Josiahs Stimme - Tahni Cullen - E-Book

Josiahs Stimme E-Book

Tahni Cullen

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Beschreibung

Josiah ist das einzige Kind von Tahni und Joe Cullen und bis zu seinem zweiten Lebensjahr ein normaler, lebensfroher Junge. Dann beginnt er sich verändert, spielt nicht mehr und hört sogar auf zu sprechen. Die Diagnose: Autismus. Fünf Jahre lang versuchen seine Eltern alles, damit Josiah wieder lernt zu kommunizieren. Vergeblich. Doch eines Tages, aus heiterem Himmel, fängt Josiah an, ganze Sätze auf einem Tablet zu tippen, obwohl er nie richtig lesen und schreiben gelernt hat. Was er zu erzählen hat, verschlägt seinen Eltern den Atem: Josiah berichtet von Erlebnissen und Begegnungen im Himmel und schreibt Texte voller tiefer Einsichten und Weisheit. Ein bewegendes und mutmachendes Zeugnis für uns.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien,einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitungchristlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7365-0 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5770-4 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2017SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-verlag.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Josiah’s FireThis book was first published in the United States by BroadStreet Publishing, 2745Chicory Road, Racine, WI 53403, with the title Josiah’s Fire, copyright © 2016, by TahniCullen and Cheryl Ricker. Translated by permission.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-VerlagGmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: PS Words (Nicola Koniezny und Lea Schirra)Deutsche Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im SchönbuchOriginalumschlaggestaltung: Garborg DesignSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Inhalt

Anmerkung der Autorinnen

Prolog

1 Ich verliere ihn

2 Der schlimmste Albtraum

3 Der Startschuss ist gefallen

4 Gott spüren

5 Ein Schlag ins Gesicht

6 Eine offene Tür

7 Ehekrise

8 Die Rapid-Prompting-Methode

9 Nicht von dieser Welt

10 Große Entdeckungen

11 Ein Lied über den Himmel

12 Göttliche Anweisungen

13 Wie Gott uns sieht

14 Lass Freude in dein Herz

15 Heilung

16 Alte Freundschaften

17 Grenzenlose Liebe

18 Ein neues Klassenzimmer

19 Offener Himmel

20 Neues von der Dreifaltigkeit

21 Hohe Orte

22 Engel

23 Förderer und Fabriken

24 Himmlische Villen

25 Die Wahrheit auf dem Prüfstand

26 Kinderkram

27 Musik erklingt

28 Alles dreht sich um die Liebe

29 Eine harte Nuss

30 Der Himmel hat eine Stimme

Nachwort

Bildteil

Anmerkungen

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Anmerkung der Autorinnen

Als sich 2012 das Kommunikationswunder des kleinen Josiah auf dem I-Pad ereignete, schrieb er einen einzigen Strom von Worten ohne Leerzeichen oder Interpunktion nieder, der wortgetreu gespeichert wurde. Zur besseren Lesbarkeit haben wir Leerzeichen und Satzzeichen hinzugefügt und gelegentlich auftretende Rechtschreibfehler korrigiert. Der Kürze halber wurden Wörter und Sätze ausgelassen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

Josiahs Stimme

Keine bekannte Ursache. Keine bekannte Heilmethode. Lebenslang.

Die Diagnose hämmerte mir im Kopf, während wir in unserem Corolla nach Hause fuhren. So musste es sich anfühlen, wenn man zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde. Auf der vierzigminütigen Fahrt gegen den heulenden Wind kam es mir vor, als wären wir auf dem Weg zum Friedhof, um unsere Träume zu begraben.

Als mein Vater gestorben war, hatte der Schmerz tief gesessen, aber irgendwann war das Leben weitergegangen. Jetzt würde es anders sein. Das hier war ein schleichender Tod, eine Qual, die mich zu zerstören drohte.

Ich warf einen Blick nach hinten, zu Josiah, dessen himmelblaue Augen, die einst voller Leben gewesen waren, nun ausdruckslos ins Leere starrten. Wohin war er verschwunden? An denselben weit entfernten Ort, an dem seine Worte gefangen gehalten wurden? Kostbare Worte wie Mama, Daddy, Keks und Hummel. Würde ich mich irgendwann überhaupt noch an diese Laute von seinen Lippen erinnern können?

Joe und ich atmeten die schwere Stille ein, während uns das unsichtbare Ungetüm des Autismus laut verhöhnte. »Ich werde euch das Leben unfassbar schwer machen«, zischte es. »Wo ihr auch hingeht – ich sitze euch im Nacken, ihr werdet mich nicht los.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1Ich verliere ihn

»Wenn ich sprechen könnte, würde ich niemals schlechte Nachrichten bekommen.«

Josiah Cullen

18. August 2007

Wenn eine Atombombe hochgeht, lässt sich nur schwer abschätzen, wie groß das Ausmaß der Zerstörung sein wird. Niemals werde ich den Tag vergessen, an dem ich lernte, dass dies auch für emotionale Bomben gilt.

Eines Abends saß ich mit Joe und seinen Eltern um den Esstisch. Die Uhr tickte, im Spülbecken tropfte die Barbecue-Soße von unseren Tellern, ich lächelte bei dem Gedanken an unseren zweiundzwanzig Monate alten Sohn, der in seinem Zimmer am Ende des Flurs im Land der Träume weilte.

Es war keine zwei Wochen her, dass meine Schwiegereltern das letzte Mal bei uns zu Besuch gewesen waren. Dieses Mal wollten sie ihr Auto in unserer Gegend reparieren lassen, da unsere Werkstätten anscheinend eine bessere Auswahl an britischen Autoteilen zu bieten hatten als die in North Dakota.

Frank lehnte sich vor und sagte in seinem saloppen New Yorker Akzent: »Es fällt uns nicht leicht, das anzusprechen, aber wir müssen euch etwas sagen.«

Ich richtete mich auf. »Okay …«

»Wir wollen euch nicht beunruhigen«, meinte er.

Zu spät. In meinem Kopf schrillten schon die Alarmglocken. Ging es um Frank oder Kathy? War einer von ihnen krank? Was war los?

Ein paar Stunden zuvor hatte Pastor Bob in seiner Predigt von Lebenskrisen gesprochen. »Entweder steuerst du darauf zu, befindest dich gerade in einer oder lässt gerade eine hinter dir.« Bei seiner Botschaft hatte ich an Joe denken müssen, der vor vier Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte. Auch mein Vater kam mir in den Sinn, der vier Jahre davor an einem Herzinfarkt gestorben war. In den vergangenen vier Jahren war es uns jedoch wirklich gut ergangen. Gott hatte uns ein schönes Haus in einem idyllischen Viertel gegeben. Eine Kindertagesstätte lag direkt in unserer Straße und einen Spielkameraden für unseren Sohn in direkter Nachbarschaft hatte Gott auch noch oben draufgelegt.

Josiah. Was für ein Segen dieses Kind war. An diesem Morgen, als wir auf dem Kaufhausparkplatz im Auto saßen, hatte ich laut gelacht wegen der Faxen, die er und Joe mit ihren Augen im Rückspiegel machten. Ihre tiefe Verbundenheit ging mir direkt ins Herz und ich konnte es kaum erwarten zu sehen, wie sich ihre Beziehung im Laufe der Jahre weiterentwickeln würde.

Im Zimmer wurde es still, als Frank sich räusperte. »Josiah scheint sich nicht mehr so für uns zu interessieren wie früher. Ähm, wie soll ich das nur ausdrücken? Normalerweise sind Kleinkinder etwas interaktiver.«

Mein Körper versteifte sich. »Was willst du damit sagen?«

»Na ja, wir wollen euch nicht beunruhigen, aber wir haben im Radio ein Interview gehört, bei dem es um Autismus ging.«

»Autismus?« Dichte Wolken zogen in meinen Gedanken auf, während sich mein Magen bei dem Wort zusammenkrampfte. Was wollte er andeuten? Dass mit unserem Sohn etwas nicht stimmte?

»Wir behaupten nicht zu wissen, was los ist. Wir haben keine Ahnung. Aber einige Dinge haben uns nachdenklich gestimmt.«

Joe blieb ruhig. »Was denn für Dinge?«

»Nun, letztes Wochenende war er nicht so wild darauf wie sonst, mit seinem Cousin Keenan zu spielen. Später, zu Hause, haben Kathy und ich uns darüber unterhalten, wie er sich vor drei Monaten verhalten hat, als er bei uns zu Besuch war. Er betrachtete andauernd die Muster im Maschendrahtzaun. So, als könne er gar nicht mehr weggucken.«

Die Wolken verdunkelten sich, wurden bedrohlicher. Unliebsame Bilder schossen mir durch den Kopf. Der Cousin, der Zaun, der starre Blick. Ich hatte Artikel über Autismus gelesen und am Ende immer erleichtert aufgeatmet, Gott sei Dank ist mein Kind nicht betroffen.

Kathy zuckte mit den Schultern. »Wir dachten einfach, es wäre gut, wenn ihr ihn mal durchchecken lasst.«

»Aber er hat doch all seine Meilensteine erreicht«, erklärte ich. »Er klatscht in die Hände, er redet, er zeigt auf Dinge. Bisher hat uns niemand darauf angesprochen, nicht mal seine Erzieher in der Tagesbetreuung.«

Frank winkte ab. »Wahrscheinlich ist auch nichts dran. Wir dachten einfach, dass wir es erwähnen sollten.«

Wahrscheinlich nichts dran? Wie konnte nichts dran sein, wenn ich mit einem Schlag dieses Gefühl hatte, als würde ich von einer schweren Last zerdrückt? Bei dem Gedanken allein drohte das Bild unseres perfekten Lebens in tausend Stücke zu zerspringen, wie ein Puzzle, das auf den Boden fällt. Eines dieser Puzzlestücke beunruhigte mich im Moment am meisten.

Am letzten Wochenende, als ich Josiahs Buggy durch das Glastunnelaquarium in der Mall of America geschoben hatte, hatte er ein vollkommen untypisches Verhalten an den Tag gelegt.

Obwohl Haie und Rochen über und um ihn herumschwammen, schien Josiah durch sie hindurchzusehen, als wären sie unsichtbar. Als würde er die bunten Farben, die großen Augen und die runden, weit offen stehenden Mäuler nicht wahrnehmen. Um es frei heraus zu sagen, mein Kind wirkte leicht benebelt.

Er ist nur ein wenig angeschlagen, sagte ich mir. Wegen einer Bindehautentzündung, die von einem Auge auf das andere übergegangen war, hatte der arme Kerl gerade seine zweite Antibiotikabehandlung hinter sich.

Ich warf meinen Schwiegereltern einen Blick zu. »Also, falls etwas mit ihm nicht stimmt, wollen wir auf jeden Fall wissen, was es ist. Danke, dass ihr uns darauf aufmerksam gemacht habt. Ich werde ihn auf jeden Fall untersuchen lassen.«

Am nächsten Tag schleppten wir uns müde durch das Kindermuseum und plauderten über Holzklötzchen und optische Illusionen. Von außen betrachtet wirkten wir wie alle anderen auch: eine fröhliche Familie, damit beschäftigt, erinnerungswürdige Momente zu erleben. In unserem Inneren jedoch toste ein Unwetter.

Während Josiah hin und her lief, herumkletterte und sich im Labyrinth versteckte, drehte sich alles in meinem Kopf noch schneller. Ein weiteres Puzzlestück fiel mir ein. Joey, die freundliche, rothaarige Leiterin von Josiahs Kindertagesstätte, hatte mir vor Kurzem erzählt, dass Josiah andere Kinder an den Haaren gezogen hatte. Ich hatte meine Besorgnis beiseitegeschoben und die Angelegenheit als nur eine weitere Phase abgetan, die vorübergehen würde. Wenn Joey die Sache offensichtlich nicht ernst nahm, warum sollte ich es tun? Doch dieser Zwischenfall erschien mir auf einmal bedeutsam. Was, wenn mehr dahintersteckte?

Meine Augen jagten wie Magnete umher, die an jedem kleinen, langhaarigen Mädchen hängen blieben, das Josiahs eifrigen Fingern zum Opfer fallen könnte.

Hör auf, schalt ich mich selbst, sonst wird dich diese übertriebene Achtsamkeit noch in den Wahnsinn treiben.

Ich hatte gehofft, dieser Ausflug würde beweisen, dass meine Schwiegereltern falschlagen, dass Josiah einfach wieder sein gewohnt fröhliches Wesen an den Tag legen würde, aber bisher war dem nicht so. Solange ich ihn in diesem bedrohlichen neuen Licht betrachtete, konnte ich nicht anders, als jeden seiner Schritte kritisch zu hinterfragen. Eine große schwarze Truhe war geöffnet worden, aus der nun eine ganze Schar unschöner Möglichkeiten herausgepurzelt kam.

Ich konnte Josiahs Termin beim Arzt kaum erwarten. Dr. Roger war es stets gelungen, meine mütterliche Besorgnis mit seinem klugen, gutmütigen Rat zu entkräften. Als es mit dem Laufenlernen erst nicht so richtig klappen wollte, hatte der Arzt Josiah gründlich untersucht und mir versichert, dass mit ihm wirklich alles in Ordnung sei.

»Jedes Kind braucht seine eigene Zeit, um laufen zu lernen«, erklärte er. »Jungs hinken oft etwas hinterher, aber ich sag Ihnen was: Wenn Josiah bis zu seinem zweiten Geburtstag immer noch nicht läuft, können wir uns immer noch Sorgen machen.«

Einige Wochen später machte es zwischen Josiahs Kopf und Füßen Klick. Der kleine Kerl holte die verlorene Zeit sofort auf und ließ meine Sorgen weit hinter sich im Staub zurück.

Als ich Dr. Roger von den jüngsten Beobachtungen meiner Schwiegereltern berichtete, reagierte er mit der üblichen Gelassenheit. »Josiah scheint vollkommen in Ordnung zu sein. Ich sehe keinen Anlass zur Beunruhigung. Was halten Sie davon, wenn wir ihm noch mal sechs Monate geben und ihn dann erneut untersuchen?«

»Oder was?«, fragte ich. »Was sind meine anderen Optionen?«

»Nun, ich bin wirklich nicht der Meinung, dass es nötig ist, aber wenn es Sie beruhigt, kann ich ihn an das Courage Center für weitere Tests überweisen.«

Im Laufe der folgenden drei Monate ging es mit Josiahs Entwicklung sehr schnell und steil bergab. Sein Wortschatz löste sich in Luft auf. Wörter, die wir gemeinsam geübt hatten. Wörter, die wir gefeiert hatten, die seine schillernde Persönlichkeit ans Licht gebracht hatten. Wohin waren sie verschwunden? Und warum sahen seine Augen auf einmal so hohl und leer aus, als hätte jemand sein inneres Licht ausgeknipst? Seine Persönlichkeit blendete sich ein und aus, wie eine Lampe mit Wackelkontakt. Was fehlte unserem Sohn bloß?

Voller Kummer verschanzten Joe und ich uns am Labor-Day-Wochenende in unserem Haus, wo wir uns wie durch einen Nebel schleppten. Josiah knipste ständig das Licht an und aus, an und aus. Außerdem drückte er immer wieder die Knöpfe auf seinen Spielsachen. Tuut, tuut, tuut.

»Josiah, guck, was Mami macht.« Wie eine Spinne krabbelte ich mit den Fingern schnell seinen Bauch hoch.

Nichts. Ich steckte den Kopf unter eine Decke und ließ mein Gesicht plötzlich vor seinem auftauchen. Immer noch keine Reaktion. Er starrte in eine Art Niemandsland der Leere.

»Joe, er sieht aus, als hätte jemand seinen Geist entführt!«

Taschentücher konnten meinen Tränen nicht beikommen und so vergrub ich mein Gesicht in einem Handtuch und schluchzte drauflos. Wie konnte der Arzt sich nur so geirrt haben? Wie konnte Gott zulassen, dass unserem Kind so etwas widerfährt?

Josiahs Untersuchungen im Courage Center führten dazu, dass er nun dreimal die Woche zur Therapie ging. Trotzdem konnte uns niemand konkret sagen, was ihm fehlte. Auch nicht die Leute von der Frühförderung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, die die Situation bei uns zu Hause in Augenschein nahmen.

Unser Leben wurde zum Balanceakt, bei dem Joe und ich uns dabei abwechselten, mit Josiah quer durch die Stadt und wieder zurück zu fahren, um ihn wieder bei der Tagesbetreuung abzusetzen und dann so schnell wie möglich zur Arbeit zu hetzen, ohne zu wissen, wann dieser irrwitzige Spießrutenlauf endlich ein Ende haben würde. Was war nur los mit unserem Sohn?

Ende September schenkte uns Aneta – eine von Josiahs erfahreneren Therapeutinnen – einen kleinen Funken Hoffnung. »Ich glaube wirklich nicht, dass Josiah autistisch ist«, meinte sie.

Ich fühlte, wie sich mein Gesicht erhellte. »Tun Sie nicht?«

»Nein. Er weist nicht alle der üblichen Symptome auf. Ich halte es für eine gute Idee, seine Augen und Ohren testen zu lassen. Vielleicht ist es etwas anderes.«

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Augen und Ohren – natürlich. Warum waren wir nicht selbst darauf gekommen? Jeder weiß doch, wie sehr es Menschen aus der Bahn warf, wenn sie nicht richtig hören konnten.

Mit neuer Hoffnung gewappnet, fuhr ich mit Josiah zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt in Maplewood. Josiah saß auf meinem Schoß in einem schalldichten Raum, während leise Geräuschschnipsel aus den Wandlautsprechern klangen. Musik, Signaltöne, Geflüster, Gepuste, Tiergeräusche, hohes Pfeifen. Jedes Mal, wenn ein Geräusch an sein Ohr drang, drehte er den Kopf in die entsprechende Richtung. Leider schien sein Gehör einwandfrei zu funktionieren.

Am vierten Oktober feierten wir Josiahs zweiten Geburtstag, indem wir mit ihm nach Stillwater fuhren, um seine Augen testen zu lassen. Obwohl es nur eine schwache Hoffnung war, klammerte ich mich wie an eine Rettungsleine daran fest.

Eine dürre junge Frau führte uns in einen ruhigen Raum, in dem ich zur Zwangsjacke für Josiahs strampelnden Körper wurde. Als sie ihm die pupillenerweiternde Lösung in die Augen tropfte, schlug er schreiend und weinend mit den Armen um sich.

Dreißig Minuten später versuchte der Augenarzt Josiahs Aufmerksamkeit mit einem leuchtenden Lichtkreisel auf sich zu ziehen, während ich bemüht war, mein Gesicht vor seinem wild umherschlagenden Kopf zu schützen. Der Arzt hielt Lupen vor Josiahs Augen, um zu sehen, ob die Pupillen fokussieren würden.

»Tut mir leid, das zu sagen«, meinte er schließlich und überkreuzte die Arme. »Aber Ihr Sohn ist extrem weitsichtig und braucht eine Brille.«

Die achthundert Dollar, die wir für zwei winzige Brillengläser bezahlten, gaben uns so viel Hoffnung, wie wir sie seit Wochen nicht mehr empfunden hatten.

Sobald ich nach Hause kam, schob ich ihm das Ding auf die Nase und versuchte ihm klarzumachen, dass er sie anlassen sollte. »Na bitte!« Während ich ihm die Arme an den Seiten festhielt, stimmte ich ein Lied an: »Ruder, ruder, ruder dein Boot sanft herab den Fluss.« Wir schafften zehn Sekunden, bevor er sich die Brille vom Gesicht riss. »Super gemacht, JoJo. Jetzt versuchen wir es mal ein bisschen länger. Fröhlich, fröhlich und vergnügt, das Leben ist ein Genuss.«

Ich wiederholte die Prozedur Tag und Nacht – aber noch immer verweigerte er jeden Blickkontakt.

Nachdem ich eine Woche lang mit ihm das Brilleanziehen geübt hatte, baten uns zwei seiner Therapeutinnen mit ernsten Gesichtern zum Gespräch. »Wir haben uns auch mehr davon erhofft«, gestand eine von ihnen. »Aber offensichtlich liegt hier mehr vor als nur eine Sehschwäche.«

Ich sackte in mich zusammen. Sie hatten natürlich recht. Sofort brachen meine Ängste wieder über mich herein.

»Mom, wir verlieren ihn«, weinte ich in den Telefonhörer.

In den vergangenen Jahren war mir meine Mutter eine echte Stütze gewesen, diese gläubige Frau, die immer genau zur richtigen Zeit die richtigen Worte fand. Obwohl uns viele Kilometer trennten, war unsere Beziehung so eng, dass man meinen könnte, sie wohne auf der anderen Straßenseite.

»Ich weiß, wie furchtbar schwer das für dich ist, Schätzchen.«

Ich unterdrückte ein Schluchzen. »Er hat seinen Wortschatz verloren, auf einmal ist er beim Essen furchtbar mäkelig und mitten in der Nacht reißen ihn panikartige Angstgefühle aus dem Schlaf. Seine Augen sind offen, aber er schafft es nicht, aus seinen Albträumen aufzuwachen. Mom, es ist beängstigend. Er ist zu einem ganz anderen Kind geworden.«

»Du wirst das durchstehen, meine Schöne. Josiah mag dein Baby sein, aber du bist meines, und ich bin für dich da. Lass uns beten.«

Als Dad gestorben war, hatte ich meine Mutter getröstet, wenn sie das Gefühl überkam, am Ende zu sein. »Doch, du schaffst das«, hatte ich ihr versichert, »mit Gottes Hilfe.« Ich rief sie mehrmals am Tag an, um ihr aus der Bibel vorzulesen, mit ihr zu weinen oder zu beten. Damals umarmte ich sie mit meinen Worten und streckte behutsam die Hand nach ihr aus, als wollte ich eine Feder fassen. Nun war es an ihr, mich in Gottes Kraft zu wiegen.

»Vater, lass Tahni und Joe deine Weisheit und deinen Frieden zuteilwerden. Offenbare, was verborgen ist. Zeig ihnen, was zu tun ist. Halte meinen kleinen Enkelsohn in deiner Obhut. Im Namen Jesu.«

Nachdem ich aufgelegt hatte, brach ich zusammen. Am selben Küchentisch, an dem vor drei Monaten alles begonnen hatte. Wo bist du, Gott?

Ich war in einer Baptistengemeinde groß geworden und hatte irgendwann sogar ein wenig von dem Feuer des Heiligen Geistes aufgenommen. Schon seit Beginn der Schwangerschaft hatte ich für Josiahs Schutz gebetet: Herr, nimm dich dieses Kindes an. Lass ihn oder sie ein Licht für die Nationen sein.

Aber wie sollte er ein Licht für die Nationen sein, wenn sein Schaltkreis komplett ausgeschaltet war?

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2Der schlimmste Albtraum

»Im Autismus gefangen zu sein,ist kein Zuckerschlecken.«

Josiah Cullen

Oktober 2007

Ich kauerte unter einer Decke auf der großen Couch im Keller und tippte Josiahs Symptome bei Google ein. Bitte, dachte ich, alles, nur nicht das A-Wort. Doch wie der Schwarze Peter beim Kartenspiel tauchte es immer wieder auf.

Stundenlang schaute ich mir eine Webseite nach der anderen an, bis ich auf ein Video stieß, in dem das Verhalten eines gesunden Kindes mit dem eines autistischen verglichen wurde. Mein Körper verkrampfte sich, als der Therapeut jedem Kind eine Kerze, einen Spielzeug-Geburtstagskuchen und einen Klumpen Knete reichte. Das gesunde Kind steckte die Kerze in den Kuchen, das autistische jedoch matschte sie planlos in den Knetklumpen.

»Gesunde Kinder lernen durch Nachahmung«, erklärte der Erzähler. »Autistische Kinder sind nicht in der Lage, nachzuahmen oder nachzuspielen. Die Funktion ihrer Spiegelneuronen ist gestört, was dazu führt, dass sie soziale Hinweisreize nicht wahrnehmen.«

Die wissenschaftlichen Mitarbeiter gaben den Kindern ein Plüschtier, eine Tasse und einen Löffel. Das gesunde Kind tat so, als würde es das Plüschtier füttern, während das autistische Kind mit seinem Löffel auf das Tablett haute.

Tränen brannten in meinen Augen, als sie den Kindern kleine Spielzeugautos reichten. Das gesunde Kind spielte mit dem Auto, rollte es über den Boden, so wie Josiah es früher getan hatte. Das autistische Kind jedoch drehte einfach nur auf mir sehr bekannte Weise an den Rädern. Josiah hatte vergessen, wie man mit Autos spielt.

Ein gebirgsähnliches Gewicht legte sich auf mein Herz und zerquetschte mich fast. Ich lief nach oben, vorbei an den Körben mit schmutziger Wäsche, den lächelnden Familienporträts, die an den Wänden hingen, und an Josiah, der in seinem Zimmer Mittagsschlaf hielt, und baute mich zwischen dem Fernseher und Joe auf, der gerade das Sonntags-Footballspiel schaute.

»Interception!«, brüllte er und reckte den Hals, um an mir vorbeizusehen.

»Joe, ich muss dir etwas zeigen. Ich weiß jetzt, was Josiah fehlt.«

Schweigend folgte er mir die Treppen hinunter, wo ich ihm das Video mit dem eindeutigen Vergleich vorspielte. Es ließ sich nicht leugnen. Das autistische Kind verhielt sich genauso wie Josiah.

Ein Schatten legte sich über seine Augen. Er legte den Arm um mich und zog mich an seine Brust. Als ich mich aus seiner Umarmung löste, standen in seinen Augen Tränen. Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Schätzchen, das schaffen wir schon.« Seine sonst so starke und tiefe Stimme klang brüchig. »Wir werden alles tun, um unserem Sohn zu helfen.«

Joe stürzte sich in die Recherche über Autismus.

»Ich habe eine Idee«, sagte er und schaute von seinem Laptop in der Küche auf. »Jason, der Sport-Blogger, dem ich folge, hat einen autistischen Sohn. Ich werde ihn kontaktieren und ihm ein paar Fragen stellen.«

Joes Blogger-Freund riet uns, Josiah eine Intensivtherapie von sechs bis sieben Stunden täglich machen zu lassen. Die ersten fünf Jahre sind ausschlaggebend, schrieb er. Mit dem richtigen Programm haben autistische Kinder eine deutlich bessere Chance, ihren Zustand zu verbessern.

Nachdem Joe ein bisschen herumtelefoniert hatte, stieß er auf Partners in Excellence, eine Einrichtung, die angewandte Verhaltensanalyse-Therapie in Vollzeit anbot, und machte einen Besichtigungstermin aus.

»Das wird ein Abenteuer«, sagte ich zu Josiah.

Joe öffnete die Eingangstür des Gebäudes und nur Sekunden später streckte uns eine Frau mit warmen, blauen Augen die Hand entgegen. »Hi, ich bin Keri, die Leiterin des Instituts. Kommen Sie doch rein.« Mit einer Magnetkarte öffnete sie eine schwere Doppeltür und führte uns in einen Raum mit einem riesigen Trampolin und zahlreichen Regalen voller Spielzeug. Dazwischen waren Spielstationen aufgebaut, ein richtiges kleines Dorf mit einer Arztpraxis, einer Küche, einem Krämerladen und einer Schule. Jede Station war mit Plastikkisten und Kostümen ausgestattet.

»Wir tun alles, um die Fantasie der Kinder anzuregen.« Keris sanfte Stimme wirkte beruhigend auf mich, dennoch rang ich mit den Tränen. Wir hatten davon geträumt, uns Kindergärten anzusehen, nicht Therapieeinrichtungen.

Zwei freundlich aussehende Therapeuten gingen mit kindergleichem Elan auf Josiah zu. »Na, hast du Lust, ein bisschen zu spielen?«

Ich konnte nicht glauben, was als Nächstes geschah. Josiah ließ uns stehen und ging mit diesen komplett fremden Menschen mit, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Was war aus dem Kleinkind geworden, das noch vor Kurzem unter schrecklicher Trennungsangst gelitten hatte? Aus dem kleinen Jungen, der immer »Mama, Mama« geschrien hatte, wenn wir ihn beim Kindergottesdienst absetzten? Was würde ich nicht dafür geben, diese hartnäckigen Rufe noch einmal zu hören. Mein kleiner JoJo. Erinnerte er sich überhaupt an mich? Natürlich würde er mit Fremden mitgehen. Warum auch nicht? Er war bereits Tausende Kilometer entfernt.

Keri führte uns den Flur hinunter und öffnete vorsichtig eine Tür. »Das hier ist unser Übergangsklassenzimmer. Hier werden Kinder darauf vorbereitet, nächstes Jahr in die öffentliche Vorschule zu gehen.«

Das lebhafte und unbekümmerte Treiben der Kinder erinnerte mich daran, wie Josiah früher gewesen war. Wenn die Therapeuten dieser Einrichtung diesen Kindern helfen konnten, dann vielleicht auch Josiah. Und vielleicht würde er ebenfalls eines Tages in dieser Klasse sitzen.

Keri schloss die Tür und führte uns an Therapie-Schaukeln und seltsamen Hüpfdingern vorbei und durch ein Labyrinth von Kabinen.

»Jedes dieser Abteile gehört einem Kind«, erklärte sie uns. »In jeder Kabine gibt es einen kleinen Tisch, zwei Plastikstühle, ein Regal und einen Taschenorganizer mit den liebsten Motivationsmitteln des jeweiligen Kindes. Die Kinder suchen ihre Kabine mehrmals am Tag auf, um ihre Übungen zu machen.«

Joes Augenbrauen schossen hoch. »Übungen? Was wird da gemacht?«

»Verschiedene Dinge. Zum Beispiel beinhaltet unser Lehrplan ein Belohnungssystem. Wenn die Kinder Dinge zuordnen, beschriften oder sortieren, werden sie belohnt. Das funktioniert sogar beim Händewaschen. Sie machen ihre Hände nass, um eine Belohnung zu bekommen, seifen sie ein, um eine Belohnung zu bekommen, und waschen sie ab, um eine Belohnung zu bekommen.«

O Mann, das klang eher nach einer Hundeschule. Die einfachsten Aufgaben zu kleinstmöglichen rituellen Schritten reduziert.

Keri tätschelte meine Schulter. »Ihr Vorteil ist, dass Sie ihn schon so früh hierhin schicken. Ihr Zweijähriger wäre einer unserer jüngsten Patienten, aber wir werden uns ihm voll und ganz widmen und ihm all die zusätzliche Hilfe zukommen lassen, die er braucht.«

Joes Gesichtsausdruck sagte mir, dass sie ihn schon überzeugt hatte.

»Wann könnte er hier anfangen?«, fragte ich.

»Sobald die Diagnose und die Kostenübernahme der Versicherung vorliegt.«

Joe tigerte in unserem Wohnzimmer auf und ab. »Das ist doch verrückt«, meinte er. »Ich habe beim Alexander Center, bei der Universität von Minnesota und im Kinderkrankenhaus angerufen. Die Wartelisten sind zwischen vier Monaten und einem Jahr lang.«

»Was sollen wir tun?«, fragte ich.

»Ich habe einen Termin beim Alexander Center gemacht, weil die Warteliste dort am kürzesten ist, aber ich denke, wir brauchen einen Plan B.«

Also fand ich einen zertifizierten Psychologen, der einwilligte, einen Hausbesuch zu machen, um Josiah zu beobachten und eine offizielle Diagnose zu erstellen.

Der weißhaarige Mann, der es sich bei uns gemütlich machte, sah aus, als sei er einem Geschichtsbuch entsprungen. Er testete Josiah mit Hilfe von kleinen Dreiecken, die sortiert werden sollten, und Spielzeugautos, die wirkten, als wären sie aus den 1950er-Jahren teleportiert worden.

Am Ende seines Besuchs sollte ich ein Formular ausfüllen, das so umfangreich war, dass es als Hochschulreifetest durchgegangen wäre. Ich war sogar angehalten, beim Ausfüllen der Kästchen einen Bleistift der Stärke zwei zu benutzen.

Als der kostspielige Bericht endlich per Post eintraf, öffnete ich den Umschlag wie ein rohes Ei. Ich wusste, dass diese Unterlagen noch nachteiliger für Josiahs Zukunft sein könnten als eine Collegeabsage.

Angespannt überflog ich die Seiten, doch als ich bei der letzten Zeile ankam, war ich wie versteinert: Autismus-Spektrum-Störungen nicht eindeutig nachzuweisen.

Mit zitternder Stimme rief ich den Psychologen an. »Mein Sohn braucht so schnell wie möglich Hilfe, und der einzige Weg, ihm einen Platz in dem Therapiezentrum unserer Wahl zu besorgen, ist eine offizielle Diagnose. Sie schreiben, dass er nicht alle Symptome aufweist, aber Sie haben selbst gesehen, dass er die meisten davon aufweist. Würden Sie es sich bitte noch mal überlegen und mir bescheinigen, dass mein Sohn Autist ist?«

»Na schön«, meinte er, »mache ich.«

In diesem Moment atmete ich den gewaltigen Schwall Stress aus, der sich in mir angestaut hatte.

Josiah gab im Therapiezentrum alles und wir verspürten den Rausch neuer Träume und Möglichkeiten.

»Ein liebes Kind«, meinte Kim, eine nette Therapeutin, die Anfang zwanzig war. »Wir schauen, womit man ihn motivieren kann, und arbeiten uns dann weiter vor.«

Die Therapeuten fanden schnell heraus, dass er Musik mochte. Wenn Joe und ich vorbeischauten, sahen wir zu, wie sie »Take Me Out to the Ball Game« und »The Wheels on the Bus« sangen. Wir nahmen an der Elternsprechstunde des Pod-10-Teams teil und freundeten uns mit den Eltern der Kinder aus Josiahs Altersgruppe an. Da unsere alten Freunde mittlerweile nicht mehr wussten, wie sie mit uns umgehen sollten, war das eine willkommene Abwechslung.

Kim hatte immer ein Lächeln im Gesicht, wenn sie von Josiahs Bemühungen berichtete. Sie liebte den Jungen und ich fand es toll, welch innige Beziehung die beiden zueinander hatten.

Bei den Elternabenden und Schulungen erzählten uns die Therapeuten, wie sehr Josiah sich bemühte. Das konnte nur eines bedeuten: Wir waren auf dem richtigen Weg und steuerten geradewegs auf einen Durchbruch zu.

Nach einem Monat am Partners Institut rief das Alexander Center an. »Wir haben einen Termin für Josiahs Untersuchung frei.« Obwohl wir bereits die offizielle Diagnose eines Psychologen hatten, brauchten wir mehr Klarheit und fachkundige Gewissheit. Mit einer detaillierten Analyse ließe sich die Schwere von Josiahs Autismus bestimmen und die Ärzte könnten uns eine medizinische Einschätzung geben, was wir in Zukunft zu erwarten hätten.

Im Laufe zwei sehr langer Tage wurde Josiah von Ärzten und Sprachtherapeuten, Ergotherapeuten und Experten für kindliche Entwicklung untersucht. Wir bekamen mehr Fachleute im weißen Kittel zu Gesicht als Engel bei einem Krippenspiel.

Joe und ich saßen neben unserem zweijährigen Sohn und füllten endlose Formulare aus. In den Pausen dankten wir Gott für mobile DVD-Spieler und Freunde wie Tanya, die auf Josiah aufpasste, mit ihm immer wieder seine Praise-Baby-Videos anschaute und sich damit den Lebensretter-des-Jahres-Pokal verdiente.

Am Ende des zweiten Tages bestellte man uns ins Sitzungszimmer, um uns die Ergebnisse der Untersuchungen mitzuteilen. Während sich fünf Ärzte um den Tisch versammelten, versuchte ich die Kleenex-Box zu ignorieren, die man in der Mitte bereitgestellt hatte.

Der Kinderpsychologe räusperte sich und reichte uns eine dunkelblaue Mappe, auf der drei große Worte prangten: Autismus-Spektrum-Störung. Das war's also. Die Diagnose meines Sohnes, zusammengefasst in einem hässlichen Stempel. Mit trockener Kehle schlug ich die erste Seite auf.

Reihum klärten sie uns über Josiahs Testergebnisse auf. Seine Fähigkeiten waren extrem unterentwickelt. In dem Bericht gab es Stellen, an denen ich sehen konnte, wie andere Kinder seines Alters bestimmte Dinge gemeistert hatten, während Josiahs Wert praktisch bei null lag. In einigen Fällen schnitt er gerade mal wie ein neun Monate altes Baby ab. Gewaltige Lücken und Unzulänglichkeiten in seinen Fähigkeiten schlugen mir in jeder Kategorie entgegen.

Jedes Mal, wenn einer der Männer in Weiß uns auf eine weitere Lücke aufmerksam machte, schrumpfte meine Hoffnung erneut um ein gewaltiges Stück in sich zusammen. Das hier war schlimmer als nur Sechsen an der Uni zu schreiben. Die mangelnden Fähigkeiten des eigenen Kindes – das früher ganz normal entwickelt gewesen war – schwarz auf weiß zu sehen, war wie ein Schlag in die Magengrube, der einen grün und blau zurückließ.

Joe schaute den Ärzten geradeheraus in die Augen. »Wir wissen, dass er hinterherhinkt, aber wie schlimm wird seine autistische Störung Ihrer Meinung nach werden?«

Ihre Mienen blieben unbewegt, als ein Arzt antwortete. »Er ist noch zu jung, um eine konkrete Aussage machen zu können, aber es ist gut, dass Sie das Problem so früh erkannt haben.«

Ich straffte die Schultern. »Mehr können Sie uns nicht dazu sagen?«

Ein bärtiger Arzt schüttelte den Kopf. »Wir können nur Folgendes sagen: Für Autismus gibt es keine bekannten Ursachen oder Heilungsmethoden. Es ist eine lebenslange Störung.«

Ich kam mir vor, als säße ich in einem Gerichtssaal und wäre gerade zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. »Gibt es denn nichts anderes, das wir tun können? Eine spezielle Ernährung oder alternative Heilmethoden? Ich habe ein wenig über laktose- und glutenfreie Ernährung recherchiert. Und was ist mit dem biomedizinischen Ansatz?«

Ihre Augenbrauen schossen hoch und der Arzt seufzte. »Das sind nur Ammenmärchen. Ich will Ihnen nicht vorschreiben, wofür Sie Ihr Geld ausgeben sollen, aber diese Erkenntnisse sind rein subjektiv und außerdem Einzelfälle. Eltern berichten von denselben Ergebnissen mit Placebos. An Ihrer Stelle würde ich mein Geld nicht für solchen Hokuspokus verschwenden. Ich würde Ihnen allerdings raten, Ihren Sohn weiter am Partners Institut therapieren zu lassen.«

Unter dem zustimmenden Nicken seiner Kollegen verschränkte der Arzt die Arme vor der Brust, als habe er soeben die rettende Idee gehabt.

Als ich mich auf den Beifahrersitz neben Joe fallen ließ, sah ich eine Broschüre aus der Mappe ragen, die man uns mitgegeben hatte, also zog ich sie heraus. Wie bitte? Identifikationsarmbänder für autistische Kinder? Sollte das heißen, man ging davon aus, dass diese Kinder weglaufen würden und anhand dieser Armbänder wiederauffindbar wären? Ich warf die Broschüre auf den Boden und trampelte darauf herum. Wenn es stimmte, was diese Ärzte gesagt hatten, würden wir sehr viel mehr als nur ein Armband brauchen, um unseren Sohn zurückzuholen.

Joe griff meine Hand, während wir schweigend nach Hause fuhren. Ich betrachtete Josiah, dessen Atmung auf dem Weg ins Traumland immer ruhiger wurde.

Mein süßer Junge. Wie sehr wünschte ich, ich könnte mit dir die Plätze tauschen …

Seine Augen zuckten hinter seinen halb geschlossenen Lidern hin und her. Wohin entschwand er unter diesen klaren blauen Teichen, die sich früher stets erhellt hatten, wenn er uns sah? Nach dem Mittagsschlaf hatte ich immer seine weißen Bäckchen geküsst und gesagt: »Zeit zu spielen, mein süßes Bärchen.« Nun aber zog er uns in eine komplett andere Welt, sobald er aufwachte.

Der Fahrtwind fegte nun immer stärker über unseren Corolla und auf der vierzigminütigen Fahrt durch die Stadt kam es mir vor, als wären wir auf dem Weg zum Friedhof, um unsere Träume zu begraben.

Mir kam der Tod meines Vaters in den Sinn. Er hatte eine selbst gekochte Mahlzeit meiner Mutter verspeist, sich mit ihr auf die Couch gesetzt, seinen Arm um sie gelegt und gesagt: »Ich glaube, wir müssen den Notarzt rufen.«

Mom verließ kurz das Zimmer und als sie zurückkehrte, war er auf dem Boden zusammengebrochen. Minuten später verstarb er noch im Krankenwagen. Schnell und ohne Vorwarnung.

Der Schmerz hatte tief gesessen, aber irgendwann war das Leben für mich weitergegangen. Der Schrecken, der sich Autismus nannte, würde jedoch die Qual auf unbestimmte Zeit hinausziehen. »Ich werde euch das Leben unfassbar schwer machen«, zischte er mir zu. »Egal, wo ihr auch hingeht, ich folge euch auf Schritt und Tritt.«

Sollte dieser fortlaufende Tod nun meine neue Realität sein?

Es würde niemals Abschlussbälle oder Fahrstunden mit meinem Sohn geben. Auch konnte ich mich von dem Gedanken verabschieden, irgendwann einmal seine zukünftige Frau kennenzulernen. Und das war’s dann wohl auch mit den Enkelkindern.

Wenn ich in die Zukunft blickte, war alles, was ich sah, ein Verlust nach dem anderen, rings herum nur Ungewissheit und einen Sohn, der das meiste davon nicht mal mitbekommen würde.

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3Der Startschuss ist gefallen

»Reden fällt mir schwer. Dabei liegt es in der Natur des Menschen zu reden.«

Josiah Cullen

Januar 2008

Joe und ich hockten in einem Café in der Nähe des Instituts wie zwei ertrinkende Seelen, die versuchten, sich gegenseitig aus dem Wasser zu zerren.

»Wir schaffen das schon, Tahni. Wir tun alles, was in unserer Macht steht.«

Joes Blogger-Freund hatte richtiggelegen, als er gesagt hatte, wie wichtig es war, Maßnahmen innerhalb der ersten fünf Lebensjahre zu ergreifen. Doch dieses Zeitfenster machte uns nur noch mehr Druck, schnell zu handeln.

Joe nippte kopfschüttelnd an seinem Kirsch-Smoothie. »Tut mir leid, dass du heute Morgen so viel Stress hattest bei Josiahs Urinproben-Fiasko.«

Er kannte den Ablauf. Neuerdings musste ich unseren Jungen abends im Bett festhalten, einen selbst haftenden Schwamm um sein Genital kleben und ihn an den Urinbeutel in seiner Windel anschließen. Dann durfte ich im Morgengrauen aufstehen, um die Probe einzusammeln. Laut seinem Arzt würde uns diese sagen können, ob sein Körper chemische, virale oder Umweltschadstoffe aufwies, die Entzündungen und chronische Krankheiten verursachen konnten.

Doch an diesem Morgen hatte es Josiah wieder einmal geschafft. Sein drahtiger Körper hatte sich so gewehrt und gewunden, dass der Urin in die Windel gelaufen war, genau dorthin, wo er nicht hinsollte. Das bedeutete, dass ich nun das Vergnügen hatte, jeden letzten Tropfen aus dem Schwamm zu drücken, nur um festzustellen, dass die ganze Prozedur umsonst gewesen war, da die Menge nicht die magische Linie auf der Phiole erreichte.

»Morgen ist auch noch ein Tag«, erwiderte ich gespielt fröhlich. »Wenn wir das Set vollkriegen, haben wir’s endlich hinter uns. Dann stecken wir die Probe in einen Umschlag, zahlen die siebzig Mäuse und schicken sein Pipi nach Frankreich. Ich verstehe zwar immer noch nicht, warum deren Labore besser sein sollen als unsere, aber egal.«

Joe schnaubte lachend. »Du weißt, was ich denke, Schätzchen. Unser Leben könnte etwas mehr Drama gebrauchen.«

Jetzt war ich es, die lachen musste. Seit unserer College-Zeit hatten Joe und ich in Theaterstücken gespielt. Unser gemeinsames Interesse an der Schauspielerei hatte dazu geführt, dass wir als historische Darsteller Führungen am Fort Abraham Lincoln gegeben hatten. Joe hatte sich dazu als Soldat verkleidet und ich als Armee-Wäscherin. Unsere Welt hatte sich um Dramen und Kommunikation gedreht. Komischerweise war das immer noch so. Mit dem kleinen Unterschied, dass sich unsere Dramen nun um unseren Sohn drehten, der nicht kommunizieren konnte.

Ich aß den Rest meines Bagels auf und kippte den letzten Schluck Milch hinterher. Zwei Lebensmittel, die Josiah nicht essen konnte, da autistische Kinder oft mit Verdauungsproblemen zu kämpfen haben. Laut des Defeat-Autism-Now-(DAN-)Therapeuten verursachte Josiahs »leckender Darm« verheerenden Schaden in seinem Immunsystem. Der Arzt wollte ihn entgiften und vor all den lästigen kleinen Zell-Terroristen retten.

Gelbwurz, Kalzium, Zink, Fischöl, Vitamin D3 und Olivenblattextrakt. Das und mehr waren die Leckerbissen, die er von uns serviert bekam. Jede nur denkbare Vitaminquelle wanderte in unseren Mixer und wurde zum Smoothie verarbeitet. »Austrinken, JoJo. Das ist gut für dich.«

Gut für ihn, brutal für unseren Kontostand. Die Krankenkasse übernahm keine Rechnungen von DAN-Ärzten, und so kosteten uns Josiahs Behandlungen und Arztbesuche sechs- bis achthundert Dollar im Monat. Nicht leicht zu verdauen bei einem begrenzten Budget. Unglücklicherweise zeigten die Behandlungen nicht die erhoffte Wirkung, also riet uns der DAN-Therapeut, einen Allgemeinmediziner aufzusuchen, um Josiah B12-Spritzen verschreiben zu lassen.

Ich werde nie vergessen, wie ich mit der Spritze in der Hand in der Küche stand und Joe hilflos anblickte. »Ich weiß nicht, ob ich mich das traue, ohne vorher geübt zu haben.«

»Du kannst ja an mir üben«, bot er an.

Ein Lächeln schlich über mein Gesicht. »Ja. Gute Idee.«

»Warte. Das hab ich doch nicht ernst gemeint.«

»Ich aber.«

Er stieß einen müden Seufzer aus und rieb sich den Nacken. »Glaub mir, das ist keine gute Idee.«

»Hör mal, Joe. Wenn ein Dreijähriger das schafft, bist du bestimmt alt genug, es durchzustehen.«

Er wirkte wie ein kleines Kind beim ersten Zahnarztbesuch. »Ähm … wie wär’s, wenn wir einfach vergessen, dass ich überhaupt was gesagt habe. Du packst das schon.«

»Zu spät. Du hast dich bereits verpflichtet«, sagte ich und jagte ihn ins Schlafzimmer.

»Na schön«, erwiderte er schnaufend. »Bringen wir es hinter uns.«

Ich drückte die Luft aus der Spritze. »Denk dran, du tust das für JoJo. Okay, beug dich vor und leg 'ne Pobacke frei.«

Er biss die Zähne zusammen. »Und du bist dir sicher, dass du nicht lieber an einem Kuscheltier üben willst?«

»Nein, die spüren keinen Schmerz. Halt still.«

»Autsch!«

»Alles okay?«

Er straffte die Schultern. »Ha. Hab eigentlich kaum was gespürt.«

Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Tut mir leid, ich habe leider keinen Lolli für dich. Danke.«

Von neuem Selbstvertrauen gestärkt, schlich ich zu Josiahs Zimmer und blieb im Türrahmen stehen. Natürlich schaute er nicht auf. Ich hievte ihn in meine Arme, schleppte ihn schlurfend zum Wickeltisch rüber und rollte ihn auf den Bauch.

»JoJo, wir haben einen neuen Weg entdeckt, dir deine Vitamine zu verabreichen. Dabei gibt’s nur 'nen kleinen Pikser. Bist du bereit?« Ich gab ihm die Spritze so schnell, dass er nicht mal zusammenzuckte.

Nur schade, dass es überhaupt nichts brachte.

Vom ersten Tag an war die biomedizinische Therapie ein reines Trial-and-Error-Verfahren gewesen. Die Ernährungsumstellung hatte den Zustand seines benebelten Geistes und weichen Stuhls kaum verbessert und Josiah auch definitiv nicht dazu gebracht, mehr zu reden. Dasselbe galt für die B12 Spritzen. Im Angesicht des bedrohlich schrumpfenden Fünf-Jahres-Fensters verdunkelten sich die Wolken in meinem eigenen benebelten Hirn zunehmend.

Der Schmerz folgte mir, wohin ich auch ging, selbst ins Kaufhaus. Als ich in der Schlange an der Kasse stand, versuchte ein kleines Mädchen über Blickkontakt meine Aufmerksamkeit zu erheischen, und es funktionierte.

»Ich bin so alt«, erklärte sie und hielt vier Finger hoch. »Zum Geburtstag hat mir meine Mama eine Puppe mit richtig langen Haaren gekauft, nur darf man sie nicht abschneiden, weil sie sonst hässlich aussieht.«

Was für ein bezauberndes Wesen, dachte ich bei mir. So voller Leben.

»Ich spiele, dass ich ihr Babysitter bin«, fuhr sie fort. »Und … und wenn ich sie abends ins Bett bringe, pass ich immer auf, dass sie auch schön ihr Gebet spricht, weil sie nämlich Angst im Dunkeln hat.«

Ihre Mutter zog sie zurück. »Sie ist ein echtes Plappermaul.«

Ich lächelte und kämpfte dabei mit den Tränen.

Während sich die Tage dahinzogen, verschlang ich jedes Buch, jedes Video und jeden Artikel, den ich zum Thema Autismus finden konnte. Ich fand heraus, dass ein bekannter Fernsehstar sein autistisches Kind mit der hyperbaren Sauerstofftherapie in einer Druckkammer behandeln ließ. An diesem Punkt war ich bereit, alles zu probieren, und da eine unserer biomedizinischen Ärztinnen eine aufblasbare Druckkammer in ihrer Praxis angeschafft hatte, schaute ich mir die lange Röhre bei unserem nächsten Besuch genauer an.

»O Mann, die ist ja echt klein«, sagte ich. »Da sollen ich und mein Sohn zusammen reinpassen?«

»Ja, und Sie können da drin sogar ein Video gucken oder ein Buch lesen«, erklärte sie.

»Dürfte ich vielleicht mal kurz reinschlüpfen?«

»Aber sicher.« Sie zog den Reißverschluss der Kapsel auf, und ich ließ mich in der Röhre nieder, die mir wie eine Kreuzung aus Sonnenbank und Sarg vorkam. Sie würde sich wirklich gut in einem Horror-Streifen machen, weil hier gleich drei große Phobien bedient wurden: Platzangst, Angst vor lauten Geräuschen und die Angst, lebendig begraben zu werden.

Wochenlang rang ich mit der Entscheidung, ob wir uns für die Druckkammer entscheiden sollten oder nicht. Als ich eines Tages bei Partners feststellte, wie sehr ich Kim, Josiahs Lieblingstherapeutin vermisste, die das Institut verlassen hatte, um ihre Ausbildung abzuschließen, kam ich mit Jeni ins Gespräch, die ebenfalls ein Kind in Josiahs Alter am Institut hatte.

»Wir haben vor Kurzem eine aufblasbare Kammer für Ben geleast«, sagte sie. »Sie steht in unserer Küche. Wir wohnen zwar in Wisconsin, aber ihr dürft gerne mal vorbeikommen, um auszuprobieren, ob Josiah damit zurechtkommt – bevor ihr euch eine so große finanzielle Ausgabe aufhalst.«

Also nahmen wir Jenis Angebot an. Als wir feststellten, dass Josiah die Prozedur klaglos über sich ergehen ließ, sprach ich mit Joe und wir entschieden, es mit einer Klinik zu probieren, die über ein fest installiertes Modell mit Metallgehäuse verfügte. Der Zeitaufwand und die finanzielle Belastung waren zwar enorm, aber die Möglichkeit, Josiah dabei zu helfen, seine Sprache wiederzufinden, war die Sache wert.

Bei unserem ersten Durchgang hockte sich der Techniker hin, um mit Josiah auf Augenhöhe zu sein. »Na, mein Großer? Ich muss jetzt deinen Halsumfang messen, damit du nachher auch gut in eine dieser schicken Sauerstoffhauben passt. Die blasen wir mit reinem Sauerstoff auf, dann siehst du wie ein echter Astronaut aus.«

Ein Pfleger stieg mit uns in die Kapsel. Als er Josiahs Kopf mit der Haube bedeckte, versuchte ich, nicht die Fassung zu verlieren. Wie um alles in der Welt sollte Josiah dieses Ding eine ganze Stunde lang auf seinem Kopf lassen? Wenn er sich die Haube herunterriss, wäre die ganze Behandlung umsonst gewesen.

»Dann wollen wir dich mal anschnallen«, sagte der Mann.

Ich fing an zu singen: »We all live in a blue submarine, a blue submarine, a blue submarine …«

Der Pfleger zeigte auf zwei Löcher an der Seite der Röhre. »Wenn du da durchguckst, kannst du dir Videos ansehen.«

»Hast du das gehört, JoJo? Videos.«

Ich begann zu beten, als sie die Maschine anstellten, und konnte es nicht glauben. Zwei Minuten nach dem Start war Josiah eingeschlafen. Sein Kopf, eingeschlossen in der durchsichtigen Haube, fiel zur Seite, während ihm der Sabber aus dem Mund tropfte.

Schließlich gab die Maschine ihr letztes Ächzen von sich und ich atmete erleichtert auf. Eine Behandlung abgeschlossen, noch neununddreißig vor uns. Laut meinen Recherchen konnte sich eine Verbesserung sofort einstellen, aber bei manchen Menschen machte sich diese erst nach etwa zwanzig Behandlungen bemerkbar.

Nach der dreißigsten Sitzung begann ich mir langsam Sorgen zu machen. Ich hatte auf das winzigste Anzeichen eines Fortschritts gelauert. Josiah schlief zwar etwas besser und schien uns auch öfter anzusehen, aber wo blieben seine Worte? Wo war das »Mama, Mama«?

Halte durch, sagte ich mir. Du hast noch zehn Behandlungen vor dir. Das sind zehn weitere Chancen, seine Zellen mit Sauerstoff zu bombardieren und die Heilung voranzutreiben.

Als die letzte Behandlung abgeschlossen war und er immer noch kein Wort sagte, schaute mich der Arzt an. »Möchten Sie es mit weiteren vierzig Sitzungen versuchen?«

Ernüchtert und entmutigt verließ ich die Klinik. Wir hatten all unsere Reserven erschöpft, um in dieser Sackgasse zu landen. Uns blieb nichts mehr zu geben, nichts mehr zu tun. Was wir jetzt offensichtlich brauchten, war ein Wunder.

Eines Abends hatte ich Rückenschmerzen und konnte nicht einschlafen, also griff ich nach Josiahs altem Babytagebuch und begann zu lesen.

4. Februar 2006

Josiah, du kannst jetzt schon richtig viele Worte sagen. Mama, Daddy, Saft, Käse, nein-nein, put-put (für Hühnchen), JoJo, Banane, Keks, Hummel, Summ, gut, Juhu und Pferd.

Du liebst Bücher, besonders die mit Bananen, Käse und Hühnern.

Vor ein paar Wochen sind wir ins Einkaufszentrum gefahren und haben dich in einen der Spiel-Buggys gesetzt, die es dort gibt. Er hatte ein Lenkrad und du hast mit einem Arm gelenkt und den anderen lässig auf der Seite abgestützt. Du kamst dir wirklich cool vor. Du hast dich die ganze Zeit so gut benommen.

Oma und Opa sind ein paar Tage vor ihrer Reise nach Hawaii zu Besuch gekommen. Als du sie gesehen hast, hast du sie liebevoll umarmt. Dir hat es offensichtlich Spaß gemacht, ihnen all deine Tricks zu zeigen.

Du summst jetzt deine eigenen kleinen Melodien.

Ich liebe dich, mein kleiner Engel!

Ich weiß, dass du schon bald groß sein wirst, deswegen koste ich jede Kuscheleinheit, jede Umarmung und jedes Eskimoküsschen von dir voll aus.

Ich drehte das Licht runter und drückte das Buch fest an meine Brust. Ich versuchte nicht einmal, meine Tränen zu unterdrücken.

Gott, warum hast du mich bei all diesen Behandlungen hängen lassen? Wie konntest du das zulassen? Wenn du da draußen bist, lass mich bitte wieder deine Gegenwart spüren. Bitte, ich flehe dich an.

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4Gott spüren

»Je länger der Weg, umso erfreulicher sinddie kleinsten Dinge, die einen das größte Abenteuerschätzen lehren.«

Josiah Cullen

August 2008

Ich schleppte mich völlig übermüdet zu meinem ungemachten Bett und fiel wie eine Stoffpuppe in mich zusammen. Der Autismus meines Sohnes hatte mich vernichtet und Gott schien Lichtjahre entfernt zu sein. Das Bedürfnis zu schlafen ließ sich nicht mehr wegschieben und ich sehnte mich danach, dieser einsamen Erschöpfung zu entkommen.

Da Joe gerade ein paar Besorgungen machte und Josiah nach einer weiteren schlaflosen Nacht auf der Couch eingeschlafen war, nutzte ich die goldene Gelegenheit, selbst ein Nickerchen zu machen. Tief atmend fiel ich in einen Teich von Träumen.

Plötzlich war ich mit einem Schlag wieder wach.

Meine Nase zuckte und mein Herzschlag wurde schneller. Was war das für ein Geruch? Ein wunderbarer Duft, betörend und intensiv.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Seltsam. Es war nicht mal vier Uhr nachmittags. Ich hatte nicht mal eine halbe Stunde ge