Jugendfeuer - Mark Mordue - E-Book

Jugendfeuer E-Book

Mark Mordue

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Beschreibung

Zwischen Cohen und Lolita: die frühen Jahre des Nick Cave Er ist der Grandseigneur der Alternative-Szene und genießt den Respekt, wie man ihn in der Musikwelt zuvor wohl allenfalls Leonard Cohen entgegenbrachte: Nick Cave begann seine Karriere Anfang der Achtzigerjahre als skandalumwitterter Junkie-Poet, der seine provozierenden Texte zu einem eklektischen Mix aus Blues, Punk und Avantgarde herausschrie. Seine Lieder handelten von Grenzerfahrungen und Verbrechen aus Leidenschaft, vor allem aber von den Abgründen der Seele, die er mit seiner markanten, dunklen Stimme auf unverwechselbare Weise zu beschreiben verstand. Seine wilden Jahre in London und Berlin wurden in der Musikpresse ausführlich dokumentiert, ebenso seine Läuterung und die ruhigere, aber nicht weniger dunkle Zeit, in der Caves Bilderwelt von persönlichen Schicksalsschlägen geprägt war. Doch wie wurde der Lehrersohn aus der australischen Provinz zu dem exaltierten Performer, der mit der apokalyptischen Sprachgewalt eines alttestamentarischen Propheten über die Alternative-Szene der Achtziger hereinbrach? Der australische Journalist Mark Mordue hat sich auf eine spannende Spurensuche gemacht, die ihn von der Outback-Kleinstadt Wangaratta bis in die Kunst- und Punkszene von Melbourne führte, und er hat dazu ausführlich mit dem Künstler selbst, aber auch mit Caves Familie und vielen alten Weggefährten gesprochen. Jugendfeuer schildert Caves prägende Jahre, seine kreativen Einflüsse, schicksalhafte Internatsbegegnungen und vor allem das spannungsgeladene Verhältnis zu seinem Vater, dessen früher Unfalltod zu einem Wendepunkt in Caves Leben wurde. Es ist eine Jugend zwischen Nabokovs Lolita und Leonard Cohens Songs Of Love And Hate, zwischen morbiden Streichen und Nahtoderfahrungen, zwischen behüteter Kindheit und dem gnadenlosen Austesten künstlerischer Selbstverwirklichung als Teenager. Mordue unterfüttert seine straffe Erzählung mit akribischer Recherche und liefert mit Jugendfeuer einen ganz entscheidenden Beitrag zum grundlegenden Verständnis von Nick Caves Entwicklung ab.

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Mark Mordue

JUGENDFEUER

Die frühen Jahre des Nick Cave

Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Thiele

www.hannibal-verlag.de

Widmung

Für meine Kinder

Atticus, Franny und Levon

Und für Bryan Wellington,

Anne Shannon und Eddie Baumgarten

sowie alle Boys and Girls Next Door

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2022

© 2022 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-734-3

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-733-6

Titel der Originalausgabe: BOY ON FIRE – The Young Nick Cave

Copyright © 2020 Mark Mordue

Erstausgabe 2020 HarperCollinsPublishers Australia Pty Limited

Level 13, 201 Elizabeth Street, Sydney NSW 2000

ABN 36 009 913 517

harpercollins.com.au

ISBN 978 1 4607 5965 3

Grafischer Satz in deutscher Sprache und Covergestaltung: Thomas Auer

Coverillustration © Angie Réhe, adaptiert von einem Foto von © Detlev Schneider Autorenfoto © Hugh Stewart

Übersetzung: Sabine Thiele

Deutsches Lektorat und Korrektorat: Hollow Skai

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Der Verlag dankt allen Rechteinhabern für die Genehmigung, urheberrechtlich geschütztes Material in diesem Buch abdrucken zu dürfen. Wir haben im angemessenen Rahmen versucht, sämtliche Rechteinhaber ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Wir bitten fehlende oder inkorrekt angegebene Urheber, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

Inhalt

Über den Autor

Zitat

Prolog Der Journalist und der Sänger

Teil I The Rider

Such Is Life Melbourne & Sydney 2007

King And Country Dockers Plains 1979

Teil II The Good Son

Man In The Moon Warracknabeal 2008, 1957–59

Down By The River Wangaratta 1959–70

Teil III Sonny’s Burning

The Word Melbourne 1971–75

Double Trouble Melbourne 1975–76

Zoo Music Girl Melbourne 1976–77

Boy Hero Melbourne 1977–78

Teil IV God’s Hotel

Shivers Melbourne 1978–79

Flight From Death Melbourne 1979

Crime And Punishment Melbourne 1979–80

Epilog Der Sänger und der Song

Danksagungen

Editorische Notiz des Autors

Endnoten

Ausgewählte Bibliografie

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Über den Autor

Der Autor und Musikjournalist Mark Mordue schreibt für den Rolling Stone, die Vogue, GQ, Interview und den Sydney Morning Herald. Nachdem er 1992 Australiens führendes Popkultur-Magazin Australian Style gegründet und herausgegeben hatte und 2010 zum australischen Kritiker des Jahres gewählt wurde, war er von 2016 bis 2018 Chefredakteur der in Sydney erscheinenden Kulturzeitung Neigh­bourhood. Neben belletristischen Arbeiten, Essays und biografischen Texten verfasst er auch Gedichte, die für den renommierten WB Yeats Poetry Prize nominiert wurden. Mordue lebt in Sydney und ist Vater zweier Kinder.

Zitat

Letztlich ließ sich kaum sagen,

was romantischer, was aufregender war:

der tatsächliche Mann oder der Mythos,

zu dem er geworden war.

Colin F. Cave – Ned Kelly, Man and myth

Prolog Der Journalist und der Sänger

Mein erstes Gespräch mit Nick Cave war ein Telefoninterview anlässlich der Promotion seines zweiten Soloalbums, The Firstborn Is Dead (1985), einer unheilvollen, vom Blues beeinflussten Platte, die in fast schon biblischer, apokalyptischer Sprache die Geburt von Elvis Presley – und damit des Rock’n’Roll – feierte. Unsere Unterhaltung war so trocken wie Wüstengras, so zäh und unkonkret, dass sie zwischendurch versiegte. Cave schien nicht das geringste Interesse daran gehabt zu haben, was ich ihn fragte oder sagte. Damals war er für seinen notorischen Hass auf Journalisten berüchtigt. Nach diesem anstrengenden Gespräch legte ich den Hörer mit schweißnassen Händen und schwerem Herzen auf. Was für ein Reinfall.

Danach riss ich mich nicht mehr darum, mit Cave zu sprechen, geschweige denn ihn persönlich treffen. 1988 wollte ich ihn trotzdem für On the Street interviewen, eine Gratiszeitung, die in Sydney erschien. Aller guten Dinge sind zwei, dachte ich wohl. Im direkten Gespräch musste er doch aufgeschlossener sein als über eine hallende Telefonverbindung, bei der seine Stimme wie aus weiter Ferne geklungen hatte. Außerdem war er der bedeutendste australische Rockmusiker seiner Zeit. Man konnte ihn nicht ignorieren.

Cave war in der Stadt, um aus seinem lang erwarteten Roman zu lesen, der zu dem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war und erst 1989 unter dem Titel Und die Eselin sah den Engel veröffentlicht wurde. Er nannte sich aber bereits „eher einen Schriftsteller“1 und lehnte Rockmusik wegen ihrer Niveaulosigkeit und des wie Pawlowsche Hunde konditionierten Publikums ab.2

Man hatte mir die Adresse eines Lagerhauses gegeben, das sich in einer Gasse direkt hinter der Oxford Street befand, Sydneys alternativem und bohemehaftem Schwulenviertel. Cave hatte sich darin offenbar mit einer Freundin oder einem Dealer oder einem kriminellen Bekannten vergraben – die Gerüchte waren vielfältig und hingen vom jeweiligen Gesprächspartner ab. Um Cave rankten sich immer Gerüchte, jede seiner Aktivitäten wurde begierig aufgesogen und ausführlich in Sydneys einschlägigen Kreisen diskutiert. Sonst sorgte nur Michael Hutchence so zuverlässig für Wirbel. Ihre Anwesenheit schien sich geradezu wellenförmig von dem Moment an durch die Stadt zu verbreiten, in dem das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzte und sie halb im Verborgenen unsere abgeschirmte kleine Welt betraten.

Als ich an einem Sonntagnachmittag an die Tür einer alten Garage klopfte, wurde ein Schlüssel auf die Straße geworfen, begleitet von einem vage vertrauten Rufen, das irgendwo über mir ertönte. Während ich aufschloss, hörte ich Schritte auf dem Holzboden im Obergeschoss und das Knarzen einer Falltür. Eine Leiter wurde polternd zu mir heruntergelassen, und über mir stand Nick Cave im Gegenlicht. Wie eine gruselige Gestalt in einem B-Movie über einen Journalisten, der einen furchteinflößenden Rock-Vampir interviewen soll, bedeutete er mir, nach oben zu kommen. Ich schluckte und machte mich auf den Weg zu Nosferatu.

Sobald ich durch die Öffnung geklettert war, schlug die Atmosphäre sofort um. Cave war ein beflissener Gastgeber, während eine junge Frau, die ich für seine Freundin hielt, ihn herumscheuchte, als wäre ich gerade in eine Gothic-Version der britischen Sitcom George and Mildred geraten. „Hol Mark etwas zu essen, Nick“, befahl sie knapp. Eine große Platte mit liebevoll angerichteten Weintrauben, Litschis, Melonen und Äpfeln wurde mit großer Geste vor mir abgestellt.

Als Cave sich gerade hinsetzen und sich etwas von dem Essen nehmen wollte, fragte seine Freundin: „Hast du Mark Kaffee angeboten, Nick?“ Wieder stand er auf, steif und mit gespielt düsterer Miene. Er ging zu einem alten Metalltrichter, der an einer hölzernen Werkbank befestigt war, schüttete Kaffeebohnen hinein und drehte langsam die Kurbel: „Mahlen, mahlen, mahlen, das ist die Geschichte meines Lebens.“

Eine Auswahl teuren Gebäcks wurde mir ebenfalls serviert, und ich dankte dem Paar für seine überraschende Gastfreundschaft. Cave fragte mich, warum ich so überrascht sei. Eine ausweichende Antwort schien mir taktisch unklug, weshalb ich seine Fürst-der-Finsternis-Aura ansprach und seinen Ruf, Journalisten schlecht zu behandeln. „Wer sagt das?“, fragte er ein wenig angesäuert. „Nun, der NME …“, begann ich und bezog mich dabei auf das damals einflussreiche britische Musikmagazin, den New Musical Express. „Der NME!“, knurrte er und mahlte die Bohnen mit mehr Nachdruck. Seine Freundin sah zu mir und sagte: „Hör bloß damit auf.“ Ihm rief sie beruhigend zu: „Nick, schon gut …“ Cave mahlte weiter, ließ seinen Ärger an den Bohnen aus. „Der NME!“

Schließlich kam er mit einer großen silbernen Kanne voll dampfendem Kaffee zurück. Auf einem silbernen Tablett stand feines Porzellan bereit. Beim Einschenken schweiften seine Gedanken allerdings ab, der Kaffee floss langsam aus der Kanne um die Tassen, der Kreis wurde immer größer, das Tablett füllte sich mit der schwarzen Flüssigkeit wie ein Swimmingpool, bis Nick wieder in die Gegenwart zurückkehrte und letztlich auch die Tassen traf. Nach vollbrachter Tat fragte er mich mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte: „Milch oder Zucker?“

Die nächsten zweieinhalb Stunden des Interviews verliefen ähnlich. Jede Frage schien Cave riesige Konzentration abzuverlangen, unterbrochen von regelmäßigen Pausen und nur Sekunden dauernden Schlafmomenten. Seine zuweilen dünne und brüchige, manchmal aber auch sonore und selbstbewusste Stimme wirkte hypnotisch. Ich fühlte mich haltlos, wusste nicht, was ich tun oder wie ich mich verabschieden sollte. Ich glaube, das Gespräch endete nicht, es verblasste. Irgendwann waren wir alle unendlich entspannt, und ich schlich mich durch die Bodenklappe nach unten.

Auch bei diesem Interview mit Nick Cave hatte ich das Gefühl, versagt zu haben, trotz seiner großen Bemühungen, mir entgegenzukommen. Vor allem lag es daran, dass ich nicht genau wusste, wie ich unser Treffen zusammenfassen sollte. Mir graute auch davor, die Tonbänder zu transkribieren, was mich noch viel mehr Zeit als das eigentliche Interview kosten würde.

Zwei Abende später stand Cave auf der Bühne des Mandolin Cinema im Stadtteil Surry Hills in Sydney und las aus seinem Buchmanuskript, begleitet von atmosphärischer Musik, die zusammen mit seiner Stimme immer lauter und leiser wurde und eine angemessen bedrohliche und traumartige Atmosphäre erzeugte.3 Als perfektes Abbild des „Black Crow King“ (einer von vielen typischen Songs, in denen er sich auf sich selbst bezieht und die zu dem ihn umgebenden Mythos beitragen, trotz der darin enthaltenen satirischen Seitenhiebe auf sein Image und dessen Anhänger) kam Cave nicht einfach auf die Bühne, sondern ging stolpernd und wankend, als hinge er an unsichtbaren Fäden. Irgendwann fiel er auch von der Bühne. Dennoch war das Kino bis zum letzten Platz mit seinen Fans gefüllt, zwei Abende hintereinander war die Vorstellung ausverkauft. Es gelang ihm, die Stimmung seines fast vollendeten Werks in den Raum zu übertragen, eines glaubwürdig wirkenden Romans voll schwarzem Humor in der Tradition von William Faulkner.

Als ich 1994, sechs Jahre nach diesen beiden Lesungen und unserem Treffen in dem Lagerhaus, das nächste Mal mit Cave sprach, hatte sich das Blatt gewendet. Wir telefonierten. Er lebte zu der Zeit in Brasilien, in São Paulo, und war – zumindest nach außen hin – völlig clean. Für mich war es früher Morgen. Sehr früh. Leider hatte ich mich am Abend zuvor von meiner Freundin getrennt, war die ganze Nacht unterwegs gewesen und gerade rechtzeitig zur Tür hereingestürzt, um Caves Anruf entgegenzunehmen. Zum Glück hatte ich mich am Tag zuvor auf das Interview vorbereitet. Als Cave mich fragte, wie es mir ginge, erzählte ich ihm alles: Dass ich die ganze Nacht herumgelaufen sei, viele Gedanken und Gefühle gewälzt hätte, ein langer, chaotischer, emotionaler Vortrag. Zum Schluss sagte ich, ich wäre begeistert von seinem neuen Album, Let Love In, und fragte ihn, ob er in São Paulo eine Lieblingsspazierroute habe.

Cave schwieg lange, knurrte leise – und dann redeten wir. Es war ein großartiges Interview, und ich mochte ihn sehr. Er schien meinem „Zustand“ gegenüber völlig unvoreingenommen zu sein; tatsächlich war er sehr höflich und auch ein wenig amüsiert. Meine erste Frage beantwortete er folgendermaßen: „Meine Lieblingsstrecke gehe ich jeden Tag, sie führt zu meiner Stammkneipe hier im Viertel. Aus der Tür, die Straße entlang, an dem Schrottplatz mit den Hühnern und dem alten Hund vorbei. Einen steilen Hügel hinauf zu meiner Lieblingsbar San Pedro’s. Dort arbeitet ein riesiger Barkeeper, der fetteste Mann, den ich je gesehen habe. Die Einheimischen reden von ihm immer als dicke Frau, aber er ist ein Mann mit einem Schnurrbart. Für mich sieht er eher wie ein riesiges Baby aus. Dort sitze ich, lese, trinke und denke über den Sinn des Lebens nach. Dann gehe ich wieder hinunter zu meiner Wohnung.“

Ein paar Jahre später, 1997, traf ich Cave erneut, in einem recht sterilen Raum mit Neonbeleuchtung beim Label Festival Mushroom in Sydney. Cave erinnerte sich an mich, doch er war seltsamer Stimmung und – das wird mir nachträglich klar – hochgradig verletzlich, nachdem The Boatman’s Call kurz vor der Veröffentlichung stand, ein rohes und selbstentblößendes Album rund um die Trennung von ihm und seiner brasilianischen Freundin Viviane Carneiro sowie eine schmerzhafte Affäre mit PJ Harvey. Nichts von alldem war zu dem Zeitpunkt allgemein bekannt. Ich fragte ihn trotzdem, fast beiläufig, ob die Liebe einer anständigen Frau seiner Meinung nach einen Mann erlösen könne. Die Frage schien sich aus den Songtexten und Anspielungen auf dem Album zu ergeben. Cave sah mich an, als sei ich ein absoluter Vollidiot, dann blickte er zu der weißen Wand, als sei er selbst ein hoffnungsloser und gottverlassener Fall. „Wie zum Teufel soll ich das wissen?“, sagte er. Dann sah er wieder mich an und wartete auf die nächste Frage.

Über zehn Jahre nach dieser Begegnung begann ich, an einer Biografie über ihn zu arbeiten. Biografien sind seltsame Geschöpfe, bei denen man etwas nicht vernachlässigen darf, was bereits die Künstler der italienischen Renaissance wussten: Dass der Maler bei einem Porträt nämlich auch immer ein Stück weit sich selbst malt.5

2010 trafen Nick und ich uns in seinem Büro in Brighton and Hove, um über das Projekt zu sprechen. Man hatte mir gesagt, er würde ein paar Stunden für mich erübrigen können. Wir verbrachten die nächsten drei Tage mit intensiven Gesprächen und trafen uns auch in den folgenden Jahren oft auf Tour, telefonierten und schrieben E-Mails. Unser erstes Treffen vor seinem Büro fand an einem sehr warmen Tag statt, das weiß ich noch. Der Strand war so nah, dass ich die Wellen auf die Steine schlagen hörte. Ich trug ein neues Paar Havaianas-Flipflops in „Brazilian Blue“, die ich mir als Glücksbringer für diesen ersten Termin gekauft hatte. Nick bemerkte sie sofort. „Tolle Farbe! Meine sind pink. Ich werde sie morgen anziehen.“

Er war guter Laune und sprühte vor Kreativität und der momentanen Begeisterung für das Werk der amerikanischen Lyriker John Berryman und Frederick Seidel. Später beschäftigte ich mich eingehender mit Berryman. Sein Spiel mit diversen Identitäten faszinierte mich und wie er sich selbst durch Schauspieler hinterfragte, die Variationen seiner eigenen Persönlichkeit repräsentierten. Seidel war völlig anders, bewegte sich fordernd und privilegiert, wild und liedartig durch die Welt. Es war leicht nachzuvollziehen, warum Nick sich von diesen literarischen Stimmen angesprochen fühlte. Er legte mir nahe, mich mit Jerome Rothenberg auseinanderzusetzen, dessen Gedichtsammlung Technicians of the Sacred ein Referenzwerk für ihn geworden war. Sie enthielt schamanistische Rituale und Gesänge aus aller Welt sowie deren zeitgenössische Äquivalente. Die radikalen Logiksprünge, die alles durchziehende Magie, die Konzentration auf Klang als Ausdruck von Sinn oder Empfindung (im Gegensatz zu Sprache) schwingt in allem mit, was auf Push The Sky Away folgte. Beim Schreiben sehe ich vor mir, wie Rothenbergs Werk Nicks Auffassung von Musik und Sprache geändert hat, wie es die spirituelle Reise beeinflusst hat, auf der zusammen mit Warren Ellis und den restlichen Bad Seeds Ghosteen entstanden ist.

Am zweiten Tag unserer gemeinsamen Zeit in Brighton gingen wir nach oben in die Wohnung der Familie – ein seltener Vertrauensbeweis. Während Nick Anrufe beantwortete, fragte mich seine Frau Susie Bick, ob ich Hunger habe. Sie machte mir ein Sandwich zum Mittagessen und bot mir dann Tee und Kekse an, nach denen sie im Kühlschrank suchte. Susie strahlte eine aristokratische, fast schon nervöse Energie aus, die mir exzentrisch, verletzlich und gleichzeitig wild vorkam, irgendwie nicht von dieser Welt. Dass sich Susie die Mühe machte, die Kekse für mich zu suchen, fand ich besonders nett und aufmerksam. Und auch wenn sie nicht für die Biografie interviewt werden wollte, mochte ich sie, weil sie mich bei sich zu Hause willkommen hieß. Andere wären an ihrer Stelle zurückhaltender oder misstrauischer gewesen.

Nick erzählte mir später, dass Susie die Angewohnheit hatte, regelmäßig die Möbel umzustellen. Wenn er aus London oder von einer Tour zurückkam, selbst nach einem Abend außer Haus, konnte es vorkommen, dass er das Wohnzimmer und den Fernseher nicht mehr fand. „Manchmal verlegt sie das ganze Schlafzimmer, und ich muss danach suchen.“ Er zuckte mit den Schultern und schien es hinzunehmen. „Ich habe es in einem Song verarbeitet. Die Leute glauben, ich hätte mir da irgendein poetisches Bild einfallen lassen. Dabei habe ich nur eine nüchterne Tatsache beschrieben.“

Im Erdgeschoss wohnte ein Mann, dem Nick erst kürzlich beim Entrümpeln geholfen hatte. „Er war wie diese Menschen in den Fernsehsendungen, die Unmengen Sachen anhäufen. Messies.“ Man hatte die Wohnung kaum betreten können. Das Gerümpel hatte sich schon im Hausflur gestapelt. Nick konnte den Mann überreden, einige alte, rostige Fahrräder aufzugeben und noch einiges andere von dem gehorteten Krempel. Man musste den armen Typen nur bestärken und ermutigen. „Ich habe ihm gesagt, komm schon, du kannst das.“ Nick lachte. „Ich weiß, dass er die Wohnung wieder vollmüllen wird, und in einem Jahr werde ich ihm wieder beim Entrümpeln helfen.“

Vielleicht machte der Ruhm auch in seinem Leben ein ebenso radikales Aufräumen notwendig. Ich sah, wie vehement manche Menschen sich an Nick hängen wollten, und wie verletzt und wütend sie sein konnten, wenn es ihnen nicht gelang. Ich definierte so gut wie möglich meine eigenen Regeln zu Nähe und Distanz, da es mir peinlich war, wie manche Menschen sich erniedrigten, ja sogar entmündigten, nur um in seiner Nähe zu sein.

Für mich als Biograf hatte ich unser schwer in Worte zu fassendes Verhältnis als eine Art Arbeitsfreundschaft eingeordnet. Mir war klar, dass die Freundschaft wahrscheinlich einschlafen würde, sobald die Arbeit getan war. Mit diesem Dilemma ließ Nick die Menschen zurück, nachdem ihre Lebensgeschichte in den Windschatten seines eigenen Lebens gesogen worden war und sich immer daran und an den dazugehörigen Songs messen lassen musste. Ich schwor mir, diese fatale Bindung zu vermeiden. Natürlich ist es aber nie so einfach, wenn man Menschen erst einmal besser kennt. Zurückhaltung zu üben kann verwirrend sein, vielleicht sogar heuchlerisch. Sich zu öffnen allerdings auch.

Am dritten Tag gingen Nick und ich nach der Schule mit seinen zehnjährigen Zwillingen Arthur und Earl Pizza essen. Wie viele Väter, die zu Hause arbeiten, schien Nick eine sehr enge Bindung zu seinen Kindern zu haben und aktiv in ihr Leben involviert zu sein. Earl war ruhiger und schüchterner und kam mit seiner zarten Art eher nach Susie. Arthur sah zwar zerbrechlich aus, ähnelte aber eher Nick und war sehr lebendig. Er interessierte sich fürs Zaubern und führte gern Dinge vor, zum Beispiel einen beeindruckenden Seiltrick. Selbst als er mir zeigte, wie das theatralische und schnelle Entwirren funktionierte, war mir nicht klar, wie er es geschafft hatte. Arthur erklärte es mir noch ein paarmal, doch auch dann verstand ich die Auflösung nicht. Schließlich brachte Nick ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und sagte: „Ich glaube, dein Geheimnis ist hier in England sicher, Arthur. Mark wird den Seiltrick nicht mit zurück nach Australien nehmen können.“

Im Sommer 2013 steckte ich mitten in der Arbeit an der Biografie. Nick und ich trafen uns in Melbourne im Haus seiner Mutter Dawn. In der Abenddämmerung gingen wir mit seinen Söhnen in einen nahegelegenen Park. Die Jungen fuhren abwechselnd mit einem Skateboard. Earl schien mir der geschicktere Skateboarder zu sein, doch Arthur rollte langsam um einen schwach beleuchteten Pavillon, während Earl immer wieder aufs Geländer kletterte und ihn mit einer professionell aussehenden Videokamera filmte. Nick rief den beiden zu, sie sollten vorsichtig sein. Sie erklärten ihm, sie wollten den Eindruck erwecken, Arthur schwebe wie ein Vogel oder wie in einem Traum, deshalb dürfe das Skateboard nicht auf der Aufnahme zu sehen sein.

Der Tod des fünfzehnjährigen Arthur, der am 14. Juli 2015 von einer Klippe stürzte, war eine furchtbare Tragödie für Nick und Susie und Earl und alle anderen Angehörigen. Mein Biografieprojekt war schon lange aus dem Ruder gelaufen, da mich die Menge, Qualität und Tiefe von Nick Caves Veröffentlichungen überwältigten. Ich schrieb an einem aufgebauschten und endlosen Monster von Moby-Dick-artigen Ausmaßen. Mein ursprüngliches Konzept hatte ein konventionelles chronologisches Vorgehen und die sieben Leben einer Katze umfasst, aber auch eine symbolische Grundstruktur auf der Basis von Miltons Das verlorene Paradies, auf das sich Nick wiederholt mit Anspielungen wie „die rote Hand“ Gottes bezogen hatte.6 Ich sah viele deutliche Parallelen: Gott verbannt den Rebellen Satan aus dem Himmel (Nick wurde von seinem Vater aus dem Haus in Wangaratta verbannt). Der gefallene Engel versammelt seine dämonischen Heerscharen und erschafft das Pandämonium (Nick lernt die Mitglieder von The Boys Next Door kennen, und der Crystal Ballroom in St. Kilda schweißt sie zusammen). Satan dringt in den Garten Eden ein und übt verheerende Rache (Nick geht nach England, in die Wiege der Kultur, um diese zu attackieren). Solche Verbindungen waren lose und zufällig, aber auch in Liedform dokumentiert, als hätte Nick die ganze Zeit seine eigene Mythologie erschaffen und manifestiert. Was er natürlich auch getan hatte.

Nach Arthurs Tod hatte Nick das Gefühl, sich grundlegend gewandelt zu haben. Es gab nur ein Davor und ein Danach. „Ich bin jetzt ein anderer Mensch“, sagte er ein paarmal zu mir. Seiner Auffassung nach wurde dadurch alles, was er in unseren Gesprächen gesagt hatte, „völlig unerheblich“.

Unsere Kommunikation versandete. Ich war mit meinem eigenen chaotischen Leben beschäftigt, da zu dem Zeitpunkt meine großen Milton-artigen Pläne für eine Megabiografie über Nick Cave kollabiert waren. Nick war während meines Absturzes die ganze Zeit nett und verständnisvoll, zeigte sich besorgt um mein Wohlergehen und bestärkte mich, wieder auf die Füße zu kommen. Außerdem bot er mir gut gelaunte Konversation sowie ein bisschen wohldosierten Pragmatismus. Unser gemeinsamer Weg sollte sich allerdings bald trennen, was mir von Anfang an bewusst gewesen war. Die Reise war zu Ende.

Ich jammerte, dass ich ja trotz allem eine fast fertige Biografie hatte, das Porträt des Künstlers als jungem Mann und seiner vielversprechenden Zukunft. Ein Buch, das – mit ein wenig zusätzlicher Arbeit – angesichts der Ereignisse sogar noch wichtiger wäre. Es beschäftigte sich mit Nick Caves Kindheit und Jugend, von Wangaratta bis zur Bühne des Crystal Ballroom in Melbourne, mit den Landschaften, Büchern, Künstlern, Beziehungen und Freundschaften, die ihn geformt hatten und auf die er sich regelmäßig in seinen Songs, Büchern, Gedichten und Filmen bezog. Ich glaube, diese Jugend in Australien, diese australische Identität ist tief in ihm verwurzelt. Meiner Meinung nach spielt auch das Paradoxe am „Australisch sein“ hinein: Wir unterschätzen und verbergen, ignorieren sogar, wer wir sind, während wir verzweifelt nach internationaler Bestätigung suchen und dabei unsere eigene Geschichte aus dem Blick verlieren und vergessen. Je älter wir allerdings werden, desto mehr erkennen wir, wie essenziell unsere Herkunft für den Menschen ist, zu dem wir geworden sind und zu dem wir noch werden können.

In dieser Biografie soll an diese Welt erinnert werden. Nicht nur Nick Caves Kindheit und Jugend sollen behandelt werden, sondern auch die damit verbundenen Erinnerungen und Geschichten der Menschen aus seinem Umfeld. Das Leben eines Jungen, der für alles brannte, was er in sich aufgesogen hatte, um einer unserer dunkelsten und schließlich einer der strahlendsten Rockstars zu werden. Strahlend genug, um für andere zu leuchten.

Teil I The Rider

Such Is Life Melbourne & Sydney 2007

Zu wenig, zu spät“, sagt er. Nicholas Edward Cave ist gerade fünfzig geworden, und alter Groll spricht aus ihm.1 Sein Wagen fährt an der Ampel an, weiter die Fitzroy Street in St. Kilda entlang, sein früheres Revier. Das silbrige Licht der aufziehenden Dämmerung legt sich über den Berufsverkehr von Melbourne, und er sieht zur Port Phillip Bay am Ende der Straße, als könne er in dieses Silber fahren und verschwinden.

Es ist der 28. Oktober 2007, und Nick Cave wird nach Sydney fliegen, um in die Hall of Fame der Australian Record Industry Association (ARIA) aufgenommen zu werden. Er selbst nennt es „den siebten Kreis der Hölle“ sowie „eine schlechte Party, von der man nicht flüchten kann. Seien wir ehrlich, es ist eine Strafe.“2 Einen Moment überlegt er, den Wagen anzuhalten und über die Fitzroy Street davonzulaufen. Die ARIA Awards! Er lässt den Kopf mit einem dumpfen Geräusch gegen das Fenster fallen, als hätte er Kopfschmerzen. „Himmel, ich würde mir lieber irgendwo einen Kebab holen.“3

Die Einzigen, mit denen er in diesem australischen Rockwalhalla, zu dem man ihn verurteilt hat, in Verbindung gebracht werden möchte, sind The Saints und AC/DC, schätzt er. Außerdem natürlich Michael Hutchence, „ein wunderbarer Typ“, doch Caves Freundschaft mit ihm hatte nichts mit Halls of Fame oder Musik generell zu tun, zumindest nichts mit INXS, darüber waren sie sich unausgesprochen einig. Sie verband etwas anderes. Etwas Brüderliches, das nur Menschen mit denselben Erfahrungen nachempfinden konnten. Zugedröhnt hatten sie ganze Nachmittage miteinander verbracht und versucht, ihr Leben in den Griff zu bekommen, aber auch Spaß zu haben. Morgens hatten sie oft ihre Kinder mit in den Park genommen, Nick seinen Sohn Luke, Michael seine Tochter Tiger Lily. In London kauften sie 1995 zusammen dasPortobello Café, das nie Gewinn machte. Zwei Jahre später hinterließ Michael ihm Nachrichten, so verrückt, so lustig, in der Rückschau eine verzweifelte Suche nach Kontakt. Michaels Stimme auf dem Anrufbeantworter, die sagt: „Ich komme nach Sydney und schaue mir die Bad Seeds an, Nick. Ich werde in der ersten Reihe stehen und euch mit faulem Obst bewerfen.“ Nick hat noch immer das alte Tagebuch, in dem er sich die Hotelnummer notiert hatte, zusammen mit dem Vermerk, Michael in Sydney zurückzurufen.5 „Frag nach Murray Rivers Zimmernummer“, hatte Hutchence lachend gesagt.6

November 1997. Zehn Jahre zuvor. Es war ein schrecklicher Monat. Kevin „Epic Soundtracks“ Godfrey, der frühere Schlagzeuger von Swell Maps, Crime And The City Solution und These Immortal Souls, schaltete die Lichter in seiner Wohnung in West Hampstead aus und wachte nicht mehr auf. Nick zuckt mit den Schultern, so gut hatte er Epic nicht gekannt. „Und um ehrlich zu sein, ich war nie ein großer Fan seiner Musik, aber von mir geschätzte Leute haben ihn sehr gemocht, das musste ich respektieren.“ Epic starb im Schlaf, mit Kokain und Heroin im Blut, die Autopsie ergab keine klare Todesursache. Nick erreichte die Nachricht über gemeinsame Freunde, darunter der Bad-Seeds-Kollege Mick Harvey und der Sänger Dave Graney, die Epics Tod beide sehr traf, zusammen mit der Ungewissheit, ob es seine Entscheidung oder einfach nur großes Pech gewesen war.

Ein paar Wochen später starb Michael Hutchence in einem Fünf-Sterne-Hotel in Double Bay, Sydney, unter ebenso mysteriösen Umständen. Nick schrieb einige Songtexte, nachdem er von Michaels Tod erfahren hatte: „Adieu, adieu, kind friends adieu, I can no longer stay with you …“ Die Worte stammten aus einem südwestenglischen Lied aus dem achtzehnten Jahrhundert namens „There Is A Tavern In The Town“, der Klage einer Frau, die sich wegen der Gefühllosigkeit ihres Liebhabers das Leben nehmen will. In Teilen findet sich der Text auch in „The Drunkard’s Song“ wieder. In Nicks Tagebuchversion sind einige Zeilen umgeschrieben, sodass die Stimme des Erzählers unsicher zwischen dem Mitgefühl eines Method Actors für das Geschehen und der neutralen Betrachtungsweise eines Erzählers schwankt.7

Wer hätte gedacht, dass Nick der gute Einfluss in dieser Freundschaft gewesen war, derjenige, der zu schwimmen lernte, während Michael unterging? „Ich mochte Michael sehr. Er war so leidenschaftlich. Michael hatte etwas Wahrhaftiges an sich, das wirklich beeindruckend war. In der Zeit, in der ich ihn kannte, machte er eine sehr schwere Phase durch, wurde Tag und Nacht von der englischen Presse gejagt. Er konnte sich keinen Millimeter bewegen. Das wahre Ausmaß wurde mir erst klar, als wir gemeinsam in einen Club gingen. Der Einlass war kein Problem. Doch als wir gingen, waren überall Paparazzi. Jemand schubste mich, aufgebracht rempelte ich zurück. Michael zog mich weg. Dann gingen wir. Er sagte zu mir: ‚Tu das nicht, das ist Zeitverschwendung.‘ Was sie Michael angetan haben, war kriminell. Sie haben ihn in den Tod getrieben.“

Es waren weder die ersten noch die letzten Menschen in Nicks Leben, die unerwartet diese Welt verließen. Bei weitem nicht. Seit sein Vater Colin bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, hatte Nick gelernt, mit den Toten zu leben. Der Unfall ereignete sich am ersten Sonntag des Jahres 1979, nur ein paar Monate nach Nicks einundzwanzigstem Geburtstag. Er brauchte lange, um zu akzeptieren, wie sehr ihn der Tod seines Vaters getroffen hatte, sagt Nick, „um mich damit auseinanderzusetzen oder ihn überhaupt zu begreifen“. Zwischen seiner trauernden Mutter und der Aufregung, ein Jahr später im Februar 1980 mit seiner Band The Boys Next Door nach London zu ziehen, hatte Nick seine eigenen Gefühle beiseitegeschoben. Er erkannte erst später, wie sehr der Verlust seines Vaters etwas verstärkt hatte, das bis in seine Kindheit in Wangaratta zurückreichte. Weniger die Stadt an sich, sondern die Art und Weise, wie er sie in Erinnerung behielt und schließlich mythologisierte. Eisenbahnschienen, den Schlachthof, den Fluss, in dem er geschwommen war, und die Weiden am Ufer hatte er in Songs wie „Red Right Hand“ und „Sad Waters“ verarbeitet, ein reales und doch in der Fantasie verändertes Land, William Faulkners Yoknapatawpha County nicht unähnlich.8

Als wolle er die ländliche Schaueratmosphäre aus einem Roman von Faulkner oder Flannery O’Connor heraufbeschwören, hatte Nick als Kind sogar eine Leiche gefunden. Ein Bewohner des Altenheims war in seinem Schlafanzug zum Flussufer spaziert und hatte sich dort für ein Schläfchen in den Schatten gelegt. Für den zwölfjährigen Nick und seine Freunde war es der Höhepunkt des Tages, als sie mit ihren Fahrrädern auf der Straße standen und zu der leblosen Gestalt herabblickten. Sie redeten aufgeregt durcheinander, bis einer der Jungen die anderen zum Schweigen brachte: „Habt ein bisschen Respekt vor einem Toten, sagte er. Daran erinnere ich mich gut.“ Nick konnte es gar nicht abwarten, seiner Mutter von der Entdeckung zu erzählen. „Sie war überhaupt nicht begeistert über die Art, wie die Polizei mit uns gesprochen hatte. Die Polizisten hatten zu uns gesagt, wir sollten uns verpissen, als sie am Fluss eintrafen.“

Nick Caves alter Freund, der Fotograf und Journalist Bleddyn Butcher, fährt ihn heute zum Flughafen von Melbourne, damit Nick rechtzeitig zur ARIA-Gala kommt. Bleddyns schwarzer Anzug und seine Cowboykrawatte passen zu dem wachen Gesicht und den zerzausten weißen Haaren, seine gesamte Erscheinung erinnert entfernt an einen Richter aus einer Grenzstadt in Tennessee. Der außergewöhnlich lange Nagel seines rechten kleinen Fingers ist nicht nur praktisch für das Gitarrespielen, er hat auch einen fernöstlichen Anklang und vermittelt den Eindruck eines kultivierten Mannes, der keine körperliche Arbeit verrichten muss. Harvey Keitels Figur im Film Taxi Driver, den Nick als Teenager über alles geliebt hat, hat einen ähnlich langen Fingernagel, der rot lackiert ist und mit dem er unterwegs bequem Heroin schnupfen kann.

Butcher ist ein Mann von fast schon wütender Intelligenz und herzlicher, als solche Assoziationen vermuten lassen. „Ich glaube, ich kann Nick als Freund bezeichnen“, sagt er später zu mir und berührt dabei seine Brust. „Ich denke schon. Ich fühle es in meinem Herzen.“9 Der in London geborene und in Perth aufgewachsene Butcher hat Nick seit 1980 für den NME fotografiert, seit dieser mit The Birthday Party nach London kam, und in den späten Neunzigerjahren ein offizielles Nick-Cave-Fanzine namens The Witness herausgegeben. Er kann mit Fug und Recht behaupten, Nicks Arbeit wirklich zu kennen. Im Gegensatz zu vielen anderen in Nicks Umfeld sagt er offen seine Meinung, was Nick trocken kommentiert: „Man geht nicht zu Bleddyn und möchte eine Antwort, wenn sich etwas gerade in einem sensiblen Stadium der Entstehung befindet.“

Jetzt ist Bleddyn Butcher zurück in Melbourne und fährt den „Dunklen Lord“ (wie er Nick gern nennt) wieder durch die Gegend. Er amüsiert sich darüber, dass sein Freund erst 2001 in Großbritannien den Führerschein gemacht hat, wo Cave bis heute noch lebt, in Brighton and Hove an der Südküste Englands. Den Führerschein könnte man als weiteres Symbol für Nicks cleanen Lebensstil interpretieren. Seien wir mal ehrlich, in den Achtzigerjahren hätte man den Dunklen Lord ganz sicher nicht gern hinter dem Steuer eines Wagens gesehen. Bleddyn zieht nur eine Augenbraue hoch und bemerkt: „Nick lässt sich beim Fahren immer noch leicht ablenken, wenn er sich mit einem unterhält.“10

Bleddyn hatte Nick bei dessen Mutter abgeholt, wo er mit Dawn Cave bei Tee und selbstgebackenen Käsescones saß, während ihr Sohn seine Taschen packte. Der schlagfertige Wortwechsel zwischen Mutter und Sohn hatte etwas Komisches an sich: Nicks ergebenes „Ja, Mum“, Dawns trockene Entgegnungen, die spürbare Zuneigung zwischen den beiden, die einen in ihren Bann zieht, wenn sie zusammen sind. Bleddyn war überrascht von etwas, mit dem Nicks Schaffen selten assoziiert wird, was sich aber durch seine Songs und die Art, wie er sie singt, zieht: Zärtlichkeit.

Dawn Cave ist erleichtert und glücklich, dass ihr Sohn nach all den aufreibenden Jahren „so schön zur Ruhe gekommen“ ist mit seiner englischen Frau Susie, einem früheren Model und Vivienne-Westwood-Muse. „Und er ist den Zwillingen Arthur und Earl ein so guter Vater. Nicks Dad Colin wäre so stolz auf ihn“, sagt sie später in einem Interview. „Und Nick nimmt keine Drogen mehr.“ Dawn legt ihre Hände wie bei einem unbewussten Gebet aneinander, als sie darüber nachdenkt. Die Beziehung zu Susie hatte letztlich den Ausschlag gegeben: „Ich glaube, sie haben sich gegenseitig gerettet. Ich hätte tanzen und springen können vor Erleichterung und Freude, als Nick mir damals zum ersten Mal erzählte, dass er einen Entzug machen wird. Da wusste ich noch nicht, wie hart und lang der Weg werden würde, aber ich werde mich immer an dieses erste Mal [1988] erinnern. Endlich, dachte ich, endlich.“11 Zehn Jahre und vier Entzugskliniken später kam schließlich Susie Bick ins Spiel. Endlich.

Dawn winkte Nick und Bleddyn zum Abschied zu und verriegelte die Haustür. Nick hatte ihr am Abend zuvor erzählt, dass ein paar alte Freunde ihn wegen einer Ausstellung über sein Leben und Werk aufzogen, die in einer Woche in Melbourne eröffnet werden sollte. Passenderweise – „und mit aller gebotenen Bescheidenheit“, wie er sagt – hieß sie Nick Cave: The Exhibition.12 Fahnen mit seinem Porträt flattern bereits vor dem Arts Centre im Zentrum der Stadt. Zusammen mit der Aufnahme in die ARIA Hall of Fame an diesem Abend trägt sie zu dem eher uncoolen Eindruck bei, dass der frühere Punk und wilde Mann der australischen Rockszene institutionalisiert und gezähmt wurde.

Es hagelt abfällige Kommentare, manche sind ziemlich bissig. Nicks Ex-Freundin und erste große Muse, Anita Lane, wird mit den anderen bei der Eröffnung sein, von Raum zu Raum gehen, ihn schief anreden und Nick Cave: The Exhibition mit Wimmelbildern vergleichen.

Anita Lane. Sie hatte Nick immer aufrütteln können. Alte Freunde nennen sie manchmal „seine erste Ehefrau“. Die Narbe auf Nicks Wange, für die sie vor zwanzig Jahren verantwortlich war, ist fast nicht mehr zu sehen. Er berührt sie unbewusst, als sie im Stau stehen und Bleddyn den Wagen schrittweise vorwärtsbewegt. Die Fitzroy Street in St. Kilda erinnert ihn an sie, vor allem in Verbindung mit dem vor ihm liegenden Abend. Hier hatte ihr gemeinsamer Weg in den späten Siebzigerjahren seinen Anfang genommen, mit Kunst, Musik, aber auch Heroin, und sie durch die ganze Welt geführt, nach London, West-Berlin und in ein paar andere Städte. Auf dem Cover von Tender Prey (1988) sieht die Narbe so frisch aus wie ein Schmiss von einem Fechtduell. Der Verursacher war allerdings ganz prosaisch ein Obstmesser, ein häuslicher Zwischenfall am helllichten Tag in West-Berlin, als Anita auf ihn losging und dabei seine Wange erwischte. Nick hatte unklugerweise beschlossen, die Beziehung ein für alle Mal zu beenden, und ihr gesagt, er habe eine neue Freundin. Sie fanden dann aber wieder zueinander, und die Beziehung holperte noch ein weiteres Jahr vor sich hin.

Amphetamine konnten einen damals ganz schön aus dem Gleichgewicht bringen. Die Drogen, die aus dem Osten in die Stadt kamen, waren von höchster Qualität. Speed machte die halbe Stadt verrückt und richtete bei vielen Menschen enorme Schäden an, während um sie herum die Mauer fiel und Deutschland wiedervereinigt wurde. In der Nacht des 9. Novembers 1989 hörte Nick die Rufe der Menge auf der Straße, während er und die Bad Seeds in den Hansa Studios arbeiteten. Er verbot der Band, nach draußen zu gehen und dem Treiben zuzuschauen, erlaubte ihnen nur die Nachrichten im Fernsehen. Wobei die Band auch kein so fürchterlich großes Interesse hatte. Wie viele West-Berliner glaubten sie, dass die Leute aus dem Osten einen schlechten Einfluss auf die Stadt ausüben würden, als sie die Mauer durchbrachen und von Freiheit sangen – natürlich –, aber vor allem Jeans, Cola und Bananen kaufen wollten, wie Nick sagt. Für ihn war es Zeit, das Album fertigzustellen – und ein für alle Mal aus der Stadt zu verschwinden. Dass er diversen Dealern Geld schuldete, war ein zusätzlicher Antrieb, aus West-Berlin wegzugehen, während alles im Umbruch war.

Seit seinem Weggang aus Australien hatte Nick bewusst im Exil und wie auf der Flucht gelebt. Nachdem er Melbourne, London und West-Berlin verbraucht hatte, wählte er São Paulo in Brasilien als nächsten Hafen, nach einem gerichtlich angeordneten Abstecher, seinem ersten, in eine Entzugsklinik in England. Ende 1988 hatte er auf Tour in Brasilien seine neue Freundin kennengelernt, Viviane Carneiro, und war frisch von der dortigen Kultur inspiriert worden. Brasilien wurde schnell zu seiner neuen Heimat und gab seiner Musik eine andere Richtung. The Good Son war dort aufgenommen worden, und er hatte sich Ende 1989 nur nach West-Berlin zurückgeschlichen, um das Album in den Hansa Studios zu mixen. Wegen seiner Drogenschulden und der Versuchung, mit seinen dortigen Freunden einen Rückfall zu erleiden, war es eine kurze Rückkehr.

Die Flucht zurück nach Brasilien war etwas, das alte Hasen bei den Narcotics Anonymous und den Anonymen Alkoholikern als „geografische Flucht“ bezeichneten – einen Ortswechsel, bei dem man seine Probleme trotzdem mitnahm. „The Ship Song“ schrieb er, kurz nachdem er den Entzug abgeschlossen und sich von Anita verabschiedet hatte und sich nach den Verheißungen von Viviane und einer neuen Welt sehnte. Nach der euphorischen Begrüßung in Brasilien dachte Nick, ihm gefiele es, als „einfacher Gringo“ in São Paulo zu leben. Doch selbst Außenstehende können irgendwann alles satt haben. Nick hatte noch nie ein besonderes Talent für Fremdsprachen gehabt. Viviane musste für ihn die Konversation übernehmen, und sie hatte das Gefühl, dass er mit dieser Abhängigkeit von ihr seinen Enthusiasmus für ihr Land verlor.13 Außerdem soff er wie ein Loch, die klassische Selbstmedikation eines Ex-Junkies. Nick überlegte, nach New York umzuziehen, doch die Stadt war zu verrückt für eine Familie. São Paulo, New York, London, São Paulo, wieder London, zurück nach São Paulo … Man verlor leicht den Überblick, wo Nick gerade lebte. Er beschloss schließlich, nach England zurückzukehren, und Viviane – mittlerweile seine Frau – begleitete ihn mit dem gemeinsamen kleinen Sohn Luke, um dort mit ihm heimisch zu werden.

1993 lebte er mehr oder weniger wieder in London und war ziemlich am Ende, weil er wieder trank und Drogen nahm, als er von MTV Europe in einer Bar interviewt wurde. Neben ihm saß Shane MacGowan, der Ex-Sänger der Pogues, den seine Band hinausgeworfen hatte, und der vermutlich der berühmteste Säufer der Rockwelt seit den Anfangstagen von Tom Waits war. Nick und Shane, beide mit lädiertem Ansehen, hatten im Jahr zuvor einen Weihnachtssong aufgenommen, eine aufrichtige Version von Louis Armstrongs „What A Wonderful World“. Für viele Kritiker war der inbrünstige Idealismus hauptsächlich betrunkenes Karaoke. MacGowans zutiefst irische Musik hatte Nick einen großen Verlust in seinem eigenen Leben bewusst gemacht – und den aus den Augen verlorenen Horizont, der für ihn hinter ihrer Version von „What A Wonderful World“ lauerte. „Je älter ich werde“, sagte Nick in dem MTV-Interview, „desto mehr denke ich, dass man Wurzeln braucht und das Gefühl, irgendwohin zu gehören … Diesen Teil von mir habe ich zerstört. Ich habe nicht mehr das Gefühl, irgendwohin zu gehören.“14 Ein trauriges Geständnis vor einer Kamera. Doch Nick redete sich da etwas ein. Früher oder später hatte er sich der Heimat zu stellen. Oder wenn nicht direkt der Heimat, dann der Anziehungskraft einer Vergangenheit, nach der er sich in seinen Songs sehnte und der er sich in seinem Leben widersetzte, als gäbe es da etwas, weswegen er sich schämen müsse.

Heimat. An manchen Tagen braute sich „diese schreckliche Melbourne-Atmosphäre“ über ihm zusammen. Er hatte dann das Gefühl, als wollten ihn alle besitzen und als würde „jedes Anzeichen dafür, dass ich meinen Erfolg genieße, als beginnender Größenwahn ausgelegt“. Deshalb ist ein Besuch in Australien für ihn schwierig, sogar ein wenig erdrückend. Das Gefühl ist nicht so weit entfernt von den Bildern, mit denen er in „Sonny’s Burning“, dem alten Song der Birthday Party, gespielt hatte. Verbrechen und Bestrafung waren damals in seinem Werk so mehrdeutig wie die sadomasochistische Neigung seines Herzens. „Sonny’s Burning“, in dem es um ein ihn verschlingendes unterdrücktes Verlangen ging, verstärkte die dämonische sexuelle Ausstrahlung, die ihn 1982 umgab. Der Zuhörer wurde darin Zeuge eines Folterszenarios und genoss die Wärme und das Licht der Flammen, in denen Sonny bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Bei Konzerten von The Birthday Party wurde das Lied von der rituellen Forderung eingeleitet: „Hände hoch, wer sterben will!“15

Auch wenn er den verführerischen Jäger in dem Song spielt, den Jahrmarktansager einer sinistren Peepshow, weihte sich Nick schlau zum Opfer eines Publikums, das in seinen selbstzerstörerischen Impulsen schwelgte. Fünfundzwanzig Jahre später zerstört er sich nicht mehr, wofür ihm einige Ablehnung entgegenschlägt. 2007 sind seine Verbrechen Gesundheit und Glück; Freunde, die ihn früher einmal unterstützt haben, bestrafen ihn dafür. Susie schimpft Nick, weil er sich ihre herablassenden Bemerkungen bei Veranstaltungen in Melbourne gefallen lässt: „Warum kümmerst du dich überhaupt um diese Menschen, wenn sie dich so behandeln?“ Nick ist ungewöhnlich still und kann darauf nicht antworten. Doch er denkt definitiv darüber nach. Freunde aus einer Welt, die er zurückgelassen hatte.

Als Nick zur Aufnahme in die ARIA Hall of Fame aufbrach, spürte Dawn die gedrückte Stimmung ihres Sohnes. Sie umarmte ihn fest und gab ihm einem Klaps auf den Rücken: „Kopf hoch, Nick. Fuck them all!“

Im Wagen lacht Nick Cave über den „weisen Rat“ seiner zu dem Zeitpunkt einundachtzigjährigen Mutter, einfach auf alle zu scheißen. Sie ist eine pensionierte Bibliothekarin und spricht normalerweise nicht so. Ein „Motto, das man im Kopf behalten sollte“, was er auch tun wird. Später erzählte er Dawn zu ihrem Entsetzen, dass er den Satz ins Lateinische übersetzen und in England auf ein Familienwappen schreiben lassen wollte. Fuck them all! Er wünscht, er hätte es auf ein T-Shirt drucken lassen – Fuck lemma totus? Nein, das stimmt nicht. Wenn sein alter Freund Tracy Pew, der Bassist von The Boys Next Door und The Birthday Party, noch am Leben wäre, hätte er es im Handumdrehen übersetzt – und wahrscheinlich wäre ihm auch noch ein angemessen unanständiges T-Shirt-Design eingefallen.

Tracy Pew war am 7. November 1986 an einem epileptischen Anfall gestorben. Nick glaubt, dass seine Abstinenz nach Jahren des Trinkens die Anfälle verursacht hatte, an denen er mit achtundzwanzig Jahren dann starb. „Ich weiß es natürlich nicht sicher, aber es ist möglich“, sagt Nick und klingt, als ob er es doch wüsste. Ein weiterer düsterer Jahrestag im November. „Tracys Tod war wirklich traurig.“

Wenn Tracy heute noch am Leben wäre, was würde er von Nick Cave: The Exhibition halten? Vermutlich würde er ihn für einen Wichser halten, vermutet Nick. Fahnen, du Scheißkerl! Er lacht bei der Vorstellung, fragt: „Wie kann man jemanden so sehr lieben und trotzdem so oft mit diesem Menschen aneinandergeraten? Wir haben uns die ganze Zeit geprügelt, und ich weiß nicht mal mehr, warum.“

Trotz des auf ihn einprasselnden Spotts sagt Nick: „Ich bin sehr stolz auf die Ausstellung im Arts Centre. Wenn man sie von außen betrachtet, als eine Ausstellung über einen Typen namens Nick Cave, scheint sie ziemlich interessant zu sein.“ Mit der Aufnahme in die ARIA Hall of Fame tut er sich schwerer. Er sieht zu Bleddyn und merkt, dass sein Freund über T. S. Eliot und die Kunst des Stehlens redet, ein Motiv, auf das sie immer wieder zurückkommen; egal, ob sie über Blues oder griechische Mythologie sprechen oder, wie Nick es gern formuliert, „mein Lieblingsthema, mich“.

Bleddyn lenkt das Gespräch auf Cormac McCarthys Roman Die Straße und fragt: „Was hältst du von der Vision des Fisches am Ende?“ Dann kehrt er zu T. S. Eliot zurück und wie die Welt zugrunde gehen wird. „Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern.“16

Nick bekommt allmählich Kopfschmerzen, eine Begleiterscheinung der Schlaflosigkeit, die ihn nach einer schlechten Nacht plagt. „Ja, Bleddyn“ sagt er, „munter mich nur auf, und ich möchte bitte nichts mehr von Weltuntergängen hören.“ Doch gleichzeitig macht sich Nick Notizen für seine Dankesrede. „Hör mal, weißt du ein paar schmutzige Witze, die ich einbauen kann? Ich möchte heute nicht so ernst rüberkommen.“ Er sitzt über sein Notizbuch gebeugt da und kritzelt drauflos. Bleddyn flucht auf Französisch, als der Verkehr nach einem halben Block schon wieder stockt. Nick stimmt leise „Sad Dark Eyes“ von The Loved Ones an, das in einem peinlich berührten Krächzen endet, während das Auto langsam vorwärtsrollt.

Gerry Humphrys Worte verschmelzen in ihm mit seinen eigenen Improvisationen. Eine weitere Bastardehe in seinem Repertoire an Klassikerinterpretationen, zu dem das erbarmungslose „Stagger Lee“ – eine radikale Neuerzählung auf Basis eines alten Bluessongs namens „Stack O’Lee“ – und eine raue, besessene Version von Bob Dylans „Wanted Man“ gehören. Nick Caves Art und Weise, bestehende Songs umzuarbeiten und sie zu seinen eigenen zu machen, ist fast genauso wichtig für ein tieferes Verständnis seines Werks wie von ihm selbst geschriebene Titel. Vielleicht sind die Neuinterpretationen sogar noch aufschlussreicher, wie Bleddyn andeutet, als er von T. S. Eliots Vorstellungen von Diebstahl und Transzendenz spricht. Wie definiert man überhaupt seine eigene Stimme? Sie setzt sich aus allem zusammen, was man sich geliehen hat.

„Sad Dark Eyes“ klingt für Nick immer noch gut. Es erinnert ihn an seine Kindheit in Wangaratta, an seinen ältesten Bruder Tim, wie er nach einem weiteren Protestmarsch in Melbourne gegen die Beteiligung Australiens am Vietnamkrieg nach Hause zurückkehrte. Tim war der wahre Hitzkopf in der Familie. Als Junge hörte Nick andächtig den Erzählungen seines großen Bruders von der Großstadt zu, genauso wie den Schallplatten, die Tim mitbrachte: Alben von Cream, Jimi Hendrix und, genau, The Loved Ones.

Bilder von Wangaratta legen sich über St. Kilda. Die Sommerhitze, die über dem Asphalt flimmert, die Minusgrade im Winter, bei denen die Drahtzäune gefrieren. Die Kleinstadt auf dem Land scheint zu schweben, und er als Junge mit ihr. „Wir sind ständig zu Fuß durch die Stadt gegangen, einfach herumgelaufen“, sagt Nick mit unverhohlener Zuneigung. Weitere zufällige Erinnerungen kommen zurück: Ein Lehrer hält einen Bic-Kugelschreiber hoch und erklärt der Klasse, dass ihre Füller überflüssig geworden seien. Der Unterricht wird unterbrochen, damit die Schüler körnige Schwarz-Weiß-Satellitenaufnahmen vom ersten Menschen auf dem Mond verfolgen können. Sexualkunde gab es nur in Form eines Films im Biologieunterricht, in dem die Geburt eines Kängurus gezeigt wurde, erzählt Nick. Sich selbst überlassen, dachte er gern darüber nach, „wie heiß Elizabeth Montgomery in Verliebt in eine Hexe aussah, wenn sie ihre Nase kräuselte“, um dann zu zaubern. O Mann. „Ich konnte mich nicht entscheiden, ob sie oder Carolyn Jones als Morticia in der Addams Family mein Interesse an Frauen geweckt hatte.“ Das Muster ist erkennbar, Sekretärinnen und Gothic Girls prägten seine Vorlieben – vielen Dank, Trash-TV der Sechziger! Nick sagt erschrocken: „O mein Gott, ich habe Morticia geheiratet!“ Dann entspannt er sich wieder. „Bitte halt mich auf. Jetzt rede ich wirklich Unsinn.“

Wenn ihn Journalisten zu dieser Zeit nach seiner Vergangenheit fragen, antwortet er nur: „Googelt einfach danach!“17 Was sie normalerweise auch tun. Doch sie finden hauptsächlich Halbwahrheiten und Daten, wenig zu seinem Seelenleben oder dem ihn umgebenden Mysterium; alles wirkt unzureichend oder falsch. Nick hat lange gebraucht, um über seinen Abscheu sich selbst gegenüber, dass er in den Achtzigerjahren Interviews gegeben hat, hinwegzukommen, über die bittere Erkenntnis, dass sie zu den wenigen Malen gehörten, in denen er Nähe in seinem zunehmend von Drogen zerrütteten Leben zugelassen hatte. Kein Wunder, dass er dem Ganzen so ambivalent gegenüberstand. Und dann wurden Dinge, die er vor zehn, zwanzig, sogar dreißig Jahren gesagt hatte, ihm gegenüber zitiert, als ob er niemals seine Meinung ändern würde, geschweige denn, sich noch daran erinnern könnte? Ob er seine Worte damals überhaupt ernst gemeint hatte? Seine Mutter sagt zu ihm, es sei seine eigene Schuld. „Du übertreibst wirklich gern, wenn du diesen Leuten deine Geschichten erzählst, Nick.“18

Dawn hatte recht. Nick gewöhnte sich an, seine Aussagen in lockeren Unterhaltungen so lange zu üben, bis sie genauso klangen, wie er sie in gedruckter Form haben wollte. Danach hielt er sich meistens an sein Skript – und bereute es oft, wenn er davon abwich. Wie alle widersprüchlichen Künstler möchte Nick Cave, dass seine Geschichte auf mehreren Ebenen erzählt wird: überlebensgroß und trotzdem auf den Punkt gebracht; den Tatsachen entsprechend, aber auch, wie er die Ereignisse jetzt sieht.

In seiner Zeit bei The Birthday Party hatte Nick sein Publikum fast schon verabscheut; heutzutage schätzt er die ihn umgebende Energie, die aus dem gemeinschaftlichen Erleben entsteht. Hin und wieder macht sich natürlich die alte Streitlust bemerkbar, und die Zuschauer bekommen einen Eindruck davon, wie es sich anfühlt, gleichermaßen attackiert wie unterhalten zu werden. Doch das wilde Tier in Nick ist gebändigt. Es fällt einem immer leichter zu vergessen, dass er anfangs alles andere als ein australischer Rockstar war; das findet man schnell bei Google heraus. Wenn überhaupt, dann stilisierte sich Nick Cave als Bösewicht, um Erfolg zu haben: der Prinz der Dunkelheit, der Junkie-Hamlet des Rock’n’Roll19 … Bla, bla, bla … Himmel, was der Presse alles einfällt. Und nachdem er ein cleaner Familienvater geworden ist, mit Führerschein und allem, „bin ich plötzlich ‚ruhig und wunschlos glücklich in Hove‘!“ Sein Leben mit den Charakterisierungen anderer Menschen zu leben kann anstrengend sein, vor allem, wenn einige davon gut eingeübt sind und aus dem eigenen Mund stammen.

Nach einer Weile entwickeln die Berichte ein Eigenleben und scheinen gar nicht mehr von ihm zu handeln, sondern von jemand anderem. Nachdem er das jahrzehntelang erlebt hat, will er unbedingt die Kontrolle über seine eigene Geschichte behalten. Er gibt zu, dass er in der Öffentlichkeit kaum etwas sagen kann, ohne dass er es Schwarz auf Weiß vor sich sieht. „Man wird dadurch etwas selbstkritisch.“

Dafür schlägt er sich jetzt, Ende 2007, gar nicht so schlecht, auf dem Weg zu Australiens Hall of Fame der Rockmusik. Ein internationaler Star mit Millionen verkaufter Platten, darunter „Where The Wild Roses Grow“ (das Duett mit Kylie Minogue, die ebenfalls aus Australien stammt) und Klassiker wie „The Ship Song“, „Red Right Hand“, „Into My Arms“ und „The Mercy Seat“. Sein Werk ist so umfangreich wie vielfältig: Er hat einige Filmsoundtracks komponiert and preisgekrönte Drehbücher geschrieben, unter anderem für The Proposition – Tödliches Angebot (2005); außerdem Soundtracks für Theater- und Tanzprojekte von London bis Reykjavík. Es gab Angebote, Kunstfestivals zu kuratieren und Vorträge zu halten, und im Lauf der Jahre hat er auch ein wenig geschauspielert („Ich glaube, ich habe bewiesen, dass es nicht meine starke Seite ist. Ich bin steif wie ein Brett.“). In seinen durchgeknallten Zwanzigern hat er auch mit Lydia Lunch an einigen brutalen, eine Seite umfassenden White-Trash-Theaterstücken gearbeitet. Es war ein langer Weg von diesen chaotischen Anfängen bis hin zu Duettpartnern wie Johnny Cash20 und Songs, die Menschen auf ihrer Hochzeit oder ihrer Beerdigung hören möchten. Und doch gehört alles zusammen.

„Das ist noch längst nicht alles“, sagt Nick und deutet eine wahre Flut an Veröffentlichungen an: noch ein Drehbuch ist in Arbeit, über einen sexsüchtigen Vertreter21; weitere Soundtracks; außerdem eine Gedichtsammlung zur Geschichte der Gewalt in der Literatur, die er herausgeben möchte, wenn sich die Urheberrechtsfragen klären lassen. Darüber hinaus hat er 2006 noch ein Nebenprojekt namens Grinderman ins Leben gerufen. Die aufgemotzte Mischung aus Prog-Rock und Blues-Metal und die, wie Nick fand, ziemlich satirischen Texte brachten ihm von Kritikern neue Vorwürfe der Frauenfeindlichkeit ein, außerdem wurde ihm wiederholt eine Midlife-Crisis unterstellt. Sogar von seiner Mutter. Dawn sagte zu Susie: „Ich glaube, Grinderman ist Nicks Wechseljahrealbum.“ Nick verdreht die Augen. Der Pornoschnauzer, den er sich hat stehen lassen, verstärkt diesen Eindruck nur noch. Und trotzdem fragt Nick sich, wie irgendjemand einen Grinderman-Song wie „No Pussy Blues“ anders als selbstironisch auffassen kann. Ein Freund aus Los Angeles hat ihm an diesem Tag eine Nachricht zur letzten Grinderman-Show in der Stadt geschickt und schreibt, dass er noch nie so viele Frauen in Miniröcken auf einem Fleck gesehen habe. Nick muss lachen und schreibt zurück: „Das ist ja schließlich auch sexy Musik, Mann! Die Mädchen lieben sie! Ich sage dir, Grinderman ist die Chick lit des Rock’n’Roll!“22

Wie immer spürt Nick das alte Verlangen nach Extremen in sich, das Bedürfnis, es noch weiterzutreiben, jetzt, da die Menschen wütend oder aufgebracht sind. „Wenn die Leute das, was ich bei Grinderman sage, schlimm finden, dann sollten sie mal sehen, was ich als Nächstes tun werde.“ In dieser Hinsicht fühlt sich Nick schon lange mit einer bekannten Feministin und ebenfalls im Ausland lebenden Australierin verbunden. „Ich liebe Germaine Greer, und sei es nur, weil sie Dinge wieder aufwirbelt. Ich stimme ihr nicht in allem zu, aber bis zu einem gewissen Punkt verstehe ich ihre Motivation: Man muss nicht immer recht haben. Manchmal reicht es auch schon, zu provozieren.“23

Neben dem gleichnamigen Grinderman-Album steht 2007 auch schon eine neue Veröffentlichung seiner Hauptband The Bad Seeds in den Startlöchern, Dig!!! Lazarus Dig!!! Wie in dem Stau, in dem Cave heute gefangen ist, befand sich auch seine Plattenfirma Mute, die das Album verschieben musste, bis die Leute Grinderman und Nicks diverse andere Projekte verkraftet hatten, die er auf die Welt losließ. Daniel Miller, der Label-Boss von Mute, macht sich Sorgen, wie er die manische Veröffentlichungswut von Nick Cave koordinieren soll.

Was befeuert seine Kreativität? Das Bedürfnis eines Ex-Junkies, sich zu beschäftigen? Diese Theorie war schon seit Jahren immer wieder diskutiert worden, und so eine „Verfassung“ nach dem Entzug könnte seine Produktivität seit den späten Neunzigern beschleunigt haben. Bei genauerer Betrachtung war diese strikte Arbeitsmoral allerdings schon immer Teil seines Lebens. Für eine gewisse Zeit in den Achtzigerjahren hätte man Nick Cave als den am härtesten arbeitenden Heroinsüchtigen im Showbiz bezeichnen können. Während seines persönlichen Tiefpunktes, in den Jahren in West-Berlin, war seine Produktivität genauso überwältigend, wenn nicht sogar manisch.

Manche sagen, Nick sei ein getriebener Mann: die ganzen Platten, Bücher, Filme und Konzerte auf der ganzen Welt; all die Menschen, die um ihn herum untergegangen sind. Cave scheint in dieser Hinsicht dasselbe zähe Rock’n’Roll-Voodoo zu besitzen wie Keith Richards und dann noch aufrecht zu stehen, wenn andere schon wie die Fliegen umgefallen sind. Immer wieder bemerken Freunde, was Nick für ein unfassbares Glück hat. Der Mann landet einfach immer auf den Füßen. Sieben Leben hat er, wie eine Katze. Andere sagen hingegen, man sei seines Glückes Schmied, und er habe sich alles selbst zu verdanken. Doch Shane Middleton, ein Roadie der Boys Next Door, war vor langer Zeit zu einem anderen Schluss gekommen: „Ich glaube nicht, dass Nick ein getriebener Mann ist, sondern auf der Flucht. Er flieht vor der Angst, zu versagen.“24

Es stimmt, dass er beweisen will, dass er es noch kann, dass er nicht stagniert. Vielleicht will er ja auch seinem seit vielen Jahren toten Vater etwas beweisen. Die Pop-Psychologen dieser Welt wären begeistert, wenn er so etwas zugäbe. „We Call Upon The Author To Explain“, ein Song auf Dig!!! Lazarus, Dig!!!, trifft es genau: das Dasein als Rockstar, die Verehrung durch die Fans, das Trauma des toten Vaters, Streit mit Gott usw. Würg.25

„Alles okay.“ Das antworten Nicks ältere Söhne Jethro und Luke normalerweise auf seine Frage, wie es ihnen geht. Die Jungen haben zwei verschiedene Mütter – Beau Lazenby in Australien und Viviane Carneiro in Brasilien – und kamen 1991 im Abstand von zehn Tagen auf zwei verschiedenen Kontinenten auf die Welt.26 So kann man ein neues Jahrzehnt auch einläuten. Die Entfernung verkomplizierte und belastete die Beziehung zwischen Jethro und ihm, als Nick später versuchte, dem Jungen ein Vater zu sein. An Lukes Leben in London hatte er sehr viel mehr Anteil, und dass er sich um sein Kind kümmern musste, rettete ihn auch in gewisser Weise vor seiner Sucht. Das Vatersein war das Wichtigste für Nick, auch wenn er vielleicht ein etwas unorthodoxer Vater war. Er änderte einiges und versuchte mit aller Kraft, ein paar Sachen richtig zu machen. Doch erst, als er Susie 1998 kennenlernte, wandte sich alles zum Guten. Vorher ging er noch durch die Hölle. PJ Harvey machte wegen seiner Heroinsucht am Telefon mit ihm Schluss, worauf er mit einem Weinkrampf und einem Zusammenbruch reagierte.27 „Sag einfach, dass du mich nicht liebst“, hatte er zu ihr gesagt, als sie ihm die schlechten Nachrichten eröffnete. „Sag einfach, dass du mich nicht liebst.“ Genau das tat sie. Und das war’s. Er sagte halb im Scherz, dass er beinahe seine Spritze hätte fallen lassen, als sie die Beziehung beendete, doch mit dieser Unverblümtheit wollte er auch den Schmerz überspielen. Die Trennung war ein vernichtender Weckruf für ihn. Das und dass Susie Bick sich erst mit ihm treffen wollte, wenn er clean geworden war.

Jethro und Luke brauchten ihn, er hatte PJ Harvey verloren, er wusste, dass das Heroin mit den Jahren seine Kreativität beeinträchtigte, die schiere Eintönigkeit, eine Sucht befriedigen zu müssen, die aufwendige Drogenbeschaffung, dann lernte er Susie kennen und konnte die Beziehung zu ihr bewahren, die Geburt von Arthur und Earl – endlich, endlich wurde seine Welt Schritt für Schritt besser. Bis einem selbst so eine Veränderung im eigenen Leben bewusst wird, kann es dauern, wie das Licht der Sterne, das bis zur Erde einige Zeit unterwegs ist, bevor man es sieht. Man fragte ihn, ob seine Musik sich geändert hatte, weil sein Leben sich geändert hatte, doch diese Menschen verstanden nicht, dass es genau andersherum gewesen war – Musik kann einen dazu bringen, sich zu ändern. Deshalb ist Kunst so gefährlich wie inspirierend. Sie kann Dinge wahr werden lassen, schreckliche Dinge. Sie kann einen befreien. Doch sie kann auch ein Gefängniswärter sein, wenn man nicht aufpasst. Nick fühlte sich an den alten Film von Andrei Tarkowski erinnert, Stalker. Man musste ein Verständnis entwickeln für den Unterschied zwischen dem, was man sich am inständigsten wünscht, und was man am meisten begehrt, und wie sehr die eigene Arbeit das eine oder das andere bestärken konnte, wenn man den Weg überleben wollte, den man als Künstler eingeschlagen hatte.

Auf dem Beifahrersitz regt sich Nick Cave noch einmal über die Aufnahme in die ARIA Hall of Fame auf. Man habe ihm gesagt, dass The Bad Seeds ausgeschlossen seien, da in der Band „Ausländer“ spielten. Auch Nick Caves erste große Band The Birthday Party würde nicht bedacht werden. Sie war aus Nicks Band The Boys Next Door hervorgegangen und hatte ihn als Untergrund-Ikone der Postpunk-Ära auf die englischen Bühnen katapultiert, als ein Nachfolger der Varietébösartigkeit Johnny Rottens von den Sex Pistols und der inneren Abgründe von Joy Divisions Ian Curtis.

Wie Rotten und Curtis wurde auch Cave in der britischen Kulturszene zu einem echten Vertreter der Romantik – verrückt, böse und eine gefährliche Bekanntschaft.28 Das war nicht allein sein Verdienst. The Boys Next Door, The Birthday Party, The Bad Seeds – alle hatten ihm Flügel verliehen. Nick Cave hält den Ausschluss seiner Bandkollegen von der Ehrung für einen Affront, wie er „typisch“ ist für die australische Musikindustrie, gegen die er immer angekämpft und die ihn nie richtig verstanden hat. „Wir haben damals auch immer gesagt, dass niemand, den die australische Musikindustrie mochte, etwas taugen konnte“, gibt er zu. „Wir wollten nichts damit zu tun haben.“

Und jetzt bekommt er ihn, den verspäteten Klaps auf den Rücken. So erscheint es ihm. Glückwunsch, Kumpel! „Ausländer!“ Ist das zu glauben? Nick betrachtet seine Einstellung von allen Seiten, das Gute und das Schlechte, während er in Bleddyns Mercedes festsitzt, wenige Stunden vor der Zeremonie. Trotzdem ist klar, dass ihm der kommende Abend viel bedeutet, weil er die Bestätigung seiner Heimat darstellt, nach der er sich so lange gesehnt hat, dem einen Ort, der sein australisches Wesen versteht. „Wir sind eine australische Band, die australische Musik macht“, wird er bei der Zeremonie über die Bad Seeds sagen. Nicks Gefühle konzentrieren sich auf diese simplen Worte, während er sie im Wagen niederschreibt.

Plötzlich bremst Bleddyn, fährt beinahe dem Truck vor ihm hinten auf, und wir alle werden nach vorn geschleudert. „Tut mir leid“, sagt er. Eine Straßenbahn klingelt. Endlich bewegt sich der Verkehr wieder. Und Nick Cave wird endlich aus der Fitzroy Street in St. Kilda und aus seinen Grübeleien befreit.

Fuck them all.