Joseph Süßkind Oppenheimer - Raquel Erdtmann - E-Book

Joseph Süßkind Oppenheimer E-Book

Raquel Erdtmann

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Beschreibung

Nur wenige Stunden nachdem der württembergische Regent Carl Alexander 1737 ganz plötzlich verstirbt, wird sein Geheimer Finanzrat Joseph Süßkind Oppenheimer verhaftet. Die Anklage: Landesverrat. Die Behörden haben Mühe, Belege für Vergehen zu finden, der Prozess zieht sich elf Monate in die Länge, endet aber unumstößlich mit dem Todesurteil. Schon zu Beginn des Prozesses ist die Versteigerung von Oppenheimers Hausrat in vollem Gange: Die besten Schmuckstücke sichert sich der Staat, die schönsten Kleider seiner Geliebten Luciana bringen die ehrbaren Stuttgarter Damen an sich. Aus dem stolzen, selbstbewussten Mann, der an ein rechtsstaatliches Verfahren glaubt, wird in der Haft zunehmend ein Getriebener, der verzweifelt um sein Leben kämpft. Raquel Erdtmann hat für ihre historische Spurensuche acht Meter Archivbestand akribisch durchgesehen und nimmt uns mit in die deutsch-jüdische Vergangenheit. Sie erzählt die Geschichte des Schauprozesses um Joseph Süßkind Oppenheimer so spannend und berührend, dass einem der Atem stockt. Sie erzählt aber auch, wer der Mensch Joseph Oppenheimer war, bevor er zur literarischen Figur bei Lion Feuchtwanger und zum propagandistischen Feindbild der Nazis wurde. Und wie nebenbei leuchtet sie kenntnisreich das Leben der deutschen Jüdinnen und Juden im 18. Jahrhundert aus.

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Raquel Erdtmann

Joseph Süßkind Oppenheimer

Ein Justizmord

Steidl

Am 4. Februar 1738 findet in Stuttgart ein Volksfest statt: die öffentliche Hinrichtung des ehemaligen Geheimen Finanzrats Joseph Süs Oppenheimer, jetzt nur mehr »Jud Süß« genannt.

Zwölf Meter hoch ist der eiserne Galgen, der höchste im ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Neunundvierzig Leitersprossen führen zu ihm hinauf. Sechs Jahre lang wird man den Leichnam dort oben baumeln lassen, in einem rot angestrichenen Käfig, der eigens für Oppenheimer angefertigt wurde. So war es im Urteil verfügt worden: »Für jedermann zum abscheulichen Exemplar«.

Dem bis ins kleinste Detail vorbereiteten Spektakel der Hinrichtung war ein elfmonatiger Prozess vorausgegangen, doch das Todesurteil stand von vornherein fest. Als Herzog Carl Rudolph es unterzeichnet, murmelt er: Es ist ein seltenes Ereignis, dass ein Jud für Christenschelme die Zeche bezahle.

Inhalt

Cover

Titel

Joseph Süßkind Oppenheimer

Dank

Quellen

Impressum

Verhaftet wird Oppenheimer – nein, zunächst unter Hausarrest gestellt – am 13. März 1737. Nur wenige Stunden, nachdem Herzog Carl Alexander plötzlich an einem Schlaganfall verstorben war. Am nächsten Tag hatte er im Dienste als Generalfeldmarschall des Kaisers zu Europas neuester Erbfolgeschlacht nach Danzig aufbrechen wollen. Seit Frankreich 1733 den Habsburgern den Krieg um die Polnische Thronfolge erklärte, toben die Kämpfe.

Bevor der Herzog in sein altes Geschäft, den Krieg, zurückkehrt, wollte er noch nach Würzburg zu seinem Freund und Vertrauten, dem Bischof Friedrich Karl von Schönborn reisen.

Am 12. März wird Karneval gefeiert im Schloss in Ludwigsburg, Carl Alexander scheint bei bester Gesundheit zu sein, doch gegen zehn Uhr abends wird er »von einem so heftigen Steckfuß bei der Auskleidung überfallen«, dass er innerhalb von »drei bis vier Minuten gesund und tot« ist, »weder Geistlicher noch Medicus« zu Hilfe gerufen werden können, rapportiert Geheimrat Raab, Resident des Bischofs in Stuttgart, an von Schönborn.

Oppenheimer eilt nach Stuttgart, um die Herzogin Maria Augusta vom Tod ihres Gatten zu unterrichten – und wird von der Stadtwache in seinem Haus festgesetzt. Der Tod des Mannes, der ihn erst zu seinem privaten Schatzmeister und Berater gemacht und, als er überraschend 1733 Herzog von Württemberg wurde, drei Jahre später zu seinem Geheimen Finanzrat ernannt hatte, bringt Oppenheimer nun den Tod. Einer seiner Ankläger, Regierungsrat von Pflug, wird in seinem Votum schreiben: »Dass durch ihn unterdrückte und ausgesogene Land, arme Untertanen, Witwen und Waisen, ja das ganze Publikum schreit um Rache und Blut und ein zu statuierendes Exempel«.

Gegen den Herzog hatte man im Ländle nicht offen aufzubegehren gewagt, nach seinem Tod nimmt man Rache an seinem Wirtschaftsberater. Beide waren Fremde in Württemberg.

Carl Alexander wächst am Hof in Wien auf und tritt mit vierzehn in kaiserliche Kriegsdienste. Da er nur aus einer Nebenlinie des württembergischen Hauses stammt, muss er früh selbst für sein Auskommen sorgen. Dass er jemals Regent wird, scheint unwahrscheinlich.

Mit fünfundzwanzig Jahren bekommt er als Gouverneur von Landau sein erstes selbständiges Kommando, im wiederaufgenommenen Krieg gegen die Osmanen wird er zum Generalfeldmarschall befördert. Da ist er schon längst zum Katholizismus übergetreten.

Die weite Welt Europas und meist zu Pferde, Schlachtfelder und zum Ausgleich absolutistischer Barock in Wien. Einer seiner engsten Freunde und sein Mentor, seit sie zusammen im Spanischen Erbfolgekrieg gekämpft haben, ist Prinz Eugen von Savoyen. Ein Kosmopolit, der rastlos durch Europa reist, seine exzellenten militärischen Fähigkeiten – und seinen Charme – einsetzt, wo immer ihn eine Aufgabe reizt. Er sorgt dafür, dass Karl VI. 1719 Carl Alexander zu seinem Statthalter in Serbien ernennt.

Mit Macht stößt er dort nach dem Vorbild des Kaisers ambitionierte Wirtschaftsreformen an. Ein einheitliches Steuersystem, unterteilt in zwölf Steuerklassen, in dem jeder proportional nach Einkommen und Vermögen Abgaben zu leisten hatte: die Schutz-, Schirm- und Vermögenssteuer. Als Grundlage diente eine Volkszählung, in der zugleich Einkommen, Besitz und Eigentum jeder Familie erfasst wurden. Eine umfangreiche Wirtschaftsförderung mit staatlichen Subventionen für Manufakturen, zugleich Schutzzölle für ausländische Produkte, der Ausbau des Handels mit Wein und Salz, die Förderung des Bergbaus, das Etablieren einer Seidenzucht, den Anbau von Tabak und vieles mehr sollen für Aufschwung und Aufbruch in die Moderne sorgen – und die kaiserliche Kasse füllen.

Carl Alexander heiratet unter seinem Stand, aber in eine vermögende Familie ein: Seine Ehefrau wird Prinzessin Maria Augusta von Thurn und Taxis, deren Familie die Kaiserliche Reichspost betreibt und durch eigenes Geschick zu Macht und Titel aufgestiegen ist.

Die finanzielle Lage des kaiserlichen Feldherrn und Herzogs ohne Hof ist angespannt. Sein Jahresgehalt für den Gouverneursposten in Serbien beträgt gerade einmal 15 000 Gulden. Die Versendung eines Geschäftsbriefes mit Eilzustellung kostet zu der Zeit allein schon elf Gulden. Oppenheimer wird sich dies leisten.

Ob mit oder ohne Staat, der sich an der Finanzierung des Heeres beteiligt, die Führer der kaiserlichen Armeen haben für Sold, Ausstattung und Verpflegung ihrer Truppen selbst zu sorgen. Das braucht Vorfinanzierungen, Kredite, Logistik und ein weitverzweigtes Netz an Lieferquellen in einem kriegerischen Europa und einem Deutschen Reich, das aus lauter unabhängigen, konkurrierenden Staaten besteht. Zu dem risikoreichen Geschäft sind viele Juden in Europa bereit. Um außerhalb der meist sehr kleinen jüdischen Gemeinden den Lebensunterhalt zu erwirtschaften, sind Handel und Kreditwesen für sie die einzige Chance, Wohlstand zu erlangen, mit dem sich auch eine gewisse Unabhängigkeit erkaufen lässt. Von den Handwerkszünften sind Juden ausgeschlossen, selbst ihre freie Ansiedlung fast überall im Heiligen Römischen deutschen Splitterreich auf eine feste Gemeindegröße beschränkt, wenn nicht gar verboten. Sie dürfen keinen Grundbesitz oder landwirtschaftliche Flächen erwerben.

Aus dem Herzogtum Württemberg sind Juden seit Ende des 15. Jahrhunderts nach einer Verfügung des Herrschers Eberhard im Bart vertrieben worden, ansiedeln dürfen sie sich nur in den unabhängigen reichsritterlichen Dörfern wie Freudental, Aldingen oder Hochberg. Einzig eine Handvoll jüdischer Hoffaktoren darf sich wegen der kurzen Dienstwege in der Hauptstadt niederlassen, ganze sieben dieser sogenannten Schutzjuden zählt Stuttgart 1720. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wird sich dort eine offizielle jüdische Gemeinde gründen.

In Berlin gibt es bis 1669 ein Niederlassungsverbot für Juden. Der Kurfürst Friedrich I. wird nach der Vertreibung der Juden aus Wien zwar erlauben, dass sich fünfzig Juden in der Stadt ansiedeln, allerdings nur gegen Zahlung von 2 000 Gulden pro Kopf als Eintrittsgeld und mit einem generellen Verbot, eine Synagoge zu unterhalten. Sichtbares jüdisches Leben ist nicht erwünscht.

Hamburg hingegen hat 1679 das Ghetto beseitigt. Mit 8000 Juden ist die Hamburger Gemeinde zu der Zeit die größte im Deutschen Reich. Von überall strömen die sonst Unfreien in die Stadt. Im 18. Jahrhundert beträgt der jüdische Bevölkerungsanteil dort sechs Prozent.

In der freien Reichs- und Handelsstadt Frankfurt stehen Juden unter kaiserlichem Schutz und leben dort, von Pogromen kurz unterbrochen, seit dem 11. Jahrhundert. Allerdings ist ihre Ansiedlung seit 1462 auf ein mit Toren verschlossenes Viertel von 15 000 Quadratmetern Größe beschränkt. Das Ghetto besteht nur aus der etwa dreihundertdreißig Meter langen und drei bis vier Meter breiten Judengasse, die hinter der Konstabler Wache beginnt und unweit des Mainufers endet.

Obwohl die Bevölkerung im Ghetto wächst und wächst, wird das Areal von der Stadt nicht erweitert. Es ist eng, stickig und lichtlos in der Gasse. Wegen der mangelhaften Kanalisation ist sie voll stinkenden Unrats. In der Wohnungsnot werden die schmalen Häuser aufgestockt, die Hinterhöfe bebaut. Bis zu fünf Familien drängen sich so hinter einer Adresse, die alle hoffnungsvoll und spöttisch zugleich statt Nummern hübsche Namen tragen: Schloss, Sonne, Mond, Blume, Kanne, Rotes Schild, Grünes Schild.

Eine hohe Mauer umgrenzt das Ghetto, kein Blick in das christliche Viertel ist gestattet, die rückseitigen Fenster oberhalb der Mauer sind deshalb mit Brettern zuzunageln.

»Ein schauderhaftes Denkmal des Mittelalters«, schreibt der 1797 in Düsseldorf geborene deutsche Dichter Heinrich Heine im »Rabbi von Bacherach« noch hundert Jahre nach Oppenheimers Zeiten in Frankfurt. Heine hatte die Stadt zu Messezeiten mit seinem Onkel aus Hamburg besucht, der hoffte, aus dem vortrefflichen Poeten einen Prokuristen machen zu können, »damit er nicht sein müssen Dichter«. Die Frankfurter Juden, die »immer ein Stockwerk über das andere bauten, sardellenartig zusammenrückten und dadurch an Leib und Seele verkrüppelten«, befindet Heine – das Erlebnis ist ein einziger Alptraum für den Freigeist.

Die drei Tore des Ghettos werden des Abends und an christlichen Feiertagen, auch sonntags, geschlossen.

Die sogenannte »Judensättigkeit« der Stadt ist auf maximal fünfhundert Haushalte, jährliche Hochzeiten sind auf zwölf beschränkt, und der Zuzug nach Frankfurt ist nur mit Vermögensnachweis erlaubt. Für einen Wohnsitz ist die »Judenabgabe« zu zahlen, eine Extrasteuer. Das ist die Bedeutung des Schutzes im Wort »Schutzjude«. Die Stadt will von ihrer Generosität schließlich etwas haben, das muss sich lohnen.

Die Händler, die mit ihren Waren von Süden durch das Brückentor in die Stadt reisen, grüßt dort eine »Judensau«. Bis 1800 wird das Bild dort hängen, das der Rat der Stadt anbringen ließ. In der Franckfurter Chronick von 1734 sind Inschrift und Botschaft, inklusive der alten Ritualmordfama, nachzulesen: »1475. Am Gründonnerstag marterten die Juden ein Knäblein Simon genannt / seines Alters zweieinhalb Jahr / Dieses ist unter dem Sachsenhäuser Brücken-Thurn abgemahlet / nicht desentwegen als ob diese grausame Tat allhier geschehen seye. / dann Gottfridus in seiner CHRONICA pag 688 setztet solche Historie seye zu Trient verübt worden / sondern damit anzuzeigen / die Lieb so die Juden gegen die Christen tragen / und daß man nicht Ursach habe / in zu großer Vertraulichkeit mit ihnen zu leben / unter diesem Gemähld ist ein Jud gemahlet / reitend auf einem Schwein und eine Jüdin so auf einem Bock reitet.«

Nach Passieren des Brückenturms ist am Fahrtor Zoll zu zahlen: Christen zahlen vier Kreuzer, für Ochsen und Juden sind acht fällig.

Nur zu Messezeiten im Frühjahr und Herbst herrscht Freiheit in der Freien Reichsstadt. Man gibt sich weltläufig und hebt in diesen Schauzeiten die Restriktionen für die jüdische Bevölkerung auf. Zu den damals zweiunddreißigtausend Einwohnern Frankfurts kommen dann zwei- bis dreitausend Händler aus ganz Deutschland, Frankreich und der Schweiz hinzu. Juden dürfen in diesen Ausnahmewochen sogar die Oper besuchen. Goethe, der sich so geschüttelt hatte vor Ekel, als er einmal aus Neugier die Judengasse besichtigte, berichtet darüber. Passenderweise ist es eine Anekdote in »Dichtung und Wahrheit«, die vom Abbruch eines Theaterrangs erzählt, der die darauf sitzenden Juden auf die darunter sitzenden Christen purzeln ließ. Das unfreiwillige Aufeinandertreffen führte zu erheblichen Blessuren.

Unter diesen paradiesischen Umständen blüht das jüdische Leben in Frankfurt. »Neu-Ägypten« nennen sie ihr Viertel.

Die Frankfurter Gemeinde ist nicht die größte, aber eine der bedeutendsten der jüdischen Gemeinden in deutschen Landen. Die enge, dunkle Gasse gebiert zahlreiche Talente an Gelehrsamkeit und Erfindungsgeist, den Lebenshorizont im Rahmen der engen äußeren und inneren Möglichkeiten zu erweitern, allen Zwängen zum Trotz. Die äußeren Bedingungen bestimmt die christliche Mehrheitsgesellschaft, die inneren die strenggläubige Glaubens- und Schicksalsgemeinschaft der geschlossenen Gesellschaft des Ghettos. Das höchste Ansehen genießen die Gelehrten, die Rabbiner. Sie und die Armen werden, der Mitzwa der Zedaka, Gebot und Pflicht zur Wohltätigkeit in einem, folgend, subventioniert durch die geschäftlich Erfolgreichen, die außerhalb des Ghettos zum Bildnis des »reichen Juden« dienen – und tatsächlich nur einen kleinen Anteil der jüdischen Bevölkerung ausmachen. Die Frankfurter Gemeinde, die zu Oppenheimers Zeit dreitausend Menschen zählt, beschäftigt acht Rabbiner und fünf Kantoren. Zwölf Lehrer und zusätzlich einige Hilfslehrer unterrichten die Kinder. Gesprochen wird in Frankfurt wie in den anderen deutschen Gemeinden Judendeutsch, die Ursprungsform des Jiddischen, eine Mischung aus dem Deutsch des Mittelalters und Hebräisch.

Unter dem Einfluss slawischer Sprachen entstand nach den Fluchtbewegungen der Juden gen Osteuropa, ausgelöst durch die Pestpogrome im 14. Jahrhundert, das Jiddische, das sich wie ein Dialekt den jeweiligen Regionen anpasste. Wie Jiddisch wird Judendeutsch mit hebräischen Buchstaben geschrieben, hebräische Begriffe werden durch bestimmte Endungen gewissermaßen eingedeutscht oder harte hebräische Konsonanten weich aufgefangen: aus einem »t« wird ein »s«, »Schabbat« zum Beispiel so zu »Schabbos«.

»Mauscheln«, sagen die Christen zu der Mameloschen, der Muttersprache und Umgangssprache der deutschen Juden. Die Loschen haKodesch – Sprache und Schrift sind Juden ein heiliges Gut – verstehen die meisten Christen zu dieser Zeit sehr gut, sie verachten sie nur.

Mit Ausnahme einiger Geschäftsleute wie Oppenheimer lernt kaum ein Jude das damalige Hochdeutsch sprechen. Moses Mendelssohn wird die Torah, die fünf Bücher Mose, 1783 ins Deutsche übersetzen, quasi als Lehrbuch für die deutsche Sprache, deren Erlernen er unabdingbar für die Integration hält. Aber da hat die Zeit der Aufklärung schon begonnen, die Luft wird freier. Juden werden mit nicht gerade allzu überstürzten Schritten nach und nach Bürgerrechte zuerkannt. Die Mutter Heinrich Heines wird ihr ganzes Leben nur Judendeutsch sprechen.

Die weitverzweigte Großfamilie der Oppenheimers verdankt ihren Nachnamen der Freien Reichsstadt Oppenheim, der als Familienname angenommen wurde. Die jüdischen Namen bestehen aus Vor- und Vatersnamen. Zur eigenen Verortung und für die deutschen Behörden werden Ursprungs- oder Wohnorte als Familienname hinzugefügt, die hebräischen Vornamen manchmal für die Außenwelt latinisiert oder ein Christen geläufiger Vorname hinzugefügt. Mayer Amschel Rothschild etwa, der Begründer der Bankiersdynastie, wohnt in der Frankfurter Judengasse im Haus zum Roten Schild. Das Stammhaus verleiht so der Familie ihren Zunamen. Der später so berühmte Mann wird sein ganzes Leben lang in der Judengasse wohnen. Erst seine Söhne verlassen das Ghetto, dessen Tore sich endlich Anfang des 19. Jahrhunderts öffnen – die freie Reichsstadt Frankfurt ist damit eine der letzten in Europa.

Mayer Amschels Großvater Moses Kalman, ein Stoffhändler und Geldwechsler, hatte auch Geschäftsbeziehungen zu Oppenheimer. Er stirbt 1735 in der Judengasse.

Die Oppenheimer siedeln lange in Worms, mit Speyer und Mainz eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Gelehrsamkeit im Mittelalter. Mit dem Akronym »SchUM« – Schpira, Warmeisa und Magenza – fassen die Juden die drei Orte zusammen.

Ein Großteil der Oppenheimers lässt sich im 16. Jahrhundert in Heidelberg nieder. 1531 ziehen die Eheleute Löb Juda und Edel von dort nach Frankfurt, in das Haus »Zum Hirschen«, ihr Zuname dort ist »Heidelberg«. Sie begründen den Frankfurter Zweig der Familie. Ihre Söhne werden angesehene Kaufleute, Tuchhändler, und gehören zu den höchstbesteuerten, also vermögendsten Gemeindemitgliedern. Einige ihrer Nachfahren jedoch lassen sich zur Schande der Großfamilie taufen.

Der Preis für ein Fortkommen in der judenfeindlichen christlichen Welt ist hoch: Wer sich durch Konversion ausstößt aus der Gemeinde, hinter dem schließen sich die Tore, aber auch in der neuen Welt kann kein Taufwasser den Makel der Herkunft ganz wegwaschen. Die Taufe öffnet neue Türen in die christliche Welt, gänzlich offen stehen sie damit noch lange nicht. Auch noch nach Generationen haftet den Konvertiten der Geruch ihrer Herkunft an. Der doch tatsächlich auch seinerzeit sehr geliebte und gefeierte Dichter Heinrich Heine wird versuchen, sein Einkommen durch eine Professur zu sichern, für die das Bekenntnis zum Christentum Bedingung war – um die Stellung dann doch nicht zu bekommen. Der Preis seiner Taufe jedoch war die Verachtung in beiden Welten. Er hat sie bitter bereut.

Die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden in Deutschland bringt nicht etwa die Französische Revolution, auch nicht der Vormärz, die deutsche Revolution von 1848, nicht einmal das Kaiserreich, in dem Juden offiziell endlich gleichberechtigte Bürger werden und dem sie deshalb so begeistert und dankbar ihre Söhne im Ersten Weltkrieg opfern. In den Rang von Professoren, Offizieren, Ministern werden ungetaufte Juden, bis auf wenige Ausnahmen, erst in der Weimarer Republik aufsteigen können.

Die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose ist in Wahrheit ein sehr kurzes Freudenfest.

In der Pfalz regiert zu Oppenheimers Zeit ein anderer, pragmatischerer Geist. In der alten Hauptstadt Heidelberg dürfen sie, wenn auch auf ein zugewiesenes Areal beschränkt, auch Grundstücke erwerben. Der Stadtphysicus ist ein Jude, Jacob Israel wird sogar zum ordentlichen Professor der Medizin an der dortigen Universität ernannt, absolut ungewöhnlich im Deutschen Reich. Nach den Verwüstungen durch den Dreißigjährigen Krieg baut der Kurfürst Karl Ludwig nach holländischem Vorbild eine neue Stadt auf: die Quadratestadt Mannheim wird ein Ort des Freihandels, der Gewerbefreiheit – und der Religionsfreiheit. Unter Karl Philipp, der von 1716 bis 1742 regiert, entfallen für Juden die stigmatisierenden Kleidervorschriften und die Auflage, 1 000 Gulden für die Niederlassung zu zahlen. Christen jeder Richtung, auch Hugenotten aus Frankreich, und Juden bis aus Spanien, genannt »die Portugiesen«, lassen sich in der Stadt nieder, die nun die neue Landeshauptstadt ist und in der es kein Ghetto wie in Frankfurt gibt, und bringen sie zum Erblühen. 1693 beträgt der Anteil der jüdischen Bevölkerung an diesem raren Ort der Freiheit zwölf Prozent.

Joseph Süßkind wird es auch früh nach Mannheim ziehen, genauso wie vor ihm den damals berühmtesten und erfolgreichsten Oppenheimer seiner Zeit: Samuel Wolf. Beide sind Heidelberger, die in Mannheim den Grundstock ihrer Beziehungen zu fürstlichen Höfen und ihres Vermögens erwirtschaften. Samuel Oppenheimer steigt schwindelerregend hoch hinauf als Hoffaktor des Kaisers in Wien, finanziert quasi im Alleingang dessen Großen Türkenkrieg, an dem Habsburg beinah bankrott geht. Auch die Staatspleite wird von Samuel Wolf mit Krediten, für die er zwölf bis zwanzig Prozent Zinsen, Wucherzinsen, nimmt, aufgefangen. Als er 1703 stirbt, schuldet ihm Österreich sechs Millionen Gulden. Der Kaiser löst das Problem seiner Zahlungsunfähigkeit, indem er Konkurs über den Nachlass verfügt und somit gar nichts zurückzahlen muss.

Dieses Risiko bergen die Geschäfte der sogenannten Hofjuden stets. Ob kleiner oder großer Hof, es ist ein Glücksspiel, das hohen Gewinn an Vermögen und Einfluss verspricht und im besten Fall nur den Totalverlust des Einsatzes, des Kredits, mit sich bringt. So mancher Herrscher bereinigt seine Schulden auch mit Haft und Hinrichtung. »Landesverrat« ist dabei eine beliebte Anklage. So ergeht es auch Simon Wolf Wertheimer, verheiratet mit einer Oppenheimer, am bayerischen Hof. Der ist pleite, verschafft sich Zahlungsaufschub durch Haft des Gläubigers und muss schlussendlich nie seine Schulden zurückzahlen; lässt Wertheimer aber immerhin am Leben.

Josephs Vater Issachar Süßkind ist ein Heidelberger »Handelsmann«, wie sein Sohn in seinem Prozess zu Protokoll gibt. Er besitzt ein Haus in der Ingramgasse in jener Stadt, die Juden Grundeigentum erlaubt, und ist der Steuereintreiber der jüdischen Gemeinde, eine Respektsperson. 1697, sicher belegt ist das nicht, heiratet er die schöne Michal, die Tochter des vielgerühmten Chasan Reb Semele, Kantor Salomon, der Frankfurter Judengasse. Michal, oder nach außen: Michele Chasan bekommt in dieser Ehe in Heidelberg, die für Issachar Süßkind die zweite ist, drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, der Erstgeborene ist Joseph. Als ihr Mann 1707 verstirbt, heiratet sie Gabriel aus Wassertrüdingen, einem kleinen fränkischen Ort, der immerhin einen eigenen Rabbiner, also eine jüdische Gemeinde hat, und lässt die Kinder in Heidelberg zurück. Mit sechzehn erklärt sich Joseph für volljährig und macht sich selbständig. Das vom Vater geerbte Heidelberger Haus wird der Ausgangspunkt seiner Geschäfte, die, wie übrigens auch bei dem fünfundvierzig Jahre nach ihm geborenen Mayer Amschel Rothschild, mit dem Handel von Waren aller Art beginnen. Seinen Bruder Daniel zahlt er aus, nachdem sie eine Weile um das Erbe gestritten hatten, vor allem um das Haus in Heidelberg. Im November 1718 einigen sie sich vertraglich, mit einem Kredit befriedigt Joseph alle Ansprüche Daniels.

Aber zuallererst sieht Oppenheimer sich um, ausgedehnte Lehrreisen führen ihn zwischen 1713 und 1717 nach Prag und Wien. Seinen berühmten Verwandten Samuel Wolf lernt er nicht mehr kennen, aber dessen Sohn Mendel Mordechai, der, wie sein Vater, auch Prinz Eugen zum Kunden hat. Mendel, für die Christen Emanuel, führt ein prachtvolles, großzügiges Haus in Wien, zum Mittagstisch dürfen sich die Armen gesellen und werden genauso bedient wie der Hausherr – Zedaka, Wohltätigkeit.

Emanuel liebt, bei aller Geschäftstüchtigkeit, die Kunst und das Leben, es ist ein mondänes, beeindruckend glanz- und machtvolles Dasein mit Erdung des Judentums, das Alltag, Tag und Jahr taktet und lebenspraktisch auf das Dies- und nicht das Jenseits zielt.

In der großzügigen Barockstadt Wien begegnen dem jungen Oppenheimer selbstbewusste Juden als einflussreiche Hoffaktoren, die Gehör finden im großen politischen Getriebe. »Joseph Süs Oppenheimer«, wie er selbst seinen Namen schreibt, baut nach seiner Rückkehr in Heidelberg und Mannheim sein Unternehmen aus: Zum Warenhandel mit Knöpfen, Samt und Seide, holländischen Stoffen, Tee, Schokolade, Schmuck, Porzellan und Gemälden kommt das profitable Geschäft mit Wechseln. Wechsel sind Schuldscheine mit verbrieftem Rechtsanspruch, auf denen die Zahlung einer bestimmten Summe zu einem späteren Zeitpunkt versprochen wird. Sie sind das Vermittlungsgeschäft vor den Gründungen von Banken und unterliegen einem strengen Reglement, weil sie absolut vertrauenswürdig sein müssen. Der Besitzer eines Wechsels hat Rechtssicherheit, sein Geld auch zu bekommen. Die Nichteinlösung dieses Zahlungsversprechens kann den Kopf kosten.

Damals ermöglichen Wechsel überhaupt erst den Warenverkehr und grenzüberschreitenden Handel, die Entkopplung von Ware und Geld. Der Verdienst des Wechselhändlers besteht aus den Gebühren und den Zinsen. Es ist ein einträgliches Geschäft und, bevor es Bankhäuser gibt, der einzige Weg, sich Kredit, Zahlungsaufschub zu verschaffen, statt vor Ort in bar einzukaufen. Der Lieferant hatte mit einem Wechsel die Versicherung, das Geld für die gesandte Ware von wem auch immer zu bekommen, denn ein Wechsel konnte auch weitergegeben, ein Wechsel selbst gehandelt werden.

1723 wird der junge Geschäftsmann Süs Oppenheimer auch öffentlich sichtbar. Er wird Pächter des Stempelpapiers des pfälzischen Kurfürsten Karl Philipp. Stempelpapier ist eine unbeliebte neue Einnahmequelle des Landesherrn, eine Steuererfindung, mit der schon der französische König Ludwig XIV. neue Gelder für die Staatskasse eintreibt, um unter anderem die Militärkosten im Spanischen Erbfolgekrieg zu decken. Jedes amtliche Schreiben, aber auch jeder Privatvertrag muss auf kurfürstlich gestempeltem Papier, für das eine Gebühr fällig ist, ausgefertigt werden, um rechtsgültig zu sein. Auch in Bayern gibt es zum Leidwesen der Untertanen schon seit 1690 diese zusätzliche Steuer; wenn es um die Erfindung neuer Abgaben zugunsten der Staatskasse geht, schauen sich Europas Herrscher vieles voneinander ab.

Es ist ein mühseliges, aufreibendes Geschäft, bei dem Oppenheimer ständig seinem Geld hinterherrennen muss, denn die Pfälzer boykottieren, wie die Franzosen, das Papier, wie und wo es nur geht. Ganze Zünfte wie die der Bierbrauer weigern sich, die jüdische Gemeinde ignoriert es jahrelang. Oppenheimer hat keine Freude an seinen Bilanzen, Ärger und Aufwand sind einfach zu hoch. Er empfiehlt dem Kurfürsten, das Geschäft zu verstaatlichen, auch und vor allem, um mehr Autorität hinter das Ganze zu kriegen.

1731 scheidet er aus dem Pachtvertrag mit einem Umsatz von 12 000 Gulden aus. Bei seinem Prozess auch nach seinen vorwürttembergischen Geschäften befragt, gibt er an, abzüglich der Kosten hätte der reine Gewinn nur 4 500 Gulden betragen. Gewonnen hat er allerdings an Renommee und Aufmerksamkeit. Der gute Ruf ist wahres Gold, er verschafft Kreditwürdigkeit und Empfehlungen. Für den Ruf sorgt Oppenheimer nicht nur mit sauberer Geschäftsführung, erstklassiger Ware und guten Preisen, er gibt seinem Ansehen auch die passende Kulisse. Groß denken, weit. Sein Haus in Mannheim ist großzügig und kostspielig, das Porzellan auf dem Tisch, die erlesenen Tapeten, die Gemälde an den Wänden – auch wenn die meistens nur teure Reproduktionen sind. Es macht etwas her, strahlt Erfolg und Stil aus. Er kleidet sich à la mode, höfisch, Justaucorps, enge Kniehosen, Weste und Gehrock, Allongeperücke, das Kinn glattrasiert. Nichts an ihm, weder Aussehen, Auftreten noch Sprache lassen ihn als Juden erkennen. Judendeutsch ist den jüdischen Geschäftspartnern vorbehalten.

Seine hebräische Schrift im Judendeutsch fließt sehr viel regelmäßiger, geläufiger und leichter. In winzigen Buchstaben gleitet der Federkiel über das raue Papier. Lesbarer als sein Deutsch – das besorgt eh meistens ein Sekretär. Allerdings ist seine Schrift, mit Ausnahme der schwungvollen Unterschrift, nicht so ordentlich karzergeprügelt wie die seiner späteren Ankläger. Nur seine geschwungene Unterschrift in lateinischen Buchstaben ist elegant und fließend. In seinen Geschäftsbüchern, den Gewinn- und Verlustrechnungen, die in halber Druckschrift gehalten sind, liegt Sorgfalt und Regelmäßigkeit. Das Deutsch seiner Diktate aber ist klar, überaus präzise in den Formulierungen.

Später, in seiner langen Haft während des Prozesses, wird ihm das Hochdeutsch der Zeit peu-à-peu abhandenkommen. Die kleinen Zettelchen, die er seinem Verteidiger zukommen lässt, sind irgendwann zum Teil nahezu unverständlich – die Unterschrift unter dem letzten Vernehmungsprotokoll nur mehr Gekrakel, ein Bild der Zerrüttung des einst so stolzen, aufrechten Mannes.

Für die damalige auf jeder Seite orthodoxe Glaubenszeit und mit der wie zementierten Platzvergabe in der Gesellschaft ist der so sichtbar hochgereckten Kinns daherschreitende Wanderer zwischen den Welten eine Zumutung. Seine Lässigkeit, sein Selbstbewusstsein und seine Arroganz kommen einem Affront gleich, und die scheinbare Angstfreiheit, mit der er sich in der engen Welt des 18. Jahrhunderts bewegt, irritiert und fasziniert die Christen vom Diener bis zum Hochadel ebenso, wie sie sie empört und abstößt. Oppenheimer gibt nicht »Mores«, er zeigt lachend mit seinem Blick allen den Mittelfinger: meinen Platz such ich mir selbst, ich allein. Später in Württemberg wird der Generaldirektor der Rentenkasse Firnkranz sagen, Oppenheimer sei ein »Hasardeur«.

Sein Horizont ist weit und macht vor keiner Landesgrenze halt, wie bei vielen Juden mit ihren europaweit verzweigten Familienbeziehungen.

Auf der Suche nach Freiheit geht sein Blick in die moderne Welt und ihre Chancen, aber seine Spielernatur, sein unbändiges Freiheitsstreben, sein Beharren darauf, unorthodox die Regeln für sein Leben selbst zu bestimmen, und vor allem dieses ganz und gar nicht demütige Auftreten werden auch in der jüdischen Gemeinschaft mit Missbilligung und Argwohn betrachtet. Sein selbst verdienter Erfolg verschafft ihm Neid in beiden Welten, der christlichen wie der jüdischen.

Zweihundert Jahre nach seinem Tod werden die wenigen Oppenheimer-Biografen behaupten, er habe erst im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Hohenasperg zum Glauben zurückgefunden, dabei hatte der Glaube ihn nie ganz verlassen. Süs war nur lausig im Befolgen der Gebote. Heute würde man vielleicht von einem »Reformjudentum« sprechen, eine deutsche Erfindung übrigens aus der Kaiserzeit und einer jüdischen Welt, die in Deutschland für immer untergegangen ist.

Süs führt in jedem seiner Haushalte koschere Küchen, und die sind nicht nur für die jüdischen Geschäftspartner da. Selbst in den Gasthäusern, wenn er dort längere Zeit logiert, richtet er diese ein, auch wenn er die äußerst strengen Speisegesetze lax nimmt. Genauso wie die meisten der 613 Ge- und Verbote, die zu dieser Zeit vor der Haskala, der jüdischen Aufklärung, das Leben der Juden bestimmen und ihr Privatleben von dem der Christen trennen.

Es ist überliefert, dass Süs in Häusern seiner christlichen Freunde auch aß. Kein Schwein, »koscher light« quasi, aber von den erlaubten Speisen mussten es nicht unbedingt tatsächlich koscher zubereitete sein. Das war der Pragmatismus eines Geschäftsreisenden in einer nichtjüdischen Welt und passend zu dem Mann, der nach seinen eigenen Regeln lebt.

Süs hat die zarte helle Haut seiner Mutter, braune Augen, die spöttisch, aufbrausend, warm, wach und ungeduldig zugleich alles sehen. Er sei »ein unruhiger Geist«, sagt er über sich. Oppenheimer fällt auf – ehrgeizig, geschäftstüchtig und energisch sind auch andere, bei ihm kommen Stolz und Selbstbewusstsein dazu. Sein Ehrgeiz wird seinen Stolz nicht beugen: obwohl für ihn und bei ihm die Religion keine Hauptrolle spielt, wird er seine Herkunft nie abstreifen wollen. 1735 wird ihn Carl Alexander beim Kaiser in seinem Nobilitätsgesuch unterstützen, ihn anpreisen als »eine Person, die gewisslich in der Conduite, Verstand und angeborener Activität« seinesgleichen »weit übersteigend« sei. Oppenheimers »Betracht, seine Kräften, Bemüh- und Beopferung« in Carl Alexanders »angehende verschiedene staatliche Dienstleistungen« hätten den Etat in kurzer Zeit verdoppelt, so dass er »den gesicherten Effekt in vielen dessen Verricht und Unternehmungen verspüret habe«. Der »vorzüglich habilen Person« Oppenheimer seien deshalb nicht nur Angelegenheiten zu seinen »Landen und des schwäbischen Kreises«, sondern auch die »des Römischen Reiches (…) mit besonderen Vortheilen (…) anzuvertrauen«.

Ohne Taufe ist die Erhebung in den Adelsstand jedoch nicht möglich, bescheidet der kaiserliche Hof. Zweitens schon gar nicht für jemanden, der kein Österreicher ist. Dann eben nicht. Den Preis einer Taufe zahlt Süs nicht. Er wolle »Jud bleiben und kein Christ werden, auch wenn er römischer Kaiser werden könnte«, sagt er.

Fließend bewegt Oppenheimer sich durch die Gesellschaft, als gäbe es keine Beschränkungen, keinen Wohnortzwang, keine Kleidervorschriften, keine festgelegten Spielregeln nach Rang und Herkunft, kein ›demütig und bescheiden‹, kein ›ich kenne meinen Platz‹. Der Jude ist so »unjüdisch« in seinem Auftreten, ein Edelmann der Neuzeit, dass ihm später in Württemberg ein christlicher Vater angedichtet wird; anders, als dass sich seine fromme Mutter ehebrecherisch dem Grafen und Ritter Soundso hingegeben haben müsse, um diesen Freigeist zur Welt zu bringen, können sich die Christen sein Auftreten nicht erklären. Der Chefankläger Jäger wird in seiner Relation, der schriftlichen Urteilsbegründung, gar diese Behauptung einfügen. So findet diese Verleumdung in die Welt und wird in den folgenden einhundert Jahren Eingang in zahlreiche lexikalische Einträge und in »des Juden Süßen« Biografien finden.

Nach Süs’ Tod wird direkt 1738 ein Buch mit dem Titel »Leben und Tod des berüchtigten Juden Joseph Süß Oppenheimer« publiziert, in dem eine Anekdote sein Wandeln zwischen den Welten, seine Attitüde und den Blick beider Welten auf ihn sehr plastisch beschreibt. Vielleicht auch seine Eitelkeit in Bezug auf sein Auftreten und seine Wirkung. Ein Test zur Verortung von außen und ein Spiel.

Die Anekdote ist überliefert vom Wirt des Gasthauses »Zum weißen Ross« in Gießen, in dem Oppenheimer in Begleitung seines Sekretärs auf einer Geschäftsreise absteigt: »Mit viel Respekt« begrüßt der Wirt den vornehmen Herrn, den Sekretär hält er für einen Diener, weil der Livree trägt. Dabei sind für Oppenheimer, so autoritär er ist, seine Angestellten im Geschäft Vertrauenspersonen, keine Lakaien. Aber bella figura zu machen gehört auf dem Parkett dazu, geschäftlich und privat: den Rang abstecken und sich nie die Blöße geben. Im Gefängnis dann wird er sich darüber empören, Geflicktes tragen zu müssen, äußerlich zu verwahrlosen.

Der Wirt fragt den Sekretär, wie sein Herr anzureden sei: »Ihr Gnaden oder Ihr Excellenz«? »Ihr Gnaden würde der Herr durchgehend geheißen«, bekommt er als Antwort. Da das Zimmer erst noch geheizt werden muss, führt der Wirt den Gast in seine Wirtsstube. Dort sitzt eine Gruppe von Studenten beim Mittagessen, sie erheben sich alle respektvoll, als Oppenheimer den Raum betritt. »Sitzen geblieben, Ihr Herren!«, bescheidet Oppenheimer ihnen. Stehend, den Arm auf einen Stuhl gestützt, sieht sich Oppenheimer in der Gaststube um. Da sitzt ein Jude in der Ecke. »Woher, Ebräer?« – »Von Düsseldorf, Ihr Gnaden!«, erwidert der. Zum eilfertigen Wirt sagt Oppenheimer: »Ich werde nicht essen, schicke er mir nur eine Bouteille Wein auf das Zimmer«, sendet seinen Sekretär auf Geschäftsgang und bestellt den Juden auf seine Stube, der sich ehrerbietig einfügt. Nachdem der Jude Liebmann aus Düsseldorf seinen Namen sagt und dass er hier im Haus logiere, weil er einen Prozess in der Stadt zu führen habe, nimmt die Begegnung der Erzählung nach folgenden Verlauf: »Süß: Mit wem führet Ihr Prozeß? Liebmann: Es rühret noch von meinem verstorbenen Vater her und nannte denselben bei Namen. So, versetzte Süß, so habt Ihr ja Verwandte in Mannheim und Heidelberg und zehlete ihm solche von den Fingern her. Gott soll behüten! antwortete der Jude, Eure Gnaden kennen ja alle meine Verwandten. Süß lachte, weil sich der Liebmann darüber verwunderte, und trank ihm ein Glas Wein zu. Ich darf nicht, entschuldigte sich Liebmann. Warum nicht? fragte Süß. Liebmann: Eure Gnaden wissen ja, wie die armen Juden so übel dran sind. Süß stellte sich einfältig und fragte weiter: Wie so? Nu, antwortete Liebmann: Eure Gnaden wissen wohl, dass die Juden keinen anderen als Koucher-Wein trinken dürfen. Narrens-Possen! sagte Süß, trinkt Ihr doch. Der Jud zuckte die Achseln und entschuldigte sich, dass er nicht trinken dürfe. Endlich veränderte sich das Spiel auf einmal, wie ihm Süß das Glas mit den Worten auf Loschen Hakoudesch darhielt: Schoute trink! Ich bin sowohl ein Bar Isroel wie du. Der Jude war ganz bestürzt und antwortete: Eure Gnaden scherzen. Dem der Süß in die Rede fiel: Catrouves ist Catrouves: aber ich dibbre Dir den Emmes, dass ich ein Bar Isroel bin. Ein Bar Isroel? fragte jener mit der grössesten Verwunderung. Pschite! beschloss dieser, Schoute, ich bin Süß Oppenheimer.«

Das Gespräch wird dann unterbrochen, weil der Sekretär zurückkehrt, und Oppenheimer zu dem Termin aufbricht, den dieser für ihn vereinbart hat. Er lässt für seine Rückkehr sogleich die Extrapost bestellen, mit der er anschließend weiter nach Wetzlar reisen will. Liebmann, so geht die Schilderung weiter, erzählt dem Wirt, was »zwischen ihnen vorgegangen und mißbilligte gar sehr, daß der Süß den Satzungen der Rabbiner so frech entgegenhandelte; gab auch den Anschlag: man möge ihn beym Zöllner anzeigen: weil er sich beim Thor vermuthlich als Christen ausgegeben und den Zoll nicht entrichtet haben würde. Herr K., so hiess der Wirth, ein ehrlicher mann, aber zugleich ein durchtriebener Kopf, lachte bey sich selber, dass er dem Süß soviel Complimente gemacht. Damit er sich doch ein wenig an ihm rächen möge, so schickte er sogleich in die benachbarte Juden Herberge und ließ denen Bletegästen sagen: daß sich alle in seinem Haus einfinden sollen, weil ein fremder reicher Jude da wäre, der sie alle beschenken wolle.«

Die vielen Juden finden sich am Vorabend des Schabbats nun alle vor dem Gasthof ein, Oppenheimer kehrt von seinem Geschäftstermin zurück und »erkannte seine Glaubensbrüder und -Schwestern eher, wie sie ihn. Er fragte den an der Thür stehenden Wirth: Wo die vielen armen Leute herkämen? Welcher ihm mit allem verstelleten Respekt antwortete: Ihr Gnaden! Weil hier ein Wirtshaus ist, so finden sich beständig arme Leute, die von großen Herrn ein Almosen erwarten. Es ist so, sagte der Süß. Man trifft überall arme Leute an und reichte allen gegenwärtigen Juden, von den Alten bis auf die kleinen Kinder, ein reichlich Almosen da; bezahlete darauf den Wirth und fuhr davon.«

So endet die Anekdote.

Der Wirt mag gedacht haben, Oppenheimer in eine unangenehme Lage zu bringen, doch das Gebot der Zedaka, der Wohltätigkeit, gehört nicht zu den Geboten, an die sich Oppenheimer nicht hält, sie ist selbstverständlich für ihn.

Das dem Judentum innewohnende Verständnis, dass jedermann zunächst einmal seine überlebensnotwendigen Bedürfnisse zu stillen hat, den Hunger, den Durst, das Dach über dem Kopf, bevor er oder sie sich Gedanken über Weiteres, Höheres machen kann, auch nur könnte, ist in seiner DNA.

Er, der nach außen nicht als Jude, im Sinne der Andersartigkeit, betrachtet werden wollte, blieb bei all dem zu seiner Zeit gänzlich unkonventionellen Leben den jüdischen Grundsätzen treu.

»Voll väterlicher Opferwilligkeit« habe er für sie gesorgt, sagt im Prozess auch seine christliche Geliebte aus. Die jungen Frauen, mit denen er eine schnelle Nummer hatte, werden großzügig beschenkt und versorgt.

Dass sich Süs’ Großzügigkeit nicht auf Frauen oder Glaubensgenossen beschränkte, sondern jedem zuteilwurde, erzählen kurz hingeworfene, unbeabsichtigte Bemerkungen von Zeugen im Prozess. Auch dass er um seine stillen pragmatischen Hilfen kein Gewese gemacht habe. Als er später in dem pietistischen, den Juden extrem feindlichen Stuttgart dafür sorgt, dass des Nachts heimlich der Leichnam eines Juden aus der Stadt, die keine jüdische Beerdigungsgesellschaft und keinen jüdischen Friedhof hat, geschafft wird, damit dieser in dem reichsritterlichen Dorf Freudenthal angemessen beerdigt werden kann, und ohne dass für den toten Juden noch Wegezoll bezahlt werden muss, herrscht er seinen Geschäftspartner Elias Hayum an, der besorgt fragt, wie er die Aktion denn rechtfertigen wolle: »Er solle nur fort und kein groß Wesen davon machen«. Die Sache wird erledigt, wie er sie für richtig hält, und wenn die Regeln unmenschlich sind, lebensfremd, müssen eben Wege gefunden werden, sie lebenspraktisch zu unterlaufen.

Die Ablehnung des Juden Liebmann im Gasthaus jedoch, von der die Überlieferung berichtet, und solcherlei Empörung über das gotteslästerliche Leben des Bar Isroels, des Sohn Israels, wird Süs auch später in seinem Prozess von einigen seiner Glaubensbrüder entgegenschlagen.

Nach seinem Tode, diesem so grausamen, unbarmherzigen Zertreten eines Freigeists, werden sich die Juden seines Umfelds mit schlechtem Gewissen daran erinnern, was so viele von ihnen ihm zu verdanken hatten. Wie zum Beispiel seinen Einsatz für den in Ungnade und Haft gekommenen Hoffaktor Eberhard Ludwig Wolff Gabriel Levin aus Fürth, in dessen Gemeinde eine Druckerei nach Süs’ Hinrichtung eine Flugschrift produzieren wird, die an »Joseph HaZaddik«, Joseph, den Gerechten, erinnert.

Eine kurze Erinnerung. Im kollektiven Gedächtnis auch der Juden bleibt die Chuzpe des Mannes und für sie die Lehre, sich zu fügen und nicht an den Toren und Zäunen zu rütteln.

Abgesehen von den guten Geschäften, die er vielen in dem zuvor nahezu judenfreien Württemberg ermöglichte, sie gar bevorzugte, abgesehen von der großzügigen koscheren Beköstigung in seinem Haus, dem fast beiläufigen und geräuschlosen Beseitigen ihrer Schwierigkeiten, sofern sie nicht selbst verschuldet sind, hat Oppenheimer ihnen gegenüber für den gleichen Verdruss gesorgt wie gegenüber den »Diffikultätenräten«, als die er die Mitglieder des Geheimen Rats in Württemberg verspottet. Bei einem Treffen mit seinen Glaubensbrüdern soll er auf einen Stuhl gestiegen sein und ihnen mit all seiner Arroganz von oben herab gesagt haben: »Sehet, ich übersehe Euch alle miteinand«. Eigentlich ist diese Szene, wenn sie denn tatsächlich so stattgefunden hat, eher voll Selbstironie. Wie leicht ist es, von einem Stuhl zu fallen, wie leicht, an einem Stuhl zu rütteln. Ja, sie waren von ihm abhängig – und er davon, dass sie sich unauffällig, möglichst geräuschlos verhalten in dem Land, das keine Juden duldet.

Die Landschaft moniert heftig, dass es immer mehr Fremde werden würden, die plötzlich hier im Ländle unterwegs seien, sich gar niederließen, mit Personal und Angehörigen im Schlepptau, wofür einzig Oppenheimer sorge. Der muss drohendes Unheil für sich und seine Glaubensbrüder abwenden – eine Umkehrung der Szenen vor Gericht, in der die Mehrheit der jüdischen Zeugen ihm in den Rücken fallen wird. Er hat sich vor dem Herzog zu erklären und Fürsprache einzulegen für die, die schon da sind.

Carl Alexander sieht sich zu einem Reskript an den Geheimen Rat veranlasst. Er schreibt am 28. November 1736, dass der Aufenthalt und die Durchreisen verschiedener fremder Juden Süs zum Nachteil gereicht werde, weil [er] nicht nur dafür verantwortlich gemacht werde, »daß er allerhand dergleichen Leuthe an sich ziehe, sondern er auch über das, wenn etwas Unerlaubtes von denselben begangen worden dörffe, annoch den unverdienten Vorwurf leyden müsse«, die Schuld zu tragen hätte.

Carl Alexander bittet den Geheimen Rat, »in Gnaden geruhen möchten, ihm [Süs] zu erlauben, daß er zu seiner notwendigen« Unterstützung einige wenige jüdische Familien, deren Wohlverhalten er versichert sei, für den Aufenthalt hier am Hof und zu Ludwigsburg auszuersehen. Weder im Kabinett noch in einem anderen Rat soll »Unserem Geh. Finanzienrath Süs … etwas in den Weg geleget« werden, sondern die Sache allein ihm [Süs] zur Regelung überlassen werden.

Die Auflage ist, »nicht zu dulden, daß über diese Anzahl andere Juden in Unsere Lande kommen« oder verkehren. Mit einer Abmilderung: »Es sey denn«, sie können sich mit »schriftlicher gnädigsten Erlaubnis« oder, wenn sie nur durchreisen wollen, mit einem »fürstlichen Patent von Uns legitimieren«.

Oppenheimer wird viele Passierscheine als Geheimer Finanzrat und Kabinettsfiskal, Resident zu Frankfurt ausstellen. Sie finden sich in den Prozessakten.

An den Taten sollen sie ihn messen. Nur was er tut, soll ihn richten. Eigentlich war Oppenheimer, der rastlose Geschäftsmann, der so sehr nach dem Schönen, Warmen gierte, der Galan aus dem Barock, kein Mensch, der sich Illusionen über seine Mitmenschen und Geschäftspartner machte. Mit äußeren und inneren Zwängen kannte er sich zu gut aus. Nüchtern betrachtete er das Treiben der Welt: eine Art Pessimismus als Chance.

Wutausbrüche Angestellten gegenüber sind überliefert, im Prozess werden kleine Räte aussagen, dass sie seine Zornesanwandlungen fürchteten, obwohl der Externe, der Landesfremde, ihnen doch gar nichts konnte, sie ihn vielmehr, wenn sie den Mut und vor allem die geeignete Munition gehabt hätten, schnell wieder hätten loswerden können. Das wagte und wollte niemand. Nur hinter den Kulissen wurde versteckt gebohrt. Oppenheimer sah das wohl.