Johannisnacht - Uwe Timm - E-Book

Johannisnacht E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

Ausgerechnet die Kartoffel beschert dem Ich-Erzähler in Uwe Timms Roman »Johannisnacht« drei tolle Tage und Nächte in Berlin rund um die Mittsommernacht, als Christo den Reichstag verhüllt... Timms Protagonist recherchiert für einen Artikel über die Geschichte der Kartoffel. Er ist auf der Suche nach einem Geschmackskatalog der nur scheinbar biederen Knolle, will etwas über einen Onkel herausfinden, der Kartoffeln wie Weinsorten schmecken konnte, und gerät dabei in eine aberwitzige Folge von Verwicklungen und Abenteuern. Von Ost nach West eilend, quer durch Schichten und Szenen, zwischen Tuaregs und Technomädchen, Waffenhändlern und Friseuren hin- und hergeworfen, erfährt unser Held alles über die Hoffnung und die Flüchtigkeit, die Magie und den Trug der Sinne.

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Seitenzahl: 300

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Uwe Timm

Johannisnacht

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto1. Napoleons Feldbett2. Der Reichstag, verhüllt3. Der Mann neben Lyssenko4. Der Stützschnitt5. Der verstimmte Flügel6. Nachtschatten7. Die Polenhochzeit8. Proteus steigt aus dem Meer9. Tiefenangst10. Das Glas Buttermilch11. Der Ring12. Airborne13. Wechselschritt14. Wannsee15. Durchatmen16. Der Bumerangcall17. Die Tränen der Dinge18. Der Beerdigungsredner19. Der Rote Baum
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Swift as a shadow, short as any dream,

Brief as the lightning in the collied night,

That, in a spleen, unfolds both heaven and earth,

And, ere a man hath power to say »Behold!«,

The jaws of darkness do devour it up:

So quick bright things come to confusion.

William Shakespeare, Midsummer Night’s Dream

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1Napoleons Feldbett

Die Geschichte beginnt genau genommen damit, dass ich keinen Anfang finden konnte. Ich saß am Schreibtisch und grübelte, lief durch die Stadt, fing wieder das Rauchen an, Zigarren, in der Hoffnung, so, eingehüllt in den Rauch, würde mir der richtige, ganz und gar notwendige Anfang für eine Geschichte einfallen. Es half nichts, ich kam nicht ins Schreiben, dieser erste, alles entscheidende Satz wollte sich einfach nicht einstellen. Nachts stand ich am Fenster und beobachtete eine Frau im gegenüberliegenden Haus, die dort vor Kurzem eingezogen war und ihre Männerbesuche in der hell erleuchteten Wohnung empfing. Ich versuchte, auch darüber zu schreiben: ein Mann, der eine Frau beobachtet, von der er annimmt, sie wisse, dass er sie beobachtet. Aber nach wenigen Seiten brach ich die Arbeit wieder ab. Ich fuhr in ein Nordseebad und lief im Aprilsturm am Strand entlang, den Kopf angefüllt mit dem Brausen der Brandung, dem Kreischen der Möwen und den Klagen des Hotelbesitzers, dessen einziger Gast ich war. Nach vier Tagen flüchtete ich wieder an meinen Schreibtisch. Ich hatte mir ein Schachprogramm gekauft und spielte am Notebook die Partien der letzten Weltmeisterschaft von Kasparow nach. Am vierten Tag – ich war immer noch nicht über die Eröffnungszüge der ersten Partie hinaus – klingelte nachmittags das Telefon. Der Redakteur einer Zeitschrift fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, etwas über die Kartoffel zu schreiben: Peru-Preußen-Connection. Die Kartoffel und die deutsche Mentalität. Und natürlich persönliche Kartoffelvorlieben. Rezepte. Bratkartoffelverhältnisse. Er lachte. Sie interessieren sich doch für Alltagsgeschichten. Elf bis zwölf Seiten, da können Sie ausholen.

Ich sagte, ich sei momentan in eine andere Arbeit vertieft und hätte daher keine Zeit. Tatsächlich grübelte ich gerade über eine Schachvariante, die den sonderbaren Namen »der Baum« trug. Nach dem Anruf versuchte ich, mich wieder auf die Partie zu konzentrieren, musste aber an einen Onkel denken. Dieser Onkel Heinz konnte nämlich Kartoffelsorten schmecken, und zwar auch dann, wenn sie schon gekocht oder gebraten waren. Im Sterben hatte er, nach tagelangem Schweigen, etwas Merkwürdiges gesagt: roter Baum. Niemand wusste, was er damit gemeint haben könnte. Meine Mutter vermutete, es sei eine Kartoffelsorte. In der Familie, zumindest bei meinem Vater, galt der Onkel als faul, ein Drückeberger und Versager, der sein Leben rauchend auf dem Kanapee verbrachte. Das ist denn auch in meiner Erinnerung das deutlichste Bild: Onkel Heinz liegt in der Küche auf einem Sofa, den Kopf, durch ein Kissen ab-gepolstert, auf der Armlehne. Er raucht. Er konnte wunderbare Kringel rauchen. Wenn ich ihn darum bat, hauchte er eine Kette von drei Kringeln. An einem Sonntag, kurz nach dem Krieg, waren er und Tante Hilde bei uns eingeladen. Mein Vater hatte beim Bauern Kartoffeln gehamstert. Und meine Mutter machte jetzt Bratkartoffeln. Der Tisch war gedeckt mit dem restlichen Silber, das noch nicht beim Bauern gegen Lebensmittel getauscht worden war. Alle saßen und warteten. Es duftete nach gebratenen Zwiebeln, sogar nach Speck, denn meine Mutter hatte die Pfanne mit einer Speckschwarte ausgewischt. Es war ein Festessen, auch Frau Scholle und Frau Söhrensen, bei denen wir damals einquartiert waren, saßen am Tisch. Onkel Heinz bekam als Erster ein, zwei Bratkartoffeln auf den Teller geschoben. Er kaute vorsichtig, schmeckte, ein Schmecken, wie man es von Weintrinkern kennt, eine sanfte Bewegung des leicht geöffneten Mundes, ein nach innen gerichtetes Horchen. Er zögerte, wiegte den Kopf, nachdenklich, regelrecht grüblerisch, also bekam er noch zwei Scheiben auf den Teller. Nochmals die feinen Kaubewegungen. Der Vater fragte ungeduldig: Na?

Der Onkel schluckte, bedächtig, und dann, nach einem kleinen Zögern, sagte er: Das ist die Fürstenkrone!

Bravo!, rief der Vater, und alle klatschten. Wir konnten endlich essen, es waren eben nicht nur Bratkartoffeln, sondern es war die gebratene Fürstenkrone. Wunderbar schmeckten sie. Aber wonach? Wenn ich den Onkel fragte, sagte er nur: Tja, dafür gibts eben keine Worte.

Roter Baum. Merkwürdig, was dem Sterbenden durch den Kopf gegangen war, kurz bevor sein Bewusstsein verlöschte.

Vielleicht, dachte ich, ist es gar nicht so schlecht, einmal eine Auftragsarbeit anzunehmen, schon um etwas Distanz zu sich selbst und zu dieser Geschichte zu bekommen, die keinen Anfang finden wollte. Das Honorar konnte ich gut gebrauchen, und auch die Eröffnungszüge von Kasparow hatten schon einiges von ihrem Reiz verloren; also rief ich in der Redaktion an und fragte, ob das Kartoffelthema schon vergeben sei.

Nein.

Gut, sagte ich, ich schreibe den Artikel. Mich interessiere der Zusammenhang zwischen Schmecken und Erzählen, beides habe ja mit der Zunge zu tun. Der Redakteur stutzte, nannte aber dann das Honorar, und weil ich einen Moment, überrascht von der Höhe der Summe, schwieg, was er als Zögern missdeutete, fügte er hinzu, ich könne auch Reisen für Recherchen abrechnen.

Gut, sagte ich.

Noch am selben Tag bestellte ich mir in der Staatsbibliothek fünf Bücher und begann zu lesen: über die Geschichte, über den Nährwert der Kartoffel, über Anbaumethoden und Kochrezepte. Ich verlor mich in immer abgelegenere Gebiete: die Kartoffel in Irland, Indonesien und auf der Insel Tristan da Cunha. Ich verzettelte mich lustvoll in der Namenskunde, Grüblingsbaum, Tartuffel, Erdapfel, Grumbeere, und sagte mir schließlich, es sei sinnvoller, zunächst mit jemandem zu reden, der die Kartoffelforschung überblickte, mit einem Historiker oder einem Ernährungswissenschaftler.

Am Abend rief ich Kubin an, der nach der Vereinigung von Hamburg nach Berlin gezogen war und sich dort – nach vierjähriger Tätigkeit bei der Treuhand – als Unternehmensberater selbstständig gemacht hatte. Kubin kochte nicht nur gut, er schrieb in seiner Freizeit auch an einem Buch über die italienische Volksküche.

Warte mal, sonst brennt mir was an, sagte er und dann, nach einem Augenblick, ja, er kenne sogar jemanden, der über die Kartoffel gearbeitet habe. Hier in Berlin. Die Adresse beschaff ich dir.

Am nächsten Tag flog ich für eine ganz gewöhnliche Recherche nach Berlin.

 

Kubin wartete vor der Lifttür, und in der kurzen Umarmung spürte ich, dass er zugenommen hatte. Er sah müde, grau, ungesund aus. Komm rein, sagte er, schön, dich zu sehen. Aber diesmal alles streng vertraulich, ich möchte nicht wieder in einem Roman auftauchen.

Er zeigte mir die Wohnung. Vier geräumige Zimmer. Ein Zimmer war leer – bis auf drei gewaltige Steineier, poliert, zwei aus Marmor, eins aus schwarzem Granit, als habe der Vogel Rock hier sein Gelege und könne jeden Augenblick durch das angelehnte Fenster hereinkommen.

Das Berliner Zimmer, sagte er, als Durchgang, führt zum Schlafzimmer.

Sehr schön ruhig, hier zum Hof.

Schon, sagte er, und dennoch, ich hab in dieser Scheißstadt derart unter Schlafstörungen gelitten, dass ich einmal sogar in einer Besprechung, die ich geleitet habe, eingenickt bin. Nur im Bett, nachts, konnte ich nicht schlafen. Jetzt schlafe ich, und man könnte Kanonen neben mir abfeuern, ich wach nicht auf. Träume auch nicht mehr. Jedenfalls wache ich morgens auf, ohne mich an einen Traum zu erinnern. Ich leiste im Tiefschlaf Trauerarbeit. Und weißt du, woran das liegt, dieser besinnungslose, ja unmoralische Schlaf? Es liegt allein am Bett. Vor zwei Jahren habe ich es gekauft. Komm, ich zeig es dir.

Er führte mich in das Schlafzimmer: ein kahler Raum, in dem außer einem Schrank und einem Bett nichts stand. Das Bett war ein einfaches Feldbett.

Was sagst du dazu? Das ist der exakte Nachbau von Napoleons Feldbett. Das Original kannst du im Armeemuseum von Paris sehen, allerdings 60 Zentimeter kürzer. Auf dem hat er auf allen seinen Feldzügen geschlafen. Kurz, aber tief, wie man weiß. Nur so hat er die ungeheuren Strapazen durchstehen können. Das Bett ist absolut perfekt, du liegst hart, und doch wirst du durch die Bespannung, wie soll ich sagen, getragen. Wie auf dem Wasserbett, das Angela und ich uns damals zur Hochzeit gekauft hatten. Wer hat nicht den Wunsch, über Wasser zu gehen oder auf dem Wasser zu schlafen. Aber dann diese Entengrütze.

Entengrütze?

Ursprünglich war das Bett fleischfarben, aber schon nach einem Monat färbte es sich grün, Algen, erklärte man uns, das Bett roch plötzlich wie eine Grotte, und nach weiteren zwei Monaten wie ein Karpfenteich. Wir haben es heimlich in einen Wald gebracht, sozusagen als Kleinstbiotop, und uns ein japanisches Bett gekauft, und zwar Typ Samurai, Übergröße. Darauf hatte auch die Konkubine noch Platz. Das ist, wie die Ehe, in Hamburg zurückgeblieben.

Er ging mir voran in die Küche, in der es außer einer Anrichte, einem Tisch, einem Kühlschrank, einem Gasherd nichts weiter gab, keine dieser kupfernen Schnickschnack-Töpfe auf Borden, keine von Hopi-Indianern gehäkelten Topflappen an den Wänden. Nur eine von Andy Warhol signierte Grafik hing dort: die Campbell-Dose. Kubin hatte schon für zwei Personen gedeckt, das Besteck, die Teller, die Gläser aus den Zwanzigerjahren, entworfen von einer Bauhaus-Berühmtheit. Er nahm die Spaghetti und ließ sie wie Mikadostäbchen in das kochende Wasser fallen, kunstvoll aufgefächert.

Ich hab auch überlegt, ob ich dieses Feldbett nicht in größerer Stückzahl anfertigen lassen sollte. Bin dann aber doch von dem Gedanken abgekommen. Es gibt in Deutschland einfach keinen Markt dafür. Die Konservativen sind zu provinziell, und den Linken fehlt, anders als ihren Genossen in Frankreich, jegliches Faible für militärische Dinge.

Von der Küchendecke hing eine Lampe, der Schirm aus weißem Glas, darauf schwarze scherenschnitthafte Figuren, Elfen und Kinder, die mit Keschern einem weiblichen Wesen mit Schmetterlingsflügeln nachliefen. Ja, sagte Kubin, der meinen Blick bemerkt hatte, die Lampe hab ich in Wien auf dem Naschmarkt gefunden. Es geht, wie du siehst, um die Flügel.

Eine Fee?

Vielleicht, vielleicht auch eine Nike. Jedenfalls wollen die ihr an die Flügel. Ist dir mal aufgefallen, wie die Franzosen allein durch Steinmasse eine katastrophale Niederlage in einen Sieg umgewandelt haben? Du musst dir nur den Arc de Triomphe ansehen. Die Namen aller Schlachten sind in den Bogen graviert. Niederlagen wie Siege, und so überwölbt dieser gigantische Steinbogen sogar Katastrophen wie Leipzig und Moskau. Beim Anblick des Arc de Triomphe kommt doch niemand auf den Gedanken, Napoleon habe entscheidende Schlachten oder sogar den Krieg verloren. Das ist Ästhetik, verstehst du, man sieht die Dinge anders, darum gehts doch. Kubin goss Olivenöl in eine Kasserolle, erwärmte es, schüttete aus einem Glas den Pesto dazu, sagte, frische Pinoli, das ist wichtig. Er holte eine Packpapiertüte vom Bord – Halt die Hand auf – und schüttete mir ein paar Pinienkerne in die Hand. Wie kommst du ausgerechnet auf diesen Proleten unter den Gemüsen?

Aus ebendiesem Grund.

Kubin zog aus dem Weinregal vorsichtig eine Flasche Rotwein, entkorkte sie, roch an dem Korken, schenkte mir ein Glas ein, sagte: Na, rate mal.

Ich schmeckte, schwer zu sagen, sagte ich, Italien, Montepulciano? Aber aus den Abruzzen! Schätze: ein 93er, ein guter Jahrgang.

Donnerwetter, sagte er.

Nein, sagte ich in seine staunenden Augen, ich hab das Etikett gesehen.

Kubin trank, schmatzte vorsichtig, sagte: Emidio Pepe, und dann rührte er den Pesto in der heißen Kasserolle um. Kartoffel, nee, ich gehöre zur Nudelfraktion.

Ich hab mich mal in eine Kartoffel verliebt.

Kubin fragte lauernd: Was für ne Sorte?

Eine Studentin. Es war auf einem Studentenfasching. Da tanzte ein Mädchen, sie tanzte exzessiv, aber eben als Frühkartoffel, ein zartes Hellbraun, etwas rosig, als Clivia. Ihr Lieblingsessen: Pellkartoffeln mit Schnittlauchquark. Darum also dieser zartblasse Teint. Sie hatte ein paar grüne Sommersprossen auf der Nase. Sommersprossen sind die winzigen Fenster in der Haut, sagte ich, um im grauen deutschen Niflheim mehr Sonne aufzunehmen. So wird Rachitis verhindert. Hoffentlich reichen meine dafür aus. Ich habe nur auf der Nase Sommersprossen.

Na, fragte Kubin, und stimmte das?

Weiß nicht. Sie trug ja ein rundes Drahtgestell, bespannt mit einem rötlichbraunen Stoff. Sie zog mich – ich war als Don Quichotte gekommen – auf die Tanzfläche. Es war eine unbeschreibliche Nacht, das einzige Faschingsfest, das ich als nicht langweilig in Erinnerung habe. Lag vielleicht auch daran, dass ich ihr nicht näher kommen konnte. Was an dieser wunderschönen Frühkartoffel-Bespannung lag.

Und dann?

Sie verschwand gegen Morgen, wie Aschenputtel. Ich habe sie nie wiedergesehen. Manchmal, wenn ich die zarte Haut einer Frühkartoffel sehe, überfällt mich ihr Bild, und ich verzehre die Kartoffel in einem Erinnerungsrausch.

Gut, sagte Kubin, das ist ein Grund, darüber zu schreiben.

Weißt du, was »roter Baum« bedeutet?

Rotbuche?

Nein, glaube ich nicht, ich denke, dass es vielleicht eine Kartoffelsorte ist. Waren die letzten Worte von einem Onkel, der die unterschiedlichen Sorten so schmecken konnte wie du die Weinlagen.

Der hätte mir gefallen. Frag diesen Kartoffelforscher, sagte er. Ich hab den Mann mal vor gut einem Jahr auf einer Party kennengelernt. Ein Agrarwissenschaftler, war in der DDR-Akademie, wurde dann abgewickelt. Einer von den gut dreißigtausend, die in irgendwelchen baufälligen Instituten herumhockten und vor sich hin forschten, über so aparte Dinge wie die Geschichte der Sonnenschreiber, oder sie erstellten die Grammatik des Altusbekischen, zählten die Steine der Ruinen von Theben. Wenn sie nicht damit beschäftigt waren, Berichte übereinander zu schreiben. Rogler hieß er. Ein ruhiger Typ mit einem erträglichen sächsischen Dialekt, der sich mit dem berlinerischen amalgamiert hatte. Kubin trank von dem Rotwein, er schlürfte, er schmatzte, er sagte: Ah. Das Sächsische kam erst zum Vorschein, als er auf die Kartoffel zu sprechen kam. Da legte er los, das reine Pfingstwunder: die Kartoffel, Nährwert, Wortbildung, Ausbreitung, was weiß ich, der war nicht mehr zu bremsen.

Das ist genau der Mann, den ich suche.

Kubin ließ mich vom Pesto kosten. Na? Ganz einfach, aber wie, und er schmatzte abermals zart in die Luft. Mir kannste mit der Kartoffel gestohlen bleiben.

Hast du die Adresse von dem Mann?

Nein. Aber du kannst Rosenow fragen, auch ein abgewickelter Akademiemitarbeiter. Mit dem hab ich zu tun, der verdient sich ein paar Mark als Berater bei einer Immobilienfirma. Ich hab dir seine Telefonnummer aufgeschrieben. Er zeigte auf den Tisch, wo neben der Serviette ein Zettel lag, ging zur Anrichte, holte ein Sieb, goss darin die Spaghetti ab und vermischte sie dann mit einem hölzernen Greifer in der Schüssel mit dem warmen Pesto.

Roter Baum, klingt nicht gerade nach Kartoffel.

Gibt die sonderbarsten Namen.

Woran ist der Onkel gestorben?

Lungenkrebs. Rauchte vierzig Zigaretten am Tag, mindestens, er rauchte noch im Krankenhaus, spuckte Blut, aber er rauchte heimlich weiter, auf der Toilette. Und dann starb er, und seine letzten Worte waren: roter Baum.

Frag diesen Rogler, sagte Kubin und füllte die Spaghetti auf. Kannst mir sagen, was du willst, die Italiener wissen schon, warum sie die Kartoffel allenfalls als Beilage anbieten. Dagegen die Tomaten. Dürfen natürlich nicht diese holländischen Treibhausbomber sein. Ich kaufe die Tomaten von einem Italiener, der zieht sie hier in Berlin, in einem Schrebergarten, holt sich den Mist von der Polizeireitschule.

Den Rest des Abends schimpfte er auf Berlin und die Berliner, vor allem auf dieses Bemühen, immer schlagfertig und witzig zu sein, also die Berliner Schnauze, die gehe ihm auf den Keks. Und er erzählte mir von Angela, seiner ehemaligen Frau, die eben zum dritten Mal geheiratet hatte. Diesmal einen amerikanischen Botaniker, der sich auf arktische Flechten spezialisiert hat und jetzt in Berlin einen Job sucht, was, wie du dir denken kannst, nicht so einfach ist, denn es gibt im Osten wie im Westen jede Menge Flechtenspezialisten, die einen Job suchen. Ein Mann, ich hab ihn gesehen, wie ein Flughörnchen, das sind diese Tierchen, die von Baum zu Baum springen und dabei mit dem Schwanz steuern. Kubin redete, und ein paar Spaghetti schlabberten ihm aus dem Mund. Er schlürfte den italienischen Rotwein, wischte den fettigen Glasrand mit der Serviette ab und sagte, ich bin gespannt, ob sie auch bei diesem Botaniker mit ihrer Spirale um eine Schwangerschaft herumkommt. Ein echter Honigbeutler.

Wieso Honigbeutler?

Kubin nahm einen kräftigen Schluck, guckte gedankenverloren auf den Teller, dann rollte er die letzten Spaghetti um die Gabel, Honigbeutler, das sind Tierchen, die ihre Weibchen durch Massenbesamung befruchten, regelrecht mit Samen einschwemmen. Sie stellen, auf den Hinterbeinen sitzend, kokett ihre Hoden zur Schau, Hoden von einer erstaunlichen Größe, die locken die Weibchen dann an.

Stört es dich, wenn ich rauche? Ich zeigte ihm vorsichtshalber mein Etui mit den drei Zigarren.

Rauchst du wieder? Nur zu, rauch, was das Auge hält, sagte er und trank, diesmal ohne zu schmecken, einen weiteren kräftigen Schluck. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Die Hoden haben eine erstaunliche Größe, das musst du dir vorstellen, die machen fünf Prozent des Körpergewichts eines Honigbeutlers aus. Auf uns übertragen würde das bedeuten, deine Hoden wären vier Kilogramm schwer.

Hast du den Biologen denn mal nackt gesehen?

Kubin sah mich überrascht an, er bekam einen mokanten Zug um den Mund. Meine Güte, sagte er, einem derart schlichten Realismus hängst du doch hoffentlich nicht mehr an. Auch der Honigbeutler stimmt noch nicht, nein, Angelas Botaniker ähnelt einem dieser kupierten Wasserdingos. Aber da hatte Kubin schon so viel getrunken, dass er mir nicht mehr erklären konnte, was ein kupierter Wasserdingo ist.

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2Der Reichstag, verhüllt

Unten, vor dem Haus, wartete schon das Taxi, oben auf dem Balkon stand, einen Südwester auf dem Kopf, Kubin und brüllte: Mast- und Schotbruch!

Er lehnte sich weit über die Balkonbrüstung, bedrohlich weit. Vorsicht!, rief ich hinauf.

Er aber sang in die nächtlichen Sturmböen: Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste, joho, und ne Buddel voll Rum.

Der Taxifahrer fragte: Ist der Kapitän?

Nein. Unternehmensberater. Aber sein Großvater war Kapitän. So habe ich ihn noch nie erlebt. Bisher sang er, wenn er betrunken war, irische Volkslieder.

Wohin wollen Sie?

Zum Reichstag.

Ach, sagte der Fahrer, die Verpackung, machen Sie sich keine Illusionen, nachts ist da nicht viel zu sehen. Immerhin, es belebt das Geschäft. Hotels und Pensionen voll, na ja, und seit zwei Tagen läuft auch das Taxigeschäft.

Ist das sonst so schlecht?

Er nickte mit dem kahlen Schädel, blickte in den Spiegel. Aber ich konnte seine Augen nicht sehen. Er trug, obwohl es Nacht war, eine Sonnenbrille, Modell Fliegerbrille, Dreißigerjahre, goldeloxiertes Gestell.

Seit der Wiedervereinigung steht man im Stau. Überall Baustellen, Umleitungen, Einbahnstraßen, wo gestern keine waren. Das geht so weit, dass wir jetzt auf dem Potsdamer Platz einen See haben. Eine riesige Baugrube, mit Schwimmbagger, Schuten und zwei Schleppern.

Es rumpelte. Wir fuhren über eine Behelfsbrücke.

Wenn es da an Bord einer Schute zu ner Meuterei kommt, ist das Seegericht zuständig. Nee, seit der Vereinigung gibts hier einen unglaublichen Aggressionsstau. Ich bin vor 20 Jahren nach Berlin gekommen, wollte nicht zum Bund. War damals ein Sammelpunkt für Aussteiger und Querköppe. Ein Sozialbiotop, ummauert, gut bewacht. Jetzt kommen all die Jungs her, die ne schnelle Mark machen wollen. Ich überleg mir, ob ich nicht weggeh.

Und wohin?

Köln oder Hamburg.

Der Wagen wurde von Windböen geschüttelt. Einige Regenspritzer auf der Windschutzscheibe. Er stellte den Scheibenwischer an.

Was machen Sie, wenn Sie nicht Taxi fahren, ich meine beruflich?

Fragen viele. Denken, ich bin einer der promovierten Taxifahrer. Nee. Ich hab den Führerschein, den Taxischein und sechs Semester Romanistik, das ist alles. Wenn ich nicht Taxi fahr, mach ich nix, außer Lesen, Kino, Musikhören. Und Reisen, Afrika, Sahara. Hab mal einen kleinen Reiseführer über die Sahara geschrieben, als die noch nicht so in Mode war, ist aber längst vergriffen. Da ist schon die Absperrung, sagte er, von dort aus müssen Sie laufen. Ich kann Sie rumfahren, bringt für Sie aber nicht viel, nur nen höheren Fahrpreis.

Einen Moment überlegte ich, ob ich mich nicht einfach in die Pension weiterfahren lassen sollte. Aber ich war neugierig, wie weit inzwischen der Reichstag verhüllt war. Also zahlte ich und stieg aus.

Kalt war der Wind, und ein feiner Sprühregen hatte eingesetzt. Ich hatte dem Wetterbericht gestern Abend geglaubt und aus Bequemlichkeit den Regenmantel zu Hause gelassen. In dem dünnen Seidenjackett, das ich mir in München während der Hitzewelle gekauft hatte, fror ich jetzt ganz erbärmlich.

Das Brandenburger Tor lag da, als leuchte es aus sich heraus. Ein paar Fußgänger waren unterwegs, in Regenmäntel oder Capes gehüllt. Ein Auto kam, fuhr zur Absperrung und hielt. Ein Auto mit einem italienischen Nummernschild, ein Lancia. Von meinem feuchten Seidenjackett ging ein eigentümlicher Geruch aus, fremd, nicht zu vergleichen mit Wolle, die so beruhigend nach nassem Schaf riecht, oder dem Strohgeruch, der von nasser Baumwolle ausgeht. Der Geruch jedoch, den meine Jacke verströmte, erinnerte mich an Schleim, ja, an ein Drüsensekret, es roch geradezu gallertartig. Ich überquerte die Straße des 17. Juni. Der Lancia drehte vor dem Absperrgitter um und kam mir mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen, bremste, der Fahrer rief mir etwas zu. Ich ging zum Wagen, sagte sofort in das heruntergedrehte Fenster: Ich bin fremd. Sono straniero.

Ah, lei parla italiano.

Solamente un poco.

Er redete italienisch auf mich ein. Ich verstand lediglich etwas von Messe und einer Nachtfahrt. Und da er merkte, dass ich ihn nicht richtig verstand, wechselte er ins Deutsche und sprach es gut, wenn auch mit einem starken Akzent, erzählte, dass er von einer Mustermesse komme. Hier in Berlin. Lederbekleidung. Nix davon gelesen?

Nein, sagte ich, ich bin heute erst angekommen.

Er erzählte, er habe einen Restposten Lederjacken. Zwei Stück. Ausstellungsstücke. Er muss nach Mailand, heute Nacht. Warum die Jacken wieder mitnehmen? Er öffnete die Tür, winkte mir, einzusteigen. Einen Moment zögerte ich, weil ich an all die Geschichten dachte, die mir Berlin-Reisende in den letzten Monaten erzählt hatten: erdrosselte Gastwirte, abgeschnittene Ringfinger, geknebelte Touristen, Mord und Totschlag. Aber der Fahrer machte eine einladende Handbewegung, dazu dieses italienische muntere Lachen: Prego, si accomodi, und so setzte ich mich auf den Beifahrersitz. Er fuhr, kaum hatte ich die Tür zugeschlagen, an. Der Wagen machte einen kleinen Satz in den dunklen Bereich zwischen zwei Straßenlaternen. Ich erschrak und dachte, es ist doch ein Überfall. Ich drehte mich schnell um, aber auf dem Rücksitz hatte sich niemand verborgen, dort lag lediglich ein schwarzer Sack. Allerdings in Form eines Körpers. Der Italiener stellte den Motor ab.

Ist kalt? Er zeigte auf mein Jackett.

Ja, sagte ich. Richtig aufdringlich war jetzt der Geruch, den ich mit meinem nassen Seidenjackett verströmte, und mir fiel plötzlich ein, wonach dieses Seidenjackett roch – nach Samen. Mir fielen die Honigbeutler ein, und ich nahm mir vor, zu Hause sofort im Lexikon nachzuschlagen, aus welcher Körperöffnung die Raupen ihren Faden spinnen.

Ist ja eigentlich verboten, sagte der Italiener, unsauberer Wettbewerb.

Unlauterer Wettbewerb, sagte ich und ärgerte mich sogleich über meine schulmeisterliche Verbesserung. Entschuldigung.

Wieso, sagte er, ist wichtig, macht man sonst doch immer wieder dieselben dummen Fehler.

Na ja, sagte ich, das ist ja gerade die freundliche Geduld der Italiener, dass sie einen, versucht man Italienisch zu sprechen, nicht verbessern.

Beim Reden ja. Aber nicht beim Singen.

Wieso?

Sie kennen die Geschichte von dem amerikanischen Sänger? Der zum ersten Mal in der Oper, in Neapel, singt? Er singt die erste Arie. Publikum brüllt da capo. Der Amerikaner singt die Arie noch mal. Publikum tobt, brüllt da capo, der Sänger singt noch mal und noch mal und noch mal. Die anderen Sänger werden langsam ungeduldig, die wollen ja auch ihre Arien singen. Aber das Publikum ruft: Da capo. Schließlich fragt der amerikanische Sänger erschöpft: Wie oft soll ich die Arie denn noch singen? Ruft einer aus dem Publikum: Bis du sie richtig singst. Er musterte mich: Welche Größe haben Sie? 50?

Ja, je nachdem, bei italienischen Sachen eher 52.

Dann passen Ihnen die Jacken genau. Guter Schnitt, bestes Leder, prima Verarbeitung. Er griff nach hinten, zog aus dem schwarzen Sack eine Jacke und noch eine Jacke, zeigte mir das Etikett: Giorgione und darunter die Größe, tatsächlich 52. Eigentlich wollte ich für jede Jacke 350 haben, ich lasse sie Ihnen beide für 450. Der richtige Preis ist 1200, also jede. Ich hab mein Hotel nicht verlängern können. Sie verstehen, er sah mich an, lächelte, ich nickte und wunderte mich, wie sein Deutsch, je länger er sprach, umso akzentfreier wurde. Er musste lange in Deutschland gelebt haben.

Ich wollte, sagte er, sonst morgen die Jacken in einer Boutique verkaufen. Aber kein Hotel frei, alles ausgebucht, die ganze Stadt. Der Reichstag wird angezogen. Die Leute sind wie verrückt. Bei uns kommen sie, um weinende Madonnen zu sehen. Bei euch den Reichstag. Dieser Christo, er lachte: Dio mio, ein Zauberer. Aber ich bin guter Katholik. Ich fahre noch heute Nacht weg. Also, beide Jacken für 450.

Nein, sagte ich, ich brauche keine zwei Jacken, es ist Juni, das sind Herbstjacken. Es regnet zwar. Aber was soll ich mit zwei Lederjacken?

Verkaufen. Können Sie glatt 200 mehr verlangen.

Ich winkte ab.

Gut, dann eine. Ich will die beiden Jacken noch heute verkaufen, heute Abend, jeder weiß, dass hier die Mustermesse war. Ich fahre heute Nacht durch, direkt nach Milano.

Die ganze Strecke?, fragte ich.

Ja, sagte er, Autobahn ist nachts leer, kann ich, wie sagen Sie, kräftig durchdrehen.

Nein, sagte ich und musste lachen, es heißt: aufdrehen.

Gut, sagte er, die Einzeljacke für 280. Sie haben keinen Mantel an. Jetzt die Jacke, bei dem Wetter. Regen. Er zeigte nach draußen. Tatsächlich war das Geniesel in Regen übergegangen, wurde vom Wind gegen die Scheiben gedrückt.

Na ja, Leder ist ja auch nicht gerade für Regen ge-eignet, versuchte ich den Kenner herauszukehren. Und außerdem, so viel Geld habe ich nicht bei mir.

Kreditkarte? Wir können zum Automaten fahren.

Ich hab keine Kreditkarte bei mir. Was gelogen war. Aber wenn ich schon kaufte, wollte ich ein bisschen handeln, so ganz aus dem Mustopf kam ich ja nicht, kenne Italien und die Italiener, sagte ihm denn auch, dass Italien das Land sei, wohin ich am liebsten reise, und dass ich die Italiener einfach mag, ihre Sprache, ihre Mode, ihr Essen. Tutto!

Das freute ihn sichtlich, dieses Tutto, er legte mir die Hand auf die Schulter, sagte: Sie sprechen sehr gut Italienisch. Also gut, 220 Mark die Jacke. Sehen Sie hier, Seidenfutter. Rot, gefüttert, elegant.

Ich befühlte das Leder, weich, ja ausgesprochen zart fühlte es sich an. Der Markenname Giorgione erinnerte mich an das Bild von Giorgione: Der Sturm. Dieses Bild kann ich mir immer wieder ansehen, und jedes Mal entdecke ich neue Details. So zum Beispiel den weißen Vogel auf dem Dach des Hauses, winzig klein, ein Storch, denke ich, der dort sitzt, während der schwarze Gewitterhimmel von einem Blitz durchtrennt wird. Das Futter der Jacke war tatsächlich rot, ein dunkles Rot. Ich versuchte im spärlichen Licht die Qualität der Nähte zu untersuchen, befühlte sie. Ich sagte, ich hätte früher einmal die Kürschnerei erlernt. Ich musste ihm erklären, was das für ein Beruf ist. Jemand, der mit Fellen und Leder zu tun hat.

Oh, sagte er, also Fachmann, und zog mir die Jacke weg, hob sie hoch: Sehen Sie, Schnitt nach il famoso barone rosso. Richthofen. Eleganter Schnitt. Alter Fliegerschnitt. Doppeldecker. Schützt vor Wind und Regen.

Sie sah gut aus, zumal im Innenfutter tatsächlich ein Dreidecker zu sehen war. Mein Vater hatte zu Hause ein Foto von Richthofen hängen, den er verehrte, und auf diesem Foto trug Richthofen eine Lederjacke, die, da war ich sicher, dieser ähnlich sah.

Wie viel Geld haben Sie?

Ich suchte in meinen Taschen. Und dachte mir, was für ein Glücksfall, bei diesem Regen, in dieser Kälte, so billig eine echte, weiche Lederjacke zu kriegen. Ich zeigte ihm mein Geld: 170 Mark und ein paar Pfennige. Sagte ihm selbstverständlich nicht, dass ich im Pass noch 100 Mark als Notgeld hatte. 170 Mark, das ist alles. Und dann kann ich nicht einmal mehr mit dem Taxi zurückfahren.

Haben Sie Busticket?

Nein.

Er gab mir vier Mark zurück. Guter Kauf, sagte er. Jetzt geh ich auf die Autostrada und dann angedreht.

Aufgedreht, sagte ich.

Er lachte: Deutsch ist so kompliziert: Aufgedreht! Ja, angedreht! Viel Glück! Arrividerci!

Die Italiener sind, dachte ich, wunderbar, machen ihre kleinen Geschäfte, kleine Betrügereien, aber immer so, dass man selbst am Betrogenwerden noch seine Freude haben kann, wobei ich diesen netten Italiener ganz schön über den Tisch gezogen habe, sagte ich mir und winkte. Dieses Tutto, das hat ihn schwach gemacht. Auch er winkte nochmals, rief Addio und Danke! und fuhr mit zwitschernden Reifen weg.

Ich zog mir die Lederjacke an, wunderbar warm, endlich, in diesem regnerischen Wind, endlich. Was für ein guter Kauf, statt 1200 Mark nur 166. Fast eine Glückszahl. Fast wie dieser Kauf auf dem Trödelmarkt am Kleinhesseloher See, vor einem Jahr, wo verlorene Kleidungsstücke verkauft wurden und ich mir einen Regenmantel für 180 gekauft hatte, einen neuwertigen Burberry, kaum getragen, im Innenfutter ein goldgewirktes Schild aus dem goldenen Basel: Conrad. High class for men. Der Vorbesitzer musste extrem kurze Schweizer Arme gehabt haben, denn an dem Mantel, der sonst tadellos saß, mussten die Ärmel um gut vier Zentimeter ausgelassen werden. Diese Jacke hingegen passte wie angegossen, und warm war sie, einfach wunderbar.

 

Der Reichstag: massig, schwer, dunkel raschelnd. Wie in einem Traum, düster und fremd, bauschten sich die herunterhängenden Stoffbahnen in den Sturmböen. Das Mittelteil war schon verhängt, die vier Ecktürme noch frei.

Ich ging den gelben Drahtzaun entlang, der die Neugierigen von dem entstehenden Kunstwerk fernhalten sollte.

Männer in gelber Regenkleidung bewachten den Zaun. Einige Neugierige gingen stumm und vermummt an dem Zaun entlang, eine Frau kämpfte mit ihrem umgeklappten Regenschirm, ein Mann zog einen finsteren, nasszottigen Hund an der Leine hinter sich her, ein Männlein in einem alten Kradmantel studierte eine Tafel, dort, wo eine Ramme stand. Rückbau las ich auf dem Schild.

Ich ging weiter um den Drahtzaun herum. Meine Lederjacke wurde im Regen immer schwerer, so schwer, dass mir erstmals seit Jahren wieder die Bleiweste einfiel, mit der ich früher Konditionstraining gemacht hatte, im Spurt den Weg zum Schloss Richmond hoch, fünf-, sechsmal. Diese Lederjacke war, als ich sie anzog, federleicht gewesen, ein typisch italienisches Produkt, das Leder war eben nur für sonnige Gefilde gegerbt worden. Andererseits waren inzwischen auch meine soliden amerikanischen Lederschuhe durchgeweicht. Kalt waren meine Füße und nass. Der Sturm rauschte in den grauen Kunststoffbahnen. In dieser Beleuchtung erinnerte die Farbe an die grässlichen Blousons der Volksarmee. Hinter dem Zaun stand ein Mann in einem blauen Berganzug, einen gelben Helm auf dem Kopf, um die Hüften ein breiter Gurt, mit dicken Karabinerhaken. Gestern hatte ich in den Nachrichten die Männer gesehen, die, wie Matrosen in den Rahen der Segelschiffe, die gewaltigen Tuchbahnen abrollten.

Ich verstand plötzlich den Zuruf von Kubin, Mast- und Schotbruch. Auch er wird diese Bilder gesehen haben. Ich fragte den Mann, ob er ebenfalls an der Verpackung des Reichstags gearbeitet habe.

Verhüllung, verbesserte er mich sofort. Was verhüllt wird, wird irgendwann enthüllt, das sagt jedenfalls Christo. Er blickte besorgt zu den scheuernden Tuchbahnen hoch. Mittags haben wir die Arbeit einstellen müssen. Richtige Sturmböen. Schaukelten da oben wie die Affen an Lianen.

Sind Sie Berliner?

Nein, komm aus Rostock.

Konnte man in der DDR denn Bergsteigen?

Nein, nur so ein bisschen im Elbsandsteingebirge. Und dann natürlich Schornsteine.

Schornsteine?

Ja, im Sozialismus haben wir an Schornsteinen trainiert. Gab so wenig Gerüste. Ne Mangelwirtschaft hat auch ihre Vorteile. Also wurde mit Seilen von oben gearbeitet. Übte ganz mächtig. Hab mal eine Stelle an einem 260 Meter hohen Schornstein ausgebessert. Jetzt bin ich selbstständig. Spezialisiert auf Schornsteine, Reparaturen: Verfugungen, Steigeisenerneuerung. Geld stimmt. War früher mal Held der Arbeit, konnte ich mir nur an die Mütze schmieren. So, sagte er, geh jetzt in die Koje. Muss morgen früh raus, fünf Uhr.

Ich ging weiter und spürte plötzlich die Müdigkeit schwer in den Gliedern. Ich war morgens um fünf Uhr aufgestanden, hatte im Eiltempo das Buch The Potato and its wild Relatives zu Ende gelesen, war dann zur Staatsbibliothek gegangen, um mir die Statistiken über Kartoffel- und Zuckerrübenanbau im 19. Jahrhundert anzusehen, war nachmittags aus dem sommerlich warmen München in das stürmisch kalte Berlin geflogen, hatte mit Kubin ausführlich gegessen und getrunken, lief jetzt mit dieser bleischweren Jacke durch die Nacht und sagte mir, jetzt reichts. Ich ging Unter den Linden Richtung Bahnhof Friedrichstraße, um mit den vier Mark, die der Italiener mir gelassen hatte, zum Bahnhof Zoo zu fahren. Die Jacke war inzwischen derart mit Wasser vollgesogen, dass sie mir an den Schultern hing, als wären die Seitentaschen mit Wackersteinen vollgestopft. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass sich das Leder sicherlich mit einem Spray imprägnieren ließe. Dann wäre sie gut für die kalten, aber trocknen Oktobertage in München. Immerhin, sie wärmte noch. Und ich roch nicht mehr nach dieser gallertartigen Ausscheidung der Seidenraupen, jetzt roch ich nach – ja, wonach? Es roch wie bei dem Altwarenhändler im Eppendorferweg, zu dem ich als Kind Papier und Pappe brachte und dafür, je nach Gewicht, ein paar Pfennige bekam. Es war Anfang der Fünfzigerjahre, in der Zeit des Koreakriegs, die Altmetallpreise waren kräftig angestiegen, als mein Vater nach mir rief. Der Vater stand im Keller, die Füße nass, die Hosenbeine nass. Er winkte mich zu sich und gab mir ein paar Ohrfeigen. Warum hatte sich mein Vater aber auch ausgerechnet an diesem Waschbecken im Keller die Hände waschen müssen, ein Waschbecken, das sonst nie benutzt wurde. Ich hatte das Abflussrohr aus Blei abmontiert. Blei brachte damals das meiste Geld, insofern hatten sich die Ohrfeigen bezahlt gemacht. Genau! Es war dieser Papiergeruch aus dem Keller des Altwarenhändlers, den ich jetzt mit mir herumtrug.

Ich bog eben in die Friedrichstraße ein, als mir drei Männer entgegenkamen, alle drei in glänzenden Blousons, die Köpfe nicht kahl, aber doch kurz geschoren. Eine praktische Frisur, dachte ich, während mir die Haare strähnig ins Gesicht hingen. Warum hatte ich mir nicht noch vor der Reise die Haare von meiner Frau schneiden lassen.

Wat kiekstn so, wa, sagte der eine und kam auf mich zu. Oller Penner, du. Und der andere sagte: Los, Aldiklatschen. Darauf gab mir der Erste einen fast ansatzlosen Schlag in den Magen. Das Wasser spritzte aus der Jacke wie aus einem Schwamm. Ich zuckte zusammen, stieß einen kleinen Schrei aus, obwohl es kein schmerzhafter Schlag war, eher ein Stoß, und doch war die Jacke dabei eingerissen. Die drei starrten einen Moment verdutzt, ja entsetzt auf das Loch, aus dem es rot herausquoll. Ich presste die Hände auf die matschige Masse. Ich stand starr vor Schreck, spürte aber keinen Schmerz. Die drei liefen, hetzten weg. Langsam löste ich mich aus diesem Schock, betrachtete meine Hände. Sie waren nicht rot. Was da heraushing, war das nasse rote Innenfutter. Ich stopfte es in die Jacke zurück, dabei löste sich ein Stück ab. Vielleicht hatte dieser Schläger ja ein in der Faust verborgenes Messer gehabt, oder einen Messingkamm, oder einen Schlüsselbund, der, wie ich gehört hatte, schlägt man damit zu, fürchterliche Verletzungen im Gesicht hinterlässt. So hatte mich die aufgequollene Lederjacke womöglich vor einer Verletzung geschützt. Allerdings war der Dreiangel in der Jacke groß. Eine geflickte Lederjacke würde, versuchte ich mich zu trösten, gleich Spuren des Gebrauchs zeigen. Allerdings war schon ein größerer Flicken nötig, um dieses Loch zu stopfen.

Am Bahnhof, endlich im Trockenen, sah ich mich in einer verdreckten, wahrscheinlich seit dem 8. Parteitag nicht mehr geputzten Scheibe der Schwingtür.