opfer der Nazis. Herr Knoll verlegt Stolpersteine für sie alle. Und für ihre Frauen. »Hätte ich doch bloß von Ihnen gewusst! Aber woher hätte ich es wissen sollen?« Er macht eine Pause. »Haben Sie irgendwelche Familienfotos? Können Sie sie mir schicken? Wir haben nur die Namen und die Daten. Die Geburtsdaten und die Daten der Deportation. Manchmal das Todesdatum. Wenn es bekannt ist.«

Listen mit vielen Leerstellen. Das ist alles, was er hat. Er muss die Lücken füllen. Natürlich muss er das. »Ja, ich schicke Ihnen Fotos.«

Eine Stunde später erhalte ich eine E-Mail von einer Frau Lenck von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin.

Sehr geehrte Frau Kohnstamm, ich kümmere mich um die Anträge für Stolpersteine in den 12 Bezirken von Berlin und arbeite mit den Freiwilligen zusammen, die Nachforschungen zu den einzelnen Steinen übernehmen. Herr Knoll betreut jetzt Wilmersdorf/Charlottenburg, den Bezirk, in dem Ihre Großeltern gelebt haben.

Sie berichtet weiter, dass überall in Deutschland immer mehr Stolpersteine verlegt werden und es mehr Anträge von derzeitigen Bewohnern eines Gebäudes gibt als von überlebenden Verwandten und Nachfahren.

Erstaunlich. Nachdem sie über das Thema jahrzehntelang geschwiegen und einen großen Bogen gemacht hatten – denn diese Zeiten waren ja vorbei und erledigt, sodass man sie unter den Teppich kehren konnte –, heben die Deutschen diesen Teppich nun an und sehen genau hin. Einfache Leute stellen sich dem Grauen, weil sie das Vermächtnis ihrer Vorfahren quält. Bisher war ich komplett allein mit dem Vermächtnis meiner Familie.

Wir freuen uns natürlich besonders, schließt Frau Lenck ihre Mail, dass Sie uns gefunden haben und wissen, dass Ihre Angehörigeninder Stadt,in der sie so ein schweres Schicksalertragen mussten, nicht vergessen sind.

Ich breche in Tränen aus.

Teil 1

BERLIN, JANUAR 2006

HINTER DER TAPETE

Es gibt bekanntes Bekanntes. Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen.« 2002 wich der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf einer Pressekonferenz Fragen darüber aus, ob der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt. »Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt«, fuhr er fort. »Das bedeutet, wir wissen, dass es einige Dinge gibt, die wir nicht wissen.« Dann kam der entscheidende Punkt. »Doch es gibt auch unbekanntes Unbekanntes, also die Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.«

Seine viel zitierte und oft parodierte Antwort ergab für mich absolut Sinn. Sie beschrieb genau meine wachsende Erkenntnis, was das Schicksal meiner Großeltern und der meisten Verwandten aus der Schuhschachtel betraf. Bis ich im Alter von elf Jahren meinen Vater beim Schuheputzen löcherte, war die Welt des Dazwischen ein riesiges Unbekanntes für mich. Bei dem Versuch, irgendetwas aus dem Weg zu gehen – aber was? –, fiel ich manchmal unbeabsichtigt darüber, sodass meine Mutter explodierte. In diesen frühen Zeiten des Danach war es ihr noch nicht gelungen, ihre kochende Wut wegzusperren. Doch sobald ich die schrecklichen Tatsachen kannte, wurde aus dem unbekannten Unbekannten ein bekanntes Unbekanntes. Seitdem verspürte ich den Drang, mehr herauszufinden, während ich gleichzeitig Ausschau nach Anzeichen für die überkochende Wut meiner Mutter hielt.

Ich entwickelte außerordentlich sensible Antennen, die sofort Alarm schlugen, wenn meine Eltern die Köpfe zusammensteckten und sich auf Deutsch unterhielten. Bis ich zwölf war und in der Schule Deutsch lernte, war dies die Sprache für Geheimnisse aus dem Davor und dem Dazwischen. Abgesehen von einigen Kindergeschichten und Liedern, die sie mir beigebracht hatten. Dabei zog meine Mutter angespannt und hektisch an ihrer Zigarette, mein Vater aber saß auf der Kante seines Lehnsessels, beugte sich über die alte Royal-Schreibmaschine und hämmerte in die Tasten.

Nachdem ich von Max’ und Mallys Schicksal erfahren hatte, fragte ich meine Mutter, ob sie noch Briefe von ihnen hätte. »Nein«, antwortete sie, und ich glaubte, es hätte in den drei Jahren zwischen ihrer Ankunft in London im Dezember 1936 und dem Ausbruch des Krieges nur diesen einen seltsamen Telefonanruf gegeben.

Viele Jahre später – um genau zu sein, im Oktober 1987 – erfuhr ich dann, dass das nicht der Wahrheit entsprechen konnte. Ein israelischer Cousin hatte mich früh an jenem Morgen angerufen und mir die Nachricht überbracht, dass mein Onkel Ernst überraschend gestorben war. Daraufhin hatte ich sofort einen Flug nach Tel Aviv gebucht. Keine seiner Schwestern kam zu seiner Beerdigung, und ich fragte mich nach dem Grund, obwohl es mich nicht völlig überraschte. Sowohl meine Mutter als auch Charlotte beschwerten sich ständig darüber, wie verschlossen ihr Bruder war, wie faul und schwierig im Umgang. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter selbst schon gebrechlich. Dennoch fand ich es schockierend, dass die beiden Frauen keinerlei Trauer oder Bedauern über Onkel Ernsts Tod zeigten.

Ich war die engste Verwandte bei der Zusammenkunft, denn Ernst hatte nie geheiratet und war kinderlos geblieben. In seiner Wohnung, nach der Beerdigung, war es mir unangenehm, die persönlichen Besitztümer eines so zurückhaltenden Menschen durchzusehen. Unten in einem Schrank fand ich dann einen Ordner mit der Aufschrift Alte Briefe. Darin befand sich ein Bündel mit Briefen in Sütterlinschrift.

Ludwig Sütterlin hatte seine Schrift aus älteren Schreibschriften entwickelt. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert wurde sie den Kindern in den meisten deutschen Schulen beigebracht. Abgesehen von den großen Unterschieden zwischen Groß- und Kleinbuchstaben wurde ein Kleinbuchstabe in der Sütterlinschrift auch unterschiedlich geschrieben, je nachdem, wo er auftrat. Zum Beispiel gab es für das S drei unterschiedliche Versionen: für den Anfang, die Mitte und das Ende eines Wortes.

Die einzigen Brocken, die ich lesen konnte, waren die Daten und die Unterschriften in moderner Schrift. 1938 … 1939 … Vater … Mutter … Ich fröstelte. Max und Mally waren endlich zu mir gekommen. In diesem Moment begriff ich: Wenn ihre Vorkriegsbriefe an Ernst angekommen waren, dann musste meine Mutter auch Briefe erhalten haben.

Zurück in London, zögerte ich. War genug Zeit vergangen? Sollte ich ihr die Briefe zeigen? Täte ihr das vielleicht sogar gut, indem es eine Katharsis auslöste? Wahllos griff ich einen der Briefe heraus. Aber, du meine Güte, welch ein Fehler! Allein beim Anblick der Handschriften von Max und Mally fiel sie völlig in sich zusammen. Also stopfte ich die Briefe in meinen Schrank, wo sie für die nächsten achtzehn Jahre blieben, bis Herr Knoll die Stolpersteine für meine Großeltern verlegen ließ und ich meinerseits darüber stolperte.

Die Todesfälle traten nun alle zweieinhalb Jahre ein. 1990 mein Vater und dann 1992, im Alter von siebenundsiebzig, meine Mutter. Ihr Tod war ein durch Krebs verursachter langsamer Verfall. Als sie noch die Kraft dazu hatte, erzählte sie von ihrer Kindheit in den sicheren Jahren vor Hitler. Ich schlug ihr vor, ihre Erinnerungen aufzunehmen, und sie sprach gern für mich auf Tonband. Wie ich es mir angewöhnt hatte, vermied ich die Nazizeit. Doch dann näherte sie sich den Jahren von selbst an. Zu meiner Überraschung und vielleicht nur, weil sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Sie beschrieb einen viel älteren Cousin, den sie gemocht hatte. »Alfred trug eine Augenklappe, weil er im Ersten Weltkrieg ein Auge verloren hatte, und wenn er mit mir spielte, versuchte ich immer wieder, sie ihm abzuziehen. Er schenkte mir eine Orange, und ich dachte, es wäre ein Ball, denn ich hatte noch nie zuvor eine Orange gesehen. Er heiratete ein Mädchen vom Land, und sie bekamen ein Kind nach dem anderen. Alle umgekommen.«

Alfred Rychwalski

»Deine Familie ist wirklich dezimiert worden«, sagte ich.

»Ja … nun, ich habe herausgefunden, wie viele es waren.« Es folgte eine Liste mit Eltern, Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins. An einer Stelle stockte sie. »Tante Marie?«, warf ich ein. Sie schüttelte den Kopf. »Sie kommt später. Ich zähle erst die Onkel auf.« Da begriff ich, dass sie sich in strikter Reihenfolge an sie erinnerte. Erst die Cousins und Cousinen von Max’ Seite, dann die von Mallys Seite, so arbeitete sie sich weiter vor. Insgesamt kamen wir auf zweiundzwanzig. »Und das sind nur die unmittelbaren Familienangehörigen«, erklärte sie. »Es gab auch viele Freunde, Menschen, die uns nahestanden. Ja, wirklich einige.«

Anschließend saßen wir zusammen und schwiegen auf neue Art und Weise. Dieses Schweigen, das Privileg, es mit ihr geteilt zu haben, habe ich nie vergessen. Zum ersten und zugleich letzten Mal hatte meine Mutter mir ihre ganz persönliche Litanei mit den Namen der Ermordeten offenbart. Zweiundzwanzig Angehörige aus dem engsten Familienkreis.

Als ich nach ihrem Tod das Haus ausräumte, fand ich nicht einmal eine Postkarte von Max und Mally. Das Einzige, was sie von dem Davor aufbewahrt hatte, war der Koffer, in dem sie ihre eigenen Sachen von Berlin nach London transportiert hatte.

Im Februar 1995 flog ich in die USA, um mich von Mutters Schwester Charlotte zu verabschieden. Pragmatisch und sachlich wie immer – obwohl sie an Krebs im Endstadium litt – begrüßte sie mich mit zwei Plastiktüten, die von Papieren überquollen. »Du bist die Archivarin der Familie«, sagte sie nur. »Für dich.« Ohne Erklärung. Ohne irgendetwas. Ich blätterte die Tagebücher aus Charlottes Jugend durch, Berge an Liebesbriefen, einige Briefe von meiner Mutter, einige undurchschaubare von Max und Mally, die verblassten Geburtsurkunden, die Heiratsurkunde und schließlich die Todesbescheinigungen, die das Rote Kreuz nach dem Krieg ausgestellt hatte. Einen Monat später war Charlotte selbst gestorben.

Dann geschah etwas Seltsames. Nachdem ich mich mein halbes Leben lang bemüht hatte, irgendetwas über meine Großeltern und die unbekannten Familienmitglieder herauszufinden, hatte ich plötzlich ein ganzes Sammelsurium an Material und schaffte es nicht, es mir anzusehen. Den Text der meisten Papiere verstand ich ohnehin nicht, und jetzt, da alle verstorben waren, die mich hätten anleiten können, wusste ich nicht weiter. Manchmal holte ich die Ordner hervor, doch jedes Mal fühlte es sich so an, als würde sich ein schweres Gewicht auf meine Schultern legen. So viele Verluste. Alle waren tot. Diejenigen, die ich gekannt hatte, und diejenigen, die ich nie hatte kennenlernen können. Sogar die lächerlichen Schulmädchenbotschaften von meiner Mutter an ihre Schwester halfen da nicht. Wir haben grade[sic] Biologie und lernen von Tieren mit Saugefleischfuss. … Was noch schlimmer ist, ich habe einen riesigen Pickel am Kinn – schau! Dazu eine schreckliche Zeichnung. Ich hatte es immer geliebt, wenn diese heitere Mutter auch in meiner Welt aufgeploppt war. Dann war sie in den Garten gerannt, um für meinen Freund Michael Sahnebonbons an die Äste des süßenBaums zu hängen, zu dem er immer gelaufen war, wenn er zum Tee zu uns kam. Inzwischen schien ich nur noch unbeweglich auf die Papiere starren zu können, bevor ich sie wieder in den Schrank räumte, wo sie dann für die nächsten zehn Jahre blieben.

Jetzt allerdings gehört das Schicksal meiner Großeltern nicht mehr nur mir. Herr Knoll will wissen, was für Leute sie waren. Hatte ich genau das nicht immer selbst gewollt? Max und Mally verdienen es, dass sie zumindest als die Menschen bekannt sind, die sie gewesen sind.

Er hat nach Fotos gefragt. Fotos sind einfach. Ich habe mir ihre Fotos seit meiner Kindheit angeschaut. Ich wähle eines von Max und Mally an ihrem Hochzeitstag aus, ein anderes von der ganzen Familie am Meer.

Danach gehe ich zum Schrank, bleibe dann aber davor stehen. Letzte Nacht hatte ich nicht so gezögert. Sobald ihre Namen auf meinem Bildschirm aufgeflackert waren, war ich ohne Zögern zum Schrank gerannt und hatte ihre Totenscheine hervorgeholt, um die Daten zu vergleichen. Doch jetzt bei hellem Tageslicht spüre ich, wie sich mein Magen zusammenzieht bei dem Gedanken, wieder alles auszugraben. Mach schnell!, sage ich mir. Das ist dieeinzige Möglichkeit.

Ich reiße die Schranktür auf und leere alles aus. In den Papieren meines Onkels Ernst suche ich nach etwas, das ich lesen könnte. Die letzte, vom Roten Kreuz übermittelte Nachricht meiner Großeltern, in der sie sich verabschiedeten.

Vor Abreise recht innige Grüsse Küsse. Sind gesund, hoffen von Dir dasselbe, schrieb Max in deutlichen modernen Buchstaben, bevor sie abtransportiert wurden zu der Stadt, dieder Führer denJuden geschenkt hat, wie Theresienstadt in dem Propagandafilm von 1944 genannt wurde. Benachrichtige Schwestern. Marie vorher abgereist. Erhoffen später Wiedersehensmöglichkeit. Dir Verwandten Alles Gute Eltern. Genau fünfundzwanzig Wörter, das Maximum für Nachrichten, die vom Roten Kreuz übermittelt wurden.

Sind gesund … Marie vorher abgereist … Als wollten sie sich mit Max’ Schwester für einen Urlaub treffen. Die Nazi-Führung hatte ihnen mitgeteilt: Veteranen des Ersten Weltkriegs und wohlhabende ältere Leute würden weiterhin ein normales Leben führen, an die frische Luft gehen, Karten spielen, Musik hören und tanzen können. Diese letzte Lüge wollten alle glauben. Also packten sie ihre besten Kleidungsstücke und Schuhe ein, kauften sich wie befohlen Zugtickets und warteten, bis sie eingesammelt wurden.

Das ist eine Premiere für mich: Ich bin zum ersten Mal in die hintersten Schrankecken abgetaucht, habe noch über dem kleinsten Stückchen Papier gebrütet, und es hat mich trotzdem nicht überwältigt. Weil ich endlich jemanden habe, mit dem ich alles teilen kann. Ein unbekanntes Paar in Berlin fand es wichtig, sich mit mir an meine Großeltern zu erinnern. Soll ich ihnen einfach Informationen schicken und es dabei belassen? Nein, das würde in keinem Fall reichen. Jetzt, da ich endlich damit begonnen habe, kann ich nicht auf halbem Weg stehen bleiben. Ich muss mich selbst schicken.

Ich vereinbare ein Treffen mit Herrn Knoll und buche einen Flug nach Berlin.

An einem hellen Januarmorgen ein paar Wochen später beobachte ich die Schatten der Wolken auf den schneebedeckten Baumwipfeln weit unter mir. Dabei denke ich an die lichten Sommernächte meiner Kindheit, in denen ich – hellwach – auf die rosafarbenen Blüten, die grünen Blätter und die Stängel der Rosen auf meiner Tapete starrte. Dann hörte ich, wie unser Nachbar den Rasen mähte, wie meine Mutter in der Küche mit Töpfen hantierte und mein Vater im Duett mit Jussi Björling The Pearl Fishers sang oder laut lachend Freunden Drinks ausschenkte. Dort unten ging das Leben ohne mich weiter, also war dies meine Gelegenheit, Max und Mally kennenzulernen. Und für sie war es die Gelegenheit, mich kennenzulernen.

Max stellte ich mir vor wie den Gott, von dem wir in der Schule lernten, der bei uns zu Hause aber keinen Platz hatte. Die Schwierigkeit war folgende: Wenn er allwissend und allmächtig war, konnte er vielleicht in meinen Kopf blicken und kannte meine Gedanken. Das beunruhigte mich, vor allem weil meine Mutter mir erzählt hatte, dass Max streng und ein Ordnungsfanatiker war. Er hätte bestimmt etwas auszusetzen. Hatte ich meinen Schlüpfer auf dem Boden liegen gelassen? Ich setzte mich auf und sah mich um. Nein, auf dem Boden lag nichts.

Egal, Ordnung hin oder her, er würde mich lieben, wenn er mich nur kennenlernen könnte, oder etwa nicht? Immerhin war ich sein einziges Enkelkind. Und Mally sah aus wie eine Großmutter zum Kuscheln, auf deren Schoß ich gut sitzen konnte.

Ich betrachtete die Tapete so lange durch halb geöffnete Augen, bis sie ins Beben geriet. Wenn ich die Augen bis auf den richtigen Spalt schloss und zwischen meinen Wimpern hindurchlugte, konnte ich mir vorstellen, wie sich die Rosenknospen öffneten und aus den Stielen Triebe sprossen, die sich dann bis zum Wohnzimmer hinunterwanden, um meine Großeltern aus ihrer Schuhschachtel heraus und zu mir hochzuholen.

Zuerst hörte ich ein entferntes Gemurmel auf Deutsch und das Husten meines Großvaters. Irgendeine Verzögerung hinter den Rosen. Schließlich wichen die Stiele auseinander, sie drängten sich in mein Zimmer und sahen sich um. Ich brachte Max dazu, mir seine großen Hände entgegenzustrecken und mich hochzunehmen, damit ich seinen Bart streicheln konnte. Ich stellte mir vor, wie ich mich in Mallys weiche Umarmung sinken ließ und wie ich ihr rundes Gesicht küsste. Beständig griff ich danach, doch meine Finger fanden immer nur leere Luft. Irgendwann lösten sich meine Großeltern dann traurigerweise wieder zwischen den Rosen auf und verschwanden in ihrer Schuhschachtel.

In ebendiesem Januar des Jahres 2006 schießt die Raumsonde Stardust eine Kapsel zur Erde zurück, die in Utah in der Wüste landet. Es ist das Ende einer siebenjährigen Mission, bei der Partikel eines Kometenschweifs gesammelt wurden. Die Analysen des Staubs sollten gängige wissenschaftliche Theorien über den Beginn unseres Sonnensystems verändern, darüber, dass Kometen sich in den eisigen Randbezirken bildeten. Denn es kamen Mineralien zum Vorschein, die nur im Zentrum des Sonnensystems durch die intensive Hitze der Sonne entstanden sein konnten. Ein heißes, wirbelndes Ganzes, so werden die Forscher daraus schließen, war plötzlich zerfallen und in den Weltraum hinausgeschleudert worden, wo es gefrorene kleinere Brocken gebildet hatte.

Doch als das Flugzeug auf dem Flughafen Tegel landet, weiß ich noch nichts von der Mission der Stardust und ihrem Satelliten, der wie ein riesiger Tennisschläger durch das All geflogen war, um Kometenstaub einzufangen. Ich weiß nur, dass sich meine eigene Welt verändert hat. Zum ersten Mal überhaupt streckte ich meine Hand ins eisige Nichts aus, und es stellte sich heraus, dass sie von einem warmen Griff umschlossen wurde.

TREFFEN MIT MEINEN GROSSELTERN

Mittags komme ich im Hotel an. Herrn Knoll werde ich morgen treffen, dann wird er mich mitnehmen zu den Wohnorten meiner Familie. Heute Nachmittag wird mir Frau Lenck von der Koordinierungsstelle fürStolpersteine die Gedenksteine meiner Großeltern zeigen.

Da noch drei Stunden bis zu ihrem Kommen bleiben und die Bleibtreustraße nur ein paar Straßen entfernt liegt, könnte ich die Steine leicht selbst finden. Doch meine alte Gewohnheit, alles allein zu erledigen, weil nichts anderes möglich ist, hat sich erübrigt. Also stelle ich meinen Koffer im Zimmer ab und bewege mich in die entgegengesetzte Richtung, um mir ein Mittagessen zu organisieren, das ich nicht kauen muss.

Eine Woche zuvor, kurz nachdem ich meinen Flug gebucht hatte, bin ich mitten in der Nacht von stechenden Zahnschmerzen aufgewacht. Drei Viertel meines Mundes verlangten meine Aufmerksamkeit. Jetzt geht das schon wieder los, dachte ich mir. Warum muss immer irgendein Teil meines Körpers protestieren, wenn ich mich um eine Gefühlssache kümmere? Dass es dieses Mal meine Zähne sind, hat eine gewisse Ironie, es passt aber.

Der Zahnmedizin verdanke ich schließlich meine Existenz. Denn die Zahnmedizin ermöglichte es meiner Mutter, den Nazis zu entkommen. Als die Nazis an die Macht kamen, war sie beinahe achtzehn und im letzten Schuljahr. Da ihr eine höhere Bildung verwehrt war, absolvierte sie einen Kurs für Sekretärinnen und fand eine Arbeitsstelle bei einem jüdischen Zahnarzt, der 1936 nach Willesden Green ausgewandert war. Er holte sie mit einem Dienstbotenvisum nach Großbritannien. Das war praktisch die einzige Einwanderungsmöglichkeit für alleinstehende Frauen. Und sie sollte tatsächlich kochen, putzen und auf seine Kinder aufpassen, bis sie irgendwann in seiner Praxis arbeiten durfte. In Willesden Green warf sie auch zum ersten Mal ein Auge auf meinen Vater … oder eher auf seine Zähne.

Zum Glück war es mir gelungen, einen Notfalltermin zu ergattern. Doch der Zahnarzt hatte mit der Spritze sein Ziel verfehlt, sodass mein Ohr taub geworden war und ich Schmerzen von den Gesichtsnerven bis hinunter zu den Füßen ertragen musste. Hatte er mir etwa ins Gehirn gebohrt? Zum Glück hatten sich meine Zähne wieder beruhigt, bis ich in den Flieger eingestiegen war.

Auf dem Kurfürstendamm bietet ein Essensstand an einer Kreuzung Erbseneintopf mit Würstchen an. Genau das Richtige. Ich tauche unter der Plastikplane des überdachten Stands hindurch, um mir eine dampfende Schüssel Erbsensuppe mit Wurststückchen und ein Brötchen zu kaufen, das zum Glück weich ist.

»Genau so hat sie meine Mutter immer gemacht«, sage ich der älteren Blondine mit dem hellroten Lippenstift, die sie mir reicht.

»Dann lassen Sie es sich schmecken!« Sie spricht in dem breiten Berliner Dialekt, in den meine Mutter bei bestimmten Anlässen gelegentlich verfallen war. Seine schrillen Vokale und die böse zusammengezogenen Konsonanten eigneten sich perfekt dazu, mich aufzuziehen oder die Katze anzuschreien, wenn sie den Teppich vollgekotzt hatte.

Die Suppe schmeckt gut, und ich löffele sie langsam aus, da ich es nicht eilig habe, die warme Blase des Essensstands gegen die bittere Kälte einzutauschen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich immer noch viel Zeit habe. Als ich an die Theke zurückkehre, um mir einen Kaffee zu holen, springt mir eine Pyramide aus Hügeln mit Schokoladenüberzug förmlich in die Augen. »Was ist das?«

»Kennen Sie das nicht? Negerküsse, janz lecker.«

Was bitte? Ein Negerkuss? Selbst wenn es ein zusammengesetztes Wort ist, selbst wenn das schon immer die Bezeichnung dafür war, selbst wenn sie das Bild, das ich im Kopf habe, nicht kennt … Innerhalb von nur zwei Stunden nach meiner Landung hat mein Besuch in Berlin bereits etwas Rassistisches.

»Wollen Sie probieren? Hier. Der geht auf mich.« Sie legt eines der Schokoladengebilde auf einen Teller.

»Ähm … danke.« Ich suche nach einer Antwort, aber mir fällt nichts ein. Vor vielen Jahren habe ich Austauschprogramme für Schüler organisiert. Damals habe ich öfter deutsch gesprochen, doch jetzt fühlt es sich an, als hätte ich mir eine knittrige alte Jacke übergezogen, in deren Falten ein Wirrwarr aus Wörtern festhängt, das ich herausschütteln muss.

Ich bleibe im warmen Mief sitzen und beobachte die Passanten auf der anderen Seite der Plastikfolie, die eisige Schneeklumpen gegen die durchsichtige Hülle schleudern. Essen, denke ich, während ich an dem Schokokuss knabbere, und stelle mir unseren Tisch zu Hause vor, der überhäuft war mit fremdländischem Zeug, wie ein Freund meiner Eltern es immer nannte. Was ihn nicht davon abhielt, ordentlich reinzuhauen. Salami, westfälischer Schinken und Leberwurst, die mein Vater von seinem wöchentlichen Ausflug zu Schmidts mitgebracht hatte, dem deutschen Feinkostgeschäft in der Charlotte Street. In unserem wahrhaftig nicht koscheren Zuhause servierte meine Mutter in der einen Woche eine jüdische Hühnersuppe mit Matzeknödeln, in der nächsten eine deftige deutsche Kartoffelsuppe mit Knackwurst. Dazwischen gab es an den Wochenenden den guten englischen Bacon mit Eiern. Obwohl mein Vater geschäftlich nach Deutschland reiste, mieden wir als Familie dieses Land. Wenn wir für einen Sommerurlaub in der Schweiz durch einen Teil davon fahren mussten, dann hielten wir kaum an, um Luft zu schnappen, bis wir die Grenze erreicht hatten. Eine Ausnahme gab es. Eine Wunderhöhle, ein deutsches Küchengeschäft, in dem sich meine Mutter mit unverwüstlichen Kasserollen eindeckte, mit einem furchterregenden Instrument zum Herauspressen von Kirschkernen und mit einem blau geblümten Porzellanservice von Arzberg. Was Autos betraf, waren meine Eltern in jedem Fall Puristen. Mein Vater kaufte ausnahmslos britische Modelle – zwei Austins, einen Wolseley und einen Triumph –, auch wenn er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte als einen BMW. Nur das Essen, so schien es, das vertraute und tröstliche Essen, wurde nicht verdorben von dem Land, aus dem es kam. Essen war die einzige akzeptable Möglichkeit, um das Davor und das Danach miteinander zu verbinden. So musste es eine wichtige Rolle gespielt haben bei der Entwicklung meines Selbst.

»Du bist Engländerin«, sagte mein Vater einmal zu mir. »Deine Mutter und ich wurden eingebürgert, also können wir immer nur Briten sein. Du aber bist auch Engländerin, weil du hier geboren wurdest. Du bist sowohl Engländerin als auch Britin.« Seiner Meinung nach kam ich mit Wurzeln zur Welt, die so fest in der Lehmerde unseres Hauses im nordwestlichen Teil von London verankert waren wie die der Rosen. Doch stimmte das? Umgeben von den Gerüchen und dem Geschmack meiner Kindheit? Da bin ich mir nicht mehr so sicher.

Ich verlasse das Essenszelt. Die eisige Luft schlägt mir ins Gesicht und sticht mir in die Lunge. Vor dem Hintergrund, dass ich meine Existenz nicht nur der Zahnmedizin, sondern auch Hitler verdanke, ist die Vertrautheit des deutschen Essens und der deutschen Sprache gleichermaßen verstörend als auch mit Nostalgie verbunden.