Jürgen Habermas - Stefan Müller-Doohm - E-Book

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Stefan Muller-Doohm

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Beschreibung

»Jürgen Habermas«, so schrieb der US-amerikanische Philosoph Ronald Dworkin anlässlich des 80. Geburtstags des großen europäischen Denkers, »ist nicht nur der berühmteste lebende Philosoph der Welt. Sein Ruhm selbst ist berühmt.« Nach mehrjährigen Forschungen, intensiver Recherche und ausführlichen Gesprächen mit Weggefährten, Zeitzeugen sowie mit Habermas selbst legt Stefan Müller-Doohm nun die erste umfassende Biographie des bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit vor. Sie beleuchtet sowohl das Zusammenspiel von philosophischer Reflexion und intellektueller Intervention als auch das Wechselverhältnis von Lebens- und Werkgeschichte vor dem Hintergrund historischer Ereignisse.

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»Jürgen Habermas«, so schrieb der amerikanische Philosoph Ronald Dworkin zum 80. Geburtstag des großen europäischen Denkers, »ist nicht nur der berühmteste lebende Philosoph der Welt. Sein Ruhm selbst ist berühmt.« Nach mehrjährigen Forschungen, intensiver Recherche und ausführlichen Gesprächen mit Weggefährten, Zeitzeugen sowie mit Habermas selbst legt Stefan Müller-Doohm nun die erste umfassende Biographie des bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit vor. Sie beleuchtet sowohl das Zusammenspiel von philosophischer Reflexion und intellektueller Intervention als auch das Wechselverhältnis von Lebens- und Werkgeschichte vor dem Hintergrund historischer Ereignisse.

 Deutlich wird so das Bild eines einzigartigen Denkers, zu dessen wichtigsten philosophischen Errungenschaften eine Theorie verständigungsorientierten Handelns gehört, der, wenn er den Eindruck gewinnt, dass die Gesellschaft hinter ihren Möglichkeiten zur Gestaltung freier und gerechter Lebensverhältnisse zurückbleibt, zum unnachgiebigen Kritiker wird.

Stefan Müller-Doohm, geboren 1942, ist Professor em. für Soziologie an der Universität Oldenburg. Im Suhrkamp Verlag sind u. ‌a. erschienen: Adorno. Eine Biographie (2003 und 2011);

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Der Verlag weist darauf hin, dass dieses Buch farbige Abbildungen enthält, deren Lesbarkeit auf Geräten, die keine Farbwiedergabe erlauben, eingeschränkt ist.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Inhalt

Vorwort 

Prolog: Der Andere unter seinesgleichen 

Teil IKatastrophe und Emanzipation

  1. Unheilsjahre als Normalität. Kindheit und Jugend in Gummersbach 

Jahrgang 1929 

Die Zäsur von 1945 

  2. Studium in Göttingen, Zürich und Bonn 

Promotion mit einer Arbeit über die Philosophie Schellings 

In der Sprecherrolle des freien Journalisten 

Beginn einer Karriere als öffentlicher Intellektueller 

Teil IIPolitik und Kritik

  3. Education intellectuelle im Café Marx 

Im wechselseitigen Vertrauen mit den Adornos 

Von Horkheimers Animositäten gegen den »dialektischen Herrn H.« 

Der »meistversprechende Intellektuelle« 

  4. Unter der Ägide gegensätzlicher Persönlichkeiten: Abendroth und Gadamer 

Mann der demokratischen Linken 

Positionierungen im Streit um richtige Kritik und gute Politik 

  5. Wieder Frankfurt. Die Zerreißprobe zwischen akademischer Wissenschaft und politischer Praxis 

Der Versuch, Kritik erkenntnistheoretisch zu begründen 

Mit der Protestbewegung gegen sie denken 

In der Schusslinie der eigenen Mannschaft 

Eine neue Fährte im philosophischen Denken 

  6. Im Elfenbeinturm sozialwissenschaftlicher Forschung 

Zwischen Wissenschaftsmanagement und Forschungspraxis 

Eine Theorie des Nicht-nicht-Lernenkönnens 

Das verminte Feld politischer Deutungskämpfe im »Deutschen Herbst« 

Rücktritt 

Teil IIIWissenschaft und Engagement

  7. Genius loci: Zum dritten Mal Frankfurt 

Das Hauptwerk 

Handlungstheorie 

System und Lebenswelt 

Frankfurter Alltag 

  8. Neue Projekte 

Im Bannkreis der Rechtsphilosophie 

Moral und Recht 

  9. In der Kampfzone ideenpolitischer Kontroversen 

Opinion leader der Neuen Linken? 

Der Historikerstreit 

Skeptiker der Wiedervereinigung 

10. Wider Deutschtum und Nationalismus 

Das zwiespältige Verhältnis zu militärischen Interventionen 

Die Asyldebatte 

Ein Denkmal für die ermordeten Juden 

Teil IVWeltbürgergesellschaft und Gerechtigkeit

11. Kritik als Beruf. Übergang ins dritte Jahrtausend 

Ein Plädoyer für Willensfreiheit und die Unverfügbarkeit der Person 

Der Philosoph als Weltreisender 

Viel Ehre und eine Affäre 

12. Die Zähmung des Kapitalismus und die Demokratisierung Europas 

Demokratische Politik – ein Gegengewicht zum Kapitalismus 

Europäische Integration 

Auf dem Weg zu einer demokratisch verfassten Weltordnung 

13. Philosophie in der nachmetaphysischen Moderne 

Was kann ich wissen? – Eine sprachpragmatische Spielart von Naturalismus und Realismus 

Was soll ich tun? – Von der Tugendzumutung zur Rationalitätsvermutung 

Was darf ich hoffen? – Religion in der postsäkularen Gesellschaft 

Was ist der Mensch? – Sprachlichkeit und Intersubjektivität 

14. Bücher einer Ausstellung 

Bewusstmachende und rettende Kritik 

Epilog: Der innere Kompass 

Bildteil nach Seite 

Anmerkungen 

Anhang 

 Genealogie 

 Chronik 

 Vorlesungen und Seminare von Jürgen Habermas 

 Literaturverzeichnis 

Vorwort

Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu verhalten, als kennte er mich.

Robert Walser1

In den vergangenen Jahrzehnten sind Jürgen Habermas viele Etiketten angeheftet worden: »Verfechter der Moderne« und »Der Meister der Kommunikation«, »Öffentliches Gewissen der politischen Kultur« und »Hegel der Bundesrepublik«, »Macht am Main«, »Frankfurter Feuerkopf« und »Praeceptor Germaniae«, um nur einige zu nennen.2 Dass sich diese Reihe nicht durchweg schmeichelhafter medialer Zuschreibungen problemlos fortsetzen ließe, zeigt, welch hohen Nachrichtenwert Habermas hat und dass mit Blick insbesondere auf sein Wirken als Wissenschaftler und Zeitdiagnostiker wahrlich kein Mangel an Publizität herrscht. Warum also auch noch eine Biographie über diese Persönlichkeit schreiben, zumal eine, die weder den (eher unbekannten) Privatmann Jürgen Habermas ins Zentrum stellt noch das Ziel hat, einem »Meisterdenker« zu seinem 85. Geburtstag ein Denkmal zu setzen? Schließlich leben wir in Zeiten, von denen Habermas selbst sagt, sie habe Helden ebenso wenig nötig wie Antihelden. Was den Soziologen in die Arme der Biographienforschung getrieben und veranlasst hat, sich erneut als Biograph zu versuchen, ist die Überzeugung, dass sich an den sichtbaren Spuren einer Lebensgeschichte wie der von Jürgen Habermas besonders gut studieren lässt, was gleichsam die Pointe der soziologischen Betrachtungsweise seit ihren Anfängen ist: die Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Wie wird die Person im Lebenszusammenhang mit anderen zum Individuum, das nur im Prozess der Auseinandersetzung mit und in seiner Zeit 12die Einzigartigkeit und Besonderheit ihrer Biographie zu kreieren vermag?

Gewiss, die Verführung ist groß, gerade diese Biographie als außergewöhnliche Erfolgsgeschichte ins Bild zu setzen. Das aber käme nicht nur einer Retuschierung der zum Teil ja bekannten Schattentöne dieser Lebensgeschichte gleich, sondern auch der jedenfalls auf den ersten Blick bürgerlich-konventionelle Lebenslauf von Habermas spricht dagegen. In Gesprächen hat er immer wieder betont, sein mehr oder weniger geradliniger Werdegang sei nicht aus dem Rahmen dessen gefallen, was seiner Generation geschichtlich widerfahren und dem Einzelnen möglich gewesen sei, um unter Bedingungen einer wiedergewonnenen Freiheit persönliche Ambitionen zu verwirklichen. Würde man diese Selbstbeschreibung für bare Münze nehmen, so käme man im Fall der Vita von Habermas vielleicht zu dem Ergebnis, hier habe sich eine stufenweise Entwicklung von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt vollzogen, eben ganz im Sinne einer Normalbiographie. Es stimmt, dass seine Lebensgeschichte durch eine kontinuierliche Lebensführung auf der Grundlage weitgehend gesicherter Lebensumstände charakterisiert ist: Kindheit, Schule, Studium, Heirat, Kinder, Beruf etc. Und wie im Leben anderer Menschen gibt es auch bei ihm Brüche, Rückschläge und Zäsuren. Worin also liegt das Unverwechselbare dieses Existenzverlaufs – das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen?

Ohne Zweifel springt ins Auge, dass Jürgen Habermas eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat; mit seinen Monographien und Aufsatzbänden, die in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden sind, hat er sich als Wissenschaftler eine enorme nationale und internationale Reputation erworben und als Autor eine große Resonanz nicht nur in der akademischen Welt gefunden. So gesehen liegt die Schlussfolgerung nahe, die Biographie von Habermas sei im Grunde die Biographie seines Werks. Aber dieses Leben ist deshalb so faszinierend, weil es eben mehr ist als ein Stapel gelehrter Bücher, weil dieser Mann immer wieder den geschützten Raum der Universität verlassen hat, um in die Rolle des streitbaren Debat13tenteilnehmers zu schlüpfen und auf diesem Wege Einfluss auf die Mentalitätsgeschichte dieses Landes zu nehmen und, wie man wohl hinzufügen darf, auch genommen hat. Insofern ist der Nachvollzug lebensgeschichtlicher Ereignisse gewissermaßen der Basso ostinato für das eigentliche Hauptanliegen dieser Biographie: die Darstellung des verschlungenen Ineinanders von Haupt- und Nebenberuf, der Wechselbeziehung zwischen den Denkentwicklungen des Philosophen und den Interventionen des öffentlichen Intellektuellen vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse.

Wie auch immer der Biograph seine Akzente setzt, er macht sich einer Anmaßung schuldig. Zu ihr muss er sich bekennen. Denn zum biographischen Forschen und Schreiben gehört notwendigerweise ein Moment von Indiskretion, ja, man könnte die biographische Recherche sogar als einen feindseligen Akt bezeichnen. Der Biograph kann nicht umhin, privates Leben zum Gegenstand seines neugierigen Blicks zu machen. Mehr noch: Er wühlt im Leben des Biographisierten und muss dabei eigenmächtig die Wahl treffen, welche Ereignisse er im Detail betrachten oder doch nur streifen möchte, welche Geschehnisse er meint ganz aussortieren zu können. Er muss also die Entscheidung treffen, welche Augenblicke des Lebens übersprungen, welche Verstrickungen ausgelassen werden und ob und, wenn ja, wo er Leerstellen mit Mitteln der »exakten Phantasie« (Theodor W. Adorno) ausfüllt.

Der Biograph ist in diesen Momenten gar nicht so weit entfernt vom Romancier. Wie Max Frischs Hauptfigur in Mein Name sei Gantenbein tappt auch er im Dunkeln, was die beim Rückblick auf ein Leben gewonnenen Einsichten genau bedeuten – »Was ist wirklich geschehen?« Um einer Lebensgeschichte mit ihren Brüchen und Widersprüchen habhaft zu werden, verhält sich der Biograph wie die Blindheit vortäuschende Hauptfigur in Frischs Roman: »Ich stelle mir vor.«3 Und dann beginnt die Suche nach der Geschichte der Geschichte, bei der der Biograph gegenüber dem Schriftsteller den Vorteil haben mag, sich auf ein Korpus von Quellen zu beziehen, die ihn beim Erzählen leiten.

Folglich kann eine Biographie bestenfalls Glaubwürdigkeit, nie 14jedoch Gewissheit bieten. Das Vorhaben, die Abläufe eines realen Lebens eins zu eins in einer Biographie abzubilden, und sei es in verkleinertem Maßstab, ist meines Erachtens von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Insofern erhebt diese Biographie keinen solchen Wahrheitsanspruch. Folglich muss eine Erwartung, die manche Leser an dieses Genre haben, enttäuscht werden: dass der Biograph den Leserinnen und Lesern eine Art vertraulichen Umgang mit dem Objekt der biographischen Neugier eröffnet oder gar mit sensationellen Enthüllungen aufwartet.

Das vorliegende Buch wirft Schlaglichter auf das Leben und die markanten Denkbewegungen von Jürgen Habermas und bricht dabei mit der Illusion, das Authentische der Person gleich einem Portrait einfangen zu können. Stattdessen stehen distinkte Textsorten im Mittelpunkt dieser biographischen Studie. Prosaischer ausgedrückt: Es geht in erster Linie um die Tat und in zweiter Linie um den Täter. Ich lese vor allem die Spuren, die Habermas als Autor im weitesten Sinne hinterlassen hat, und zwar als Philosoph und als eine Verkörperung jener Spezies von Intellektuellen, die, gleichsam als Täter, das Politische antreibt.

Der institutionelle Ort dieser Spuren sind natürlich die Archive, darunter mein eigenes Habermas-Archiv, das sich aus einer über viele Jahre systematisch aufbereiteten Sammlung von für aussagekräftig erachteten Quellen zusammensetzt: den zugänglichen Veröffentlichungen von Habermas, Teilen seiner Korrespondenz, Interviews und autobiographischen Fragmenten und dem Großteil seiner Artikel in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Kulturzeitschriften seit 1953. Dazu kommen Photographien und andere Abbildungen sowie zahlreiche Gesprächsprotokolle mit Weggefährten und Zeitzeugen.4 Wie die in diesem Archiv zusammengetragenen und aus anderen Archiven herangezogenen Quellen ausgewählt, systematisch zusammengestellt und dann ausgewertet wurden, war abhängig von der spezifischen Fragestellung dieser Biographie: Wie wurde Habermas einerseits zum Philosophen der kommunikativen Vernunft und anderseits zum einflussreichen öffentlichen Intellektuellen?15

Was die Diskurspraxis des Intellektuellen angeht, so steht nicht Habermas' Persönlichkeit im Zentrum der Betrachtung, sondern mein Blick richtet sich auf seine konkreten Interventionen im öffentlichen Raum. Ein wesentlicher Aspekt gilt dabei der Frage, wie sich die Polarisierungen entwickeln, die sich im Zuge der Kämpfe um Aufmerksamkeit und intellektuelle Deutungshoheit herausbilden, an denen Habermas immer wieder teilgenommen, ja, die er zum Teil entfacht hat. Des Weiteren frage ich, welcher diskursiven Mittel – oder ideenpolitischen Strategien – er sich als Protagonist intellektueller Kontroversen bedient. Und schließlich: Wie konturiert sich in den Prozessen intellektueller Interventionen die Position von Habermas, dem die Funktion eines opinion leader des, wenn man es so nennen möchte, linksliberalen Lagers zugeschrieben wird?

Das für Habermas' Wirken typische Zusammenspiel von philosophischer Reflexion und intellektueller Intervention strukturiert diese Biographie, die fast durchweg auf eine rein individualbiographische Perspektive verzichtet und sich mit Spekulationen, was Habermas bei dieser oder jener Gelegenheit wohl »gedacht« oder »gefühlt« haben mag, zurückhält. Sie zielt vielmehr darauf ab, Interdependenzen von Lebens- und Werkgeschichte im Kontext der Zeitgeschichte zu veranschaulichen.

Welche Rolle spielt dabei die Haltung des Biographen zu seinem Gegenstand? Die Herausforderung des biographischen Schreibens besteht zweifellos darin, die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz, zwischen der Außenperspektive neutralen Analysierens und der Binnenperspektive des hermeneutischen Erschließens und emphatischen Verstehens, das nur durch Zugewandtheit und Einfühlungsvermögen erreichbar ist, zu meistern. Auch ich habe meinen eigenen Weg zwischen Abstandnehmen und Annäherung finden müssen. Auf diesem Weg habe ich versucht, aus dem Knäuel dieser Lebensgeschichte bestimmte Fäden freizulegen in der Hoffnung, damit sichtbar zu machen, wie die Lebenslinien gespannt und wie sie verlaufen sind. Ich gehe überwiegend chronologisch vor, blende aber hin und wieder zurück oder greife vor, um Verbindun16gen kenntlich zu machen, die in der Chronologie unter Umständen verdeckt würden. Hinzu kommt ein Weiteres: Es werden diejenigen Themen, die Habermas ein Leben lang beschäftigt haben, gewissermaßen stillgestellt und hochgezoomt, um sie genauer betrachten zu können. Das gilt vor allem dort, wo es um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Habermas' Theorieentwicklung geht. Dabei habe ich mich mit eigenen Deutungen möglichst zurückgehalten und den O-Ton sprechen lassen.

Prolog: Der Andere unter seinesgleichen

Es ist wahr, daß ich die Grundannahme der ›Kritischen Theorie‹, so wie sie Anfang der vierziger Jahre Gestalt angenommen hat, nicht teile.1

Ironischer Geburtstagsgruss eines Karikaturisten. Streng genommen gehört Jürgen Habermas nicht auf dieses populär gewordene Gruppenbild des Zeichners, Poeten und Jazzmusikers Volker Kriegel, der mit den betreffenden Personen als Student im Frankfurt der 1960er Jahre in Kontakt gekommen war. In dieser Karikatur, die 1969 in der Wochenzeitung Publik veröffentlicht wurde, springt der überdimensioniert dargestellte Max Horkheimer ins Auge, wie er mit patriarchalem Gestus drei bedeutende, hier allerdings auf Zwergengröße geschrumpfte Persönlichkeiten »unter sich« versammelt: Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. Die Botschaft, dass sie zusammen die Quadriga der Kritischen Theorie bilden, kann nur ironisch gemeint sein. Gewiss, Horkheimer, der Spiritus Rector kritischer Theorie Frankfurter Provenienz, der Adorno zufolge ein »flair für Machtver18hältnisse« hatte,2 vermochte schon zu Lebzeiten Wissenschaftsgeschichte zu schreiben. Ihm verdanken wir die Namensprägung »Kritische Theorie«. Aber er war alles andere als der selbstlose Mentor jener drei durchaus gegensätzlichen Geister, die sich unter dem Dach des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zusammenfanden und keineswegs immer einer Meinung waren. Diese Geister waren keine eingeschworene Gesinnungsgemeinschaft und erst recht keine, die sich um einen charismatischen »Anführer« scharte, wie etwa der George-Kreis um den Dichter oder die Pariser Existenzialisten um Jean-Paul Sartre. Stattdessen waren sie eigenständige und eigensinnige Repräsentanten unterschiedlicher Denkweisen und Denkstile. Gleichwohl gab es einen, wenn auch kleinen gemeinsamen Nenner: die Haltung der aufklärenden Kritik an aus ihrer Sicht gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.

Es wäre sicher überzeichnet, wenn man Habermas, der Marcuse und Adorno vom Wuchs her nicht nur auf dieser Zeichnung, sondern auch realiter überragte, schlicht als Abtrünnigen dieses Viererbundes männlicher Philosophen und Soziologen bezeichnen würde. Dennoch ist er bei Lichte besehen der Andere unter seinesgleichen. Habermas ist rund drei Jahrzehnte jünger als diejenigen, die in unterschiedlicher Weise für ihn die Rolle eines intellektuellen Vorbildes gespielt haben, gehört also einer anderen Generation an. Er entstammt nicht einem jüdischen Elternhaus wie die drei Älteren, sondern einem protestantisch geprägten. Ihm, dessen Kindheit und frühe Jugend in die Zeit des Nationalsozialismus fallen, bleiben die Erfahrung rassischer und politischer Verfolgung sowie das Schicksal des Exils erspart. Ein weiterer lebensgeschichtlich bedeutsamer Unterschied zwischen den jüdischen Linksintellektuellen und Habermas ist darin zu sehen, dass dieser sich – trotz seiner Sprachbehinderung aufgrund einer angeborenen, das heißt genetisch bedingten Gaumenspalte – nie als Außenseiter gesehen hat. Habermas' Entwicklung zum homo politicus wurzelt vielmehr zum großen Teil in den Erfahrungen, die er in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht hat. Insbesondere der Umgang vor allem des politischen Establishments der jungen Bundes19republik mit dem Erbe des verbrecherischen NS-Regimes und die sich abzeichnenden Defizite beim Aufbau demokratischer Lebensformen in Deutschland spielten dabei eine entscheidende Rolle. Aber trotz aller kritischen Distanz, die Jürgen Habermas immer wieder zu den ihn umgebenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen eingenommen hat und noch einnimmt, sah er sich doch stets als aktiver Teilnehmer am sozialen und politischen Geschehen. Von einem Grundgefühl der Ortlosigkeit oder der Marginalisierung, jenem eigentümlichen Außenseiterbewusstsein, das etwa Adorno oder Marcuse ihr Leben lang begleitet hat, kann bei ihm also keine Rede sein. In einem Gespräch hat er von sich selbst gesagt, sein Leben sei alles in allem unspektakulär verlaufen.3 Und in der Tat: Es ist eine Biographie ohne gravierende Einschnitte und Diskontinuitäten, gekennzeichnet in erster Linie durch eine akademische Erfolgsgeschichte auf der einen und ein energisches Eingreifen ins politische Geschehen auf der anderen Seite.

Während Adorno und Marcuse gelegentlich um die Gunst Horkheimers kämpfen mussten, der sich diese Konkurrenzsituation auf höchst strategische Art zunutze machte, erntete Habermas als zeitweiliger Mitarbeiter des remigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung sogleich das dezidierte Missfallen des Institutsdirektors. Dieser störte sich sowohl am theoretischen Projekt des neuen Assistenten, das auf eine Adaption des Marxismus als Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht abzielte, als auch an dessen politischem Engagement. Im restaurativen Nachkriegsdeutschland betrieb Horkheimer, keineswegs im Einklang mit der Mehrheit der Mitglieder des Instituts, zumindest nach außen eine Politik ostentativer Unauffälligkeit, die mit dem Nonkonformismus und der progressiven, marxistisch-sozialkritischen Zielsetzung vor der erzwungenen Flucht aus Nazideutschland schwer in Einklang zu bringen war.

Der vielleicht wichtigste Grund, warum Habermas damals ein Anderer unter seinesgleichen war, liegt jedoch darin, dass er das, was spätestens ab Mitte der 1960er Jahre als »Frankfurter Schule« um die Welt ging, nie als ein fest umrissenes Programm sah. »Für 20mich«, so bekannte er in einem Interview, »gab es keine Kritische Theorie, keine irgendwie zusammenhängende Lehre.«4 Ihm blieb damals nichts anderes übrig, als sich an den Büchern und Aufsätzen zu orientieren, die bis Ende der 1960er Jahre nur sehr spärlich und verstreut vorlagen, ja: Die wegweisenden Studien des Instituts und seiner Mitglieder aus den Jahren der Weimarer Republik sowie der amerikanischen Emigrationsphase, »[d]ie gab's nicht. Horkheimer hatte eine große Angst, daß wir an die Kiste gehen«, in der sämtliche Jahrgänge der zwischen 1932 bis 1941 erschienenen und für das ursprüngliche Konzept der Kritischen Theorie programmatischen Zeitschrift fürSozialforschung verstaut waren.5 Freilich ließ sich Habermas davon nicht abschrecken; denn wer wollte, konnte sich jene legendäre Zeitschrift, »diese[n] versunkene[n] Kontinent«6 des revolutionären Erbes, am benachbarten Institut für Politische Wissenschaft beschaffen, wo der Lehrstuhl von Carlo Schmid angesiedelt war. Dessen Assistent Wilhelm Hennis hatte die Jahrgänge von einem Pariser Antiquar besorgt und in die Institutsbibliothek integriert. Was Habermas da zu lesen bekam, hat, so sagt er selbst, seinen »Blick für den prekären Zusammenhang von Demokratie, Staat und Ökonomie geschärft«.7

Mit Beginn der 1970er Jahre und beeinflusst unter anderem durch die angloamerikanische Sprachphilosophie begann er jedoch, sein eigenes Paradigma kommunikativer Vernunft und verständigungsorientierten Handelns zu entwickeln und den Pfad der Kritischen Theorie, wie ihn die Vertreter der ersten Generation der Frankfurter Schule gegangen waren, zu verlassen. Seitdem konzentriert sich seine Philosophie darauf, »die Bedingungen zu klären, unter denen sowohl moralische wie ethische Fragen von den Beteiligten selbst rational beantwortet werden können«.8

Abweichung und Zuschreibung. Als der Cartoon von Volker Kriegel erstmals erscheint, ist Habermas im vierten Lebensjahrzehnt. Zu diesem Zeitpunkt war er sich der Defizite der klassischen kritischen Theorie bereits bewusst geworden und arbeitete an der Begründung eines eigenen philosophischen Programms. Die ver21breitete Behauptung, es gebe eine strikte Kontinuität der Frankfurter Schule von der ersten über die zweite bis zu einer dritten Generation ist daher in Bezug auf Habermas bei Lichte besehen unzutreffend. Dass er trotzdem als deren Repräsentant wahrgenommen wird, hat seinen trivialen Grund darin, dass Habermas Ende der 1960er Jahre bereits seit mehreren Semestern an der Philosophischen Fakultät der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität tätig war, und zwar als ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie. Das war der ehemalige Lehrstuhl Max Horkheimers, und die Ironie der Geschichte will es, dass ausgerechnet Habermas sein Nachfolger wurde. Seine eigene Einstellung im Hinblick darauf, mit einer Theorie-Schule identifiziert zu werden, beschreibt Habermas in einem Interview vom Juni 1993 mit Wolfram Schütte und Thomas Assheuer wie folgt: »[D]ie Etiketten, die man Theorien anklebt, sagen eher etwas über die Wirkungsgeschichte von Mißverständnissen aus als über die Theorien selbst. Das gilt auch für Signalwörter wie ›Diskurs‹ oder ›herrschaftsfreie Kommunikation‹. Wenn man die Ergebnisse einer Theorie schon plakativ bündeln will, muß man sie wenigstens auf die Problemstellungen beziehen, von denen die Theorie ausgeht. Ich bin ausgegangen vom Schwarz in Schwarz der älteren Kritischen Theorie, die die Erfahrungen mit Faschismus und Stalinismus verarbeitet hat. Obwohl unsere Situation nach 1945 eine andere war, hat mich dieser illusionslose Blick auf Triebkräfte einer selbstdestruktiven Gesellschaftsdynamik erst dazu gebracht, nach den Quellen der Solidarität des Einen mit dem Anderen zu suchen, die noch nicht ganz versandet sind.«9

Statt vom Erbe der Kritischen Theorie zu zehren, hat Jürgen Habermas ihre Transformation als kommunikationstheoretische Wende der Gesellschaftstheorie vollzogen. Ihr Ansatzpunkt ist das Vernunftpotential der Sprachpraxis, ihre Zielperspektive die Idee unversehrter Intersubjektivität als »Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier reziproker Anerkennung. […] Damit verbindet sich«, so formuliert es Habermas selbst, »der moderne Sinn eines Humanismus, der längst in den Ideen des selbstbewußten Lebens, 22der authentischen Selbstverwirklichung und der Autonomie seinen Ausdruck gefunden hat – eines Humanismus, der sich nicht auf Selbstbehauptung versteift.«10 Während sich das nach wie vor Kritische seiner Sozialtheorie in einem moral point of view manifestiert, in dem Festhalten an der »negative[n] Idee der Abschaffung von Diskriminierung und Leid«,11 nimmt sein nachmetaphysisches Denkmodell Abstand von der geschichtsphilosophischen Vorstellung einer totalen Negativität des Daseins.

Teil 1Katastrophe und Emanzipation

1. Unheilsjahre als Normalität. Kindheit und Jugend in Gummersbach

Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familialen, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind.1

Neunzehnhundertneunundzwanzig. Jürgen Habermas kommt am 18. Juni 1929 in der Rheinstadt Düsseldorf als zweites von drei Kindern zur Welt. Die Geburt während eines schönen Sommers – es ist das Jahr, in dem Thomas Mann mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wird und Erich Maria Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues zum Verkaufsschlager wird – fällt in die Zeit einer von ökonomischen Krisen geschüttelten, von rechts- und linksradikalen Destabilisierungsversuchen gefährdeten Weimarer Republik, deren Ende sich abzuzeichnen beginnt. Seit dem Frühjahr war klar, dass der Konjunktureinbruch nicht mehr abzuwenden ist. Das Jahr 1929 geht als das der großen Weltwirtschaftskrise in die Geschichte ein. Nachdem die heroische Zeit der Kunst längst verblasst war, gehen die »Goldenen Zwanziger« zu Ende, das bis dahin vergleichsweise hohe Niveau der Reallöhne sinkt. Noch tanzt man Charleston und die Röcke der Damen werden immer noch kürzer. In den Kinos läuft seit Januar Ich küsse Ihre Hand, Madame, einer der letzten Stummfilme, der aber schon eine kurze Tonspur enthält. Marlene Dietrich spielt die weibliche Hauptrolle, und das bereits 1928 veröffentlichte, von Richard Tauber gesungene Tangolied wird mit einer halben Million verkaufter Schallplatten zum Kassenschlager. In München erhält Josephine Baker Auftrittsverbot, weil kirchliche Kreise eine Verletzung des 26öffentlichen Anstands befürchten. In Berlin berichten die Zeitungen von behördlichen Zensureingriffen, die Theaterskandale am Schiffbauerdamm verhindern sollen. Nicht verhindern lassen sich Schießereien, zu denen es in der Reichshauptstadt zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten kommt. Diese Straßenschlachten sind die Spitze des Eisberges anwachsender politischer und weltanschaulicher Spannungen. »So kämpfen etwa Monarchisten gegen Republikaner, Konservative gegen Liberale und Sozialdemokraten, Kulturprotestanten gegen Katholiken, Völkische gegen die Verfechter der Staatsbürgergesellschaft, Antisemiten gegen die Befürworter der anhaltenden sozialen Integration jüdischer Deutscher, Kriegsverherrlicher gegen Kriegsskeptiker, Reichsmystiker gegen Realpolitiker, Sonderweg-Verteidiger gegen selbstkritische Pragmatiker, religiöse Sozialisten gegen orthodoxe Lutheraner, prophetische Schwärmer gegen Routineanhänger, geopolitische Dogmatiker gegen nüchterne Interessenverfechter, Sympathisanten des italienischen Faschismus gegen Republikverteidiger, Advokaten des Totalen Staates gegen Liberaldemokraten – ein wahrer Hexenkessel der politischen Theorien und Phobien, in dem stets sehr grundsätzliche, oft fundamentalistische Gegensätze vorherrschen.«2

Der Tod des liberalkonservativen Politikers Gustav Stresemann im Oktober 1929 sollte fatale Folgen für die deutsche Außenpolitik haben. Sie verliert ihren wichtigsten Vertreter, dessen Ziel es war, sich um Interessenausgleich und um Verständigung zu bemühen. Er unterstützte von deutscher Seite die ungewöhnliche Initiative von Aristide Briand, der auf der Völkerbundsversammlung in Genf die Schaffung der »Vereinigten Staaten von Europa« vorgeschlagen hatte.

Die Arbeitslosenzahl steigt in diesem Jahr von Monat zu Monat und überschreitet die Grenze von acht Millionen. Am 24. Oktober 1929 brechen an der New Yorker Börse die Kurse ein, was eine weltweite Wirtschaftskrise auslöst: Es beginnt die Zeit der »Großen Depression«. Infolgedessen können die Nationalsozialisten insbesondere bei Landtagswahlen ihre Stimmenanteile im Laufe des Jahres 271929 deutlich erhöhen. Ihre Propaganda richtete sich damals vor allem gegen das im Juni ausgehandelte Modell von Reparationszahlungen in der Folge des von Deutschland verlorenen Ersten Weltkriegs, obwohl mit dem sogenannten Youngplan die Jahresbelastung gemindert wurde und Deutschland finanziell wieder selbstbestimmt zu handeln vermochte.

Seit dem Frühjahr 1930 wird diese Republik ohne Republikaner, zu deren Präsident 1925 ein republikfeindlicher greiser Generalfeldmarschall gewählt wurde, von einem Koalitionskabinett unter der Führung des Sozialdemokraten Hermann Müller regiert, dem fünf große Parteien angehören. Wegen der offensichtlichen Regierungsschwäche gelingt der Partei, die die Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik betreibt, der Durchbruch zur Massenbewegung. Die SA wird zu einer schlagkräftigen Terrororganisation ausgebaut und die NSDAP schickt sich an, einen eigenen Medienkonzern aus dem Boden zu stampfen. Die Nazis besetzen in der Öffentlichkeit allmählich alle erdenklichen Themen, entwickeln neue Aktionsformen der »Selbsthilfe« gegen Arbeitslosigkeit und beginnen das geradezu messianische Bild des »Führers« aggressiv zu propagieren.3

Auch in der rheinpreußischen Kleinstadt Gummersbach im Oberbergischen Land mit ihren rund 18 ‌000 Einwohnern, dem Wohnort der Familie Grete und Ernst Habermas, wird jene Mischung aus politisch brisanten und wirtschaftlich katastrophalen Ereignissen sowie kulturellen Sensationen zur Kenntnis genommen worden sein. Vielleicht hat man dem heranwachsenden Jungen später berichtet, welche wichtigen Ereignisse sich in seinem Geburtsjahr zugetragen haben, das mehr Schatten- als Lichtseiten hatte. Woran er sich als Erwachsener erinnern wird, ist ein Gummersbach nach der Jahrhundertwende, das in den Jahren nach der Gründerzeit die Gestalt einer »urbanen Gemeinde« und einer »industriell geprägten Stadt« angenommen hat. »Der Weg zum Metzger Gries führte am Gasthof Winter, am Café Garnefeld und bei Wetzlars vorbei; und auf dem Weg zur Klavierstunde in die Winterbecke sah ich allwöchentlich das Hotel Koester und das alte Amtsgericht. […] Stärker war die 28Jugend geprägt durch die elektrische Bahn […], durch das Hallenbad, das Rathaus, die Schützenburg, das Gemeindehaus, den Spielwarenladen Schramm.«4 Zu erwähnen wäre noch das Vogteihaus im Zentrum der Stadt, »Die Burg« genannt, dann der Oberbergische Dom, der im 11. Jahrhundert im romanischen Stil als Hallenkirche errichtet wurde, aber auch die zahlreichen Talsperren in der waldreichen Gegend des Oberbergischen Kreises.

Während der Kindheitstage schlägt die Welt des Karl May die Phantasie des Heranwachsenden in ihren Bann, der bekennt, sich in dieser Phase lange egozentrisch verhalten, sich mit eigenen psychischen Problemen beschäftigt zu haben.5 Als Schüler findet er in der häuslichen Bibliothek ausreichend Literatur, unter anderem die Novellen und Romane von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer. Von Ernst Jünger liest er später Das Wäldchen sowie das Tagebuch Das abenteuerliche Herz. Die Björndal-Romantrilogie des schwedischen Autors Trygve Gulbranssen gehört ebenso zur Lektüre des Jugendlichen wie die Romane und Dramen von Selma Lagerlöf und Knut Hamsun.

In der protestantischen Familie, in der Jürgen Habermas heranwächst, vermischen sich kleinbürgerliche Elemente mütterlicherseits mit der Tradition des Beamtentums, aus der der sozial aufgestiegene Vater stammt.

Urkundlich nachweisbar ist der Familienname erstmals im westlichen Thüringen seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Reformation: Hanns Habermass erhält um 1570 in Treffurt, nördlich von Eisenach, das Bürgerrecht. In der Folgezeit gab es mehrere Generationen Habermas, die als angesehene Schuhmachermeister in der Residenzstadt lebten.

Die Familie. Ernst Habermas (1891-1972), Sohn eines Pfarrers beziehungsweise späteren Seminardirektors und einer Großbauerntochter, war zunächst im höheren Schuldienst an der Oberrealschule in Gummersbach beschäftigt.6 Um des besseren Einkommens willen gab er 1923, kurz vor seiner Hochzeit, seine ursprüngliche berufliche Tätigkeit auf, um fortan die Stelle des Syndikus der ört29lichen Abteilung der Bergischen Industrie- und Handelskammer (IHK) zu bekleiden. Schon in dieser Weise verbandspolitisch aktiv, studierte er neben seinem Beruf an der Kölner Universität, wo er 1925 mit einer Arbeit über Die Entwicklung der oberbergischen Steinbruchindustrie zum Doktor der Wirtschaftlichen Staatswissenschaften promoviert wurde. Nach Abschluss der Schulzeit an der Oberrealschule von Gummersbach hatte er in Bonn und Göttingen zunächst die Fächer Philosophie und Philologie belegt, absolvierte dann aber im Juli 1914 nur die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen in Deutsch, Englisch und Französisch. Er war aktives Mitglied der Bonner Burschenschaft Alemannia, einer schlagenden Verbindung mit dem Wahlspruch »Gott, Ehre, Freiheit, Vaterland«. Dr. Ernst Habermas war insgesamt 35 Jahre als Geschäftsführer der IHK tätig. Die Familie wohnte in einem gemieteten Haus in der Körnerstraße 33. Als der Syndikus nach dem Krieg seine Tätigkeit wiederaufnahm, zog die Familie in einen Neubau in die Thalstraße 23, in der auch die Handelskammer ihren Sitz hatte. Ab 1956 hat Ernst Habermas seine Stelle bei der IHK gewissermaßen verwaltet, so lange, bis ihm 1962 sein ältester Sohn, der promovierte Jurist Hans-Joachim Habermas, im Amt folgt. Beide haben sich durch Fachveröffentlichungen als Kenner des regionalen Wirtschaftslebens einen Namen gemacht.

Dass der zweitgeborene Sohn, Jürgen, als zusätzliche Namen sowohl den des Großvaters und des Patenonkels (ein jüngerer Bruder des Vaters), Friedrich, als auch den des Vaters, Ernst, erhielt, entsprach den Konventionen der damaligen Zeit. Vielleicht ist es aber auch ein Hinweis darauf, was die väterliche Linie der Familie von diesem Nachkommen erwartete: die Fortführung einer bildungsbürgerlichen Tradition und der des Beamtentums im Geiste protestantischer Lebensführung.

In den Erinnerungen dieses jüngeren Sohnes spielte der Großvater väterlicherseits, Johann August Friedrich Habermas (1860-1911), eine Art Vorbildrolle, denn in der Familiensaga wurde er in besonderer Weise geehrt.7 Er war als Pastor ein an den preußischen Tugenden des Arbeitsethos orientierter und zugleich ein sehr eigen30sinniger Mann, der nicht davor zurückschreckte, sich mehrfach mit der Landeskirche anzulegen, um eine freie evangelische Gemeinde zu gründen. Als amtierender Direktor des neu gegründeten Preußischen Lehrerseminars, eine Position, die er von 1904 bis 1911 innehatte, war er ein angesehener Bürger Gummersbachs, der sich im Übrigen auch als Autor eines bibelkundlichen Handbuchs Verdienste erworben hatte. 1911 erlag der königliche Seminardirektor Johann August Friedrich Habermas, dem eine deutsch-nationale Gesinnung nachgesagt wird, mit 51 Jahren einem Herzleiden. Er hinterließ seine Frau Katharina, geborene Unterhössel (1872-1955), und sechs Kinder. Der 38-jährigen Witwe blieb nur eine knapp bemessene Pension, so dass die drei Mädchen und drei Jungen in engen finanziellen Verhältnissen heranwachsen mussten. Jürgen Habermas' Mutter, Anna Amalie Margarete Habermas, geborene Köttgen (1894-1983), hatte die Mittelschule und eine höhere Töchterschule besucht, die sie mit der mittleren Reife abschloss. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Krankenschwester und im Sommer 1923 heiratete sie Ernst Habermas, den sie bereits zwei Jahre zuvor kennengelernt hatte. Ernst ließ sich mit der Familiengründung Zeit, bis er beruflich eine gesicherte Stellung erlangt hatte und sich im Alter von 32 Jahren in der Lage sah, die materiellen Voraussetzungen für Ehe und Kinder zu schaffen. Margarete Habermas spielte ebenso wie ihr Mann Klavier und hatte literarische und künstlerische Interessen. Sie widmete sich aber, wie es damals üblich war, ganz der Erziehung der drei Kinder, zwei Jungen, ein Mädchen, sowie der Führung des Haushalts in der Körnerstraße und später in der Thalstraße. Die Gaststätte der Gambrinus-Brauerei, die ihre Eltern, der Braumeister und Schankwirt Julius Köttgen (1858-1936) und seine zweite Frau Anna, geborene Theissen (1870-1947), in Düsseldorf in der Düsseltaler Straße betrieben, war für ihre beiden Söhne Hans-Joachim und Jürgen eine höchst attraktive Anlaufstelle, wenn sie in der Stadt zu Besuch waren. Hans-Joachim Habermas ist vier Jahre älter als sein Bruder. Die Schwester Anja kommt 1937 zur Welt, als Jürgen bereits die Volksschule besucht. Sie begann Ende der 1950er Jahre ein Studium der Psycho31logie, Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik und war nach Abschluss des Lehramtsexamens zeitweise im Schuldienst tätig. Seit ihrer Heirat im Jahr 1964 lebt die Mutter von drei erwachsenen Kindern in Neuss.

Zu Beginn der Weltwirtschaftskrise im Geburtsjahr von Jürgen Habermas waren auch in Gummersbach der Konjunkturrückgang und das Anwachsen der Arbeitslosenzahlen spürbar. Und auch hier verzeichnete die NSDAP im April 1932 einen Wahlerfolg bei den Landtagswahlen im Oberbergischen und erhielt in Gummersbach ein Drittel aller Stimmen – allerdings weniger als im Reichsdurchschnitt, was auch damit zusammenhing, dass das nationalliberale Bürgertum stärker mit den Deutschnationalen sympathisierte. Bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 kam die NSDAP auf fast 13,8 Millionen Stimmen und avancierte zur stärksten Fraktion. Am 31. Oktober 1932 trat Adolf Hitler in Gummersbach auf, begleitet von Festakten, Fackelumzügen und Gottesdiensten – die größte politische Versammlung, die in der Stadt bis dahin stattgefunden hatte. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Propaganda, die nicht zuletzt von dem aus dem Oberbergischen Land stammenden Robert Ley, dem späteren Leiter der Deutschen Arbeitsfront, betrieben wurde, und mit Unterstützung des Oberbergischen Boten, der führenden Regionalzeitung, die von der NSDAP kontrolliert wurde, gewannen Hitler und die Nazis weiter an Boden.8 Am 5. März 1933 votierte fast die Hälfte der Gummersbacher Wähler für die Nationalsozialisten.9 Im Jahr nach der sogenannten Machtergreifung – Gummersbach wurde Sitz der Kreisleitung der NSDAP – kam es auch in der oberbergischen Gemeinde zu antijüdischen Aktionen und Verhaftungen politischer Gegner. Der mit der Gleichschaltung einhergehende nationalsozialistische Terror begann. Seit den Novemberpogromen 1938 nahm die Judenverfolgung im Ort zu,10 was der Bevölkerung kaum entgangen sein dürfte, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Juden dazu gezwungen wurden, ihren Besitz unter Wert zu verkaufen. Auch in Gummersbach, späterer Standort eines Außenpostens der Gestapo, setzte sich die nationalsozialistische Volksgemeinschaft durch Aufmärsche, Versammlungen und Sonnenwendfeiern in Szene.32

Jürgen Habermas ist neun Jahre alt, als in der Turnhalle der Oberrealschule seiner Heimatstadt eine Ausstellung unter dem Titel Rassen, Volk, Familie im Oberbergischen stattfindet, organisiert von einheimischen Lehrern.11 Der in jener kleinstädtischen Atmosphäre heranwachsende Jugendliche dürfte den totalitären Parteienstaat und seinen Diktator Adolf Hitler als eine Gegebenheit neben anderen erlebt haben. Man stellte sich eben darauf ein. Die nationalkonservative Orientierung von Ernst Habermas hat diesen allerdings nicht davon abgehalten, schon im Frühjahr 1933 Mitglied der NSDAP zu werden. Wie die meisten Angehörigen der »Funktionselite« schwamm auch er mit im Strom der Selbstgleichschaltung. Den neuen Herren an der Macht wurde eine Loyalität entgegengebracht, die ganz dem traditionellen obrigkeitsstaatlichen Denken entsprach, das insbesondere unter den Beamten vorherrschte. Ernst Habermas war Wirtschaftsberater der NSDAP im Landkreis. Als solcher sah er es »kurz vor Kriegsbeginn im Jahre 1939 als eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben an, den Arbeitskräftemangel zu lindern und durch ein forciertes Wohnungsbauprogramm die hinzugezogenen Arbeitskräfte an die Region zu binden. […] Zudem forderte er weitere Rationalisierungen der Arbeitsabläufe und verstärkten Einsatz von Maschinen, um die von Hermann Göring im Vierteljahresplan geforderten Leistungssteigerungen bei nur begrenztem Arbeitskräftepotential zu realisieren.«12 So wie Ernst Habermas schon im Oktober 1914 als Kriegsfreiwilliger in den Ersten Weltkrieg gezogen war und an der Westfront bei Verdun gekämpft hatte, meldete sich der dann 48-Jährige aus eigenem Antrieb bei der Wehrmacht zum Kriegsdienst, zu einem Zeitpunkt, als Hitlers Armeen damit begannen, Vorbereitungen für einen Vernichtungskrieg zu treffen. Zuvor schon hatte er zwischen 1933 und 1937 an Wehrübungen teilgenommen. In der Wehrmacht bekleidete er zunächst den Rang eines Hauptmanns. Im Frühjahr 1941 wurde ihm die Orts- beziehungweise Standortkommandantur der französischen Hafenstadt Lorient, dann die von Brest, ebenfalls an der bretonischen Küste, zugewiesen, die 1940 zum größten deutschen U-Boot-Stützpunkt am Atlantik ausgebaut wurde und deshalb spä33ter schweren Bombenangriffen der Alliierten ausgesetzt war. Ernst Habermas war mit dem militärischen Grad des Hauptmannes der Orts- beziehungsweise Standortkommandantur zugeteilt und er hatte als Leiter der Zivilverwaltung die Aufgabe, für die Wehrmachtsangehörigen Wohnraum in der Stadt zu requirieren.13 Später erhielt er im Rang des Majors das »Kriegsverdienstkreuz I. Klasse«. Von Juni bis August 1944, als die Alliierten bereits in der Normandie gelandet waren, war er an der für beide Seiten äußerst verlustreichen Verteidigung der Stadt beteiligt.14

In Brest machte er auch die Bekanntschaft des über zehn Jahre jüngeren Literaturwissenschaftlers Benno Georg von Wiese und Kaiserswaldau, der zwar 1927 bei Karl Jaspers promoviert hatte, aber dem Zeugnis Hannah Arendts zufolge 1933 nichts gegen die Gleichschaltung der Universitäten einzuwenden hatte.15 Ernst Habermas bat von Wiese, ein selbst verfasstes Lustspiel zu begutachten, woraus sich schließlich eine freundschaftliche Beziehung entwickelte. Später schrieb von Wiese über Ernst Habermas, er sei ein »Gentleman, mehr noch, ein Grandseigneur« gewesen, der »von […] Witz und menschlicher Intensität sprühte. […] Seine freie rheinische Lebensart, sein Geltenlassen, seine Urbanität, sein lebensfrohes und geistig aufgeschlossenes Temperament, seine persönliche Wärme und seine glänzenden Bonmots, die immer ins Schwarze trafen, werde ich«, so von Wiese, »nie vergessen. Er hielt sich nicht an Konventionen und blieb dennoch an konservative Traditionen gebunden. […] Ernst Habermas durchschaute die Schein-Welt des Barras, blieb aber trotzdem überzeugter Soldat, wenn auch im Einklang mit einer beweglichen Humanität.«16

Kindheits- und Jugendjahre. Zurück zum jüngsten Sohn dieses überzeugten Soldaten mit einer »beweglichen Humanität«. Das Kind Jürgen war das Objekt besonderer Zuwendung der Eltern. Denn schon während der ersten Lebensjahre waren medizinische Eingriffe notwendig. Die Gaumenspalte, mit der der Säugling zur Welt gekommen war, hatte wiederholte Operationen zur Folge. Dennoch ließ sich die Nasalierung nicht vollständig beseitigen. 34Die ärztlichen Eingriffe, die er als Fünfjähriger über sich ergehen lassen musste, und der bleibende Sprachdefekt haben Habermas zufolge seine Denkwege nicht unwesentlich beeinflusst. Das betrifft einerseits die Einsicht, dass Menschen existentiell aufeinander angewiesen sind; andererseits erfährt er am eigenen Leib, welche Bedeutung »das Medium der sprachlichen Kommunikation als Schicht einer Gemeinsamkeit [hat], ohne die wir auch als Einzelne nicht existieren können«.17 In einem autobiographischen Rückblick von 2005 bekennt Habermas, dass diese besondere Erfahrung bei ihm »den Sinn für die Relevanz des Umgangs mit Anderen geweckt« habe.18

Jürgen Habermas wird 1935 eingeschult und besucht für vier Jahre die Diesterwegschule in Gummersbach, eine Volksschule. 1939 wechselt er auf die Oberrealschule (später Städtisches Gymnasium) in der Moltkestraße, deren Schwerpunkte Naturwissenschaften und neuere Fremdsprachen sind. Die Volksschuljahre in Gummersbach hatten durchaus ihre Schattenseiten. Noch als über 70-Jähriger erinnert sich Habermas an die Schwierigkeit, »als ich mich mit einer Nasalierung und einer verzerrten Artikulation, die mir selbst gar nicht bewusst waren, in der Klasse und auf dem Schulhof verständlich machen musste«.19 Es lässt sich leicht vorstellen, dass er wegen seiner Sprachbehinderung verspottet und gehänselt wurde. Diese frühen Diskriminierungserfahrungen hätten, so Habermas später, ihn moralisch empfindlich gemacht für jedwede Form von Ausgrenzung20 und sein politisches Denken nicht unwesentlich geprägt.

Abgesehen von den Verunglimpfungen aufgrund seines Sprachfehlers21 verbringt Habermas seine Kindheits- und Jugendjahre wenig anders als seine Altersgenossen, die sich als Teil einer großen »Volksgemeinschaft« sehen, mit den sichtbaren Zeichen von Volksempfänger, Volkswagen und Reichsautobahnen sowie den Manifestationen eines Führerstaates durch Ästhetisierung und Inszenierung von Machtpolitik im öffentlichen Raum. Während der Sommerferien in den Jahren vor dem Kriegsausbruch erholt sich die Familie Habermas in Warnemünde, Zinnowitz oder auf Rügen.35

Ein früher Freund von Habermas aus den Kindheitstagen ist Josef Dörr, den er offenbar besonders schätzte. Die erste Begegnung zwischen den beiden fast gleichaltrigen Jungen geht auf das Jahr 1932 zurück, als die Familie Dörr sich in der Stadt Gummersbach niederließ. Nur wenig später erkundet der noch ganz junge Habermas mit dem aus dem Ländlichen kommenden Neuankömmling die Umgebung. Eine Schwarzweißfotografie zeigt die beiden sommerlich Gekleideten im Kreise weiterer Spielkameraden, die Habermas zu seinem sechsten Geburtstag eingeladen hat, offenbar versammelt im Garten der Körnerstraße. Ab April 1939 drücken die beiden Freunde gemeinsam die Schulbank in der Oberrealschule. Ihre Freizeit verbringen sie vorzugsweise mit Geländespielen in der ländlichen und waldreichen Umgebung. Nach Auskunft des Freundes war es eine unbeschwerte Zeit, die jedoch mit Beginn des Krieges im Sommer 1939 abrupt zu Ende gegangen sei. Nach dem Krieg habe man vor allem über die Zukunft diskutiert, darüber, wie es mit ihnen selbst, aber auch mit dem Land weitergehen solle. Dabei erlebt Dörr seinen Freund als kontaktfreudige Person, die eine beeindruckende, aber niemals überhebliche Souveränität ausstrahlt.22

Wegen der gesetzlichen Bestimmungen, vielleicht auch wegen des Opportunismus seiner Eltern,23 wird Habermas mit zehn Jahren zunächst Mitglied des Deutschen Jungvolks, später dann der Hitlerjugend. Nachdem diese im Dezember 1936 zur Staatsjugend erhoben und im März 1939 die Zwangsmitgliedschaft verfügt worden war, waren die rechtlichen Voraussetzungen gegeben, alle 10- bis 14-Jährigen beziehungsweise 14- bis 18-Jährigen zu erfassen und sie ihrem Alter und Geschlecht entsprechend den nationalsozialistischen Jugendorganisationen einzugliedern. So wurde die Hitlerjugend unter dem »Reichsjugendführer« Baldur von Schirach zur größten nationalsozialistischen Organisation. Die Mitgliedschaft war an rassische und weltanschauliche Voraussetzungen gebunden.24 Anders als seine Freunde hatte Jürgen Habermas keine Benachrichtigung zum Eintritt in das Jungvolk erhalten. Er fühlte sich ausgeschlossen. Daraufhin rief sein Vater bei der zuständigen 36Dienststelle an, und sein Sohn wurde zwar aufgenommen, fühlte sich in diesem Milieu mit seinen rituellen Prügeleien als Teil der Pimpfenproben aber nicht wohl. Um während der obligatorischen, jeden Samstag stattfindenden Dienstzeit den paramilitärischen Schulungen und Wehrübungen zu entgehen, lässt Habermas verlauten, dass er Arzt werden möchte, was tatsächlich sein Berufswunsch zu dieser Zeit ist. Auf diese Weise gelingt es ihm, den Feldschern zugeteilt und für eine Tätigkeit innerhalb des Sanitätsdienstes ausgebildet zu werden, anstatt sich jenem Drill unterwerfen zu müssen, der auf Arbeitsdienst und Wehrmacht vorbereiten sollte. Schon bald muss er in Räumlichkeiten der Berufsschule Erste-Hilfe-Kurse geben. Er löst einen drei Jahre älteren Gymnasiasten ab, der zum Wehrdienst eingezogen wird und nach dem Krieg als Arzt praktizieren sollte. An seinen jüngeren Nachfolger konnte dieser sich noch Jahrzehnte später erinnern: »Er war ein intelligenter Kerl, der Spaß daran hatte, weil er Arzt werden wollte«, so die Erinnerungen von Henner Luyken, der dem Jüngeren damals beibrachte, was ein Sanitäter wissen muss.25

Jahrzehnte später wird man versuchen, Habermas die Zugehörigkeit zur Hitlerjugend anzulasten. Aber für die nationalsozialistische Weltanschauung mit ihrem »Herrenmenschentum« war er – jedenfalls nach eigenem Bekunden – ebenso wenig empfänglich, wie er an die Propaganda vom »Endsieg« glaubte.26 Seine Erlebnisse und Einstellungen waren offenbar andere als die von Hans-Ulrich Wehler, der ebenfalls in Gummersbach aufwuchs, dieselbe Oberrealschule wie Habermas besuchte und ihn in der Hitlerjugend kennenlernte. Wehler schreibt, er selbst sei wie viele seiner Altersgenossen von dem Willen beseelt gewesen, angesichts der alliierten Übermacht in den letzten Kriegsmonaten das »Reich« zu verteidigen. Diesem »Kult des Willens« stand der zwei Jahre ältere Habermas, der 1943 konfirmiert wird, wohl mehr oder weniger distanziert gegenüber.27 Schließlich enthielt das Biologielehrbuch der Schule drei »Erbkrankheiten« mit diffamierenden Bildern und Kommentaren: Schizophrenie, Klumpfuß und Gaumenspalte. Habermas räumt aber ein, dass es generell schwierig gewesen sei, 37der Propaganda der Nazis, ihrer Demagogie und ihren Versprechungen nicht auf den Leim zu gehen.

Während der Kriegsjahre wurden auch in Gummersbach Lebensmittelkarten zur Rationierung der Versorgung eingeführt. Später gab es Fliegeralarm, brennende Häuser, zerstörte Straßenbahnen, beschädigte Verkehrswege und natürlich auch Tote und Verletzte infolge der Luftangriffe der Alliierten. Die schweren Bombenangriffe auf Köln im Mai 1940, vor allem aber in der Nacht zum 29. Juni 1943 konnten selbst noch von Gummersbach aus beobachtet werden. Und auch aus anderen Gründen wurde die Situation höchst bedrohlich: Hitler hatte noch im März 1945 dem Befehlshaber der Heeresgruppe, die im Oberbergischen lag, persönlich untersagt, die Front zurückzunehmen. Um nicht, wie so viele junge Menschen, in den letzten Kriegswochen im Irrsinn des »Endkampfes« verheizt zu werden, musste Habermas auf der Hut sein. Ihm ist gewiss nicht entgangen, dass im März 1945 in der Region »Sondergerichte« aktiv waren, die bis zur Kapitulation zahlreiche Todesurteile verhängten. In Gummersbach traf es unter anderem einen jungen Mann, der sich von der Truppe entfernt hatte. Er wurde zum Tode verurteilt und anschließend zur Abschreckung aufgehängt.28

Der 15-jährige Habermas soll im Herbst 1944 zunächst als Fronthelfer an die Verteidigungslinie des sogenannten »Westwalls«. Dann erhält er im Februar 1945 einen Gestellungsbefehl der Wehrmacht. »Es ist reiner Zufall«, so Habermas, »daß ich eine Nacht woanders [das heißt nicht zu Hause, Anm. d. Verf.] war und in dieser Nacht die Feldjäger kamen und nach mir suchten. Dann kamen am 10. März Gottseidank, die Amis.«29

Mit den Trümmerlandschaften deutscher Großstädte war der Zustand von Gummersbach bei Kriegsende längst nicht zu vergleichen. Aber von den desaströsen Folgen der Bombardierungen, den Tausenden von Flüchtlingen und Displaced Persons, war der Ort durchaus betroffen. Außerdem waren die Maßnahmen der amerikanischen Militärregierung zur Entnazifizierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens auch hier spürbar.

38Nach 1945. In Gummersbach erlebt Habermas, wie nach dem älteren Bruder auch der Vater im Januar 1947 aus der amerikanischen Gefangenschaft zurückkehrt. Im September 1944 war Ernst Habermas in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. Er wurde in die USA in verschiedene Lager, unter anderem Ruston in Louisiana sowie Jerome und Dermott, beide in Arkansas, verbracht und dann zu Beginn des Januar 1946 mit Zwischenstation in Boston entlassen. In den Gefangenenlagern in den USA wurden die Regeln der Genfer Konvention beachtet, folglich wurden die Insassen als bezahlte Arbeitskräfte eingesetzt und vergleichsweise anständig behandelt. Zudem kamen Ernst Habermas seine ausgezeichneten Englischkenntnisse zugute. Nach der Heimkehr wurde er als »Mitläufer« eingestuft, konnte aber wegen seiner Parteizugehörigkeit erst nach einer kurzen Wartezeit seinen Beruf als IHK-Syndikus wiederaufnehmen. Die finanziellen Mittel der Familie waren mehr als knapp. Im Haus in der Körnerstraße waren Zimmer für Flüchtlinge aus Schlesien und für Ausgebombte aus Köln beschlagnahmt worden. Angesichts dieser prekären Situation blieben Konflikte innerhalb der Familie, an die sich die damals neunjährige Tochter später erinnern wird, nicht aus. Daneben stand Ernst Habermas als Vater vor der nicht eben leichten Aufgabe, die emotionale Distanz, die während der Zeit an der Front und in der Gefangenschaft zwischen ihm und seinen nun (fast) erwachsenen Söhnen entstanden war, abzubauen. Politisch orientierte sich der ehemals Nationalkonservative nach 1949 mehr an der Politik der Christlichen Demokraten als am Liberalismus der Freien Demokraten und er wird sich, durchaus zeittypisch, für die deutsch-französische Aussöhnung engagieren.30 Noch vor der Gründung der Bundesrepublik kann Ernst Habermas dann seine berufliche Tätigkeit als Syndikus bis zur Pensionierung fortsetzen.

Hat sich Habermas jemals mit seinem Vater über dessen NS-Vergangenheit auseinandergesetzt? Der von den Naziverbrechen beschämte und erschütterte junge Mann dürfte registriert haben, was Thomas Mann im Frühjahr 1945 in seiner Rundfunkrede ausgeführt hatte: »Es ist unmöglich, von den vergewaltigten Völkern 39Europas und in aller Welt zu verlangen, daß sie klar und deutlich zwischen ›Nazitum‹ und dem deutschen Volk unterscheiden. Wenn es so etwas wie ein Volk gibt, wenn es so etwas wie Deutschland als historisches Ganzes gibt, dann gibt es auch so etwas wie die Verantwortung – ganz unabhängig von dem sehr diffizilen Problem der Schuld.«31 Hat sich der Gymnasiast gefragt, angeregt durch die Lektüre von Karl Jaspers' Die Schuldfrage, ob die Leugnung einer kollektiven Verantwortung die Flucht in jene Lebenslüge erleichtert, als Einzelner zu keiner Zeit falsch gehandelt zu haben, also kein Täter, sondern Opfer von Propaganda und Terror gewesen zu sein? Ob Jürgen Habermas seinen Vater als »Opfer« in diesem Sinne gesehen hat, steht dahin. Wenn man die Nähe zur »Terror- und Vernichtungspolitik des Regimes als Maßstab nimmt«,32 dann ist Ernst Habermas nicht der NS-Elite im engeren Sinne zuzurechnen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Vater der Prototyp des glühenden Gefolgsmannes jenes »größten Feldherrn aller Zeiten« war.33 Es ist eher anzunehmen, dass Ernst Habermas kein typischer Repräsentant jener zwischen 1900 und 1919 geborenen »Generation des Unbedingten«34 war, jener Mörderelite des »Dritten Reichs«, die auf die Idee absoluter Führerschaft, den fanatischen Rassismus und Antisemitismus eingeschworen und bereit war, wenn nötig bis zum Äußersten zu gehen.

Jürgen Habermas selbst berichtet über das politische Klima in seinem Elternhaus im Rückblick, dass die religiöse Einstellung protestantisch und die politische »unauffällig für die damalige Zeit« gewesen sei, »nämlich geprägt durch eine bürgerliche Anpassung an eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifizierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte«.35 Dennoch war der Vater im »Dritten Reich« ein angesehener Vertreter der deutschen Wirtschaft und hat es in der Wehrmacht bis zum Major gebracht. Diese Umstände scheinen für den Sohn kein Grund zum Bruch oder zur Distanzierung gewesen zu sein. Ihm ist, dem eigenen Bekunden nach, keineswegs verborgen geblieben, dass dessen Vergangenheit als Parteigänger der Nazis für den Vater eine bedrückende Hypothek bei der Neuorientierung im demokratisch ver40fassten Deutschland war, die den Vater emotional belastet hat. In späteren Jahren ließ Ernst Habermas seinem jüngeren Sohn gegenüber anklingen, darüber reden zu wollen.36 Obwohl der Sohn später zu den vehementesten Kritikern jenes »kommunikativen Beschweigens« und seiner pragmatischen Rechtfertigung37 gehören sollte, scheute er die Konfrontation mit dem Vater. Zwar hatte er keinen Zweifel an der Überbrückbarkeit der politischen Gegensätze, aber davon blieb das persönliche Verhältnis unberührt. Im Feuilleton der ZEIT schreibt er am 31. März 1999: »Da wir nicht wissen können, wie wir selbst uns verhalten hätten, erklärt sich eine gewisse Zurückhaltung in der moralischen Beurteilung der Fehler der eigenen Eltern und Großeltern nicht nur aus der psychologisch erklärbaren Hemmung gegenüber den Nächsten.«38

Aus den politischen Differenzen zu seinem Vater hat Habermas kein Geheimnis gemacht. So bekennt er 1955 in einem Brief an Hans Paeschke, Redakteur der Kulturzeitschrift Merkur, ganz unumwunden, »daß mein Vater und ich in politischen Dingen nicht konform gehen«.39 Hat Habermas sich deshalb nicht mit dem Vater auseinandergesetzt, weil er im Begriff war, sich ganz aus dem Kosmos der Familie zu lösen? Vielleicht. Die »offizielle« Haltung, die der junge Habermas in der Nachkriegszeit zur Frage der moralischen Bewertung von Handlungen während der Naziherrschaft einnahm, lässt sich einem Artikel entnehmen, den der 25-Jährige im Oktober 1954 für die Süddeutsche Zeitung geschrieben hat: »Mir scheint, daß die offiziell gehütete Bewußtseinslage der Rehabilitation erst dann wieder mit der Realität zur Deckung kommt, wenn die Tugenden unserer Väter im Medium jener Erfahrungen gebrochen werden, die wir in geschichtlicher Not gemacht haben und die uns daher vor allen anderen instand setzen, eine aktuelle und schöpferische, jedenfalls eine gemäße Antwort zu finden. Notieren wir als die kostbarste der Erfahrungen lediglich den sicheren Takt und die sublime Sensibilität der Jüngeren gegenüber den inhumanen Konsequenzen kollektiver Prozesse.«4041

Jahrgang 1929

Meine Generation, die nach dem Kriege alle Chancen bekam und nutzte, hat die intellektuelle Szene ungewöhnlich lange beherrscht.41

Verschiedene Geburtsjahrgänge lassen sich als »Generationen« zusammenfassen, weil ihnen zeitspezifische Einflussfaktoren in ihrer Epoche gemeinsam sind. Trotz kontingenter persönlicher Unterschiede und individueller Besonderheiten, wie gerade auch die Person Jürgen Habermas vor Augen führt, teilen die Angehörigen seiner Alterskohorte zeitgeschichtlich einzigartige Erfahrungen, die sie während der Kindheits- und Jugendjahre im nationalsozialistischen Deutschland gemacht haben. Sie werden mentalitätsprägend, wenn sie sich zu einem generationellen Wissen verdichten.

Der Soziologe Karl Mannheim vergleicht diese zeitgeschichtlich vermittelten Wissenselemente, die Generationen inkorporiert haben, mit der Sprache, die sich sozusagen hinter dem Rücken des individuell Sprechenden gebildet hat und der er sich auf seine Weise bedient. Somit konstituiert, wie Mannheim betont, nicht das Alter selbst »die gemeinsame Lagerung im sozialen Raum, sondern erst die daraus entstehende Möglichkeit, an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren«.42

Was lässt es gerechtfertigt erscheinen, bezogen auf die Alterskohorte der im Zeitraum von 1927 bis 1930 Geborenen von der Flakhelfer-Generation beziehungsweise in einer Bedeutungsnuance von der 1945er-Generation zu sprechen?43 In erster Linie der Umstand, dass sie praktisch während ihrer gesamten Kindheit und Jugend im nationalsozialistischen Deutschland herangewachsen sind und zu dieser ihrer »Normalwelt« anders als ihre Eltern keine Alternative kennen konnten. Der Umstand, dass sie den Nationalsozialismus in einem jungen Alter erlebt haben, wirft die Frage auf, ob diese Generation, der neben Habermas auch Ralf Dahrendorf, 42Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Walter Kempowski, Heiner Müller und Christa Wolf angehören, durch die von den Jugendorganisationen und Lehrern während der nationalsozialistischen Diktatur praktizierte Erziehung nachhaltig geprägt wurde.44 Eine kontroverse Frage, zu der sich Habermas nicht explizit geäußert hat. In einer der eher seltenen Bezugnahmen auf seine Erfahrungen als Angehöriger der 45er-Generation spricht er vom »Unheroischen […] der eigenen Lebenszeit«.45 Mit dieser auf das biographische Ganze gemünzten vorsichtigen Formulierung lässt er anklingen, dass die Angehörigen seines Jahrgangs sich eben nicht durch eigene moralisch zu verabscheuende Handlungen individuell schuldig gemacht haben, nicht zu Tätern werden konnten, wofür Helmut Kohl (*1930) und Günter Gaus (*1929) – die Urheberschaft ist wohl nicht eindeutig geklärt – die vor allem von Ersterem fortissimo intonierte Formel von der »Gnade der späten Geburt« geprägt haben. Ähnlich beschreibt auch Habermas seine Generation und meint damit »genaugenommen die, die sich ohne Verdienst, allein ihres Jahrgangs wegen, während der Naziperiode nicht durch Teilnahme oder Stillhalten diskreditieren konnten und doch durch die deutliche Erinnerung an den Faschismus, der Folgen hatte für die Biographie jedes einzelnen, geprägt sind«.46

Bei diesen Geburtsjahrgängen beschränken sich die Zugriffe der Diktatur auf die Phase der Kindheit und Jugend. Für die generationsspezifischen Sozialisationserfahrungen von Habermas dürfte die periodische Abwesenheit seines Vaters während der Kriegsjahre und dann später während der Zeit der amerikanischen Gefangenschaft eine Rolle gespielt haben. Deshalb ist die Vermutung berechtigt, dass der alterstypische Vater-Sohn-Konflikt kaum zum Tragen gekommen ist.

Dass Ernst Habermas, abgesehen von der Rolle, die er als Haushaltsvorstand der fünfköpfigen Familie und als Bürger seiner Gemeinde gespielt hat, für seinen jüngsten Sohn die Funktion eines Mentors gehabt hat, klingt bei Habermas nur einmal an. Nach dem Krieg drückte ihm der Vater volkswirtschaftliche Literatur aus der Feder von Vertretern des Ordoliberalismus in die Hand 43und empfahl ihm Bücher von Wettbewerbstheoretikern wie Wilhelm Röpke und Walter Eucken – Autoren, die »im Lichte des freien Wettbewerbs die Mängel der ›Zentralverwaltungswirtschaft‹« herausstellten. »Damals wunderte ich mich«, so Habermas, »über diese neutrale Formulierung für etwas, das alle Welt ›Sozialismus‹ nannte. Auf diese Weise bin ich mit dem Ordo-Liberalismus der Mont Pelerin Gesellschaft schon ziemlich früh in Berührung gekommen.«47 Als Erwachsener wird der Sohn, der offenbar keine Neigungen zum symbolischen Vatermord verspürte, seinen Vater eher nüchtern als bildungsbürgerlich ambitionierte Persönlichkeit sehen, der am Militär in erster Linie der Status des Majors wichtig gewesen sei.48

Neben der Familie – und die Mütter werden dabei nach wie vor zumeist übersehen – und den Jugendorganisationen hat natürlich auch die Schulzeit im Nationalsozialismus diese Generation geformt. Die Lehrer in Gummersbach werden der nationalsozialistischen Weltanschauung mehrheitlich so nahe und in Ausnahmefällen so fern gestanden haben wie überall im »Großdeutschen Reich«: Den Erinnerungen Hans-Ulrich Wehlers zufolge reichte die politische Skala »vom starren Deutschnationalen, der dem extremen Nationalismus der Nazis alsbald erlag, bis hin zum standfesten Freisinnig-Liberalen, der noch 1944, selbst für uns kleine Pimpfe spürbar, eine kühl distanzierte, ja ironische Haltung gegenüber der jüngsten Geschichte behielt. Im Allgemeinen herrschte eine rechtsliberal-konservative Einstellung vor und damit befand sich das Kollegium auch in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Schülereltern, bis einige fanatische Nationalsozialisten diesen problematischen Konsens von beiden Seiten her in Frage stellten.«49 Sich darauf einen Reim zu machen, ist für 10- bis 15-jährige Jungen keine leichte Sache, vielleicht sogar unmöglich. Habermas dürfte allenfalls vage Erinnerungen an jene Vorkriegsjahre haben, als der Nationalsozialismus auf breite Zustimmung und sein »Führer« weithin auf Bewunderung stieß. Am Ende war es jedoch vor allem seine Behinderung, der angeborene Sprachdefekt, der Habermas gewissermaßen davor schützte, sich mit der herrschen44den Ideologie zu identifizieren. Er hatte schlicht »keine Chance, [sich] als Jugendlicher mit der herrschenden Weltanschauung zu identifizieren«.50

»Im Vorfeld des Ernstfalls«. Ende 1944 wurden alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren zum Einsatz im »Deutschen Volkssturm« aufgerufen, aber auch der 15-jährige Habermas und seine Altersgenossen mussten befürchten, noch in den Sog jenes verbrecherischen Vernichtungskriegs zu geraten, als im Februar und März 1945 die Einberufung der Jahrgänge 1928 und 1929 zu Ersatz- und Ausbildungsdivisionen erfolgte.51 Zwar blieb ihnen der Einsatz an einer der längst chaotisch zerfallenen Kriegsfronten schlussendlich erspart, aber sie befanden sich doch, wie Hans-Ulrich Wehler feststellt, »im Vorfeld des Ernstfalls«.52

In dieses Vorfeld gerät Habermas im August 1944, zwei Monate nach der Landung der Alliierten in der Normandie. Ein Foto aus dem Privatarchiv der Familie dokumentiert, wie er auf Befehl des örtlichen Gauleiters in einem Zug von Gleichaltrigen durch seinen Heimatort marschiert, auf dem Weg zu einem Lager, wo sie sich auf ihren Einsatz am Westwall vorbereiten sollen, um dort Panzergräben auszuheben. Als Fronthelfer hatte Habermas keinen Kombattantenstatus, musste also keinen Kriegsdienst an der Waffe leisten, doch er wird nicht ohne Bangen dem entgegengeblickt haben, was auf ihn zukommen sollte: sich am Ende eines verlorenen Krieges mit den Altersgenossen sinnlos in Gefahr begeben zu müssen. Er hatte Glück im Unglück. Weil er als Sanitäter ausgebildet worden war, kam er am Westwall alsbald in die Revierstube und musste nicht direkt an Kampfhandlungen teilnehmen.45

Die Zäsur von 1945

Man ist eine neue Generation, indem man etwas Neues hervorbringt […].53

Fluchtpunkt Demokratie. Habermas erlebt die bedingungslose Kapitulation des »Großdeutschen Reichs« nicht als Schmach, sondern als »eine Befreiung, historisch und persönlich«. Die Tage in der ersten Mai-Woche – »[e]s war«, so erinnert er sich, »übrigens sehr schönes Wetter«54