Karl der Große - Frankfurter Allgemeine Archiv - E-Book

Karl der Große E-Book

Frankfurter Allgemeine Archiv

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Beschreibung

2014 ist das Karlsjahr. Im Januar 814 verstarb Karl der Große, König der Franken, König der Langobarden und west-römischer Kaiser, in seiner Aachener Pfalz "Aquispalatium", wo er die letzten 20 Jahre fast ununterbrochen verbracht hatte. Sein Herrschaftsgebiet hat Karl der Große indes durch militärische Expansion und Unterwerfung stark vergrößert. Es reichte von der Elbe im Osten bis zu den Pyrenäen im Westen und von der Nordseeküste bis Mittelitalien. Die Zentralisierung der Herrschaft und Reformen auf rechtlichem, ökonomischem, religiösem und kulturellem Gebiet machten das fränkische Reich zu einem stabilen Verband. Auch deshalb gilt Karl der Große vielen als ein Begründer des modernen Europa. Mit Entschlossenheit hat Karl der die ihm gegebene Macht genutzt. Ausdruck dieses Gestaltungswillens ist auch die symbolgeladene Architektur der Pfalzkapelle des Aachener Domes. Der Aachener Dom gehört zu den besterhaltenen Baudenkmälern der Karolingerzeit und wurde 1978 als erstes deutsches Denkmal in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Das F.A.Z.-eBook 'Karl der Große' bietet eine Sammlung von erstklassig recherchierten Berichten von Historikern und F.A.Z.-Autoren. Sie untersuchen die historische Rolle Karls des Großen und seine Wirkung bis in die Gegenwart ebenso wie die Bedeutung der Pfalzkapelle in Aachen als Machtzentrum. Geschichten und Kuriosa über den Frankenherrscher, eine Chronik, Buchempfehlungen und eine Literaturliste sowie ein Autoren- und Personenregister runden das reich bebilderte F.A.Z.-eBook zum Karlsjahr ab.

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Karl der Große

Reichsgründer – Herrscher – Politiker

F.A.Z.-eBook 31

Frankfurter Allgemeine Archiv

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: [email protected]

© 2014 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.

Foto: Ausschnitt aus »Idealbild Kaiser Karls des Großen« von Albrecht Dürer (1513), Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Wikimedia Commons.

Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher

ISBN: 978-3-89843-288-7

Vorwort

Er ist Europa

Von Daniel Deckers

Napoléon Bonaparte soll bei dem Besuch der Grablege seines Vorbildes im Aachener Dom ausgerufen haben: »Je suis Charlemagne.« Das Imperium des Mannes, der in Kaiser Karl dem Großen die Avantgarde der Grande Nation erkennen wollte, reichte bald weit über die Regionen hinaus, die der Frankenkönig beherrschte. Immerhin: Als Karl am Weihnachtstag des Jahres 800 von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt wurde, war das westliche Europa geeint wie seit den Tagen der Römer nicht mehr, das Christentum nach der Antike wiederbegründet. Zwar zerfiel Karls Reich bald nach seinem Tod im Jahr 814, und das Kaisertum wurde erst durch die Ottonen fest mit dem deutschen Königtum verbunden. Doch die mittelalterliche Geschichte Europas entfaltete sich fortan in der Polarität Kaisertum-Papsttum und bis in die Gegenwart hinein in den wechselnden Kraftfeldern Kerneuropas, zwischen Italien, Frankreich und Deutschland.

In Erinnerung an ein Massaker bei Verden an der Aller galt Karl der Große den Nationalsozialisten bis 1937 als »Sachsenschlächter«. Dann wurde aus ihm ein »großer Deutscher«. Hitler schickte sich an, dem deutschen Volk im Osten Raum zu schaffen. War Karl ihm nicht vorhergegangen und hatte in den 33 Jahren der Sachsenkriege die Grenze einer überlegenen Kultur weit über die Grenzen nach Osten verschoben, bis »die Sachsen mit den Franken ein Volk wurden« (Einhard)? Noch in den fünfziger Jahren konnte man lesen, hätte Karl den Sachsenfürsten Widukind nicht an der Weser, sondern an der Weichsel gestellt, wären seine Unterwerfungszüge von der Elbe statt vom Rhein ausgegangen.

Statt dessen verloren sich die Umrisse des Abendlandes für Jahrhunderte in den Weiten nordöstlich von Harz und Thüringer Wald, wo der Wind mal aus West und mal aus Ost, auch von Norden, aber kaum von Süden weht. Die Waffen-SS-Division, in der Franzosen freiwillig unter deutschem Befehl kämpften und deren Reste die Reichshauptstadt Berlin im April 1945 gegen die Russen verteidigten, trug den Namen »Charlemagne«.

Denselben Namen trägt heute das Gebäude in Brüssel, in dem die EU-Generaldirektionen für Erweiterung, Außenhandel und Außenbeziehungen residieren. Sicher, auch das war Karl: Expansion durch Integration, Kodifikation von Recht, Setzung von Normen, die Kalenderreform als Amalgamierung heidnischen und christlichen, römischen, germanischen und fränkischen Erbes. Findet all das nicht sein profanes Gegenstück in dem Bestreben, Europa zu einem gemeinsamen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« in Europa zu schaffen? Doch was ist mit der Aufgabe, nach Karls Vorbild die Völker Europas in der unaufhebbaren Spannung zwischen europäischen Gemeinsamkeiten und nationalen Besonderheiten »zu einem Culturganzen zusammenzugewöhnen« (Jacob Burckhardt)?

Wo beginnt, wo endet Europa? Die Kaiserkrönung und der nachfolgende Vertrag von Aachen 812 ließen die Bipolarität von Byzanz und Rom neu erstehen, der Keim für die Spaltung Europas in eine orthodoxe und eine lateinische Welt war gelegt. Die Ausdehnung des Islam sollte Europa noch für Jahrhunderte in Atem halten. Unter Karl V., dem letzten vom Papst gekrönten deutsch-römischen Kaiser, wurde die reconquista endgültig zur conquista. Auf dem Balkan, wo sich die Kulturkreise des Orients und des Okzidents bis heute überschneiden, färbt Blut bis heute nicht nur in der Legende die Flüsse rot. Karl ist Europa, in seiner Größe, in seiner Grausamkeit.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2000

Die Karlsbüste aus dem Aachener Dom ist die ikonografische Darstellung des Kaisers und allen Karlsfans vertraut. © Domkapitel Aachen. Foto: Andreas Herrmann. Mit freundlicher Genehmigung der Stadt Aachen als Veranstalterin der Karlsausstellungen 2014.

Die Bedeutung Karls des Großen in der Geschichte

Hätte es ohne den Islam Karls Reich gegeben?

In Aachen eröffnet ein Ausstellungsreigen zum 1200. Todestag Karls des Großen und fragt nach der Bedeutung seines Erbes für unsere Zeit. Worin liegt diese genau?

Von Jeffrey F. Hamburger

Große Herrscher bleiben wegen ihrer Taten im Gedächtnis, große Künstler wegen ihrer Werke. Aber wer erinnerte sich an Mozart, einen wahrhaft großen Künstler, wegen seiner bescheidenen, wenn auch reifen Komposition »Ein teutsches Kriegslied« (KWV 539), das am keineswegs verheißungsvollen Vorabend der Französischen Revolution, am 7. April 1788, in Wien zu Ehren Kaiser Josephs II. uraufgeführt wurde? Jede Strophe des kriegerischen Lieds beginnt mit dem Satz: »Ich möchte wohl der Kaiser sein.« Diese heute eher lächerlich wirkende Gelegenheitsarbeit könnte gut als Titelsong für so manche Ausstellung der letzten Jahrzehnte zur mittelalterlichen Kunst in Deutschland dienen.

In einem postimperialen Zeitalter, in dem Deutschland den Anspruch erheben darf, eine vorbildliche Demokratie zu sein, bleibt die Frage, wie man Kaiser am besten ausstellt: Man denke nur an den recht peinlichen Titel der kürzlich vom Haus der bayerischen Geschichte in Regensburg ausgerichteten Ausstellung über Kaiser Ludwig den Bayern: »Wir sind Kaiser!« Diese Ausstellung teilt ihren Titel mit einer äußerst erfolgreichen Talkshow des ORF. Jede Sendung beginnt mit einer vorgetäuschten kaiserlichen Audienz, zu der der Gastgeber Robert Heinrich mit einer zur Melodie der Internationale gesungenen »Kaiserhymne« begrüßt wird: »Unser lieber Robert Heinrich, wir danken es dir recht. / Wir haben einen Kaiser, uns geht es nie mehr schlecht.«

Die gerade in Aachen eröffnete Ausstellung zum 1200. Todestag Karls des Großen tut bei der Auseinandersetzung mit Karls Erbe ihr Bestes, um sowohl seiner geschichtlichen Besonderheit als auch seiner Bedeutung für unsere Zeit gerecht zu werden. Nun ist Karl der Große auf jede erdenkliche Art und Weise gebraucht und missbraucht worden. Auf drei Ausstellungsorte verteilt – im Rathaus »Orte der Macht«, im Centre Charlemagne »Karls Kunst«, in der Domschatzkammer »Verlorene Schätze« –, verbindet das Spektakel Eroberung und Kultur und sieht in den literarischen und künstlerischen Leistungen seines Hofes die Grundlagen des karolingischen Reiches und – allgemeiner noch – des christlichen Europa. Die Dauerausstellung im Centre Charlemagne zeichnet diese Argumentationslinie in teleologischer Manier nach, vom römischen Aquis Grana bis in die Nachkriegszeit, als die besetzte Stadt als »Labor der Demokratie« diente.

Die Ordnung des Himmels und der Erde. Einband des Lorscher Evangeliars, (hinterer Einband: Christustafel), um 810, Vatikanstadt, © Biblioteca Apostolica Vaticana, zu Pal Lat. 50 gehörig. Das Evangeliar ist ein Exponat der Ausstellung »Karls Kunst« (Centre Charlemagne Aachen).

Der massive dreibändige Katalog behandelt zahlreiche Fragen, die das karolingische Erbe aufwirft, und bemüht sich um neue Antworten. Besonders aufschlussreich sind die Ergebnisse intensiver archäologischer Forschungen zu den Pfalzen oder Residenzen, an denen der reisende Herrscher Hof hielt. Das zentrale Thema der Ausstellung sind die Mittel und Wege, durch die der Kaiser seine Macht nach außen darstellte.

Im Dom, Karls einstiger Pfalzkapelle, gingen die meisten Pilger, die an der diesjährigen Heiligtumsfahrt teilnahmen (einem Ereignis, das nur alle sieben Jahre stattfindet), an der goldenen Kanzel Heinrichs II. vorbei, ohne lange hinaufzuschauen. Die reich mit Edelsteinen, Bergkristallschalen und koptischen Elfenbeinreliefs verzierte Kanzel, sämtlich Beutestücke aus fernen Ländern, bietet eine unvergleichliche Uminterpretation des Reichsgedankens an einer Stätte, die nach einer Formulierung in der Ausstellung durchgängig als »Ort der Macht« diente. Die Pilger drängten jedoch geduldig voran, um kleine persönliche Gegenstände in der Nähe der kostbarsten Reliquien des Doms niederzulegen: des Kleids, das die Jungfrau Maria bei der Geburt Jesu trug, der Windeln Christi, des Tuchs, in das das abgeschlagene Haupt Johannes des Täufers eingeschlagen war, und des Lendentuchs, das Christus am Kreuz trug.

Es ist kein Zufall, dass all diese Reliquien aus Stoff sind, einem gemeinen Material, das durch die physische und symbolische Nähe zum menschlichen Körper geadelt worden ist. Die Ausstellung enthält zahlreiche Wunderwerke, deren eindrucksvollste mehrere Handschriften sind, die um 800 in der sogenannten Hofschule entstanden. So viele dieser Handschriften beisammen zu sehen ist eine bewegende Erfahrung. Für die meisten Besucher vermag jedoch in der Wirkung nichts an die Reliquien heranzureichen.

Die Anwesenheit Tausender von Pilgern während der ersten Tage der Ausstellung warf eine Frage auf: In wessen Diensten steht Karl der Große heute? In welcher Weise verzerrt die historische Tatsache des Kaiserkults unser Verständnis dieser kritischen Gestalt? Karl der Große wurde 1165 auf Drängen Friedrich Barbarossas von dem Gegenpapst Paschalis III. heiliggesprochen. Obwohl die Kirche diese Heiligsprechung nicht anerkannte und Paschalis‘ Dekrete 1179 annullierte, hielt sich der Kult. In der wegweisenden, 1965 in Aachen veranstalteten Ausstellung, die Philippe Cordez in einem seiner Beiträge zum Katalog der aktuellen Ausstellung sehr gut analysiert, wurde Karl als Galionsfigur eines in Frieden vereinten Nachkriegseuropa gefeiert, das ein Bollwerk gegen feindliche Kräfte aus dem Osten darstelle (wobei man geflissentlich überging, dass Karls Reich durch endlose Kriege mit Gewalt geeint worden war und unmittelbar nach seinem Tod auseinanderbrach).

Nach zwei Weltkriegen zwischen Deutschland und Frankreich überrascht es nicht, dass man ihn zum idealen Pater Europae erklärte. Die aktuelle Ausstellung wirft einen distanzierten Blick auf Karls Macht in Vergangenheit und Gegenwart. Doch die Plazierung der historischen Abteilung »Orte der Macht« im Krönungssaal des Rathauses, das mit pompösen Historiengemälden zweifelhaften Werts aus dem neunzehnten Jahrhundert ausstaffiert ist, eignet sich kaum für eine Dekonstruktion des Bildes Karls als eines Schirmherrn der Kirche und des Staates, des Schwertes und des Altars. Die Organisatoren der Ausstellung waren nicht zu beneiden bei ihrer Aufgabe, gleichzeitig feiern und forschen zu sollen. Die im Katalog gerühmte Installation im Rathaus ist fast schon grauenhaft zu nennen: In dem Versuch, Karl für ein modernes Publikum lebendig zu machen – ein durchaus legitimes Bemühen –, übertönt eine Kakophonie aus Computersimulationen, Videos, Modellen und Faksimiles vollständig die kostbaren Originale, die nirgendwo die Chance haben, für sich selbst zu sprechen.

Es mag immer schwieriger werden, an kostbare Leihgaben heranzukommen, aber wenn solch eine Zirkusschau die Zukunft der Ausstellung sein sollte, hat es keinen Sinn, unersetzliche Originale in Gefahr zu bringen, wenn sie gar nicht gesehen werden. Die Leidener Aratea-Handschrift, ein mit überwältigenden ganzseitigen Miniaturen der Sternbilder verzierter Himmelsführer, wäre einer der Brennpunkte jeder Ausstellung über mittelalterliche Kunst. Hier liegt er an der Seite, ohne dass ein Schild auf ihren Inhalt, ihre Herkunft oder ihren Besitzer hinwiese. Wehe dem hilflosen Besucher, der zufällig darauf stieße. Eine karolingische Kopie des Vitruv samt Illustrationen zum Wortschatz der antiken Architektur hätte in einen Kontext zu Bruchstücken der karolingischen Baukunst gestellt werden müssen, von denen es in Aachen viele gibt. Eine der zahlreichen verpassten Chancen. Faksimiles und Originale wechseln einander ohne jede sinnvolle Unterscheidung ab. Die Nachbildung der winzigen Bronzestatue eines karolingischen Herrschers (unwahrscheinlich, dass sie Karl den Großen zeigt) ist mit einem Schwert verschönert worden, das am Original des Louvre nicht zu finden ist. Das spielt allerdings keine sonderliche Rolle, da die Statuette ohnehin kaum auffällt zu Füßen des lebensgroßen Modells eines fränkischen Kriegers zu Pferde, das bestens bei Madame Tussaud in London aufgehoben wäre.

Betritt man die Ausstellung, fällt einem als Erstes ein dreidimensionales Spektakel des in eine Folge bewegter Bilder aufgelösten Karlsschreins ins Auge. Angesichts solcher Effekthascherei ist man versucht, mit Dr. Johnson zu sagen: »Die Frage, die einem beim Anblick eines auf den Hinterbeinen laufenden Hundes in den Sinn kommt, ist nicht, wie gut er das macht, sondern warum.« Gleichfalls zu sehen ist eine aufdringliche interaktive Computerprojektion, die es dem Besucher erlaubt, Fragen wie die zu beantworten, in welcher Position er sich am mächtigsten fühle. Vor der Ausstellung können Besucher im Rahmen einer Installation mit dem Titel »Mein Kaiser 2014« eine von fünfhundert jeweils einen Meter hohen Kunststofffiguren des Kaisers »adoptieren« (also kaufen).

Wer einige der bedeutendsten erhalten gebliebenen Werke der westlichen Kultur in dieser Weise ausstellt, macht Kultur zur Farce – und mit dem Karlspreis, den die Europäische Union in Aachen jedes Jahr verleiht, ist es nicht viel besser. 2002 ging er an den Euro. Was soll uns das sagen? Dass wir vom Mammon regiert werden?

Eine Reise nach Aachen lohnt sich vor allem, um die großartigen Handschriften und Elfenbeinarbeiten zu sehen, die für die Ausstellung zusammengetragen worden sind. Jedes dieser Ausstellungsstücke zeugt vom Triumph der Diplomatie. Diese Schätze sind von einer Art, die selbst Wissenschaftler vielleicht nur einmal im Leben zu Gesicht bekommen. Auf seine Weise steht jedes dieser Bücher Pars pro Toto für ein ganzes Zeitalter. Der Katalog seziert ihre stilistischen Verwandtschaftsbeziehungen in erschöpfender Detailfülle. In ihrer obsessiven Betonung der Analyse von Stilen und Vorbildern berücksichtigen die Aufsätze allerdings relativ wenig neuere kunsthistorische Ansätze, die Fragen des Inhalts, des Kontexts, der Funktion und des Ausdrucks in den Vordergrund stellen. Verglichen mit der lauten Installation im Rathaus, bietet die Abteilung Handschriften jedoch eine Oase kontemplativer Stille. In der nachfolgenden Abteilung mit kleinen, aber eindrucksvollen Elfenbein- und Metallarbeiten drängen abermals die aufdringlichen Klänge moderner Technologie herein. Das ist vielleicht das erste Mal, dass Meisterwerke des karolingischen Kunsthandwerks zu den Klängen von Saxophonen ausgestellt werden. Die Trennung der Elfenbeinarbeiten von den Handschriften, mit denen die meisten von ihnen verbunden waren, ist sinnvoll nur auf der Grundlage der modernen Unterscheidung zwischen den Medien. Mittelalterliche Objekte entziehen sich solchen Kategorien. Es wäre weitaus sinnvoller gewesen, die Handschriften zusammen mit den Einbänden auszustellen, die ihnen einst viel von ihrer Aura und Präsenz verliehen.

Einige Objekte sind in der Tat faszinierend. Die Elfenbeintafeln des Lorscher Evangeliars sind schon früher einmal wiedervereinigt worden, aber sie erstaunen immer wieder wegen ihrer außerordentlichen Feinheit und ihrer Assimilation eines ganzen Spektrums spätantiker Vorbilder. Auch wenn die Organisatoren dies kaum beabsichtigt haben dürften, hat der aufmerksame Besucher die Gelegenheit, die Größe dieser Meisterwerke zu ermessen, indem er sie mit dem Faksimile in der Dauerausstellung des Centre Charlemagne vergleicht. Das Faksimile erscheint recht gut, trotz der etwas abstoßenden gelblichen Färbung, bis man es mit dem leuchtenden Original vergleicht, das eine rasierklingenscharfe Linearität mit der schmelzenden Weichheit vereint, die sich nur in Elfenbein erzielen lässt. Die Verbindung von Kalligraphie und atmosphärischem Raum innerhalb der Grenzen dünner Elfenbeinscheiben ist eine herausragende technische Leistung. Gleichfalls zu sehen ist eines der größten Werke der Schnitzkunst aller Zeiten, die riesige (33,4 mal 10 Zentimeter) Tafel des Erzengels Michael aus dem Grassimuseum in Leipzig, dessen wallendes Gewand den Eindruck eines Wirbelwinds an Bewegung innerhalb der Grenzen einer unglaublich dünnen Elfenbeinscheibe hervorzurufen vermag, gearbeitet aus einem spätantiken Konsulardiptychon, von dem auf der Rückseite (ursprünglich der Vorderseite) noch Spuren zu erkennen sind.

Mittelalterliche Kunstwerke wie dieses sollten Staunen erregen und beeindrucken. Wer die Ausstellung in Aachen besucht, wird beides spüren – aber auch an die Zerbrechlichkeit der Kultur in all ihren Dimensionen erinnert werden. Viele der ausgestellten Werke atmen den Geist der Antike, doch angesichts der dazwischen liegenden Jahrhunderte konnte die reimaginierte Gegenwart der Vergangenheit kaum als gesichert empfunden werden. Die Schöpfungen der karolingischen Schreiber waren so überzeugend, dass die Humanisten der Renaissance ihre Kopien für Originale hielten. Karls Biograph Einhard, der Suetons Lebensbeschreibungen der römischen Kaiser zum Vorbild für seine Biographie nahm, begann sein Werk in gespielter Bescheidenheit mit der Feststellung, er habe es, »obwohl kein Römer von Geburt«, in einem so eloquenten Latein geschrieben, dass es sogar den Vergleich mit Cicero aufnehmen könne.

Die karolingische Kunst bietet jedoch mehr als nur einen Rückblick. Sie markiert auch einen Neubeginn, eine Synthese aus antiker und, wie man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks sagen könnte, »barbarischer« Pracht und Stofflichkeit. Die großartigen Handschriften in der Ausstellung zeugen von dieser Verschmelzung der Formen: Antike, weitgehend architektonisch inspirierte Ornamente stützen Zickzackmuster, die ihr Vorbild in fränkischen Metallarbeiten und englischen Handschriften haben und nicht den Raum, sondern die Fläche betonen. Ein ähnliches Nebeneinander prägt das Geländer des ersten Obergeschosses in der Pfalzkapelle.

Trotz des römischen Zierrats zementierte Karls Unternehmen eine grundlegende Neuausrichtung der Länder, die nun Westeuropa bildeten, weg von Rom und hin zum Norden – eine kulturelle Verlagerung, welche die Entwicklungen in Kultur und Politik bis in jene Zeit beherrschte, die wir heute die Renaissance nennen. Auf dem Kontinent entwickelten sich Paris und später dann Prag, woher viele der kostbarsten Ausstellungsstücke in Aachen stammen, zu den neuen Zentren.

In seinem Buch »Mohammed und Karl der Große« von 1937 behauptete der belgische Historiker Henri Pirenne, die Antike habe ihr Ende nicht mit der Plünderung Roms gefunden, sondern mit der Unterbrechung der Handelswege auf dem Mittelmeer aufgrund der islamischen Expansion. »Ohne den Islam hätte es das fränkische Reich wahrscheinlich nie gegeben, und Karl der Große wäre ohne Mohammed unvorstellbar«, lautete seine berühmte These. Nach dieser Darstellung spielte nicht die Kultur, sondern die Wirtschaft die entscheidende Rolle, und die Ursprünge Europas lassen sich nicht darstellen, ohne der islamischen Welt die nötige Bedeutung zuzuweisen. Pirennes ökonomische Analyse mag inzwischen weitgehend in Misskredit geraten sein. Angesichts der immer komplizierteren Verquickung des Westens mit dem Islam stellt diese These dennoch eine Herausforderung dar.

Wie christlich ist die Geschichte Europas, oder wie christlich sollte sie werden oder bleiben dürfen – und in welcher Weise? Die Pilger, die zu Tausenden nach Aachen strömen, zeigen kaum Zweifel an dieser Frage. Aber gerade in diesen Tagen sind Pläne zum Bau einer ganz anderen Kapelle bekanntgeworden, diesmal in der neuen Hauptstadt Deutschlands, dem wiedervereinigten Berlin. Unter dem Namen »House of One« soll dieser Bau eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche bergen. Neue Horizonte für eine nach vorn blickende Welt. Möchten wir der Kaiser sein? Die Antworten sind nicht mehr so einfach.

Aus dem Englischen von Michael Bischoff.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.7.2014

Es ist spät geworden

Karl der Große und die Zeit

Von Arno Borst

In der modernen Geschichtswissenschaft gilt Karl der Große als monumentale Verkörperung seiner Zeit und souveräner Herr über sie. Er war ja wirklich Herr über den Augenblick, den er asketisch einteilte oder sinnlich auslebte; Herr über die Entwicklungen, die er in wenigen Wochen zerschlug oder jahrzehntelang abwartete; Herr über das Zeitalter, in dem er jede Bewegung an sich zog oder von sich stieß; Herr über die Geschichte, da er bei Augustus lernte und auf Napoleon wirkte.

Wenn das die ganze Wahrheit wäre, wüssten wir über Karls Zeitverständnis Bescheid; dann hätte er, wie Ranke ihn schildert, »die einfache Ruhe einer großen Seele« besessen und aus dieser Mitte frei über die Zeit verfügt. August Nitschke bemerkt in seinem Hauptwerk »Körper in Bewegung« 1989 wie an vielen anderen Gestalten der Geschichte auch an Karl dem Großen Verhaltensweisen, die dem scheinbar gesicherten Bild der Forschung radikal widersprechen. Demnach tat sich Karl schwer, hinter dem Chaos der Erscheinungen und Wandlungen eine bleibende Gestalt zu erkennen und zu verwirklichen, denn lebenslang fragte er, was ihm die Zeit im ganzen zu sagen habe und jetzt im einzelnen auftrage.

Karl fragte 798 seinen Hauptberater, den Angelsachsen Alkuin, nach den Zahlen, nicht nur wie wir Modernen nach ihrer ratio, auch nach dem mysterium numerorum. Alkuin antwortete, die Ordnung der Zahlen sei nach Graden der Vollkommenheit gestuft. Die vollkommenste aller Zahlen sei die Sechs, als Summe ihrer Teiler 1, 2 und 3. Dieselbe Ordnung durchleuchte die Zeiten. Die Tage jedes tropischen Sonnenjahrs fügten sich in Sechserreihen. Sechsmal sechzig Tage plus dreißig durch sechs Tage plus sechs Stunden. So spiegelten sie das Sechstagewerk des Weltschöpfers, das sonntags begann und am sechsten Tag gekrönt wurde mit der Erschaffung des vollendetsten Lebewesens, des Menschen. Dieselbe Struktur entfalte sich seitdem in den sechs Zeitaltern der menschlichen Welt. Deren sechste und vollkommenste Epoche sei mit der Geburt Jesu Christi angebrochen und werde am Ende der Weltwoche in den himmlischen Sabbat einmünden. Diese jüdisch-christliche Zahlensymbolik band alles Vergängliche in einen Prozess der Perfektion, den die Weisheit des Schöpfers von Ewigkeit zu Ewigkeit lenkt. Die Menschen der Gegenwart nahmen an ihm teil, wenn sie seine Logik erkannten und danach handelten.

Nun mussten sie nicht mehr den immer gleichen Wechsel der Jahreszeiten und Menschenalter über sich ergehen lassen, sondern konnten durch Liturgie und Ökonomie ihre Zeit so steuern, dass sie der Vollendung näher kam. Aber zu eindeutigen Worten, gar zu einmütigen Taten fanden die Sterblichen nicht leicht. Nitschke beobachtet an Karls Äußerungen spätestens seit 807 wachsende Unsicherheit, Selbstvorwürfe angesichts von Hungersnöten, Seuchen und fortwährenden Kriegen. »Er musste sich fragen, ob möglicherweise die Wünsche Gottes von ihm nicht wahrgenommen oder falsch verstanden worden waren.« Wenn es so war, dann hatte er seine herrscherliche Aufgabe verfehlt, nach den Weisungen Gottes die Menschen ermahnend und fordernd zu

Dann mussten der Kaiser und sein ganzes Volk, wie er 810 schrieb, »Gott bitten, dass er uns zeigen möge, in welcher Weise unser Verhalten ihm gegenüber gebessert werden müsse«. Dann stand die Karolingerzeit noch längst nicht fest im sechsten Weltalter, jener Phase letzter Vollkommenheit, die zur Ewigkeit hinlenkte.

Der Frankenkönig trat 768 in eine festgefügte Ordnung der Zeiten und Räume ein, die von angelsächsischen Missionaren gelehrt, letztlich vom römischen Papsttum geprägt worden war. Karl fand sie im Kalender des prächtigen Purpur-Evangelistars, das er für sich und seine Frau seit 781 schreiben und ausmalen ließ, im frühesten großen Kunstwerk der Hofschule. Da standen als christliche Hauptfeste neben den Tagen des Herrn, Mariens und der Apostel im Heiligen Land die Namen der alten Märtyrer im Römischen Reich. Aus näheren Zeiten und Räumen kamen keine Franken hinzu, nur fremde Glaubensboten, die Romanen Benedikt und Remigius, der Ire Kilian und der Angelsachse Bonifatius. Das christliche Kirchenjahr, in dem ihre Gedenktage stets wiederkehrten, richtete sich nach dem Osterfest, also nach dem jüdischen Mondmonat. Eingebettet war er in die Monate des römischen Sonnenjahres und in die verchristlichten sieben Wochentage. Nur wenige Naturerscheinungen wurden mit veralteten Daten aufgenommen, die Anfänge der vier Jahreszeiten sowie, davon getrennt, die Tagundnachtgleiche im Frühjahr und die Sonnenwende im Sommer. Es fehlte jeder Hinweis auf aktuelle Merkdaten, auf den Wechsel der Kennzahlen für Mondjahr und Wochentag, auf den Anfang der Mondschaltmonate und der Tierkreiszeichen. Uralt und fern erschien dieser Einklang des Heiligen mit dem Natürlichen, menschlicher Einwirkung völlig entrückt.

Erforscher der Gestirne

So unerschütterlich der Kalender aussah, so schwankend wirkten die Lehrbücher, nach deren Anleitung man Kalender hätte verändern können. Die dritte Sparte der Zeitbestimmung, Messung durch Uhren, war am schwächsten entwickelt. Der Frankenkönig Karl sprengte diesen dürftigen Rahmen, sobald er fest im Sattel saß. Seit 782 ließ er sich durch den Angelsachsen Alkuin, einen Enkelschüler Bedas, in Mathematik und Astronomie einführen, um zu begreifen, was Zeit sei. Karls Biograph Einhard notierte es staunend: »Viel Zeit und Mühe verwendete er darauf. Er lernte die Kunst der Zeitrechnung, artern conputandi, und erforschte mit emsigem Fleiß und unbändiger Wissbegier den Lauf der Gestirne.« Karl rückte Zeitrechnung und Sternkunde näher zueinander, als Beda und Alkuin wünschten. Denn die Bibel hatte beide Bereiche säuberlich getrennt. Am Anfang schuf Gott Sonne und Mond, »damit sie den Tag von der Nacht unterschieden und Zeichen setzten für die Zeiten, für Tage und Jahre«. Die Sterne jedoch sagten dem Menschen nichts: Gott allein »hat die Menge der Sterne gezählt und jedem den Namen gegeben«. Alles andere war Astrologie, mithin Götzendienst. Für Karl aber traten neben Sonne und Mond die Fixsterne des Tierkreises und die Wandersterne der Planetensphären, Zeitzeichen anscheinend auch sie. In Karls altfränkischem Kalender fehlten sie; Zahl, Name und Bewegung der Himmelskörper standen anderswo verzeichnet, in den Kosmologien römischer Heiden, Hyginus, Plinius, Macrobius, Martianus Capeila. Die karolingische Renaissance der Antike entsprang somit keiner subtilen Ästhetik, sondern dem eisernen Willen Karls, mit allen Erscheinungsformen der Zeit zu rechnen.

Der Kalender des Alkuin