Kampf ums Kanzleramt - Daniel Koerfer - E-Book

Kampf ums Kanzleramt E-Book

Daniel Koerfer

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Beschreibung

Verborgener Machtkampf zwischen zwei Gründungsvätern der Bundesrepublik Ludwig Erhard und Konrad Adenauer – zwei Politiker, die gegensätzlicher nicht sein konnten, prägten die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland. Doch während Adenauer idealisiert wird, tritt die Rolle Erhards in den Hintergrund – obwohl er jahrelang Adenauers Mitstreiter und schließlich sein Nachfolger war. Der renommierte Historiker Daniel Koerfer legt sein großes Standardwerk zur deutschen Nachkriegsgeschichte in einer aktualisierten und erweiterten Ausgabe vor. In einem neuen Kapitel untersucht er auf der Basis neuer Quellen Erhards Tätigkeit während der Nazi-Diktatur, unter anderem als Gutachter für die NS-Haupttreuhandstelle. Neu hinzugekommen sind des Weiteren Kapitel über sein Verhältnis zu Wilhelm Vershofen, seinen Kontakt zu Carl Goerdeler, der intensiver als bisher angenommen war, und seine tragende Rolle bei der Einführung der dynamischen Rente. - Hintergründe und Details zum politischen Kräfteringen zwischen dem »Alten« aus Röhndorf und dem »guten Menschen vom Tegernsee« - Das Standardwerk zur deutschen Geschichte der Nachkriegszeit: vollständig durchgesehen, aktualisiert und erweitert - Konrad Adenauer verklärt, Ludwig Erhard weitgehend vergessen: Eine kritische Auseinandersetzung mit der historischen Darstellung - Von erfolgreichen Partnern zu erbitterten Rivalen: Ein Sachbuch, das sich so spannungsreich und dramatisch wie ein zeithistorischer Roman liest Insgesamt schildert Koerfer in seinem Sachbuch minutiös die spannungsreiche Beziehung des ersten Bundeskanzlers zu seinem Wirtschaftsminister. Er liefert Hintergründe und Details zum politischen Kräfteringen zwischen dem »Alten« aus Röhndorf und dem »guten Menschen vom Tegernsee« Ein Sachbuch, das sich so spannungsreich und dramatisch wie ein zeithistorischer Roman liest. Erhard und Adenauer: ein Stück deutscher Zeitgeschichte aus der Perspektive zweier Schlüsselfiguren Adenauer, der kühle Taktiker, und Erhard, der noble Idealist – so gegensätzlich die beiden Politiker sind, so ideal ergänzen sie sich. Beide kämpfen für die Freiheit: nie wieder Diktatur, Rassenwahn und Klassenkampf. Somit ist die Ära Adenauer ebenso eine Ära Erhard. Daniel Koerfer gibt in seiner Analyse Einblick in die Adenauer'sche Kanzlerdemokratie. Er wertet exklusives Archiv-Material aus, durchleuchtet den umfassenden Briefwechsel zwischen Adenauer und Erhard und führt Interviews mit Zeitzeugen. All das fließt in diese Doppel-Biografie ein, wird sorgfältig erläutert und in den zeithistorischen Kontext eingeordnet. So entsteht ein facettenreiches und authentisches Bild zweier großer deutscher Politiker, deren politisches Erbe bis heute fortwirkt!

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Seitenzahl: 1771

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DANIEL KOERFER

KAMPF UMSKANZLERAMT

ERHARD UND ADENAUER

Die Abbildung im Vor- und Nachsatz zeigt den Brief Adenauers vom 20. Mai 1959, dem Höhepunkt der Bundespräsidentenkrise. Das Covermotiv zeigt Erhard und Adenauer im März 1966.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

Bei dieser Ausgabe handelt es sich um die erweiterte, aktualisierte und korrigierte Fassung der Originalausgabe, erschienen 1987 bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart.

1. Auflage

© 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Gotham Light, Bauer Bodoni Black

Umschlaggestaltung: Benedikt Lechner

Umschlagmotiv: picturedesk (Ullstein Bild/BPA)

ISBN 978-3-7109-0118-8eISBN 978-3-7109-5121-3

INHALT

EINLEITUNG

LUDWIG ERHARD: »UNSERE ZEIT WIRD KOMMEN!«

Jugend, Weltkrieg, Wirtschaftskrisen – und Marktforschung im Dritten Reich

Disput mit Himmlers Reichskommissariat zur Festigung des deutschen Volkstums

Enttäuschte Erwartungen – der Bruch mit Vershofen

Zwischen Goerdeler und Ohlendorf – ein eigenes Institut und Nachkriegsplanungen

DIE SCHWIERIGE PARTNERSCHAFT

Eine amerikanische Entdeckung

Marktwirtschaftlicher Urknall – die Zusammenarbeit mit Konrad Adenauer beginnt

Das Tabu: Alter, Tod und Erbfall

Die Gürzenich-Affäre – Modell der Konfrontation

»Nicht für die Ewigkeit …« – die umkämpfte Einführung der dynamischen Rente

Konfliktfeld Europa – auf dem Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

Regierungsbildung 1957 und Vizekanzlerschaft – ein Sieg der »Brigade Erhard«?

KANZLERDEMOKRATIE AM WENDEPUNKT

Interne Nachfolgedebatte vor veränderter außenpolitischer Kulisse

Adenauer und de Gaulle in Colombey – eine Begegnung mit Folgen

Kanzlernachfolge und Bundespräsidentenwahl 1959 – der Konflikt bricht auf

Adenauer in Cadenabbia – Rückzug in Raten

Wieder in Bonn – offene Feldschlacht

Harte Zeiten für Parlamentäre – eine Allianz zerbricht

ERSTARRTE FRONTEN

Abwehrkämpfe – Parteireform, Kohlekrise, außenpolitische Verstimmungen

Der Hallstein-Plan – nach schwerer Krankheit neuer Streit?

Kronprinzenfragen – vom Karlsruher CDU-Parteitag zum Treffen am Tegernsee

»Abkanzler-Zeit« – Disput um D-Mark-Aufwertung und Interzonenhandel

»Adenauer, Erhard und die Mannschaft« – Bundestagswahlkampf und Mauerbau

KANZLER AUF ZEIT

»Ausfall – Umfall – Reinfall«: die Koalitionsverhandlungen 1961

Staatsmann der Sorge – Gefahr für Berlin, die Union und die Wirtschaft

Kanzlerdämmerung – Hermann Josef Dufhues und der »widerliche Kampf« um die Nachfolge

SPIEGEL-Affäre und Regierungskrise – überraschende Verlängerung der Ära Adenauer?

Der Kanzlerwechsel – »Die dritte Entlassung war die Schlimmste!«

DAS ENDE

»Hauptsache, et is einer wech!«

ANHANG

Anmerkungen

Quellenverzeichnis

Bibliographie

Personenregister

Bildnachweis

EINLEITUNG

Adenauer und Erhard – welch ein Gegensatzpaar! Eigentlich, so müsste man denken, fordert es geradezu zur Beschreibung, zur Analyse heraus. Diese beiden Gründungsväter der Bundesrepublik hätten ja unterschiedlicher kaum sein können, so komplex und vielschichtig ihre Persönlichkeit auch jeweils angelegt war. Beide Kinder des 19. Jahrhunderts, beide aus eher einfachen Verhältnissen stammend, beide auf ihre Weise Aufsteiger, und doch trennten sie rund zwanzig Jahre, eine Generation. Der eine aus knorrig-hartem Holz geschnitzt, hager-aufrecht, dabei mit allen Wassern gewaschen, auch denen rheinischen Humors; der andere blauäugig von Kindheitstagen an, früh rundlich, rauchend, optimistisch. Zwei Köpfe. Das durchfurchte, von Lach- und, stärker noch, von Sorgenfalten gezeichnete Indianerhaupt des kölnischen Patriarchen, ihm vis-à-vis das bis ins hohe Alter hinein seltsam jungenhafte Gesicht des volkstümlichen Franken, halslos auf breiten Schultern ruhend, als unvermeidliches Attribut die Zigarre, Zuversicht und Gemütlichkeit signalisierend.

Äußerlichkeiten, die auf innere Gegensätze verweisen, mit diesen durchaus korrespondieren. Der kühl kalkulierende, präzise Rationalist, der schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu politischen Ämtern und Würden gelangt war, stand dem bisweilen etwas naiven Idealisten gegenüber, der erst 1945 die politische Bühne betrat oder, besser noch, sich von der amerikanischen Militäradministration gezielt auf sie stoßen ließ. Dem einen war politische Betätigung früh zum Lebensinhalt geworden, der andere kam eher unverhofft dazu, musste sich von der ökonomischen Wissenschaft und der damit bei ihm in Vorkriegs- und Kriegsjahren verknüpften Politikberatung verabschieden. Der eine liebte das politische Ränkespiel, beherrschte die Intrige, dem anderen blieb dergleichen zeitlebens fremd, er fühlte sich in der Politik bisweilen wie auf ein barbarisches Eiland verschlagen. Nur zu oft musste er, der »gute Mensch vom Tegernsee«1, der liberale Protestant, mit seinem an Adam Smith geschulten Glauben an die unsichtbar lenkende Hand der Vernunft, feststellen, wie sein Gegenüber, der strenge Katholik, der »Alte« aus Rhöndorf, wieder einmal alle Hoffnungen auf eine einvernehmliche Lösung über den Haufen warf. 1965 schenkte Erich Mende, auch ein Adenauer-Geschädigter, Erhard deshalb als Stärkungsmittel eine Prachtausgabe von Machiavellis II principe – vergebens. Erhard konnte damit nichts anfangen und blieb sich treu bis zum bitteren Ende.

Die Ära Adenauer war auch eine Ära Erhard. Doch merkwürdig: Je mehr sich das Bild des ersten Kanzlers der Bundesrepublik verklärt, je mehr die Kanten und Ecken seines Charakters im milden Licht der Idealisierung verschwimmen, die harten, brutalen, boshaften Züge seines Führungsstils ausgeblendet werden, desto stärker tritt auch jener Mann in den Hintergrund, der gemeinsam mit Konrad Adenauer die Weichen gestellt hat, der vierzehn Jahre an seiner Seite als Minister amtierte, schließlich nach langen, zermürbenden Auseinandersetzungen sein Nachfolger wurde: Ludwig Erhard.

Adenauer verklärt, Erhard weitgehend vergessen – das gilt für die öffentliche Meinung, die politische Publizistik und, mit Abstrichen, auch für die Wissenschaft.2 »Von der Parteien Hass und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte«, schrieb Friedrich Schiller über Wallenstein. Auf das Bild Konrad Adenauers trifft dies nicht mehr zu. Von Verwirrung, von Kontroverse keine Spur. Gunst und Hochachtung dominierten. Der Mann, dessen Anhänger, Freunde, Fürsprecher bei seinem Rücktritt 1963 in der kleinen Pfarrkirche von Rhöndorf Platz gefunden hätten, wie sein Mitarbeiter Horst Osterheld treffend bemerkte3, besitzt nach seinem Tod fast nur noch Bewunderer. Die Kritiker und Gegner von einst haben sich längst eingereiht in den Chor der Lobredner; in seiner eigenen Partei will niemand mehr etwas davon wissen, wie leid man es war, sich unter seine Knute zu beugen, und welche Erleichterung herrschte, als er endlich abtrat. Nun berufen sich alle, auch seine Nachfolger im Kanzleramt, egal welcher Partei sie angehören, auf ihn, auf sein Werk. Die selbst ernannten Erben und Enkel sind bald nicht mehr zu zählen.

Dementsprechend rapide wächst auch der Berg der Bücher, die einzelnen Aspekten seiner Kanzlerschaft oder seinem Leben insgesamt gewidmet sind. Und – auch dies ein Indiz für den Verklärungsprozess – die Fülle der publizierten »authentischen« Adenauer-Äußerungen hat ebenfalls stark zugenommen. Seine Reden, Briefe, Teegespräche sind längst in voluminösen Editionen veröffentlicht, ganz so, als ob all diese Dokumente ohne Weiteres verständlich seien, als ob sie nicht sorgfältig erläutert, in den mittlerweile immer weiter entrückten zeithistorischen Kontext eingebettet werden müssten, was selbst der sorgfältigste Anmerkungsapparat niemals zu leisten vermag. Einen Adenauer in Goldprägung, den gibt es mittlerweile, auch wenn in den monumentalen Biografien von Henning Köhler und Hans-Peter Schwarz durchaus auch ein klares Licht auf seine Schattenseiten fiel.4 Denn es gab ja tatsächlich nicht nur den grandseigneuralen, charmanten Konrad Adenauer, es gab auch den schonungslosen, unerbittlichen. Wohl keiner hat das so direkt erlebt, erfahren und erlitten wie sein langjähriger Mitstreiter Ludwig Erhard, mit dessen Namen die Allerwenigsten heute noch sehr viel verbinden können – die voluminösmaterialreiche, 1996 erschienene, zugleich aber stark abwertende, ja fast hämische Biographie von Volker Hentschel hat daran ebenso wenig ändern können wie die zehn Jahre später erschienene, durchaus wohlwollende, aber auch nicht wirklich tiefschürfende Studie des amerikanischen Wirtschaftshistorikers (mit polnischen Wurzeln) Alfred C. Mierzejewski.5

Ludwig Erhard und Konrad Adenauer – ein Gegensatzpaar im wahrsten Sinne des Wortes. Bei allem Antagonismus eben zugleich ein Paar, auf verblüffende Weise komplementär. Beide verband und einte über alle Gräben hinweg die Botschaft der Freiheit, der zutiefst antitotalitäre demokratische Grundkonsens, der sich gegen die nationalsozialistische wie die stalinistisch-sozialistische Diktatur gleichermaßen richtete. Ihre Botschaft der Freiheit verknüpften sie mit einem vielfachen »Nie wieder«, für das sie gemeinsam kämpften: Nie wieder Weimar, Wirtschaftskrisen, Währungsschnitte, nie wieder Diktatur, Rassenwahn und Klassenkampf. Jeder besaß dabei etwas, das dem anderen fehlte; ihre Talente, Begabungen, Fähigkeiten ergänzten sich ganz vortrefflich. Der rüstig-listige »Wundergreis«6 mit seinem nüchtern-pessimistischen Blick für Menschen, seinem geschärften Sinn für politische, nicht zuletzt außenpolitische Zusammenhänge, seiner klaren Konzeption der Westbindung und -integration der jungen Bundesrepublik, und der Wirtschaftszauberer, der tatsächlich über ein rasch wirksames Rezept für den ökonomischen Aufschwung verfügte und es mutig gegen immensen Widerstand durchsetzte, ja den marktwirtschaftlichen Urknall ganz eigentlich auslöste – sie stellten eine ideale Kombination dar. Beide auf ihre Weise Männer der Stunde, am richtigen Platz; beide gleichermaßen durchsetzungsfähig, obwohl sie dabei ganz unterschiedliche Wege gingen.

Auch nach den ersten gemeinsamen Anstrengungen in den Aufbaujahren 1948/49 brachte die Art ihrer Kooperation der zweiten deutschen Republik, der Regierung und nicht zuletzt auch der Union beträchtliche Vorteile. Wo Adenauer durch Härte und Entschiedenheit wirkte, glich Erhard durch Güte, Optimismus und mitreißende Beredsamkeit aus. Wo Adenauer als ein Politiker erschien, der mit harten Bandagen und bisweilen etwas anrüchigen Methoden kämpfte, schuf Erhard durch seine lautere Erscheinung ein Gegengewicht. Der eine verkörperte nach außen die väterliche Strenge, der andere die mütterliche Milde. Eine geschickte Rollenverteilung – und das Geheimnis ihres Erfolgs in zahlreichen Wahlen.

Zugleich eine erstaunliche Konstellation. Man könnte glauben, sie sei am Schreibpult eines Dichters entworfen, so spannungsreich, so dramaturgisch geschickt ist sie angelegt. Denn die Geschichte der Zusammenarbeit von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard ist ja nicht allein und ausschließlich die Geschichte einer erfolgreichen Partnerschaft, sie enthält zugleich durchaus dramatische, tragische Züge. Ein begabter Schriftsteller könnte daraus gewiss den Stoff für einen handfesten zeithistorischen Schlüsselroman gewinnen.

Die Geschichte einer zerbrochenen Freundschaft. Am Anfang die große Romanze, die Werbung. Wie sich rasch herausstellt: zu viele Missverständnisse. Zugleich die Voraussetzung dafür, dass sich das »Stück« immer stärker zum Ehedrama nach Strindberg’schem Muster entwickelt. Die Temperaturen sinken, Kälte breitet sich aus. Der Alte stößt den Jungen, Jüngeren immer härter, immer unversöhnlicher zurück. Bewunderung, Verehrung, Anhänglichkeit, alles, was Erhard seinem Antipoden entgegenzubringen bereit ist, all die Erwartungen auf eine vertrauensvolle, harmonische Verbindung werden enttäuscht. Zahllose Waffenstillstandsverhandlungen bringen keinen dauerhaften Frieden, Versöhnungsfeiern sind einen Tag später bereits wieder vergessen – von Adenauer. Jeder der beiden Hauptbeteiligten beginnt Bedingungen zu stellen, die für den anderen unannehmbar, ja einfach unerträglich sein müssen: Adenauer will, dass Erhard seinen früh angemeldeten Anspruch auf die Kanzlernachfolge aufgibt, weil er ihn für einen politischen Nonvaleur hält. Erhard wünscht nichts sehnlicher, als dass Adenauer selbst ihn zum Nachfolger kürt, ihn – nach dem Vorbild der römischen Adoptivkaiser – als einzig legitimen Erben einsetzt, ihn segnet und salbt. Beides ist ausgeschlossen, die qualvolle Eskalation im langen Kampf ums Kanzleramt programmiert.

Im vorliegenden Band wird versucht, nicht nur wie bei einer Kriegsberichterstattung von all den vielfältigen Scharmützeln und Grabenkämpfen zu berichten, sondern zugleich ein Stück deutscher Zeit- und Nachkriegsgeschichte aus der Perspektive von zwei Schlüsselfiguren wie Konrad Adenauer und Ludwig Erhard zu schildern und zu analysieren und damit die Innenausstattung der Macht in der Adenauer’schen Kanzlerdemokratie in ihren entscheidenden Mechanismen und Ausprägungen näher auszuleuchten. Dabei versammelt dieses Buch die überarbeiteten und stellenweise ergänzten Kapitel des 1986/87 erstmals erschienenen Kampf ums Kanzleramt mit komplett neuen Teilen wie dem ersten, allein Ludwig Erhard und seiner Tätigkeit im Dritten Reich gewidmeten Abschnitt oder dem Kapitel über die Einführung der dynamischen Rente, einer Schlüsselentscheidung der Regierung Adenauer/ Erhard mit Folgen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein.

Das entscheidende Stichwort bei alledem lautete stets: Informationen. Allgemein ein Kernproblem zeitgeschichtlicher Forschung, zugleich ein besonderes bei diesem Thema, das nicht bloß deutsche Geschichte, sondern auch zentrale Vorgänge in der Geschichte einer Partei, der CDU/CSU, behandelt und berührt. Der französische Soziologe Maurice Duverger hat einmal geschrieben: »[Es] umgibt sich das Parteileben gerne mit Geheimnissen. Selten erhält man genaue Auskünfte, selbst über die einfachsten Dinge. Es ist hier wie in einer primitiven Rechtsordnung, in der die Gesetze und Riten geheim sind und von den Eingeweihten scheu dem Blick der Profanen entzogen werden. Nur die alten Kämpfer der Partei wissen mit den Umwegen ihrer Organisation Bescheid und kennen die Feinheiten der Intrigen, die gesponnen wurden. Aber sie haben selten einen wissenschaftlichen Sinn, der es ihnen ermöglichte, die nötige Objektivität zu wahren. Und sie sprechen nicht gerne …«7

Sätze, die man dieser Studie als Leitmotiv voranstellen könnte. Die komplizierte, nur ganz am Anfang reibungslose Zusammenarbeit zwischen den beiden führenden Repräsentanten der Union, die über lange Jahre trotz persönlicher Abneigung, vor denselben Wagen gespannt, im Geschirr aushielten; ihre internen Konflikte und Auseinandersetzungen, schließlich der schwierige, für alle Beteiligten peinvoll-peinliche Streit um die Nachfolge bis hin zum ersten Kanzlerwechsel – all das bleibt für die Union eine cause celebre, bleibt als Themenkomplex durchaus heikel. Adenauer und Erhard hieß es nach außen hin so lange, während hinter den Kulissen Adenauer mit einer Erbitterung sondergleichen gegen Erhard stritt und der langjährige Erbfolgekrieg beide Kontrahenten, aber auch die Union beschädigte. Derlei Bedenken waren bei den ersten Recherchen oft zu hören, waren bisweilen sogar unüberwindlich. Als unüberwindlich, undurchdringlich erwiesen sich damals die Mauern der CDU-Parteiarchive, der Stiftungen, die den Namen Adenauers in ihrem Titel tragen, die seinen Nachlass und die zentralen Dokumente, Protokolle, Akten der Unionsgeschichte verwalten, sie hüten wie den Hort der Nibelungen. Diese Schätze vor dem »Blick der Profanen« zu schützen galt dort als höchstes Ziel. Kein Zureden, keine Fürsprache half. Satzungen, Statuten, Präzedenzfall – Einwände, Ausflüchte gab es viele. Der Riegel hielt.

Woher stammen nun aber die Quellen für dieses Buch, wer hat es überhaupt erst ermöglicht? Zuvorderst ist dem Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung in Bonn, Karl Hohmann, zu danken. Ohne seinen Entschluss im Jahr 1982/83, einen fast vollständigen Einblick in die Archivalien seines Hauses, vor allem in den Nachlass Ludwig Erhards, zu gestatten, einer sorgfältigen, gründlichen Auswertung zuzustimmen, hätte das Buch nicht geschrieben werden können. Die zentralen Passagen der vorliegenden Studie stützen sich auf die Korrespondenz zwischen Ludwig Erhard und Konrad Adenauer. In Adenauers Kanzlerdemokratie, in jener längst versunkenen Zeit also, als es noch keine SMS oder E-Mail gab, war der Brief tatsächlich noch ein zentrales Herrschaftsinstrument – und das gilt ganz besonders für den umfangreichen Briefwechsel zwischen diesem Bundeskanzler und seinem Wirtschaftsminister und Nachfolger, der hier erstmals als entscheidender Quellenbestand herangezogen und so zum Ausgangspunkt für eine zeitgeschichtliche Studie werden konnte. In der sorgfältigen Edition von Holger Löttel kann man seit 2019 weite Teile dieser umfänglichen Korrespondenz auf 1211 Seiten nachlesen.8 Dennoch wird unser Buch damit nicht überflüssig. In ihm werden um die Schlüsselquellen herum eine Vielzahl anderer Dokumente und Materialien angeordnet, die sie ausleuchten, erhellen und manches bisweilen erst verständlich werden lassen. Der Nachlass Heinrich von Brentanos im Bundesarchiv, der Nachlass von Theodor Heuss und viele Dokumente aus dem Archiv der Freien Demokratischen Partei kommen als weitere wichtige Quellenbestände hinzu.

Um diese Materialien aus Stiftungen, Archiven, Institutionen gruppieren sich zwei weitere wichtige Informationsstränge. Eine ganze Reihe von Zeitzeugen und Beteiligten, die heute alle längst nicht mehr leben, haben sich in den Achtzigerjahren zu ausführlichen, bis zu acht Stunden dauernden Gesprächen zur Verfügung gestellt und außerdem eigene private Unterlagen, Briefe, Tagebuchnotizen, Gedächtnisprotokolle wichtiger Sitzungen und anderes mehr dem Verfasser überlassen. Hier muss in erster Linie Gerd Bucerius, Helmut Gollwitzer, Hans Herbert Götz, Walter Henkels, Antonius John, Konrad Kraske, Wolfram Langer, Ernst Müller-Hermann, Georg Schröder, Kurt Steves, Robert Strobel, Wolfgang Wagner und Hans-Henning Zencke gedankt werden. Der besonders aussagekräftige Briefwechsel Bucerius/Erhard verdient an dieser Stelle herausgehoben zu werden zusammen mit den mehrere Aktenbände umfassenden Aufzeichnungen von Wolfram Langer.

Hinzu treten die umfangreichen, viele Leitzordner füllenden persönlichen Materialien, Notizen, Aufzeichnungen, teilweise auch Tagebucheintragungen ehemaliger Bonner Korrespondenten wie Hans Herbert Götz, Georg Schröder, Wolfgang Wagner und Hans-Henning Zencke. Dadurch kann in dieser Studie das Wechselspiel zwischen den Haupt- und Staatsaktionen im Regierungslager und den Vertretern der Vierten Gewalt stärker aufscheinen, wobei die Differenz zwischen publizierter Nachricht oder veröffentlichtem Kommentar und vertraulicher Hintergrundinformation vielfach klar zutage tritt.

In die Darstellung eingeflossen sind außerdem an vielen Stellen die Hinweise von Monsignore Paul Adenauer, von Gerhard Kluth, dem Neffen Ludwig Erhards – vor allem, was die Charakterisierung der Persönlichkeit der beiden Hauptpersonen in dieser Studie anbelangt. Zu langen, teilweise mehrfachen, hinterher in Gedächtnisprotokollen festgehaltenen Besprechungen Zeit genommen haben sich auch Rüdiger Altmann, Erik Blumenfeld, Eugen Gerstenmaier, Klaus Gotto, Hermann Höcherl, Georg Kotowski, Heinrich Krone, Ernst Majonica, Erich Mende, Ulrich Meyer-Cording, Horst Osterheld, Alfred Rapp, Josef Rösing, Otto Schlecht, David Schoenbaum und Ludger Westrick. All ihre Hinweise führten zurück in die mittlerweile längst entrückte Nachkriegs- und Anfangszeit der Bundesrepublik und lieferten wertvolle Puzzleteile zu deren Verständnis.

Die Gesprächsbereitschaft dieses Reigens von Zeitzeugen wurde vermutlich damals vielfach befördert durch die Tatsache, dass die meisten Hintergrundgespräche 1982/83 in Bonn in einer anderen, gleichfalls aufwühlenden Zeit des Übergangs – diesmal von der sozialliberalen Ära zur Kanzlerschaft Helmut Kohls – geführt wurden. Das Treffen mit Ludwig Erhards langjährigem Staatssekretär und Kanzleramtschef Ludger Westrick war beispielsweise von langer Hand für den 1. Oktober 1982 verabredet, was sich Wochen später als Tag des konstruktiven Misstrauensvotums entpuppte, mit dem Helmut Schmidt gestürzt und Helmut Kohl zum neuen Kanzler gewählt werden sollte. Auf die Anfrage, ob wir das Gespräch deshalb verschieben sollten, antwortete Ludger Westrick: »Keineswegs, ganz im Gegenteil, Sie müssen unbedingt kommen …« Am Ende verbrachten wir den ganzen historischen Tag gemeinsam. Ludger Westrick fühlte sich zweifellos stark an den brutalen Kanzlersturz von Ludwig Erhard sechzehn Jahre zuvor erinnert und sprach entsprechend offen und freimütig über die bittere Endphase jener Kanzlerschaft.

Nach Abschluss der Recherchen standen dem Verfasser in der Zeit der Niederschrift zudem vor allem zwei sachkundige Gesprächspartner unermüdlich zur Seite: Volkhard Laitenberger, der Leiter des Bonner Archivs der Ludwig-Erhard-Stiftung, und Wolfram Langer, der langjährige Bonner Chefkorrespondent des Handelsblatts, Erhard-Vertraute und 1956/57 Mitverfasser von Wohlstand für alle, von 1958 bis 1963 Leiter der Abteilung I im Bundeswirtschaftsministerium und anschließend bis 1968 dessen Staatssekretär, der überdies das gesamte, umfangreiche Manuskript auf sachliche Fehler durchgesehen und eigene Nachforschungen nicht gescheut hat, um für größere Genauigkeit zu sorgen.

Weshalb wird nun dieser Band nicht einfach wieder neu aufgelegt, versehen mit der einen oder anderen kleineren Korrektur? Das hängt mit dem neu entstandenen Ludwig Erhard Zentrum (LEZ) in Fürth zusammen – und mit dem unermüdlich beharrlichen Wirken von Evi Kurz, der entscheidenden Kraft hinter allem. Sie ist mittlerweile für Ludwig Erhard das geworden, was Anneliese Poppinga für Konrad Adenauer war. Mit ihrem Fürther Initiativkreis zusammen hat sie erreicht, dass das Geburtshaus von Ludwig Erhard, die »Wiege der Sozialen Marktwirtschaft«, wie sie scherzhaft zu sagen pflegt, erworben und mit Mitteln des Bundes, des Freistaats Bayern und privater Spender zu einem Erhard und seiner Konzeption gewidmeten Zentrum mit eindrucksvoller Doppelausstellung im Geburtshaus und modernen Museumsneubau direkt am Rathaus von Fürth ausgestaltet werden konnte. Bei der Entwicklung des Drehbuchs für die 2018 eröffnete Dauerausstellung war der »alte« Kampf ums Kanzleramt ein nicht ganz unwichtiger Baustein. Zugleich wurden aber auch seine Lücken deutlich. Wesentliche Teile aus der frühen Biografie Ludwig Erhards waren blinde Stellen geblieben und brauchbare biografische Studien zu ihm, anders als zu Adenauer, weiterhin Mangelware. Deshalb wurde von unserem Team eine intensive Recherchearbeit in Gang gesetzt, wobei die zwei hervorragenden »Kundschafter« Christoph Schoelzel und Philipp Rauh mit ihren akribischen Archivrecherchen besonders hervorgehoben zu werden verdienen. Sie haben nicht nur die verschollene umfangreiche Militärakte Ludwig Erhards aus dem Ersten Weltkrieg im Kriegsarchiv des Bayerischen Hauptstaatsarchivs aufgespürt, sondern auch viele der rund 2000 Seiten mit zentralen Quellenfunden aus der Zeit des Dritten Reichs zusammengetragen, die hier nun erstmals ausgewertet und eingearbeitet werden konnten und zu klären versuchen, was Ludwig Erhard vor dem Frühjahr 1945 erlebt und welchen Weg er eingeschlagen hat.

Auf dieser Basis können hier tatsächlich erstmals wichtige und zweifellos durchaus kritische Punkte aus jener Zeit thematisiert und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden, die die ohnehin spärliche »Erhard-Forschung« bislang weitgehend ausgespart hat: die Kooperation Erhards mit Gauleiter Josef Bürckel, dem er sich als Wirtschaftsberater vor allem für Elsass-Lothringen zur Verfügung stellte; Erhards Gutachtertätigkeit für die NS-Haupttreuhandstelle Ost (HTO) in den besetzten polnischen Gebieten, in Westpolen, Danzig und dem sogenannten Warthegau um Posen und die daran geknüpfte langwierige Auseinandersetzung mit der SS-Stabshauptstelle Himmlers als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums; sein heftiges Zerwürfnis mit Vershofen und die Händel mit der nationalsozialistischen Stadtverwaltung in Nürnberg; Erhards Denkschrift über die Sanierung der durch Hitlers Rüstungs- und Kriegsfinanzierung abermals hyperinflationierten Reichsmark – er plädiert wie später die US-Finanzexperten Colm, Dodge, Goldsmith und Edward Tenenbaum für einen radikalen Währungsschnitt; der enge Kontakt zu Carl Goerdeler, einem führenden Kopf des Widerstands, den Erhard seit Mitte der Dreißigerjahre kennt und der ihn seinen Mitverschwörern 1944 kurz vor der Verhaftung wegen seiner Denkschrift noch als »guten Berater« empfiehlt; oder auch das einmalige Treffen mit Otto Ohlendorf im Reichswirtschaftsministerium, gleichfalls wegen der Denkschrift, sowie Erhards Beratervertrag mit der Rosenthal-Porzellanmanufaktur, wo er nach dem Krieg bei den Amerikanern zugunsten der »Arisierer« Partei ergreift und von einer Rückgabe an die in der NS-Zeit enteignete jüdische Eigentümerfamilie abrät. Selbst dass Ludwig Erhard 1942 das Eiserne Kreuz II bekam – um ihn nach dem heftigen Institutsstreit, der seinem Abschied dort vorausgeht, zu besänftigen –, ist uns nicht entgangen.

Erst durch all dies wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, den Weg Ludwig Erhards und die Entwicklung seiner Konzeption bis zum marktwirtschaftlichen Urknall und dem fast zeitgleich stattfindenden ersten Kontakt mit dem »Alten« von Rhöndorf skizzieren und anschließend die spannungsreiche Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Schlüsselfiguren der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte und damit das Innenleben der Kanzlerdemokratie auf einer breiteren, fundierten Basis untersuchen zu können.

Wie wurde damals Politik gemacht, wie durchgesetzt? »How to get things done« – das ist die entscheidende Frage.9 Wie regierte, wie behauptete sich Adenauer, wie legitimierte, wie stabilisierte er seine Herrschaft? Wie groß war der Freiraum, den er Ludwig Erhard bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik einräumte? Wann wurde der Regierungschef selbst aktiv, wann griff er ein? Welche Rolle spielten die jeweiligen Helfer, Mitarbeiter, Gefolgsleute? Wo holte sich Erhard seine Unterstützung? Gab es so etwas wie eine »Brigade Erhard«? Wie setzte sie sich zusammen, über welchen Einfluss verfügte sie? In welchen Etappen vollzog sich die Ablösung des ersten Kanzlers, inwiefern verschoben sich dabei die Gewichte in Regierung, Partei und Fraktion?

All diesen Fragen, die leicht zu stellen, aber schwer zu beantworten sind, soll in dieser Doppelbiografie nachgespürt werden, bei der allerdings die Perspektive Ludwig Erhards, dem heute im Vergleich zu Adenauer doch weithin Unbekannten und Vergessenen, dominiert. Es geht darum, zentrale Vorgänge in einem wichtigen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte zu erforschen, als auf den Trümmern der Vergangenheit ein moderner Industriestaat errichtet wurde – einem Zeitabschnitt, der, wie eingangs erwähnt, nicht allein von Konrad Adenauer, sondern eben auch von Ludwig Erhard maßgeblich mitgeformt und mitgeprägt wurde.

Auch wenn sich heute fast alle Politiker bei wirtschaftspolitischen Sonntagsreden auf ihn, auf die »Soziale Marktwirtschaft« berufen, ist der Begriff doch mittlerweile sinnentleert und hat mit dem, was Ludwig Erhard wirklich wollte und vertrat, kaum mehr etwas zu tun. »Neoliberal« ist längst zum vergifteten Schimpfwort mutiert, Markt und Wettbewerb werden in weiten Teilen unserer medialen Welt nicht mehr als tragende Säulen unseres immensen Wohlstands verstanden und verteidigt, und damit wird zugleich der Blick auf die Kraft von Erhards Botschaft der ökonomischen Freiheit, gepaart mit maßvollem sozialem Ausgleich, immer mehr verstellt. Jener Staatseinfluss, den er als optimistischer Propagandist der Freiheit in seiner Sternstunde 1948 so entschlossen zurückgedrängt hat und vor dem er unermüdlich bis an sein Lebensende warnte, ist längst wieder massiv auf dem Vormarsch. Dabei war es seine – heute vergessene oder gering geschätzte – Entfesselungskunst gewesen, die nach den Verheerungen der braunen Diktatur und Zwangswirtschaft zusammen mit der Leistungsbereitschaft und Schaffenskraft von Millionen die Voraussetzungen für den gewaltigen ökonomischen Aufstieg schuf und damit Adenauers Politik der Westintegration so wirksam unterfütterte, dass am Ende tatsächlich – wie übrigens von beiden verschiedentlich prognostiziert – das sichtbare Scheitern des sozialistischen Experiments im anderen Teil Deutschlands und die Wiedervereinigung stehen sollte. Die Grundlagen dazu hatten sie in den fast zwanzig Jahren ihrer schwierigen Partnerschaft tatsächlich gemeinsam gelegt. Warum die Ära Adenauer auch eine Ära Erhard gewesen ist, das sollen die folgenden Kapitel veranschaulichen.

LUDWIG ERHARD: »UNSERE ZEIT WIRD KOMMEN!«

JUGEND, WELTKRIEG, WIRTSCHAFTSKRISEN – UND MARKTFORSCHUNG IM DRITTEN REICH

Wer war Ludwig Erhard? Welche Erfahrungen und Eindrücke haben seine Kindheits-, seine Jugendjahre bestimmt? Was ist für das Verständnis seiner Persönlichkeit, seiner Mentalität wichtig? Geboren wurde er am 4. Februar 1897 in der Sternstraße 5 in Fürth. In diese aufblühende Gewerbe-, Handelsund Garnisonsstadt mit ihren damals rund 50 000 Einwohnern war sein Vater, Philipp Wilhelm Erhard, schon rund ein Jahrzehnt früher gezogen. Als Sohn eines armen Kleinbauern aus dem Dörfchen Rannungen in der unterfränkischen Rhön hatte er sich zuvor in Schweinfurt als Lehrling, Gehilfe, Handelsvertreter im Textileinzelhandel verdingt, schließlich in Fürth als selbstständiger Kaufmann niedergelassen. Dort hatte er auch geheiratet. Die Mutter, Augusta Friederika Anna Erhard, geborene Haßold, entstammte einer alten fränkischen Handwerkerfamilie; ihr Vater war Seilermeister.1 Ihre Mitgift und die eigenen Ersparnisse gestatteten es Wilhelm Erhard, sein eigenes Weiß-, Wollwaren- und Ausstattungsgeschäft zu eröffnen. Vom Bauernsohn zum Kaufmann – Stationen eines sozialen Aufstiegs, wie ihn das wirtschaftlich prosperierende Kaiserreich im ausgehenden 19. Jahrhundert vielfach ermöglichte.

Das Milieu, in dem Erhard aufwuchs, wird man wohl zunächst als kleinbürgerlich bezeichnen können, obgleich hier von Anfang an die geistige Enge fehlte, die oft genug damit verbunden ist.2 In seinem Elternhaus herrschte eine beträchtliche Aufgeschlossenheit und Offenheit. Das war für Fürth nicht unüblich. Denn das politische und kulturelle Klima der Stadt war geprägt von Toleranz, der jüdische Bevölkerungsanteil war hoch, lag bei etwa zwanzig Prozent. Die konfessionelle Mischehe der Erhards wirkte sich deshalb nicht als Belastung, als Nachteil für die Familie aus. Der Vater, ein Katholik, ließ die Kinder durch die Mutter ihrem Wunsch entsprechend protestantisch erziehen. An den Familienfeiern nahmen jedoch Geistliche beider Konfessionen teil. Diese Erfahrung der religiösen Versöhnlichkeit und Harmonie war für den jungen Erhard wichtig, wirkte »formend« auf ihn und ließ in ihm die Vorstellung wachsen, dass zwischen Menschen unterschiedlicher Auffassung bei etwas gutem Willen stets ein Ausgleich gefunden werden könne.3

Die politische Einstellung seines Vaters, der Familie umschrieb Erhard selbst später mit den Worten »kaiser- und königstreu«.4 Der Vater gehörte zu den Bewunderern der Hohenzollern – nicht von ungefähr bekam sein Sohn Ludwig, das zweitjüngste der vier überlebenden Kinder, den weiteren Vornamen Wilhelm5, verehrte daneben aber auch Otto von Bismarck, übrigens gleichzeitig noch Eugen Richter, ebenjenen Mann, der im Namen seiner Deutschen Freisinnigen Partei größere Rechte für den Mittelstand forderte und bei dessen Reichstagsreden der Kanzler Bismarck den Saal zu verlassen pflegte. Solche Widersprüche nahm man damals nicht tragisch – man war liberal.6

Ludwig Erhards Kindheit stand, was die persönlichen Lebensumstände anbelangt, unter einem guten Stern, auch wenn er mit drei Jahren an spinaler Kinderlähmung erkrankte, eine bleibende Gehbehinderung zurückbehielt und sein Leben lang orthopädische Schuhe tragen musste. Das materielle Auskommen der Familie war mehr als gesichert – er wuchs auf in einer »Atmosphäre bürgerlicher Beschaulichkeit und Sorglosigkeit, die keine Zweifel und Skrupel über die Angemessenheit einer scheinbar festgefügten gesellschaftlichen Ordnung aufkommen ließ«, wie er sich 1958 erinnerte.7

Kindheit und Jugend im prosperierenden Kaiserreich – Ludwig Erhard mit seinen Eltern um 1915.

Schon sehr früh schien der weitere Lebensweg klar und deutlich vorgezeichnet. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte Ludwig Erhard die Königliche Realschule in Fürth, die er mit dem »Einjährigen« beendete. Ein eher mittelmäßiger Schüler, der in Mathematik mit der Note »genügend« abschloss; die Eltern sahen keine Veranlassung, ihn auf das Gymnasium zu schicken und das Abitur machen zu lassen. Das »Einjährige«8 war Qualifikation genug, wenn er nach einer kaufmännischen Lehre in einem Nürnberger Textilkaufhaus das väterliche Geschäft, wie ausgemacht und abgesprochen, übernehmen sollte. Zwar reizte den jungen Ludwig Erhard, der als Kind das Klavierspiel gelernt hatte und in dem die Liebe zur Musik gewachsen war, der Gedanke, Dirigent zu werden, aber schließlich fügte er sich den elterlichen, vor allem den väterlichen Wünschen und unternahm die ersten Schritte in Richtung Kaufmann und Weißwarenhandel. Es war eine Zeit, in der man als Lehrling sechzig Stunden in der Woche arbeiten musste, was er gerne getan habe, und der Spitzensatz der Einkommensteuer bei 4,5 Prozent lag, wie er sich später leicht amüsiert erinnerte.

Doch der Krieg machte alle Pläne zunichte. 1916 wurde Ludwig Erhard, nachdem sein älterer Bruder Max am Ostermontag 1915 gefallen war und er sich daraufhin trotz seiner Gehbehinderung aus Patriotismus freiwillig gemeldet hatte, zum 22. Königlich bayerischen Feldartillerie-Regiment (Nürnberg) eingezogen. Nach der üblichen oberflächlichen Ausbildung schickte man ihn als Richtkanonier in die Stellungskämpfe in den Vogesen, im Münstertal, ab Oktober 1916 dann nach Siebenbürgen, an die rumänische Front. Dort wurde seine Einheit in zahlreiche Gefechte verwickelt. Er selbst erkrankte an Flecktyphus, überlebte aber, dem Mangel an Medikamenten und den ärztlichen Prognosen zum Trotz, bewies eine erstaunliche körperliche Robustheit und Widerstandskraft.

Sein optimistisches Naturell ließ ihn die Kriegserfahrungen auch nicht als primär traumatische Phase in Erinnerung behalten, sondern vor allem als eine Zeit, wo man Kameradschaft und Verlässlichkeit in einer Gemeinschaft kennenlernte, was er als sehr positiv wahrnehmen sollte. In seiner Privatbibliothek gibt es einen Baedeker-Band aus der Vorkriegszeit zu Rumänien, den er damals wohl im Tornister mitgenommen hatte und in dem sich die handkolorierte Zeichnung eines kleinen Städtchens mit Kirchturm findet. Von Hand hatte er auf diesem Bild vermutlich noch an der Front mit Bleistift einen kleinen Pfeil auf diesen Turm eingezeichnet und daran geschrieben: »Den hab ich zerschossen« – die naive Freude des Richtkanoniers über einen Treffer festhaltend.

Er berechnet die Geschossbahnen: Erhard als Richtkanonier auf der Geschütz-Lafette mit seiner Einheit in Rumänien, Herbst 1916.

Er bringt es zum Unteroffizier und Offiziersanwärter, auch wenn er bei der ersten Prüfung im November 1917 noch durchfällt. Nach dem Waffenstillstand an der rumänischen Front im Dezember 1917 wird er nach Flandern versetzt, wo er im Februar 1918 die zweite Prüfung zum Offiziersanwärter besteht.9 Kurz vor Kriegsende treffen den mittlerweile zum Wachtmeister Beförderten bei Ypern mehrere Granatsplitter, verwundeten ihn schwer. Erst nach sieben Operationen konnte er seinen linken Arm, seine linke Schulter unter Mühe und Schmerzen wieder bewegen. Tiefe Narben blieben zurück. Aber Ludwig Erhard überstand auch das, überstand sogar die hohen Dosen Morphium, die ihm wegen der qualvollen Schmerzen verabreicht worden waren.10 Diese Zähigkeit, diese Fähigkeit, seinem Körper höchste Belastungen zuzumuten und abzufordern, sollte sich in allen späteren Lebensphasen als hilfreich erweisen. Außerdem zeigte sich bereits damals ein ganz charakteristischer Zug seines Wesens: der Optimismus. Ein gewisses Grundvertrauen, das möglicherweise durch die erfüllte, harmonische Jugend, durch die enge Eltern-Kind-Beziehung – wobei die tüchtige, lebenskluge und warmherzige Mutter eine zentrale Rolle gespielt haben mag – bedingt war, ließ ihn trotz der strapaziösen, leidvollen Erfahrungen die Kriegsjahre nicht ausschließlich in düsteren Farben in Erinnerung behalten.11

Wie bei vielen Angehörigen seiner Generation veränderte der Krieg auch die weitere Lebensentwicklung von Ludwig Erhard, gab ihr eine gänzlich andere Wendung, auch wenn er zunächst von Umsturz, Revolution und dem eskalierenden Bürgerkrieg in Bayern, von den blutigen Kämpfen zwischen kommunistischer Räterepublik und Freikorps nur wenig mitbekam; er lag im Lazarett und blieb nach der Entlassung noch über Monate Rekonvaleszent. Selbst an ein Zupacken, ein Mithelfen im väterlichen Geschäft war überhaupt nicht zu denken.

Da in Nürnberg im Oktober 1919 eine neue Handelshochschule ihre Tore geöffnet hatte, beschloss er, dort als Gasthörer Kurse zu besuchen. Schon bald lernte er den Gründungsdirektor Wilhelm Rieger, einen Fachmann der Privatwirtschaftslehre, kennen. Diesen Kontakt bezeichnete Erhard später als »fast schicksalhaft entscheidenden Wendepunkt« in seinem Leben.12 Rieger kümmerte sich intensiv um den angehenden Studenten, empfahl ihm und den zögernden Eltern ein Vollstudium, ebnete später – Erhard hatte ja kein Abitur gemacht – sogar den Weg zur Immatrikulation an der Frankfurter Universität. Hochschule – das war eine andere, ferne, fremde Welt damals, eine entrückte Sphäre. Aber Rieger überwand die Bedenken der Familie, zog Ludwig Erhard in seinen Bann, weckte in ihm – nach dessen eigenen Worten – »die Liebe zur Wissenschaft«13, lehrte ihn »vor allem die Kunst, folgerichtig zu denken«.14

1922 bestand Ludwig Erhard sein Examen als Diplom-Kaufmann, übrigens gemeinsam mit einer vier Jahre älteren Kommilitonin, der Kriegswitwe Luise Schuster, geborene Lotter. Die Nachbarstochter und Spielgefährtin aus Fürther Jugendtagen war ihm bereits während des Studiums eine konzentrierte, aufmerksame Gesprächspartnerin bei der Diskussion wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellungen gewesen – und mehr als das. Beide heirateten am 11. Dezember 1923. Da hatte sich Ludwig Erhard schon in Frankfurt am Main immatrikuliert, um seine Studien zu vertiefen und zu promovieren.

Es war eine dramatische Zeit. Die Hyperinflation erreichte gerade ihren Höhepunkt. Erst durch die Mitte Oktober 1923 erlassene Verordnung über die »Rentenmark«, durch die am 15. November begonnene Ausgabe der neuen Währung gelang es Reichskanzler Gustav Stresemann, zusammen mit dem damaligen Finanzminister Hans Luther und dem Reichswährungskommissar Hjalmar Schacht, den scheinbar unaufhaltsamen Währungsverfall zu stoppen. Und Ludwig Erhard verfolgte diese Entwicklung nicht allein deshalb besonders aufmerksam, weil sein Interesse an wirtschafts- und währungspolitischen Problemen geweckt worden war und stetig wuchs, nein, er erlebte die brutalen Auswirkungen der galoppierenden Inflation gewissermaßen am eigenen Leib: Das väterliche Geschäft stand, wie zahlreiche andere kleinere Unternehmen auch, vor dem Zusammenbruch. Die Rücklagen trotz immer neuer Kapitaleinlagen auch aus dem familiären Umfeld der Mutter aufgezehrt, die Warenlager zusammengeschmolzen, zugleich bedrängt von der Konkurrenz moderner Kaufhäuser mit deutlich größerem und zugleich preiswertem Sortiment in Fürth und Nürnberg, war es höchst zweifelhaft, ob es sich noch lange würde halten können.

Geburtshaus und Laden der Familie Erhard in Fürth um 1900 – heute Teil des Ludwig Erhard Zentrums.

Die Frage stellte sich immer dringlicher nach dieser ersten deutschen »Währungsreform« im 20. Jahrhundert, bei der das Reich sich auf einen Schlag all seiner seit 1914 aufgehäuften Schulden entledigte, die Besitzer von Sachwerten wie Aktien, Immobilien, Gold und Devisen – besonders Dollar oder Schweizer Franken – relativ ungeschoren davonkamen, hochverschuldete Spekulanten, die auf Kredit Sachwerte erworben hatten, begünstigt wurden und die vielen Zeichner von Kriegsanleihen, aber auch die kleinen Sparer und Rentner alles verloren. Tatsächlich musste der Familienbetrieb Anfang 1929, am Beginn der einsetzenden Weltwirtschaftskrise, nach langer Agonie aufgegeben werden – den Insolvenzantrag hat Ludwig Erhard selbst unterzeichnet, um seinem Vater diesen letzten Schritt zu ersparen, den dieser wohl als zutiefst ehrenrührig empfand.15 Auch das Geburtshaus in Fürth – das man seit Sommer 2018 als Teil des Ludwig Erhard Zentrums besichtigen kann – verlor die Familie darüber.

Die damaligen Eindrücke und Erfahrungen sind schwerlich folgenlos für Erhards wirtschaftspolitische Konzeption geblieben: Bei ihm – wie auch bei Konrad Adenauer, der diese Phase als Oberbürgermeister von Köln ebenfalls sehr bewusst miterlebt hatte – besaß später die Stabilität von Währung und Preisen nicht von ungefähr hohe Priorität, war beiden doch nur zu bewusst, wie stark die brutalen ökonomischen Verwerfungen der Zwanzigerjahre und die damit einhergehende Verarmung von Millionen dem Aufstieg Hitlers und damit der ersten deutschen Diktatur den Boden bereitet hatten.16

In Frankfurt beschäftigte sich Erhard allerdings nicht mehr ausschließlich mit Fragen der Ökonomie. Hier traf er auf einen weiteren Dozenten, der sich als Mentor seiner annahm, entscheidenden Einfluss auf ihn ausübte: Franz Oppenheimer, der erste Inhaber des Frankfurter Lehrstuhls für Soziologie und ökonomische Theorie. Ein interessanter, durchaus umstrittener Mann, der dem nicht-marxistischen Flügel der Sozialdemokratie nahestand. Oppenheimer, 1864 geboren, hatte als Arzt in seiner Berliner Praxis in der Eichendorffstraße nahe dem Stettiner Bahnhof die Schrecken der »großstädtischen Slums« mit ihrer hohen Säuglingssterblichkeit, den zahlreichen Tuberkulosekranken kennengelernt17, war dann Journalist geworden und schließlich so, auf dem »Weg eines Außenseiters«18, zur Nationalökonomie und Soziologie gekommen, wo er sich durch Monographien über Malthus, Marx und Ricardo einen Namen machte. Der Sohn eines Berliner Rabbiners muss ein glänzender Redner, ein vielseitiger und faszinierender Wissenschaftler gewesen sein. Wie andere große Gelehrte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, etwa sein Altersgenosse Max Weber oder der ein Jahr ältere Werner Sombart, strebte er nach einer »universalen Betrachtung des gesellschaftlichen Lebens«19, nach einer Überwindung der Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen.

Oppenheimers Suche nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, nach etwas, das er »liberalen Sozialismus« nannte, die Ablehnung der Monopole im Wirtschaftssystem, das Lob der Konkurrenz, besonders aber seine Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft – der Wirtschaft wurde eine friedenstiftende, ausgleichende, harmonisierende Rolle zugeschrieben, der Staat als gewaltsamer Eroberer und Unterdrücker verstanden – beeindruckten Erhard so tief, dass er Teile davon seinen eigenen Konzeptionen zugrunde legte. Wenn er später, nach dem Zweiten Weltkrieg, gegen Kartelle kämpfte, den Abbau der Handelsschranken zwischen den einzelnen Staaten forderte, für ein geeintes Europa, ein »Europa der Freien und Gleichen« ohne Zölle und nationale Abschottungen votierte20, dann zeigt sich darin die Langzeitwirkung der Oppenheimer’schen Ideen. Allerdings drehte er, der den Sozialismus nach dem Zweiten Weltkrieg für eine verhängnisvolle Irrlehre hielt, ganz bewusst Oppenheimers Leitspruch um, stellte ihn gewissermaßen vom Kopf auf die Füße, wenn er von einem »Sozialen Liberalismus« sprach, den er zu verwirklichen trachte.21

Bleibend geprägt hat Oppenheimer das Menschenbild Erhards. Er machte ihn mit den Thesen von Jean-Jacques Rousseau bekannt und bestärkte ihn in der optimistischen Grundüberzeugung, der Mensch an sich sei im Wesenskern gut, nur durch äußere Umstände, durch den auf Gewalt gegründeten Staat könne er fehlgeleitet, zur Unterwerfung und Misshandlung anderer gebracht werden; ändere man jedoch die institutionellen Rahmenbedingungen, lasse sich letztlich ein Zustand der Ausgewogenheit und des Friedens erreichen.22 Ein in der Tat folgenreicher Einfluss. Der humanitäre und liberale Idealist Erhard mit seinen tiefen Skrupeln vor der Macht – hier formt und festigt er sich. Gewiss übernahm er dabei nicht alles, was der Kathedersozialist Oppenheimer »predigte«; dessen Lieblingsidee etwa, die Bevölkerung aus den Ballungszentren auf viele, möglichst autarke Kleinsiedlungen zu verteilen, um dadurch die Proletarisierung der Stadtbevölkerung ebenso wie den Großgrundbesitz – darin sah Oppenheimer zwei Hauptübel seiner Zeit – wirksam zu bekämpfen, taucht bei Erhard nicht mehr auf.23

Insgesamt sind aber nicht nur die Konzeptionen Oppenheimers für Erhard wichtig geworden. Dieser ungewöhnliche Lehrer begegnete seinen Studenten mit menschlicher Anteilnahme. Er wollte vertrauensvolle Zusammenarbeit, führte die Diskussion unter Gleichgestellten, ohne je nachtragend zu sein, dachte nicht in Hierarchien. Überhaupt entsprach er nicht dem Gelehrtentyp seiner Zeit. Er liebte Gesellschaft, war ein begeisterter Sportler, dazu ein leidenschaftlicher Bergsteiger mit einer Passion für das schweizerische Engadin, wo er – in Celerina – viele Monate zubrachte.24

Erhard fand in seinem Kreis die Anregungen, die er suchte, fand wohl auch die Vaterfigur, die er damals brauchte. »Ich war nicht nur Professor Oppenheimers Schüler, ich durfte auch sein Freund sein!«25, bemerkte er später über sein Verhältnis zu seinem Doktorvater. Die Dissertation, eine theoretische Arbeit über »Wesen und Inhalt der Werteinheit«, schloss Erhard 1925 ab; das Prüfungsgespräch mit Oppenheimer fand während einer Gebirgswanderung auf dem Höhenweg oberhalb von Pontresina statt. Am Ende, rund 3000 Meter über dem Meer, drückte der Professor seinem Doktoranden die Hand und erklärte voll Humor: »Ich verleihe Ihnen hiermit den höchstenakademischen Grad.«26 Erhard hatte die Einladung zu dieser Bergwanderung ohne Zögern akzeptiert, obwohl bei seiner Gehbehinderung ein solcher Marsch nicht unbeschwerlich sein konnte. Aber wenn Ludwig Erhard jemand verehrte, dann nahm er auf sich selbst wenig Rücksicht, war zu den größten Anstrengungen bereit.

Die Arbeit selbst war kein Meisterwerk akademischen Scharfsinns, wie beide Gutachter übereinstimmend feststellten. Doktorvater Oppenheimer fertigte sein Gutachten übrigens erst nach der Bergwanderung und nach mehrfacher Aufforderung durch die Universitätsverwaltung an. Es hatte Platz auf einer Postkarte an die Alma Mater in Frankfurt und lautete: »Die Dissertation des Ludwig Erhard über die Werteinheit hat der Unterzeichner angenommen, vorbehaltlich vereinbarter Änderungen und mit III zensiert. Im früher stattgefundenen mündlichen Examen über die theoretische Nationalökonomie im Hauptfach hat er mit II bestanden.« Der auch zu dieser Zeit schon vorgeschriebene Zweitgutachter Prof. Fritz Schmidt, neben Eugen Schmalenbach, Heinrich Nicklisch und Wilhelm Rieger einer der bedeutendsten Betriebswirtschaftler jener Zeit, hatte ähnlich kurz geurteilt, zugleich damals schon Erhards bisweilen leicht genialische Arbeitsweise moniert und ihn zu Nachbesserungen verdonnert: »Die Arbeit zeugt von kritischem Denken und ist flüssig geschrieben. Das Positum scheint mir nicht geführt. Der Verf. operiert mit einer Arbeitswerttheorie, die nicht genügend scharf begründet ist. Quellenangaben sind sehr nachlässig im Text verstreut. Die Quellenangaben sind nachzuführen. Unter der Auflage für hinreichend: Note III. Schmidt.«27

Die Verbindung zu seinem Doktorvater pflegte Erhard auch nach der Promotion, hielt zu ihm auch im Dritten Reich Kontakt, als der freundschaftliche Umgang mit jüdischen Deutschen längst schon sozial geächtet war, bis Oppenheimer sich 1938 schließlich doch noch zur Emigration in die USA entschloss. Beinahe wäre es zu spät gewesen – und Oppenheimer wäre verhaftet worden. Er unterschätzte lange die Bedrohung und war sogar nach dem ersten USA-Aufenthalt im Sommer 1936 wieder in Hitlers Reich zurückgekehrt, um seine reguläre Pension zu beziehen – er war damals bereits 72 Jahre alt –, die ihm nicht nach Amerika weitergeleitet werden durfte. Ab Januar 1937 wohnte er tatsächlich in der der Nassauischen Straße 9–10 in Berlin. Seine Tochter Renata hat in ihrem umfangreichen, in den USA verfassten Manuskript mit dem Titel One who got away von der dramatischen Phase berichtet, die begann, nachdem im April 1938 der Pass ihres Vaters von der Gestapo eingezogen worden war: »Jetzt endlich realisierte mein Vater, dass es Zeit war, das Land zu verlassen. Beinahe zu spät. Es war schon gefährlich geworden (für beide Parteien), irgendeinen sozialen Austausch mit ›Ariern‹ zu haben. Ludwig Erhard, ein Student meines Vaters und Kanzler in Westdeutschland nach dem Krieg, schaute vorbei, um Abschied zu nehmen – die Gestapo war Vater bereits auf den Fersen …«28

Ludwig Erhards jüdischer Doktorvater Franz Oppenheimer mit seiner Tochter Renata kurz vor der Flucht aus Deutschland 1937/38.

Weniger den energischen Warnungen Erhards als dem Mut seiner Tochter hatte es der Vater zu verdanken, dass er trotz der nach der Reichspogromnacht wieder massiv angestiegenen antisemitischen Welle und der Verhaftung von über 30 000 jüdischen Deutschen im Dezember 1938 seinen Pass tatsächlich zurückerhielt, wenn auch versehen mit den nunmehr vorgeschriebenen rassenantisemitischen Merkmalen, den Zwangsvornamen »Israel« – bzw. bei Frauen »Sarah« – und dem eingestempelten großen roten »J«. Sie insistierte unermüdlich und unerschrocken bei der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße, ihren Status als Halbjüdin und ihr Aussehen – blond und blauäugig wie auf einem BDM-Plakat – instrumentalisierend. Sie besorgte auch Visa und Ausreisebewilligungen, wobei der Vater seine Pensionsansprüche opfern musste als Äquivalent für die obligatorische Reichsfluchtsteuer. Am 24. Dezember 1938 ging er zusammen mit seiner Tochter in Marseille an Bord der Félix Roussel, um in die USA zu flüchten, wo schon seine Schwester Lisel lebte. Weil das Visum für die Tochter nicht eintraf, erreichten sie erst nach längeren Zwangsaufenthalten in Singapur und Japan anderthalb Jahre später, am 12. August 1940, den Hafen von San Francisco. Franz Oppenheimer sollte »his beloved Germany« nie wiedersehen, denn er starb 1943 in Los Angeles. Als Bundeskanzler hat Ludwig Erhard die Familie gebeten und ermutigt, wieder nach Deutschland zu kommen.

Er selbst kehrte nach dem Abschluss seines Studiums von Frankfurt am Main nach Fürth zurück. Als der Konkurs des väterlichen Geschäfts nicht mehr aufzuhalten war, bewarb er sich, als junger Familienvater auf ein geregeltes Einkommen angewiesen, Ende 1928 bei Wilhelm Vershofen, einem weiteren Professor an der Handelshochschule Nürnberg, der zugleich ein kleines »Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware« – heute würde man sagen: für Markt- und Konsumforschung – leitete. Zunächst ging es lediglich um eine Halbtagsstelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Erhard, der bereits bei Oppenheimer mit der Kapitalismusforschung der Zwanzigerjahre, mit den Ideen und Modellen von Emil Lederer, Georg Gothein und Joseph Alois Schumpeter in Berührung gekommen war29, wurde zum 1. Oktober 1929 eingestellt – in jenem Monat, als mit dem Börsencrash in New York die Weltwirtschaftskrise fatale Fahrt aufnahm. Bei Vershofen lernte er nun die subtilen Methoden der Marktforschung kennen und erlebte die Übertragung amerikanischer Befragungspraktiken auf deutsche Verhältnisse aus nächster Nähe mit.

Vershofen ist damit zugleich der letzte in der Triade akademischer Lehrer, die Erhard menschlich wie wissenschaftlich stark beeinflussten, vielleicht der persönlich »vielseitigste«.30 Er hatte Germanistik, Philosophie, Naturwissenschaften und Nationalökonomie studiert, war als Spitzenkandidat der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) 1919 in die Nationalversammlung eingezogen, an der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung beteiligt gewesen und seit 1921 als Dozent an der Handelshochschule in Nürnberg tätig.31 Zugleich schrieb er Romane. Nach der Machtübertragung und Machtergreifung Hitlers stand er als Personifizierung der nunmehr verhassten Weimarer »Systemzeit« zunächst unter Rechtfertigungsdruck und verschärfter Beobachtung, trat aber selbst nie in die NSDAP ein.

Wie schon zu Rieger und Oppenheimer entwickelte Erhard auch zu ihm rasch eine freundschaftliche Vater-Sohn-Beziehung; überzeugte durch sein Engagement, stieg rasch auf, wurde zwei Jahre später zum 1. Assistenten befördert und bereits im Oktober 1933 Mitglied der geschäftsführenden Leitung des Instituts. Zusammen mit Vershofen und Erich Schäfer gründete Erhard wenig später im Februar 1935 in Berlin die »Gesellschaft für Konsumforschung« (GfK). Bereits ein Jahr später verfügte sie über 300 ehrenamtliche »Korrespondenten«, die im Auftrag der Gesellschaft die in Nürnberg formulierten Fragebögen in bis zu 15 000 Haushalten abarbeiteten und so Informationen über die deutschen Verbraucher sammelten; in den folgenden Jahren wuchs das Korrespondentennetz immer weiter. Bereits in der Zeit zuvor, als allenthalben nach einem Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise und der tiefen Depression gesucht worden war, hatte sich Erhard dezidiert in Leopold Schwarzschilds renommierter Berliner Zeitschrift Das Tage-Buch32 zu den großen ökonomischen Themen und Problemzusammenhängen jener Zeit geäußert, dabei 1932 in einem Artikel die von dem ins Lager der Nationalsozialisten übergewechselten ehemaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht formulierten »Grundsätze deutscher Wirtschaftspolitik« scharf kritisiert und damit in Fachkreisen Aufsehen erregt.33

Das Projekt einer Habilitation betrieb er aber allenfalls halbherzig, auch wenn er ab 1935 absatzwirtschaftliche Kurse des Instituts organisierte und von 1935 bis 1940 Lehraufträge für Marktordnung und Verbandswesen & Verbandspolitik an der Nürnberger Handelshochschule gab. In dieser Zeit hoffte er wohl auf eine Honorarprofessur, doch dazu kam es nicht, denn der Rektor der Hochschule in Nürnberg, Georg von Ebert, hielt ebenso wenig von der Idee wie das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Seine Lehrveranstaltungen, zu denen ihn vor allem sein akademischer Lehrer Vershofen gedrängt hatte – der ihm in einem wohlwollenden Gutachten Anfang 1939 die Befähigung zum außerordentlichen Professor bescheinigte –, fielen zudem wegen seiner vielen Reisen häufig aus.

Was die förmliche Habilitationsschrift anging, blieb es bei Entwürfen und Stückwerk. Das bis heute unveröffentlichte, rund 140 Seiten umfassende Manuskript über »Die Überwindung der Wirtschaftskrise durch wirtschaftspolitische Beeinflussung« – eigentlich sein Lebensthema – hat er nie als Habilitationsschrift eingereicht, vermutlich weniger, weil er nicht in den NS-Hochschuldozentenbund eintreten wollte, wie er nach dem Krieg erklärte, sondern weil er mit Substanz und Stringenz selbst nicht zufrieden war – oder aber Vershofen, der ihn in dem Verfahren begleiten musste. Und für eine kumulative Habilitation reichte die Zahl und Breite seiner Aufsätze nicht aus. Dass die Berufung zum Professor im Dritten Reich allein an seiner fehlenden Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Parteiorganisation – zu der etwa der NS-Dozentenbund gehörte – gescheitert sein soll, gehört daher ins Reich der Legenden und Selbststilisierungen, die Ludwig Erhard besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1945/46 durchaus karrierefördernd einzusetzen wusste. Er war schlichtweg stärker an konkreten, praktischen Wirtschaftsfragen orientiert und dabei vor allem an der Frage, wie sich die ökonomische Lage der breiten Massen verbessern ließ. Umfassende wirtschaftstheoretische Abhandlungen waren seine Sache nicht und sind deshalb auch aus späteren Phasen nicht von ihm überliefert. Das Manuskript für einen 200-Seiten-Band zum Thema »Konsumforschung und Konsumlenkung« lieferte er nie ab, obwohl er 1938 einen entsprechenden Vertrag mit dem Felix Meiner Verlag in Leipzig abgeschlossen hatte.34

Seine Distanz gegenüber der NSDAP war allerdings keine bloße Behauptung. Die braune Ideologie, der brutale, pseudo-biologistisch begründete Rassenantisemitismus und die Lockungen der NS-Volksgemeinschaft – die für alle, die wie Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden, psychisch Kranke bzw. geistig Behinderte, Roma oder Homosexuelle aus rassischen, sozialen oder politischen Gründen immer unerbittlicher ausgegrenzt und verfolgt wurden, ohnehin nur Schrecken bereithielt – blieben ihm durchweg zutiefst fremd. Auch den immer weiter ausgreifenden staatlichen Eingriffen bei gleichzeitig staatlich befohlener preisgestoppter Inflation stand er zunehmend skeptisch gegenüber. In den Friedensjahren von Hitlers Herrschaft erwies sich dabei das Nürnberger Institut für ihn aber wohl als eine jener »Nischen« in der Diktatur, wo man arbeiten und existieren konnte, ohne allzu sehr von den neuen Machthabern bedrängt und bedroht zu werden.35 Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass das NS-Regime wegen seiner massiven Aufrüstungspolitik der Fertigwaren- und Konsumgüterindustrie, die ja im Mittelpunkt des Interesses von Erhard und seinem Institut standen, wesentlich weniger Interesse und Aufmerksamkeit schenkte als der Grundstoff- und Schwerindustrie. Erhard meinte rückblickend auf die zweite Hälfte der Dreißigerjahre: »Von der Wertung menschlichen Glücks aus waren diese Tage, trotz der sich immer mehr ausbreitenden Schatten des Naziregimes, vielleicht die erfülltesten meines Lebens, weil in mir die äußeren und inneren Maße harmonisch aufeinander abgestimmt waren.«36

Vershofen hat diesen Eindruck bestätigt. Er schilderte Erhard nach dem Krieg als »wundervoll geselligen« Menschen und nannte ihn zugleich – im Hinblick auf spätere Vorwürfe und vor allem das tiefe Zerwürfnis 1942 etwas überraschend – »ein geniales Organisationstalent«.37 Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass der 1937 zum Geschäftsführer und stellvertretenden Institutsleiter beförderte Erhard sich rasch als ausgemacht geschickter Akquisiteur von Aufträgen erwies und großen Anteil am Aufstieg des Instituts hatte. Als Erhard seine neue Assistentenstelle antrat, war das Institut der Nürnberger Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angeschlossen (ab Mai 1933 »Hindenburg-Hochschule«) und wurde über deren Etat finanziert. Dazu kam ein kleiner Zuschuss von 6000 Reichsmark vonseiten eines Industrieverbands – pro Jahr. Als dieser während der ökonomischen Krise 1931/32 auf 1500 Reichsmark gekürzt wurde, stand es vor dem Aus wie kurz zuvor das väterliche Geschäft. Der Leiter Vershofen verschickte bereits Kündigungen, weil er zunächst keine Möglichkeit mehr sah, das von ihm damals noch primär wissenschaftstheoretisch ausgerichtete Institut weiterzuführen. Es war wohl tatsächlich Ludwig Erhard, der den Institutszug auf ein neues, stärker praxisorientiertes Gleis setzte und dadurch eine Fülle neuer Aufträge für Untersuchungen und Gutachten an Land zog. Diese wurden so ordentlich honoriert, dass Mitte der Dreißigerjahre zwischen sechzig und achtzig Mitarbeiter für das Institut und die GfK arbeiteten – und bezahlt werden konnten.

Die ungewöhnliche Expansion war nur möglich geworden, weil neben der engen Kooperation mit der Fertigwarenindustrie und den – nur partiell realisierten – ständischen Wirtschaftsorganisationen zunehmend auch Reichsbehörden wie das Wirtschaftsministerium die Dienste des Instituts in Anspruch zu nehmen begannen. Hierbei waren insbesondere die vielfältigen Verbindungen und Kontakte Ludwig Erhards von erheblichem Nutzen. Nach dem Wechsel des Ersten Stellvertreters Erich Schäfer 1937 auf eine Professur an der Handelshochschule Leipzig trat Ludwig Erhard interimistisch an dessen Stelle und übernahm auch die Schriftleitung bei der Institutszeitschrift Die Deutsche Fertigware. Der mit Erhards umtriebigem Wirken einhergehende Bedeutungszuwachs des Instituts, das sich zunehmend zu einer renommierten Mittlerstelle zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und den Instanzen der NS-Staatswirtschaft entwickelte, führte 1938 zur Einführung einer neuen Stiftungsordnung, bei der die Stadt formal zum Verwalter der Stiftung und zur direkten Aufsichts- und Kontrollinstanz wurde. Damit war eine deutliche Erhöhung des jährlichen Zuschusses aus der Stadtkasse verbunden, der zukünftig etwa die Hälfte des Institutsetats ausmachte; bis 1942 im Schnitt etwa 85 000 Reichsmark38, was das mittlerweile deutlich gewachsene städtische Interesse an dieser Einrichtung dokumentierte.

Ludwig Erhard stieg im Zuge dieser Umwandlung per 1. September 1938 nun auch offiziell und mit Zustimmung der städtischen Gremien zum 1. Stellvertreter Vershofens auf und wurde de facto Geschäftsführer des Instituts. Auf seine Ernennung und den wohlwollenden Brief Vershofens, der mit ihr einherging, reagierte Erhard so überschwänglich wie später in der Anfangsphase der Partnerschaft mit Konrad Adenauer auf die Gunstbeweise des Alten Herrn aus Rhöndorf. An Vershofen schrieb er jedenfalls Mitte September: »Lieber Herr Professor! Ihr Schreiben vom 10. hat mich von Herzen gefreut. Ich weiß nun wirklich nichts Besseres, als mit Ihnen an einer Sache und an einem Werk arbeiten zu dürfen, das ich immer – was ich auch selbst zum Gelingen beigetragen haben könnte – als das Ihre behandelt habe und behandeln werde. Nunmehr bin ich stolz, mich – im wahrsten Sinne des Wortes – Ihr Stellvertreter nennen zu dürfen. Als solcher bin ich nicht nur immer bereit, mit Ihnen solidarisch zu handeln, sondern mich auch Ihnen freudig unterzuordnen. Was ich zu meiner Arbeit allein brauche, das ist Ihr Vertrauen und Ihre Anerkennung und weil das aus Ihrem Briefe spricht – darum war ich sehr glücklich. Ich werde sie nie enttäuschen! Stets Ihr Ludwig Erhard.«39

Diese mehr als euphorische Stellungnahme kennzeichnet das Innenverhältnis der beiden in den ersten zehn Jahren ihres gemeinsamen Wirkens sehr gut. Erhard war – wie dann auch bei Konrad Adenauer, der ihn fast zwanzig Jahre später, wenn auch nach langem Zögern, 1957 ebenfalls zu seinem Stellvertreter ernannte – nur zu gerne dazu bereit, als zweiter Mann dem Chef zuzuarbeiten. Hier wie dort genügten wenige warmherzige und anerkennende Worte, um ihn mit Euphorie zu erfüllen. Dann machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube und dankte voll emotionalem Überschwang mit enthusiastischen Treueschwürden.

Wenn man Erhard allerdings nicht lange kannte, nicht mit seinem Wesen vertraut war, konnte man bezüglich seines Auftretens auch zu gänzlich anderen Schlüssen gelangen. Theodor Eschenburg fand nach der ersten längeren Begegnung 1936 jedenfalls, ein Gespräch mit ihm komme »nur schwer zustande«, er gebe sich »wortkarg«, sei »vielleicht auch kontaktarm«.40 Nun waren die Zeiten damals natürlich nicht so, dass man sich jedem mehr oder weniger Unbekannten auf Anhieb vertrauensvoll zuwenden konnte. Allerdings hatte den Kontakt zwischen Erhard und Eschenburg der nach Istanbul emigrierte und beiden gleichermaßen nahestehende Professor Alexander Rüstow vermittelt – das hätte eine etwas intensivere Unterhaltung eigentlich ermöglichen können.

Tatsächlich fasste Erhard dann aber doch rasch Vertrauen zu Eschenburg, einem früheren Mitarbeiter Gustav Stresemanns und damaligen Syndikus der Knopfindustrie, und lud ihn ebenso wie Elly Heuss-Knapp oder Carl Friedrich Goerdeler, den ehemaligen Reichskommissar für Preisüberwachung und von den Nazis 1937 abgesetzten Oberbürgermeister von Leipzig, zu Vorträgen in den von ihm organisierten Kursen ein. Er schuf sich so ein kleines Netzwerk, dessen Mitglieder sämtlich eine innere Distanz gegenüber dem braunen Regime verband, auch wenn beispielsweise Eschenburg 1933/34 kurzzeitig Mitglied der SS geworden war – »aus Opportunismus«, wie er in seinen Erinnerungen kurz vor seinem Tod 1999 eingestand. Bei Erhard referierte er im Juni 1938 im vierten Kurs für Absatzwirtschaft über »Werbeformen der gebundenen Wirtschaft«.41

In dieser Zeit wurden die Kontakte des Instituts und damit auch von Erhard zum NS-Staat enger. Weil in der ohnehin immer stärker dirigistischstaatsinterventionistisch ausgerichteten NS-Wirtschaft die Privatindustrie als Auftraggeber zunehmend ausfiel, mussten ab jetzt vermehrt Staatsaufträge requiriert werden, um das Überleben des Instituts zu sichern – und damit zugleich die »uk-Stellung« (»uk« steht für »unabkömmlich«) möglichst vieler Mitarbeiter, die vor einer Einberufung schützte. Mit Kriegsbeginn hatte sich wegen der Welle von Einberufungen tatsächlich abermals die Frage einer Schließung gestellt. Erhard war es aber rasch gelungen, eine Reihe »kriegswirtschaftlich wichtiger Aufträge« einzuholen und damit den Fortbestand zu sichern. Nachdem noch ein Großauftrag der Wirtschaftsgruppe Keramische Industrie hatte an Land gezogen werden können, der eine Denkschrift über die Lage der gesamten keramischen Industrie vorsah, teilte Erhard am 4. Dezember 1939 Vershofen mit: »Im ganzen sind jetzt jedenfalls so viele Aufträge im Haus, daß wir uns den Kopf zerbrechen müssen, wo wir die Arbeitskräfte zu ihrer Erledigung hernehmen sollen.«42

Als ein besonders wichtiger Auftraggeber erwies sich dabei Gauleiter Josef Bürckel, den Erhard Ende 1938 in Wien kennenlernte, wo er erstmals einen Kurs über »Aspekte der Konsumforschung« außerhalb Nürnbergs organisierte und selbst über »Absatzprobleme der österreichischen Wirtschaft – Mittel und Wege zu ihrer Lösung« referierte. Außerdem sondierte er in enger Abstimmung mit Vershofen und der GfK, ob man nicht in Wien mit dem Institut für Verbrauchs- und Absatzforschung (ab 1942 dann als eingetragener Verein geführt) eine Dependance des Nürnberger Instituts errichten könne. Bürckel fand die stark praxisorientierte Arbeitsweise von Erhard und seinem Institut ganz offensichtlich interessant. Er war 1895 geboren und damit gerade einmal zwei Jahre älter als der Nürnberger Institutsmanager, bereits 1921 unter der Mitgliedsnummer 33.979 in die NSDAP eingetreten, mithin ein »Alter Kämpfer« der ersten Stunde, der ab 1933 rasch Karriere machte. Zwischen 1935 und 1936 war er als Reichskommissar für die Rückgliederung des Saargebiets im Einsatz, diese Position entsprach der eines Reichsstatthalters, also dem von Hitler als Chef der Zivilverwaltung eingesetzten Beauftragten der Reichszentrale auf der Ebene der Reichsgaue mit beträchtlichen Überwachungs-, Eingriffs- und Leitungsfunktionen. Die Stellung war in etwa der eines Landeschefs oder Ministerpräsidenten vergleichbar. 1936 wurde Bürckel zum SA-Obergruppenführer, ein Jahr später zum SS-Gruppenführer – also zweimal in den Generalsrang – befördert. Ab März 1938 war er als Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich damit betraut, binnen Jahresfrist die politische und wirtschaftliche Eingliederung der »Ostmark« zu bewerkstelligen. Dabei erwies er sich als fähiger, zugleich vielfach pragmatischer Organisator, war aber gleichzeitig entschiedener Verfechter einer systematischen und rücksichtslosen Politik der Verfolgung und Ausgrenzung gegenüber den österreichischen Juden, der etwa im Herbst 1938 Adolf Eichmann beim Aufbau seiner Zentralstelle für jüdische Auswanderung, jenem »Fließband« zur rascheren Austreibung bei gleichzeitig fast vollständiger Ausplünderung, entschieden unterstützte.

Dieser Josef Bürckel zog 1939 schon bald neben dem Institut für Konjunkturforschung und dem Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit (für betriebswirtschaftliche Erhebungen) auch das Nürnberger Institut (für marktpolitische Erhebungen) hinzu. Das Eintrittsticket für Erhard war wohl die von ihm geleitete und Ende 1938 abgeschlossene GfK-Untersuchung über »Tabakverbrauch im Reich und im ehemaligen Österreich« gewesen. Das zügig dort aufgebaute Korrespondentennetz der GfK kam noch hinzu. Schon bald nach ihrer ersten Begegnung fungierte Ludwig Erhard als Verbindungsmann, Ansprechpartner und Berater zur Belebung und Leistungssteigerung der österreichischen Wirtschaft, ab 1940 dann auch für das Saarland und Lothringen. Dabei ging es nicht zuletzt um die Frage, wie die Produktion von Konsumgütern und damit auch der Konsum rasch wieder angekurbelt werden könnte und wie man zugleich verhinderte, dass alles ausschließlich dem Primat der Kriegsgüterproduktion untergeordnet würde – was Bürckel im Krieg auf all seinen Posten wichtig sein sollte.

Hätte Erhard diesen Kontakt meiden, die Beraterrolle zurückweisen sollen? Das wäre in einer offenen Gesellschaft möglich gewesen, in einer Diktatur dagegen schwerlich. Hinzu kam, dass mit den staatlich finanzierten Aufträgen sich das Institut weiter würde halten können – und dass Bürckel wohl Erhard tatsächlich sympathisch und originell fand und fördern wollte. Beide hatten pädagogische Seiten, Bürckel war ausgebildeter Volksschullehrer, Erhard Dozent an der Nürnberger Handelshochschule. Und – weitaus wichtiger – beide hatten gemeinsam militärische Berührungspunkte in der Feldartillerie: Bürckel hatte als Freiwilliger im 20., Erhard im 22. Königlich bayerischen Feldartillerie-Regiment gedient. Auf jeden Fall war Bürckel kein tumber NS-Parteibonze, sonst hätte er sich schwerlich Erhard als Berater ausgesucht, dem es, anders als vielen anderen damals, überhaupt nicht lag, Parteiparolen zur eigenen Absicherung nachzuplappern.

Entscheidend für die weitere Zusammenarbeit wurde wohl, was intern im Nürnberger Institut »Ostmark-Blitz-Studie« genannt werden sollte. Bürckel war von Göring als Chef der Vierjahresplanbehörde im Frühjahr 1940 aufgefordert worden, ihm binnen zwei Wochen – das war auch in einer auf Befehl und Gehorsam basierenden Diktatur eine extrem kurze Zeitspanne – einen umfassenden Bericht über die Wirtschaftsverfassung der Ostmark und speziell die Lage der Verbrauchsgüterindustrie zwei Jahre nach dem »Anschluss« zu übermitteln. Bürckel wird darüber ziemlich ins Schwitzen gekommen sein – und fragte bei Erhard und dem Nürnberger Institut nach, ob man trotz der überaus knappen Frist in der Lage sei, derlei zu »liefern«. Zu Bürckels Überraschung war man dazu in der Lage, denn man verfügte dort bereits über die erforderliche breite Datenbasis, und Erhard konnte auch nahezu das gesamte Institutsteam für zwei Wochen allein mit dieser einen Aufgabe betrauen. Jedenfalls war Bürckel von der sogenannten »Ostmark-Blitz-Studie« und ihrer rasanten Entstehung überaus angetan, wie er in seinem Brief vom 18. April 1940 an Ludwig Erhard zum Ausdruck bringt:

»Das Institut für Wirtschaftsbeobachtung hat unter Ihrer Leitung in einem Zeitraum von 14 Tagen einen Bericht erstellt über die ostmärkische Verbrauchsgüterindustrie. Dieser Bericht ist von mir benötigt worden als Unterlage für eine Denkschrift, die dem Generalfeldmarschall vorgelegt wurde. Ich bestätige Ihnen, daß ich über die bei Erstellung des Lageberichts geleistete hervorragende Arbeit Ihres Instituts und die vorzüglichen Fähigkeiten Ihrer Mitarbeiter nur mein uneingeschränktes Lob aussprechen kann. Der Bericht ist trotz der Kürze der Zeit derart umfassend und qualitativ bestechend, daß ich tatsächlich über diese Leistung mehr als erstaunt bin. Wenn ich bei Erteilung des Auftrags der Auffassung war, daß Ihnen in der Kürze der Zeit diese Arbeit nicht voll gelingen wird, so bestätige ich Ihnen heute gerne, daß Sie mich in dieser Hinsicht in angenehmster Weise überrascht haben. Ich versichere Ihnen, daß ich auch in Zukunft gerne wieder an Ihr Institut herantreten werde.«43

Mit diesem Gutachten beginnt eine mehrjährige Zusammenarbeit. Erhard und sein Institut hatten Bürckel allem Anschein nach mit einer Fülle substantieller Informationen zur wirtschaftlichen Entwicklung in Österreich nach dem »Anschluss« aus der Bredouille geholfen, nachdem Hermann Göring als Chef der Vierjahresplanbehörde eine solche Bestandsaufnahme sehr kurzfristig angefordert hatte. Bürckel war höchst überrascht und erfreut über die ökonomische Fachkompetenz und Leistungskraft im Nürnberger Institut.

DISPUT MIT HIMMLERS REICHSKOMMISSARIAT ZUR FESTIGUNG DES DEUTSCHEN VOLKSTUMS