Judith Kerr - Astrid van Nahl - E-Book

Judith Kerr E-Book

Astrid van Nahl

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Beschreibung

»Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« begeisterte Generationen junger Leser. Judith Kerr verarbeitet darin die nationalsozialistische Machtergreifung und erzählt ihre eigene Geschichte: 1923 als Tochter des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr in Berlin geboren, musste die Zehnjährige 1933 mit ihrer jüdischen Familie nach England fliehen. Mit Kinderaugen betrachtet sie die Flucht vor allem als Abenteuer, findet sich rasch in ihrer neuen Heimat zurecht - und ist zeitlebens von einem Gefühl der Dankbarkeit geprägt. Erstmals liegt nun eine Biographie der Schriftstellerin vor, die sich selbst vor allem als Zeichnerin sah. Astrid van Nahl verbindet darin privates Leben, künstlerisches Schaffen und politisches Weltgeschehen zu dem faszinierenden, einfühlsam geschriebenen Porträt einer großartigen Frau, die sich trotz aller Widrigkeiten die Freude am Leben bewahrte.

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Seitenzahl: 348

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Astrid van Nahl

Judith Kerr

Die Frau, der Hitlerdas rosa Kaninchen stahl

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.

© 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Redaktion: Mechthilde Vahsen, DüsseldorfSatz: Mario Moths, Marl

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3929-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3955-3eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3956-0

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

INHALT

Vorwort

Eine Kindheit in Berlin (1923–1933)

Unruhige Zeiten

Alfred Kerr – Liebevoller Vater und scharfzüngiger Kritiker

Julia Weismann – Mutter mit schwieriger Familie

Judith Kerr – Eine Insel des Glücks und draußen das Chaos

Eine Heimat geht verloren

Im Exil (1933–1945)

Wenn die gleiche Sprache etwas anderes bedeutet

Ortswechsel – Und nichts ist, wie es war

In einem Land, das man nicht will

Die Angst vor den Verfolgern

Nach dem Krieg (1946–1970)

Erste Erfolge

Eine Lehrerin, die Literatur und die Liebe

Ein Kater wird geboren

Das rosa Kaninchen oder: Wie können Kinder das Unfassbare fassen

Schriftstellerin und Zeichnerin (1970–2019)

Lebensstationen

Bibliografie

Register

Dank

Vorwort

Eines Tages steht ein Mädchen, gerade elf Jahre alt, am Fenster einer beengten Pariser Wohnung in einem heruntergekommenen Haus in einer schmalen Straße. Gerade hat die Familie nach mehreren Monaten Aufenthalt in der Schweiz das Land verlassen, in das sie einen Tag vor den Wahlen in Deutschland geflohen ist; dort haben sie alles zurückgelassen und fast nur das Leben gerettet, das sich nun für mehr als ein Jahrzehnt in bitterster Armut abspielen wird. Sie haben alles verloren – aber dieses Mädchen, „aus Deutschland vor Lumpen geflohen, die Kinder demütigen“, steht nun neben ihrem Vater an besagtem Fenster und blickt über die Dächer und Schornsteine von Paris und sagt: „Pappi, es ist herrlich, ein Flüchtling zu sein.“ Es ist das Jahr 1933.

Drei Jahrzehnte später schreibt das Mädchen ein Buch, in dem sie diese Geschichte erzählt. Wenige Jahre später setzt sie die Geschichte mit einem zweiten Band fort, in dem sie 17 Jahre alt ist und in London lebt, wieder als Flüchtling. Es ist Krieg. Die deutsche Luftwaffe fliegt gegen England und beschert den Menschen dort Nächte des Grauens. Da steht sie in dem verwilderten Garten eines Hauses, in das sie eingeladen ist, und entdeckt einen Bach, der durch die Wiese fließt. Für einen Augenblick kommt gleißend die Sonne hervor und lässt das Wasser grün und transparent aufscheinen. Über dem sandigen Grund des Baches steht reglos ein Fisch. „Sie konnte jede einzelne der glänzenden Schuppen erkennen, die sich um den plumpen Körper legten, die runden, erstaunten Augen, den fein geformten Schwanz und die Rückenflossen. Der Fisch hielt sich gegen die Strömung und schimmerte manchmal blau, manchmal silbern.“ In der trostlosen Situation des Tages durchfährt sie ein plötzliches Glücksgefühl und sie denkt: „wenn man das malen könnte … die Giraffen möchte ich malen und die Tiger und die Bäume und Menschen und die ganze Schönheit der Welt.“ Es ist das Jahr 1940.

Die Zeit vergeht und das Mädchen wird Ehefrau und Mutter und Großmutter. Mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Erlebnis mit dem Fisch wird sie Witwe und zieht sich zurück in die Einsamkeit ihres Verlusts. Eines Abends vor Weihnachten laden langjährige Freundinnen sie ins Kino ein. Als sie aus dem Kino kommt, sieht sie die vielen Lichter der Stadt und die Menschen in weihnachtlichen Vorbereitungen: „Da ist überall diese Welt, die ich schon völlig vergessen habe! Und ich dachte, man darf sie nicht vergeuden.“ Bevor sie geheiratet hat, ist sie eine Beobachterin des Lebens. Als ihr Mann und die Kinder da sind, ist es die Zeit des miteinander Sprechens. Als Mann und Kinder aus ihrem Leben geglitten sind, geht sie zurück: „Ich kehrte zurück zum Schauen, und ich schaute und schaute.“ Es ist das Jahr 2007.

Drei Episoden, die sich über mehr als 80 Jahre erstrecken: Sie zeigen, was diese Frau zu sagen und vor allem zu zeichnen hat: all das, was sie sah, was ihr Leben ausmachte, und hinter allem steht für sie das Gute, ist sie offen für neue Erlebnisse, ohne Bitterkeit über das, was ihr im Leben vorenthalten worden ist, was sie entbehrt hat. Als man sie fragt, ob sie eine schwere Kindheit hatte, ist sie fast ein bisschen melancholisch. Nein, richtig schwer war sie nicht, diese Kindheit, solange die Familie immer zusammen war, meint sie. Und das hätte es doch gebraucht, um wirklich berühmt zu werden: eine schwere Kindheit, wie der Vater es gesagt hatte.

Berühmt ist sie trotzdem geworden, in England vorwiegend durch ihre vielen Bilderbücher – sie schuf unter anderem den unsterblichen Kater Mog –, in Deutschland vor allem durch ein Kinderbuch, das sie mehr als 30 Jahre nach den aufgezeichneten Ereignissen schrieb: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, ein Kinderbuch, das 1971 unter dem Originaltitel When Hitler Stole Pink Rabbit in England erschien. Zwei Jahre später von Annemarie Böll ins Deutsche übersetzt, erhielt es 1974 den Deutschen Jugendliteraturpreis als herausragendes Kinderbuch und wurde in den folgenden zwei Jahrzehnten als Pflichtlektüre fest im Literaturkanon deutscher Schulen verankert: der Beginn der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit auch im Kinder- und Jugendbuch. Und dieses Buch hatte für die jungen Leser einen Vorteil: Es war aus der kindlichen Perspektive heraus für Kinder geschrieben, mit dem vereinfachten Blick auf das Geschehen. Die anfangs neunjährige Anna hält als die Hauptperson die drei Romane zusammen, über einen Zeitraum von ungefähr 20 Jahren. „Anna“, das ist in Wirklichkeit Anna Judith Gertrud Helene Kerr (geb. 1923), die als Judith Kerr weltweit bekannt wurde.

So lesen sich die drei Romane, in England herausgegeben unter dem gemeinsamen Titel Out of the Hitler Time („Aus der Hitler-Zeit“) wie eine Autobiografie, aber nicht in Ich-Form geschrieben, und zwar ganz bewusst.

„Aber es sind eben Romane in dem Sinne, dass sie Schwerpunkte setzen. Einige Ereignisse sind dramatisiert, andere abgeschwächt. Da die Geschichte aus der Perspektive des Mädchens Anna erzählt wird (ein Mädchen, das viel Ähnlichkeit mit mir hat), kann sie natürlich keine Informationen enthalten, die Anna damals nicht zugänglich waren. Es gibt aber auch Begebenheiten im Leben meiner Eltern, die ich zu der Zeit, als ich die Bücher schrieb, nicht kannte, sondern die erst nach und nach ans Licht kamen“,

erklärt Judith Kerr in ihrer echten Autobiografie, Judith Kerr’s Creatures. A celebration of her life and work, die 2013 anlässlich ihres 90. Geburtstags erschien, in der deutschen Übersetzung von Ute Wegmann fünf Jahre später unter dem Titel Judith Kerr: Geschöpfe. Mein Leben und Werk.

Trotz dieser Einschränkungen ist die Hitler-Trilogie eine der wichtigsten, zumindest ergänzenden Quellen zum Leben der gesamten Familie und vor allem der Judith Kerr, da, wo die anderen Quellen schweigen oder nur knapp andeuten. Die anderen Quellen, das sind in erster Linie immer wieder die Publikationen ihres Vaters Alfred Kempner, der unter dem selbst gewählten Namen Alfred Kerr mit seinem scharfen Verstand einer der bekannten Literaturkritiker Deutschlands war, mit einem Werk, das ein unschätzbares Zeitdokument darstellt. In Tagebüchern, Gedichten, Prosastücken, Erinnerungen und Plauderbriefen beleuchtet er vor allem die Zeit des eigenen Heranwachsens und vermittelt intime Einblicke in die familiäre Welt wie auch in Gesellschaft und Politik; sie erlauben unter seinem ganz persönlichen Blickwinkel Einsichten in Ereignisse und Weltsicht, wie sie keinem Geschichtsbuch zu entnehmen sind; sie dokumentieren zugleich Zeit und Welt, in die die Tochter Judith hineingeboren und in der sie aufwachsen wird.

Auch der Sohn der Familie trägt zum Lebensbild der Familie bei, Judiths Bruder Michael, der in seiner in späten Lebensjahren für die Enkel geschriebenen Autobiografie As far as I remember („So weit ich mich erinnere“) vieles anders und differenzierter als Judith wahrgenommen und festgehalten hat; er war gut zwei Jahre älter als sie. Seine Erinnerungen tragen immer wieder zur Abrundung der Lebensgeschichte der Judith Kerr bei. Interviews und Gespräche mit Judith Kerr selbst, Artikel, die in Zeitungen zu einem ihrer Geburtstage erschienen sind, und nicht zuletzt ihre eigenen Bücher samt ihren zugehörigen Kommentaren haben geholfen, Lücken zu füllen und die vielen Seiten ihres Lebens wenigstens zu beleuchten.

Die hier vorgelegte Biografie zu Judith Kerr ist ein erzählendes Sachbuch, das ein breites Publikum ansprechen möchte. Weitgehend chronologisch zeichnet es das Leben der Schriftstellerin nach, die sich selbst Zeit ihres Lebens in erster Linie als Zeichnerin sah, verbindet ihre geschriebenen und gezeichneten Werke mit den privaten, künstlerischen und beruflichen Stationen dieses Lebens, denn egal ob sie schrieb oder malte: Sie tat es, weil sie „schaute“, und was sie sah, fand seinen Ausdruck in Wort oder Bild oder in beiden zusammen. Davon zeugen mehr als 20 Bilderbücher.

Judith Kerr starb am 22. Mai 2019, einen Monat vor ihrem 96. Geburtstag, kurz vor Erscheinen unserer Biografie. Wir würdigen sie darin als eine große Frau, deren Geschichte auch immer einen Blick in Weltgeschehen, Weltbild und Zeitgeist über fast 100 Jahre ihres Lebens hinweg erlaubt.

Astrid van NahlBonn, Mai 2019

Eine Kindheit in Berlin

(1923–1933)

Unruhige Zeiten

Der 31. Juli 1919 war ein wichtiger Tag in der Geschichte Deutschlands: Die Nationalversammlung in Weimar, Thüringen, verabschiedete nach dem Ersten Weltkrieg die Verfassung der neuen deutschen Republik, am 11. August 1919 setzte Friedrich Ebert seine Unterschrift darunter. Eine kurze demokratische Phase begann, bekannt unter dem Namen Weimarer Republik und benannt nach dem Ort, an dem eben diese Nationalversammlung getagt hatte.

Vorausgegangen waren dramatische Ereignisse zum Ende des Ersten Weltkriegs. Deutschlands Niederlage war zugleich das Ende des Deutschen Kaiserreichs: Wilhelm II. dankte ab und floh in die Niederlande ins Exil. Aber noch waren die alten monarchischen Eliten des Kaiserreichs mächtig, die nach der „alten Ordnung“ riefen. Die unmittelbaren Folgen und Probleme eines verlorenen Krieges, wirtschaftliche Not, Arbeitslosigkeit, Putschversuche, politische Morde und Wirren einer nachfolgenden Revolution kennzeichnen den Sommer und Herbst 1918 – Bedrohungen, die sich letzten Endes als so groß erwiesen, dass die junge Weimarer Republik ihnen nicht länger als 14 Jahre standhalten konnte. Ahnte Philipp Scheidemann, SPD-Politiker und Symbolfigur der Weimarer Republik, den Ernst der Lage, als er am Nachmittag des 9. November 1918 von einem Balkon des Reichstags die Republik ausrief?

„Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik! Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen worden. Ebert ist damit beauftragt worden, eine neue Regierung zusammenzustellen. Dieser Regierung werden alle sozialistischen Parteien angehören. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg des deutschen Volkes, nicht beschmutzen zu lassen …“. (Von einem, der dabei war)

Es sind vor allem die Namen mancher historischen Persönlichkeiten aus der Weimarer Republik, die heute noch in Erinnerung sind: eben jener Sozialdemokrat Friedrich Ebert, den die Nationalversammlung zum Reichspräsidenten und Staatsoberhaupt wählte; Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei, der sechs Jahre lang, von 1923 bis 1929, als deutscher Außenminister wirkte; Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, beide ursprünglich vom linken Flügel der SPD, die aufgrund ihrer Aktivitäten rund um die von ihnen gegründete KPD und ihres Engagements 1919 verhaftet und wenig später – es sollte nach einer spontanen Tat Unbekannter aussehen – von Mitgliedern des Freikorps erschossen wurden; Rosa Luxemburgs Leiche wurde in den Berliner Landwehrkanal in der Nähe der heutigen Lichtensteinbrücke geworfen …

Unruhige Zeiten warteten auf die Menschen in vielen Teilen Deutschlands, etwa die kommunistischen Aufstände in Sachsen, Hamburg und im Ruhrgebiet oder die Münchner Räterepublik, die mit der Ermordung ihres Vorkämpfers Kurt Eisner auf offener Straße 1919 blutig niedergeschlagen wurde und 1920 bereits Geschichte war. 1923 unternahm Adolf Hitler am 8./9. November einen Putschversuch, zusammen mit Erich Ludendorff und anderen Putschisten, als sie in München mit einem Marsch auf die Feldherrenhalle die Macht an sich zu reißen versuchten. Im Falle eines Sieges war ein Marsch auf Berlin geplant, sicherlich in Anlehnung an den glorreichen Marsch Mussolinis auf Rom vom 27. bis 31. Oktober 1922, der das Land in die totalitäre Diktatur führen sollte. Hitlers Putschversuch scheiterte; stattdessen kam er für einige Zeit ins Gefängnis und schrieb dort bis zu seiner Entlassung im Dezember 1924 seine politisch-weltanschauliche Schrift Mein Kampf.

Ein historischer Augenblick: der 9. November 1918. Philipp Scheidemann ruft auf dem Balkon des Deutschen Reichstags die Republik aus.

Ähnlich unruhig sah auch in Berlin die Welt aus, in die am 14. Juni 1923 Judith Kerr als zweites Kind des Theater- und Literaturkritikers Alfred Kerr und seiner Frau Julia geboren wurde: eine angespannte, revolutionäre Zeit, die zwischen 1918/19 und Ende 1932 insgesamt 22 verschiedene Regierungen ertrug – untrügliches Zeichen für die Instabilität des politischen Systems. Und doch – trotz aller Wirren der Weimarer Republik: Sie bot auch eine gewisse Sicherheit und Stabilität, allein durch das beginnende Wirtschaftswachstum.

Sicherheit und Stabilität – sie spiegeln sich wider in dem bis heute faszinierenden Begriff der „Goldenen Zwanziger“, den Jahren von etwa 1924 bis 1929, die – wie fast nach jedem Krieg – eine Art kultureller Blütezeit mit sich brachten und Raum boten für die Entwicklung von Kunst, Kultur und Wissenschaft. Dies galt ganz besonders für die Hauptstadt Berlin, die in kurzer Zeit zu einem der weltweit bedeutendsten Zentren auf allen drei Gebieten avancieren sollte.

Auch der Alltag änderte sich nun. Unter dem Stichwort „Der Rundfunk in der Weimarer Republik“ zeugen auf der Webseite des WDR, des Westdeutschen Rundfunks, 34 Schwarz-Weiß-Fotos mit ausführlichen Kommentaren von den Anfängen des Rundfunks nach dem Ersten Weltkrieg: Galten Rundfunkübertragungen bis dahin fast ausschließlich als Kommunikationsmittel des Militärs, wurde nun die drahtlose Sendetechnik erstmals auch privat für die Allgemeinheit genutzt; der öffentliche Rundfunk startete am 29. Oktober 1923 – und etablierte sich bald, wie auch der Film, als Massenmedium.

„Bereits vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland zahlreiche Lichtspielhäuser, in denen Stummfilme vorgeführt wurden. In den Jahren der Weimarer Republik konnte sich der Film als einflussreiches Massenmedium etablieren, die Lichtspielhäuser nahmen einen rasanten Aufstieg. Deutschland war der europäische Staat mit den meisten Kinos, deren Anzahl zwischen 1918 und 1930 von 2.300 auf 5.000 anwuchs. Mitte der 1920er-Jahre gingen auf der Suche nach Unterhaltung und Freizeitvergnügen täglich etwa zwei Millionen Menschen in die Kinos. Für ihr Eintrittsgeld bekamen sie neben dem Hauptfilm kurze Vorfilme, gelegentlich Natur- oder Reisefilme und stets die Wochenschau zu sehen.“ (Scriba 2007)

Vor allem die feine Gesellschaft fand hier ihre vergnügliche Ablenkung, zum Beispiel in dem Lichtspielhaus Marmorhaus, wo im Februar 1920 ein Meilenstein der deutschen Filmgeschichte uraufgeführt wurde, Das Kabinett des Dr. Caligari. Oder man besuchte das Varieté im Wintergarten; noch heute wirbt die Webseite des Wintergarten mit den Worten: „Hier trifft sich die Welt in der einzigartigen Atmosphäre aus Spiegeln, edlem Holz, dunkelrotem Samt und dem legendären Sternenhimmel.“

Deutsche Ingenieure hatten Geräte entwickelt, um 1922 den ersten Tonfilm zu präsentieren, und auf der Deutschen Funkausstellung in Berlin 1928 faszinierte die erste Vorführung von Fernsehbildern. Schon zwei Jahre früher, 1926, hatte in Deutschland das erste Selbstwähltelefon ohne „Fräulein vom Amt“ funktioniert – der Beginn einer Kommunikationstechnik, die noch heute zu keinem Ende gekommen zu sein scheint.

Die Wissenschaft blühte, und man tat alles, sie zu befördern; nährte sie doch auch bei den Politikern die Hoffnung, dass gerade die Wissenschaft helfen konnte, das verlorene internationale Ansehen wieder aufzubauen. Schließlich galt es, die vielleicht größte bis dahin bekannte Nachkriegskrise zu bewältigen. Zahlreiche Nobelpreisträger aus Deutschland legten dafür beredtes Zeugnis ab: zwei Friedensnobelpreise, zwei für Medizin, vier für Physik (darunter einer für Albert Einstein), acht für Chemie und ein Nobelpreis für Literatur (Thomas Mann).

Den Spuren der technischen Erfindungen und Entwicklungen der Zeit kann man noch heute in Berlin nachgehen, zum Beispiel im Technik-Museum mit seinen historischen Flugzeugen und Autos. Aber nicht nur in der Technik, auch in der Kunst, in Malerei und Architektur, in Musik und Literatur fand die neue Zeit ihren Ausdruck und wurde vielleicht sogar deutlicher wahrgenommen durch sichtbare Gegensätze, die sich zu formieren begannen. Den Kriegsinvaliden und dem Elend der Armen stand bald eine feinere und vornehmere Gesellschaftsschicht gegenüber; der luxuriöse Lebensstil dieser Hautevolee, der sogenannten besseren Gesellschaft, griff zusammen mit einer Aufbruchs- und Modernisierungsstimmung um sich, besonders in intellektuellen Kreisen.

George Grosz: Republikanische Automaten, Aquarell 1920. New York, Museum of Modern Art.

Vor allem in Berlin erblühte in Abkehr von wilhelminischen Traditionen die Kultur- und Kunstszene auf verschiedenen Ebenen; es war eine innovative Zeit für die Musik, die den Lebensstil vielleicht am sichtbarsten und lautesten prägte, durch improvisierenden Jazz mit der spontanen Erfindung einer Melodie, durch den von Josephine Baker in Europa bekannt gemachten Charleston, der die quirligen Goldenen Zwanziger symbolisierte, oder durch die Zwölftonmusik des Arnold Schönberg mit ihrem Gegensatz von Konsonanz und Dissonanz.

In der bildenden und darstellenden Kunst ging der Expressionismus als „Ausdruckskunst“ seinem Ende entgegen und wurde vor allem in der Malerei zeitnah begleitet, wenn auch nicht ganz abgelöst, durch die sogenannte Neue Sachlichkeit, der in ihrer Entwicklung auch zahlreiche bekannte Maler des späten Expressionismus angehörten; Namen wie Otto Dix, George Grosz, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Emil Nolde – es handelte sich weitgehend um „Männerzirkel“ – verbinden sich damit.

In der Architektur blühte mit seinem Begründer Walter Gropius der Bauhaus-Stil, der eine Verbindung von Handwerk und Kunst anstrebte. Kurz: Kunst war experimentell. Heute erzählt die Berlinische Galerie von der Geschichte der modernen Kunst ab 1870, mit einem Schwerpunkt auf Dada und der Neuen Sachlichkeit, und im Bauhaus Archiv/Museum für Gestaltung kann man die Welt der Architektur und des Designs vor allem in den Plänen und Modellen von Walter Gropius bewundern.

Auch in der Literatur begann etwas wie „Neue Sachlichkeit“. Die Inhalte wurden anti-bürgerlich, politisch, sozialkritisch und sollten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ab 1933 nicht mehr in deren Bild passen. Wie auch die Bilder etwa eines Emil Nolde sollten etliche Bücher und Beiträge verboten werden. Hier wird später auch Alfred Kerr, der damals vielleicht bekannteste Berliner Theaterkritiker und Vater von Judith Kerr, ins Spiel kommen. Die Personen dieser neuen Romane sind Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose; Durchschnittsmenschen, deren unauffälliges, unaufgeregtes Leben mit seinen Problemen und Alltagssorgen seine Darstellung findet. Die Gesellschaft ist das eigentliche Thema der Romane dieser Zeit, und sie wird in einer schnörkellosen und einfachen Weise beschrieben, in der sich die Alltagssprache samt Dialekten und Mundarten spiegelt. Der 1919 erschienene Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin mit dem Untertitel Die Geschichte vom Franz Biberkopf ist ein Paradebeispiel dafür, erzählt er doch vom Scheitern eines einfachen Lohnarbeiters. Allein die Titel bedeutender Werke verweisen auf ihre Inhalte, wie Kleiner Mann – was nun? von Hans Fallada (1932), der von bedrückenden wirtschaftlichen Verhältnissen des Verkäufers Johannes Pinneberg und seiner Freundin Lämmchen erzählt. Zur Neuen Sachlichkeit gehören ebenfalls Namen wie Hermann Hesse mit seinen Romanen Siddharta (1922) und Der Steppenwolf (1927); Heinrich Mann mit Ein ernstes Leben (1932); Erich Maria Remarque mit Im Westen nichts Neues (1928); Kurt Tucholsky mit Schloss Gripsholm (1931); Vicki Baum mit Menschen im Hotel (1929) und Veza Canetti, deren Romane zu Lebzeiten keinen Verleger fanden.

Viele dieser Autoren haben noch etwas gemeinsam: Sie gingen ab 1933 ins Exil. Aber gehen wir erst wieder einen Schritt zurück in die Gründerzeit, in das letzte Drittel des ausgehenden 19. Jahrhunderts, denn noch sind wir weit entfernt von dem Jahr 1923, als Judith Kerr in Berlin in eine gebildete, wohlhabende Familie hineingeboren wird.

Alfred Kerr – Liebevoller Vater und scharfzüngiger Kritiker

Der bekannte Theater- und Literaturkritiker Alfred Kerr wurde 1867 als Alfred Kempner in Breslau (heute das polnische Wrocław) geboren. Seine Eltern konnten ihm eine sorglose Jugend bescheren: Der Vater, Emanuel Kempner, war schon in sechster Generation jüdischer Weinhändler und expandierte nach einem Umzug innerhalb Breslaus Anfang der 1870er-Jahre Jahre mit Weinstuben, die in der 6. Auflage des englischen Baedeker immerhin Erwähnung fanden (Vietor-Engländer, 17). Die Mutter, Helene Kempner, geborene Calé, führte den Haushalt und kümmerte sich mithilfe französischer Gouvernanten um die Erziehung der Kinder, der etwa eineinhalb Jahre älteren Schwester Alfreds, Anna Rebecca, und des jüngeren Bruders, der in früher Kindheit an Cholera verstarb. „Mein Vater war: still, zurückhaltend, kritisch; voll schweigsamer, innigster Liebe für meine Mutter und für uns“ (AK, GW V/VI, 251), schreibt Alfred Kerr. Die liebevolle Atmosphäre zu Hause hat ihn sein Leben lang geprägt; liebevoll war auch bis zu seinem Tod 1948 das Verhältnis zur Schwester. In seiner letzten Äußerung im Oktober 1948, bevor er freiwillig aus dem Leben schied, schrieb er noch: „Ännchen einen letzten Kuss“.

Alfred Kerr (1867–1948). Deutscher Schriftsteller jüdischer Abstammung, Theaterkritiker und Journalist – und Vater von Judith Kerr.

Die Eltern waren orthodoxe Juden, und doch hatten sie sich der Gesellschaft angepasst, mit einem toleranten, wenn nicht gar akzeptierenden Blick auf die christliche Religion. In Briefe aus der Reichshauptstadt liest man zum Beispiel bei Alfred Kerr am 24. Dezember 1899 – in der Nacht zum 25. Dezember wurde er geboren:

„Auch riecht es nach Christbaum in diesem Zimmer. Er steht auf dem Blüthner-Flügel, vorläufig noch ungeputzt. Morgen aber wird er leuchten und funkeln; vor Schweinskeulen aus Marzipan, vor silbernen Kügelein, vor süßen Würfeln, vor Schokoladenkringeln, vor Zuckerpüppchen, vor Lamettafäden, und es werden mehrere Knechte Ruprecht, mit Schneewatte, zwischen den Ästen und Nadeln hervorlugen. Ei, ei, das wird herrlich sein“[…] „Wahrlich, Leser, diese Seligkeit kann das Herz, diese Süßigkeit der Bauch nicht fassen […] Schon jetzt überschleicht mich Rührung, wenn ich an das Doppelfest denke“. (AK, WlB, 538f.)

In seinen Gedanken zu Berlin als Lebensort werden auch die nicht physischen Freuden und die innere Bedeutung des christlichen Weihnachtsfestes deutlich: Seiten füllt er in diesen Briefen mit seinen Impressionen zu diesem christlichen Fest.

„Die frohe Innigkeit des Christabends geht nicht verloren, und der Charakter dieses Weltpunkts hält die Krähwinkligkeit fern. Weihnachten ist hier ein holder Familienvorgang, zugleich ein gesellschaftliches Ereignis. Eine private Freude, zugleich eine Massendemonstration für die Glückseligkeit aller Menschen. Auch feiert sich das deutscheste aller Feste am komfortabelsten in der deutschen Hauptstadt“ (AK, WlB, 538f.)

– ein Weltbild der Toleranz, das er auch an seine Familie weitergegeben hat. Mehr als 100 Jahre später wird seine Tochter Judith Weihnachten für die zweite Kerr-Generation in einem Interview so beschreiben: „Wir waren Juden, aber es war auch in unserer Familie eine Tradition. Mein Vater spielte Klavier und sang ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘, und wir durften den ganzen Abend wach bleiben, Geschenke auspacken und den Baum mit den Kerzen bewundern. Meine Eltern wussten: Für eine Familie gibt es nicht Schöneres als dieses Fest.“ (Littger, 24.12.2017)

Es war ein offen gesonnenes, liberales Elternhaus, in dem Alfred Kempner aufwuchs; umgekehrt machte er allerdings früh Bekanntschaft mit einem aufkeimenden Antisemitismus. Zwar hatte die Wirtschaft nach der Gründung des Deutschen Reiches im Januar 1871 zunächst eine rasante Entwicklung genommen, aber nur zwei Jahre später kam es zum Börsenkrach 1873 und die so hoffnungsvoll begonnene Gründerzeit mit ihrer Aufschwungstimmung war auch schon am Ende. Von Gründerkrise war nun die Rede, und viele Unternehmer, Geschäftsleute und Händler gingen bankrott. Man suchte nach Erklärungen dafür und fand rasch einen Sündenbock: Die Juden waren schuld, und bald formierten sich erste antisemitische Organisationen und Parteien mit zunehmender Agitation, die mehr und mehr Zustimmung in der Bevölkerung fanden. Das Bild vom geldgierigen jüdischen Blutsauger und Wucherer wurde genährt und dem „bodenständigen Deutschen“ gegenübergestellt. Ganz sicher wird auch der Weinhändler Emanuel Kempner seine negativen Erfahrungen in der Geschäftswelt gemacht haben.

Nichtsdestotrotz wurde 1873 Alfred Kempner eingeschult und besuchte nach der Volksschule das Gymnasium, wie es für strebsame Bürger, zu denen besonders Juden zu rechnen waren, Usus war; versprach man sich von Bildung doch viel für die Zukunft. Alfred kam auf das älteste Gymnasium der Stadt, das St. Elisabeth-Gymnasium. Heute beherbergt das Gebäude das Psychologische Institut der Universität Wrocław (Breslau). Das Gymnasium, auch „Elisabetan“ genannt, war das älteste und traditionsreichste Gymnasium, gegründet 1293, und es legte in dem jungen Alfred den Grundstein für die Lust an zeitgenössischer Dramatik, an Theatergeschichte, an Sprachen, an Musik. 1886 legte er hier sein Abitur ab – und änderte nur ein Jahr später, 1887, seinen Namen: Nun war er Alfred Kerr, auch wenn die offiziell beglaubigte Namensänderung erst mehr als 20 Jahre später erfolgte, 1909. Warum er das wollte und tat, ist nicht ganz sicher, aber Michael Kerr berichtet, dass sein Vater bereits als Schulkind in Breslau seine Freunde und Lehrer darüber unterrichtete, dass er, wäre er erst einmal Schriftsteller geworden, seinen Namen zu Kerr ändern wollte. Offenbar wollte er schon früh vermeiden, mit Friederike Kempner in (nicht bestehenden) Bezug gebracht zu werden – eine Zeitlang vermutete man eine Tante in ihr –, die als Meisterin und Genie der unfreiwilligen Komik in ihren Gedichten galt; auch als „schlesischer Schwan“ wurde sie bezeichnet, und ihre Gedichte gaben reichlich Anlass zum öffentlichen Spott: „Du sähest herrliche Gesichte | In finstrer Nacht, | Ein ganzes Blatt der Weltgeschichte: | Du hast es vollgemacht!“, schrieb sie etwa zur Person des Astronomen Johannes Kepler.

Schon wenige Wochen nach dem Abitur immatrikulierte sich Alfred Kerr an der Universität in Breslau, hörte neben Altgermanistik auch französische Grammatik, nahm an Übungen der provenzalischen (heute: okzitanischen) Sprache teil und besuchte Vorlesungen in Philosophie. Zu der Zeit war Karl Gotthelf Jakob Weinhold Ordinarius für Deutsche Philologie und Literaturgeschichte, und er sollte in Alfred Kerr weitere Grundlagen legen, die sein Verständnis der neuen deutschen Literatur ein Leben lang prägten. Als es diesem gelang, einen selbstbewussten Artikel zu Lessing in der Täglichen Rundschau (02.09.1887) in Berlin unterzubringen, erlaubten seine Eltern den Wechsel von Breslau zur Universität in Berlin.

Während seines Studiums in Berlin schrieb Alfred Kerr immer wieder für verschiedene Tageszeitungen und Zeitschriften, vor allem Erzählungen und Geschichten aus dem Alltagsleben in der Hauptstadt. Aber je weiter er in seinen Studien fortschritt, je intensiver der Kontakt zu Professoren wurde, desto zielorientierter und fachlicher wurden seine Publikationen. Er setzte sich mit der gegenwärtigen Literatur auseinander, las Gerhart Hauptmann, sah die Stücke Henrik Ibsens auf der Bühne, ließ sich ergreifen. Er schrieb Rezensionen und Theaterkritiken und veröffentlichte sie in so renommierten Blättern wie der Vossischen Zeitung, der Königsberger Allgemeinen Zeitung, der Neuen Rundschau. Aber er schrieb nun auch selbst Gedichte und suchte seine Rolle zu finden als Literaturkritiker oder Schriftsteller.

Als die Zeit der Promotion gekommen war, wurde ihm zu weiterführenden Studien die Universität Halle empfohlen, wo er 1894 mit einer Arbeit zu Clemens von Brentano promoviert wurde. Die Dissertation erschien vier Jahre später, 1898, unter dem Titel Godwi. Ein Kapitel deutscher Romantik. Fast nahtlos fand sich Kerr in der Rolle eines Theaterkritikers, die er ein Leben lang wahrnehmen sollte – öffentlich für viele Jahre, solange es ihm die Nationalsozialisten erlaubten, und auch danach unverdrossen, egal, ob es jemand lesen oder hören oder auch nur publizieren wollte; aufgegeben hat er nie. Seine neuen Ansätze, seine frische und selbstbewusste Art zu schreiben, das rigorose Benennen dessen, was er in den Stücken, in der Literatur erkannte, verschafften ihm Bekanntheit. Sein analytischer Verstand half ihm zu einer glasklaren Sicht der Dinge, die sein ganzes Werk auszeichnen sollte, und er scheute sich nicht, seine Schlussfolgerungen und Wertungen scharf, eindeutig und persönlich zu präsentieren. Etwa so, wie 1893 im Magazin für Litteratur 47: „Bekanntlich besteht das deutsche Lustspiel darin, dass eine oder mehrere Personen blödsinnig werden.“

Nach einer Auszeit in Italien kehrte Alfred Kerr nach Berlin zurück und begann als Schriftsteller zu arbeiten, und zwar an den Briefen aus der Reichshauptstadt. In der Sonntagsausgabe der Breslauer Zeitung sollten sie wöchentlich erscheinen, ein Feuilleton aus Berlin, das über alles Interessante aus Politik und Gesellschaft berichtete. Allein die Briefform gab Alfred Kerr Gelegenheit, ganz Persönliches auszudrücken, Stimmungen nachzugeben, Kommentare abzugeben, zu werten, zu richten. Unter dem Titel Wo liegt Berlin? erschienen seine Briefe von 1895 bis 1900. Günther Rühle hat sie 1997 mit Anmerkungen und Kommentaren herausgegeben; der kritische Marcel Reich-Ranicki schrieb dazu: „Die Geschichte des deutschen Feuilletons muss nach diesem Buch neu geschrieben werden“ (Vietor-Engländer, Klappentext).

„Kerrs Leidenschaft für das Leben in der Stadt, für das Theater und aufwendige Massenspektakel, für Ballatmosphäre und Großstadtfluidum drückt sich in den Berichten ebenso aus wie die zunehmende Kritik am Kaiser, seine Verachtung für das antiquierte Beamtentum und den Luxus der Neureichen. Alles, was ihn umgibt und was er empfindet, hat die Aufmerksamkeit des Chronisten: das Wetter, die Jahreszeiten, Weihnachten, Fastnacht und Pfingsten, Überschwang und Niedergeschlagenheit. So überträgt sich das Persönlich-Dynamische des jungen Schreibers auf den Leser und ermuntert ihn, mit Kerr zu fragen: ‚Wo liegt Berlin?‘ Im Schloß, im Reichstag, im Dom, im Tiergarten, im Deutschen Theater, in den neuerbauten Kaufhäusern der Leipziger Straße? Überall hält Kerr Ausschau nach seinem Berlin“,

heißt es in der Inhaltsangabe der von Rühle herausgegebenen Briefe aus der Reichshauptstadt.

Kerr erwies sich als ein scharfsinniger Beobachter mit einem feinen Gespür für das, „was in der Luft lag“, und das er noch nicht konkret zu benennen wusste. Am letzten Abend des Jahres 1899 bemerkt er in seinem Brief (AK, WlB, 547):

„31. Dezember 1899. Die Zeit ist aus den Fugen. Die Entwicklungen, die sich anbahnen, brauchen viele Säkula, um Ergebnisse zu zeitigen. Wir werden sie nicht sehen. Wir fühlen bloß den Kampf. Ungeheuer große Zeiträume, ungeheuer kleine Fortschritte – dieses Gesetz hat schon David Friedrich Strauß festgestellt. Wenn aber das Bewußtsein, in einem der grandiosesten und konfusesten Augenblicke gelebt zu haben, Seligkeit ist – dann können wir alle selig werden.“

Von 1900 an schrieb Alfred Kerr fast zwanzig Jahre lang als Theaterkritiker für die illustrierte Tageszeitung Der Tag des Berliner Großverlegers August Scherl. Zusätzlich war er ab 1911 Mitherausgeber der Kunst- und Literaturzeitschrift Pan. Von 1895 bis 1900 war Pan, gegründet von Otto Julius Bierbaum und Julius Meier-Graefe, ein wichtiges Organ des Jugendstils gewesen, das Illustrationen von bekannten und unbekannten Künstlern abdruckte, aber auch Erzählungen und Lyrik aufnahm. Zehn Jahre nach ihrem Einstellen wurde Pan 1910 von dem Verleger Paul Cassirer neubegründet, und ab 1912 war für einige Jahre Alfred Kerr ihr alleiniger Herausgeber. Er schrieb den ganzen Ersten Weltkrieg hindurch, immer düsterer wurden seine Ansichten über den Zustand der Welt. Seine gesammelten Beiträge wurden vom S. Fischer Verlag 1917 unter dem Titel Die Welt im Drama herausgegeben. Im gleichen Jahr erschien Kerrs erster Gedichtband Die Harfe.

1917 begegnete Alfred Kerr der 30 Jahre jüngeren Ingeborg Thormählen und die beiden heirateten – eine kurze Ehe, denn die junge Frau verstarb noch im selben Jahr an der Spanischen Grippe; ein schwerer Schlag für ihn. Er schrieb nun auch für zwei der bedeutendsten Tageszeitungen der Weimarer Republik, das Berliner Tageblatt und die Frankfurter Zeitung, und galt als einer der schärfsten und zynischsten Kritiker. Drei Jahre später, 1920, heiratete er Julia Weismann.

Julia Weismann – Mutter mit schwieriger Familie

Es war der Sommer 1919, der erste Sommer nach dem großen Krieg, und Alfred Kerr saß an der Fertigstellung von Texten für den Druck; die Wohnung in Berlin bedrückte ihn nach dem Tod seiner Frau immer noch, und so fuhr er mitsamt seinen zu bearbeitenden Beiträgen nach Sellin auf der Insel Rügen. Dort traf er Julia Weismann, eine junge Frau, 30 Jahre jünger als er, die er bereits flüchtig aus Berlin kannte – die Familie Weismann war 1912 in eine große Villa in Berlin-Grunewald umgezogen, ziemlich nahe der Familie Kerr, und hier hatten sich die beiden oberflächlich kennengelernt. 80 Jahre später wird ihr Sohn Michael in seinen Erinnerungen die hübsche Geschichte erzählen, wie sie seine Eltern immer wieder zum Besten gaben: dass nämlich Alfred Kerr Julia bereits in ihren Teenagerjahren in der Straßenbahn gesehen und dabei gedacht habe, dass er sie sehr gern geheiratet hätte. Allerdings war Alfred da gerade im Begriff, Ingeborg zu heiraten.

Das Zusammentreffen auf Rügen wurde eine „Begegnung für die Zukunft“, wie Kerrs Biografin Deborah Vietor-Engländer ihr entsprechendes Kapitel dazu nennt. Nach Unterlagen aus dem Alfred-Kerr-Archiv hat Alfred Julia, die er „Mozartle“ nannte, bereits einen sehr liebevollen Brief bei seinem Abschied von Rügen geschrieben, bezeichnete sich darin als „lebensbejahend; überzeugt, dass es das Schicksal überhaupt gut mit mir meint.“ (Vietor-Engländer, 285)

Julia Weismann (1898–1965), Komponistin. Zweite Ehefrau von Alfred Kerr und Mutter von Michael und Judith Kerr.

Julia Weismann, geboren 1898, war die Tochter von Robert Weismann und seiner Ehefrau Gertrud Reichenheim, geboren 1869. Weismann war Jurist und preußischer Beamter und arbeitete jahrelang als Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium, das direkt dem König von Preußen unterstellt war, und war für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verantwortlich. In seinen Tagebüchern, bedeutende Zeitzeugnisse, die sich vom Ende des Kaiserreichs bis zum Nationalsozialismus erstrecken, schrieb der deutsche Publizist und Schriftsteller Harry Graf Kessler 1920:

„Weismann, unser Polizeiminister, der bekannteste und glücklichste Bacspieler Berlins, ist ein blonder Jude, der noch blonder sein möchte: […] Ist als Parvenü der guten Gesellschaft notwendig erzreaktionär, nicht aus Sentimentalität, sondern weil er seine neugewonnene Stellung verteidigt und in diese Verteidigung die ganze Willenskraft hineinlegt, die er gebraucht hat, um als Jude emporzusteigen. Dieses Rädchen wird jedenfalls die Maschine immer nur nach rechts drehen.“ (Kessler, 23. Juni 1920)

Allerdings sollte 13 Jahre später Weismann einer von den 33 Deutschen sein, deren Namen nach der Machtergreifung auf der im August 1933 verabschiedeten „Ersten Ausbürgerungsliste“ der Nationalsozialisten stand. Nachdem ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, emigrierte er in die damalige Tschechoslowakei und später über die Schweiz und Frankreich in die USA.

Die Weismanns waren eine wohlhabende und bis 1933 auch einflussreiche, ursprünglich jüdische Familie, die aus politischen und gesellschaftlichen Gründen zum Christentum konvertiert war; Julia wurde bereits als Christin geboren. Sie wuchs in finanzieller Sicherheit auf und genoss die Erziehung einer „höheren Tochter“: Sie sprach fließend Englisch und etwas Französisch, kannte sich in der Welt der Literatur und des Theaters aus und studierte schließlich einige Semester Mathematik – ihr Herz aber gehörte der Musik. Da sie früh Talent zeigte, ermöglichte man ihr eine Ausbildung in Komposition bei dem Professor und Komponisten Wilhelm Klatte. Sie war eine liebenswürdige Person und glaubte an das Gute im Menschen; ihr Sohn Michael erinnert sich später: „Sie war romantisch und von einfacher Natur, mit einem instinktiven, liebenswerten Glauben, dass die Welt gut war und sie erfolgreich und glücklich sein würde“ (MK, Remember, 12).

Julias Eltern hatten sich sicherlich mehr für das Leben der begabten Tochter versprochen und reagierten verhalten auf ihre Freundschaft und Liebe zu Alfred Kerr – war doch ihr Vater zwei Jahre jünger als sein angehender Schwiegersohn. Und es gab gravierende Unterschiede, die niemals überbrückt werden sollten. Michael Kerr hat sie bereits auf den ersten Seiten seiner Erinnerungen klar definiert.

„Mein Vater war klein, altmodisch, was die Kleidung betraf, anspruchsvoll in seinen Gewohnheiten und zurückhaltend in seiner Art. Er war eine sehr eigene Persönlichkeit, lebhaft, aber voller Sanftmut und Charme. Mein jüngerer Großvater war das genaue Gegenteil von allem. Er war groß, immens gutaussehend in jedem Lebensstadium, stark extrovertiert und ein Salonlöwe. Seine Ausstrahlung und sein Erfolg bei Frauen waren legendär.“ (MK, Remember, 7)

Der Erfolg bei den Frauen hatte sich auch nicht nach seiner Heirat mit Gertrud Reichenheim geändert, die ein „beachtlicher Fang“ war. Der badische Reichsratsvertreter Fecht bezeichnete Weismann als „durch und durch verlogen, brutal, arrogant bis zur Unverschämtheit, im Privatleben ein Spieler, Vergeuder eines Millionenvermögens, Schuldenmacher, Lebemann.“ (Vietor-Engländer, 302) Zeit seines Lebens hat seine Frau Gertrud unter den Liebschaften und Affären ihres Mannes gelitten, auch wenn sie sich ihm kritiklos unterordnete. Kam sie doch aus einer viel älteren, angesehenen und immens reichen Familie, den Reichenheims, die ihren Reichtum schlesischen Textilfabriken verdankten. Gertrud, ältestes von sieben Kindern aus zwei Ehen der Anna Reichenheim, stand völlig unter der Kuratel ihrer Mutter; Anna – spätere Urgroßmutter also von Michael und Judith Kerr – herrschte nach dem Tod ihrer Ehemänner uneingeschränkt über die vielköpfige Familie und laut Michael Kerr auch über die tonangebende Gesellschaft in Berlin. Als Kind, so erinnert er sich, wurden er und seine Schwester Judith regelmäßig der Urgroßmutter vorgeführt. „Jeder Besuch erschien wie eine Audienz bei Hofe. Dienstmädchen in schwarzer Kleidung, weißen Schürzen und Häubchen servierten unvergessliche Kuchen in der erschreckenden Umgebung von Familienporträts, antiken Möbeln, dicken Teppichen, schwerem Silber und durchsichtigem Porzellan; das alles dämpfte unseren Appetit und machte uns sprachlos vor Schüchternheit.“ (MK, Remember, 8).

Keine Vorbehalte der Reichenheim-Weismann’schen Familie konnten die Beziehung zwischen Alfred und Julia auseinanderbringen. Gegen alle Widerstände heirateten Julia Weismann und Alfred Kerr am 21. April 1920; in der Heiratsanzeige werden – damals durchaus ungewöhnlich – auf beiden Seiten die Eltern nicht genannt. Die Beziehung vor allem der beiden Männer blieb schwierig, und sie sollten sich Zeit ihres Lebens aus dem Weg gehen.

Nach der Hochzeit wohnte das Paar in der Wohnung von Alfred Kerr, die von Julias Eltern durch eine standesgemäße Aussteuer aufgebessert wurde. Die Flitterwochen erlebten die beiden in Italien, Eindrücke von der Reise hat Alfred Kerr in Artikeln und den sogenannten Plauderbriefen für diverse Zeitungen festgehalten. Nach schönen Tagen in Südtirol, seit 1919 unter italienischer Hoheit, hieß es für das junge Paar: Alltag in Berlin. Und Julia war schwanger. Am 1. März 1921 brachte sie in Berlin-Charlottenburg den Sohn Michael zur Welt (er starb am 14. April 2002 in London).

Judith Kerr – Eine Insel des Glücks und draußen das Chaos

Zwei Jahre später kam am 14. Juni 1923 in Berlin die Tochter zur Welt: Anna Judith Gertrud Helene Kerr, Anna nach der innig geliebten Schwester des Vaters wie auch der Urgroßmutter mütterlicherseits, Gertrud und Helene nach den beiden so unterschiedlichen Großmüttern benannt; aber zeitlebens war es der zusätzliche Name Judith, dessen Klang der Vater so liebte, den das Mädchen tragen und unter dem sie berühmt werden sollte.

Judith wurde mitten in die Goldenen Zwanziger hineingeboren, in eine Stadt, die wie keine andere für die angehenden Veränderungen des 20. Jahrhunderts stand. Kulturelle, historische, politische und gesellschaftliche Umbrüche markieren die Zeit. „Es war ein Freitag, als in Wilmersdorf das Abendland unterging“, schrieb 2010 der Redakteur Sven Goldmann in Der Tagesspiegel:

„Zum Abschied richtete der Leitartikler des Lokalblattes noch ‚Ein Wort an alle Muß-Berliner‘, es begann mit der Feststellung: ‚Von heute an hören wir auf, Wilmersdorfer, Schöneberger, Charlottenburger zu sein. Wir sind kraft jenes Gesetzes, das sein Zustandekommen einer Zufalls-Parlaments-Mehrheit verdankt, Muß-Berliner geworden. In allen entscheidenden Fragen werden wir uns dem Diktat des roten Berliner Magistrats zu fügen haben. Einstweilen wenigstens, bis die rote Militärwirtschaft abgewirtschaftet haben wird und an Stelle der Gesinnungslosigkeit wieder andere Faktoren den Ausschlag geben werden.‘“

Die Rede ist vom „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“, im Volksmund kurz „Groß-Berlin-Gesetz“ genannt, das am 1. Oktober 1920 in Kraft getreten war. Durch die Eingemeindung wohlhabender Vororte wie Wilmersdorf, Charlottenburg, Wannsee und Spandau, die auf einmal keine Vororte mehr waren – insgesamt sieben Städte, 59 Landgemeinden und 72 Gutsbezirke – war ein Groß-Berlin entstanden, dessen Stadtgebiet um das Dreizehnfache auf 878 Quadratkilometer angewachsen war; die Bevölkerung verdoppelte sich auf 3,8 Millionen Menschen. Zum Vergleich: 2016 waren es knapp 3,6 Millionen. Was am Schreibtisch ausgearbeitet wurde, machte Berlin flächenmäßig plötzlich zur zweitgrößten Stadt der Welt (hinter Los Angeles) und zur drittgrößten mit Blick auf die Einwohnerzahlen (hinter London und New York). Die Ansiedlung industrieller Unternehmen wie Siemens oder AEG brachte in der Hoffnung auf Arbeit und Lohn mehr und mehr Menschen in die Stadt; das wiederum forderte Architekten wie zum Beispiel Walter Gropius heraus, neue Siedlungen mit ansprechenden Wohnungen zu schaffen. Einen kulturellen Höhepunkt bot unter anderem Leopold Ullstein, der mit einer Papiergroßhandlung begann, eine Druckerei erwarb und mit seinen Zeitungen nach und nach eine liberale Alternative zur konservativen Presse im preußischen Berlin schuf. Er kaufte das Neue Berliner Tageblatt, die Berliner Zeitung, brachte mit der Berliner Illustrierten Zeitung die erste deutsche Zeitschrift auf den Markt und machte die Berliner Morgenpost zur größten Tageszeitung Deutschlands. Unter seinen fünf Söhnen kamen die B.Z. am Mittag und die Vossische Zeitung hinzu sowie der Ullstein Buchverlag, der

„rasch zu einem der führenden deutschen Verlage aufstieg: Autoren wie Brecht, Zuckmayer, Feuchtwanger, von Horváth und Heinrich Mann veröffentlichten bei Ullstein. Ihr Motto war ‚politischer Liberalismus und moderne Kultur‘, schrieb Arthur Koestler über die Ullsteins. Viele Ullstein-Bücher trafen den Zeitgeist und wurden Bestseller, Erich Maria Remarques ‚Im Westen nichts Neues‘ und Vicki Baums ‚Menschen im Hotel‘.“ (Ullstein Buchverlage)

Eine Zeit des Umbruchs also, in die Judith Kerr hineingeboren wurde. Doch davon war dem Mädchen kaum etwas bewusst, schließlich war sie erst 9 Jahre alt, als die Familie Berlin verließ. Es sind nicht viele Erinnerungen an das Berlin der 1920er-Jahre, die sie hat; ihre Erinnerungen, die sie in ihrer Hitler-Trilogie in literarischer Form zu Papier brachte, beginnen mit den Tagen des bevorstehenden Exils im Jahr 1933. Aber am 7. Oktober 1990 hielt Judith Kerr im Berliner Renaissance Theater im Rahmen der „Berliner Lektionen“ einen Vortrag. Die „Berliner Lektionen“, 1987 anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins begründet und Teil der Berliner Festspiele, laden „Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, darunter Philosophen, Künstler, Wissenschaftler und Politiker“ zu Vorträgen und Reflexionen über ihre Erfahrungen in einer sich verändernden Welt ein, „die diese Reihe zu einer Chronik des politischen und kulturellen Wandels gemacht haben“, wie es im Archiv der Berliner Festspiele zu lesen ist.

Judith Kerrs Vortrag erschien im selben Jahr unter dem Titel Eine eingeweckte Kindheit im Argon Verlag, der einzige Text, den sie über ihre Kindheit in Berlin veröffentlicht hat. „Ich habe in Berlin keine Geschichte erlebt, nur eine normale, glückliche Kindheit. Und weil das Leben dann nachher ganz anders wurde – ich will nicht sagen, weniger glücklich, aber doch eben anders –, deswegen ist die Zeit in Berlin etwas ganz Besonderes geblieben.“ (JK, Kindheit, 19).

Bewusst habe sie, so führt sie in diesem Text weiter aus, alles verdrängt, was sie an diese glückliche Zeit in Berlin erinnerte; es hatte keinen Zweck mehr, weil es nicht mehr existierte. Und: „Man hatte jetzt anderes zu tun“. Erst viele Jahre später, als sie selbst in England verheiratet war und Kinder hatte, da habe sie plötzlich gedacht: „Ja, wie war das eigentlich, als ich so klein war, wie meine Kinder jetzt? […] Es war, als hätte das alles jemand eingeweckt, als wir damals aus Berlin wegzogen, und jetzt hätte ich das Einmachglas geöffnet.“ Gegenüber dem, was kommen sollte, war die Zeit in Berlin geradezu ereignislos, und Judith Kerr beschreibt unbeschwerte Kindheitstage, in denen sie Kind sein durfte und die Veränderungen nur wenig realisierte. „Es war eine normale Kindheit. Aber für mich war es ein Stück meines Lebens, ganz abgegrenzt von allem, was später kam. Etwas Leuchtendes, Flammendes, etwas, von dem man beinah glaubte, es wäre jemand anderem passiert.“ (