Karriere oder Jakobsweg? - Sabine Dankbar - E-Book

Karriere oder Jakobsweg? E-Book

Sabine Dankbar

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Beschreibung

Karriere oder Jakobsweg?? In diesem Fall nimmt eine Frau es wörtlich. Sie kündigt ihren Topjob in der schnelllebigen Modeindustrie als Geschäftsleiterin im Familienunternehmen, um Raum für Ihre Sehnsüchte und Träume zu schaffen. Sie möchte herausfinden, was sie wirklich will vom Leben. Der Jakobsweg lockt sie deshalb schon lange. Diesen uralten Weg zu pilgern, erscheint ihr als willkommenes Mittel, um Abstand vom bisherigen Alltag zu bekommen, die eigene Spur wiederzufinden und ganz neu aufzubrechen. Sehr offen und freimütig schildert Sabine Dankbar ihre Erfahrungen vor, auf und nach dem Jakobsweg. Sie beschreibt, warum sie so vieles ändert und einen so radikalen Schnitt vollzieht. Sie berichtet vom einfachen, klar strukturierten Pilgeralltag, von den Anstrengungen des Wanderns, dem Nachdenken und dem Bei-sich-Sein ebenso wie von den vielfältigen Begegnungen mit anderen Pilgern und sie entdeckt ihren Glauben neu. Man erfährt, wie nach ihrer Rückkehr die Erfahrungen vom Jakobsweg nachwirken und wie sie für sich neue Lebenswege erobert. 'Der Jakobsweg hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Sich selbst Pausen zu gönnen bedeutet, den eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen. So kommen sie irgendwann zur Beruhigung. Dann entsteht Platz, um das eigene Herz sprechen zu hören.'

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Sabine Dankbar

Karriere oder Jakobsweg?

Wegezeit – Wendezeit

Mein Weg nach Santiago de Compostela

Laumann-Verlag Dülmen

Sabine Dankbar: Titelfoto

 

 

 

2. Auflage 2012

 

© 2009 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,

D-48249 Dülmen/Westfalen

 

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, Postfach 14 61,

D-48235 Dülmen/Westfalen

 

ISBN 978-3-89960-320-0 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-89960-414-6 (EPUB)

ISBN 978-3-89960-415-3 (Mobipocket)

 

E-Mail: [email protected]

Internet-shop: www.laumann-verlag.de

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

seit ich denken kann, wollte ich unbedingt ein Buch schreiben! Zwischendurch hielt ich es zwar für einen verklärten Kindheitstraum, obwohl Bücher seit jeher von mir regelrecht verschlungen werden und ich sehr, sehr gerne schreibe – Briefe, Texte, Memoranden, usw. Doch nach meinem letzten Arbeitstag im April 2006 setzte sich dieser altbekannte Gedanke wieder neu bei mir fest: »Sabine, schreibe endlich das Buch, dass du immer schon schreiben wolltest!« Ich beschloss, daraus einen meiner Vorsätze für die vor mir liegende freie Zeit zu machen. Immer dann, wenn ich über das Thema nachdachte, kam ich mir prompt selber in den Sinn: Warum nicht über den Menschen schreiben, den ich am besten kannte? Zudem konnte ich feststellen, dass ich mit meinen Themen nicht allein da stand. Es interessierten sich plötzlich viele Menschen in meiner näheren und weiteren Umgebung für die Beweggründe meines Ausstiegs und die Pilgerreise, die ich plante. Warum nicht die Antworten auf diese Fragen in einem Buch verarbeiten? Letztendlich gab dann der eine wesentliche Gedanke den Anstoß, zum Thema dieses Buches wirklich mich selbst zu machen: Ich hatte Abschied genommen, um neu aufzubrechen und um mir einen neuen Weg zu suchen – genau dem wollte ich für mich ganz allein durch das Schreiben meiner Geschichte nachspüren.

Ich wollte bewusst Abschied nehmen. Von der Sabine, die mir selbst immer fremder geworden war. Ich wollte Abschied nehmen von der materiellen Sicherheit durch den festen Job als Geschäftsleiterin, Abschied von einem Leben, das aus überwiegend Arbeit bestand. Abschied von einem Leben, das mir viel Kraft und Motivation genommen hatte. Abschied von einem Leben, das für mich als Frau kein Familienleben zugelassen hatte. Von der Verantwortung, die mir immer mehr zur Last geworden war. Und ich wollte Abschied nehmen von der eigenen Unzufriedenheit, die nicht im Äußeren begründet war, sondern im tiefsten

Inneren brodelte. Ich wollte nicht mehr länger über die Frage nach dem Sinn in meinem eigenen Leben nachdenken, ohne überhaupt die Zeit dazu zu haben.

Ich wollte aufbrechen in ein neues unbekanntes Leben und noch mal von vorn beginnen. Ich wollte mich erinnern, was an vergangenen Träumen und Sehnsüchten noch in mir übrig war. Ich wollte einen Aufbruch, um auf dem Jakobsweg zu pilgern. Einen Aufbruch, um Antworten auf meine Fragen zu finden. Aufbruch, um mich neu orientieren zu können, ohne dabei alten Ballast mit mir herumschleppen zu müssen. Aufbruch, um einen neuen Sinn zu finden. Aufbruch in eine Verantwortung nur für mich selbst. Ich wollte aufbrechen, in eine Zeit, in der ich endlich lernte, mich so zu lieben, wie ich bin und nicht wie ich meinte, sein zu müssen, damit ich geliebt werde.

Ich wollte einen neuen Weg hin zu einem Beruf, der meinen Leidenschaften entsprechen sollte: Menschen und Schreiben. Einen neuen Weg hin zu einer Frau mit eigener Familie. Einen neuen Weg, der mir Zeit lassen sollte und der mich zur Ruhe kommen lassen sollte. Einen neuen Weg, der mich stark und weich zugleich sein lässt. Einen neuen Weg, der von innen heraus aus mir begangen wird. Einen Weg, der meiner ist.

Ich habe nun einen Weg gefunden, der wirklich meiner zu sein scheint, und weil man einen Weg nie allein gehen kann, teile ich gerne meine Geschichte mit Ihnen – wenn Sie mögen. Vielleicht finden Sie sich in einigen Passagen wieder, in anderen sind sie eventuell ganz anderer Meinung als ich – am Ende stimmen Sie mir hoffentlich zu, dass wir nur durch die Begegnung mit uns selbst und mit anderen Menschen wachsen können.

 

Sabine Dankbar

1. Advent 2008

I. Mut zu Lebensbrüchen

Zum ersten Mal hörte ich vom Jakobsweg in einer Unterhaltung mit meiner Freundin Susanne, die wir während eines gemeinsamen Spazierganges führten. Auch heute noch ist mir die Situation sehr gegenwärtig. Es war ein schöner, später Frühlingstag im Jahr 2003. Wir befanden uns in einem zauberhaften, lichten Wäldchen bei Telgte, der Krippen- und Wallfahrtsstadt nahe Münster. Bei unserem Spaziergang passierten wir ein großes Christuskreuz, das inmitten des Waldes stand. Wir verharrten dort einige Minuten und genossen die Stille, die nur vom Vogelgezwitscher und dem Rascheln der Bäume unterbrochen wurde. In uns breitete sich eine wohltuend leise Stimmung aus, die Natur nahm uns auf eine besondere Weise gefangen. Wir spazierten weiter, unsere Gespräche drehten sich um Glaube und Spiritualität. Der Wald endete plötzlich, und vor uns schlängelte sich ein Feldweg durch neu eingesäte Felder. Susanne erzählte von ihrem Wunsch, irgendwann einmal den Camino zu gehen. Da ich überhaupt nicht wusste, was es damit auf sich hatte, beschrieb Susanne mit der so für sie eigenen Lebendigkeit diesen uralten Pilgerweg, dessen letzte Hauptroute quer durch Nordspanien von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela führt, der sogenannte Camino Francés. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus; welche Bedeutung der Weg für sie habe, warum sie ihn unbedingt gehen möchte und dass sie es bisher aufgrund der fehlenden Zeit, aber auch aus Respekt vor der Hitze noch nicht in die Tat umgesetzt hat. Ihre Begeisterung riss mich mit. Vor allem die Vorstellung, so intensiv mit sich allein sein zu können, lockte mich sehr. Der Abstand vom Alltag, um sich selbst neu zu erfahren – welch eine Herausforderung. Ich war berührt, beeindruckt und tief in mir klang etwas an …

Noch in der gleichen Woche kaufte ich ein Buch, um mehr zu erfahren. Es war das Pilgertagebuch von Andrea Schwarz »Die Sehnsucht ist größer«. Dass ich ausgerechnet dieses auswählte, war alles andere als ein Zufall, nichts im Leben ist Zufall. Dieser sehr persönliche Reisebericht von Andrea Schwarz ist voller Schönheit und Klugheit. Er begeisterte mich und wühlte mich auch auf. Nach der Lektüre stand für mich fest, dass ich diesen Weg gehen würde. Nur wann!? Fünf oder sechs Wochen Urlaub konnte ich mir in meinem Job einfach nicht erlauben. Ich war in der Geschäftsleitung unseres Familienunternehmens in meiner Heimatstadt Ochtrup, nicht weit von Münster entfernt, tätig. Wir entwickeln und produzieren Damenoberbekleidung im mittleren Preissegment und gehören in der deutschen Bekleidungsindustrie zu den größeren Herstellern. Ich hatte Vorbildfunktion. Für die Mitarbeiter in meinem Verantwortungsbereich, der Produktentwicklung, wäre es auch nicht möglich, sich für vier oder mehr Wochen in die Ferien zu verabschieden. Trotzdem, den Camino in Etappen zu gehen, kam für mich auf keinen Fall in Frage. Ich wollte die Magie und Einzigartigkeit des Pilgerns, dieses Loslassen von allem und jedem über einen längeren Zeitraum, genauso erleben.

Das Buch löste aber noch etwas anderes in mir aus. Andrea Schwarz und ihre Motivation zu pilgern, das was der Weg in ihr auslöste und wie sie es beschrieb, brachten in mir Empfindungen zum Klingen, die mich zum einen sehr verunsicherten, zum anderen aber etwas in mir freisetzten. Mich hatte die Sehnsucht gepackt.

Etwa einen Monat nach dem Spaziergang trennte sich mein Freund nach über fünf gemeinsamen Jahren von mir. Besser gesagt: Ich trennte mich, nachdem er zu mir gesagt hatte: »Ich habe dich lieb, aber ich kann nicht richtig Ja sagen, etwas hält mich ab.«

Für mich brach eine Welt zusammen, in der folgenden Zeit litt ich sehr. Wieder war meine Sehnsucht nach einer vertrauensvollen Partnerschaft und der Wunsch nach Kindern in weite Ferne gerückt. Stundenlang zermarterte ich mir meinen Kopf darüber, was ich falsch gemacht hatte, warum er mich nicht so lieben konnte, dass er bei mir blieb. Was störte ihn an mir? Was hätte ich tun können? War ich zu fordernd gewesen, mit meinem Wunsch nach Klarheit? Dann wieder verfluchte ich ihn, weil er mir nicht früher etwas gesagt hatte. Ich fühlte mich um diese fünf gemeinsamen Jahre betrogen, ich fühlte mich mit meinen achtunddreißig Jahren unendlich alt! Nach außen zeigte ich meinen Schmerz kaum, aber in meinen eigenen vier Wänden verbrachte ich viele Stunden mit dem Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Gerade die alltäglichen Dinge überforderten mich. Das sonntägliche Frühstücken mit Brötchen und Zeitung noch im Schlafanzug, das ich bisher als so gemütlich empfunden hatte, löste in mir Heulkrämpfe aus. Abends weinte ich mich in den Schlaf und hatte wirre Träume. Ich stellte mir so viele Fragen: Welchen Sinn hat mein Leben? Was will ich wirklich? Bin ich zufrieden? Wo sind meine Träume geblieben? Bin ich eine von den Frauen, die an ihrem Beruf kleben bleiben und irgendwann alt und verbittert sein würden? Davon gibt es gerade in der Modebranche genug. Frauen, die perfekt gestylt sind und immer den neuesten Trend tragen. Die Frauen, die die »Vogue«, die »Elle« und die »Textilwirtschaft« wie die Bibel lesen und außer ihrem Mikrokosmos Mode nichts mehr sehen. Die Frauen, deren gesamter Tagesablauf sich nur noch um den Job und ihr Äußeres dreht. Die Frauen, die nach außen tough und cool wirken und sich im Grunde ihres Herzens nach Menschlichkeit und Wärme sehnen, deren harte und kantige Gesichtszüge genau diese inneren Kämpfe widerspiegeln. Mir sah man anscheinend Letzteres auch schon an.

Aber es heißt ja: Zeit heilt alle Wunden. Dies traf auch für mich zu. Meine Eltern, meine vier Geschwister und deren Familien, auch meine Freunde halfen mir über diese schwere Zeit hinweg. Sie luden mich ein, versuchten mich abzulenken, zeigten mir ihre Zuneigung und Liebe auf vielfältige Weise. Der Beruf tat sein Übriges. Meine Arbeit wurde in noch höherem Maße zu meinem Lebensmittelpunkt. Meine Tage begannen morgens sehr früh und endeten spät. Meine Fahrtzeit von Münster nach Ochtrup zu meinem Arbeitsplatz bei bianca, knappe 40 Minuten, nicht eingerechnet. Meine Tage waren reich an Begegnungen, sowohl privat wie geschäftlich. War ich dann einmal allein, versuchte ich die Zeit in vollen Zügen zu genießen. Ich las viel und verschlang ein Buch nach dem anderen.

Aber es fehlte etwas in meinem Leben und so machte sich immer häufiger Unzufriedenheit in mir breit. Ich hatte oft Phasen, in denen ich mich schwer motivieren konnte und nach außen negative Signale sendete. Was fehlte mir? War es die Sehnsucht nach einem Mann, nach einem Kind? Endlich jemanden zu finden, der sich ohne Wenn und Aber für mich entschied, für mich mit allen meinen Stärken, Schwächen, Träumen und Sehnsüchten. Jemand, der vom Zusammenleben ähnliche Vorstellungen wie ich hatte, der keine Angst vor Nähe und Verantwortung empfand, der eine Beziehung als Bereicherung und nicht als Einengung für das gemeinsame Leben wertete. Nach Hause zu kommen, die Anwesenheit eines Menschen zu spüren, willkommen geheißen zu werden, gemeinsam zu Abend zu essen, ohne sich erst wieder einen Sozialkontakt organisieren zu müssen. Die Tür aufmachen zu können, ohne dass mich eine dunkle Wohnung empfing und ich erst Licht und Radio anschalten musste, um mich nicht so allein zu fühlen. Meine Erlebnisse vom Tag ganz einfach erzählen zu können und dem anderen zuzuhören. Sich vielleicht die gemeinsame Lieblingsserie im Fernsehen anzuschauen, dabei gemütlich auf dem Sofa Rotwein zu trinken und sich aneinander zu kuscheln. Sex zu haben und nicht allein ins Bett gehen zu müssen. Sich das alles vorzustellen und es nicht zu haben, das war einfach quälend. Diese Gedanken einfach beiseite zu schieben, war ein Akt der Unmöglichkeit. Ich kann zwar gut allein sein, möchte aber nicht einsam sein.

Mich selbst zu lieben war zu dem Zeitpunkt so verdammt schwer. Wie auch, fragte ich mich selbst, wenn man niemanden findet, der vorbehaltlos ja zu einem sagt. Mein Selbstvertrauen war oft im Keller, schneller als gewöhnlich ließ ich mich verunsichern. Dies verspürte ich ebenso in meinem Beruf, oft fehlten mir Ruhe und Gelassenheit. Das Sich-selbst-in-Frage-Stellen war ein häufiger Begleiter in dieser Zeit. Wie weit hatte mein Beruf, mein über die Maßen voller Einsatz für unser Unternehmen, mit meiner privaten Situation zu tun? In mir gärte es.

Ich kaufte zwei weitere Reisetagebücher und las sie sofort. Die Suche nach dem Sinn in meinem eigenen Leben beschäftigte mich zunehmend, ich reflektierte mich selbst und mein Dasein. An diesen Gedankenprozessen ließ ich nur ganz wenige teilhaben. Mein Alltag lief wie gewohnt, die Arbeit beanspruchte mich sehr. Ungeachtet dieser Tatsachen war mein Aktivitätsindex, sowohl privat wie beruflich, weiterhin sehr hoch. Ich war oft unterwegs, besuchte meine alten Freundinnen in Süddeutschland, schaute mir die Kunstausstellung »MOMA« in Berlin an, probierte ständig Neues aus, wie zum Beispiel einen Tauchkurs, flog mal eben für eine Woche mit einer guten Bekannten auf die Malediven. Ich verspürte eine fieberhafte Lebenslust. Andererseits löste dies alles zwischendurch auch Phasen der Melancholie und Traurigkeit aus. Es waren einfach Lückenfüller, natürlich nicht die Begegnungen mit meinen Freunden, aber alles andere diente der Ablenkung und Zerstreuung. Vielleicht fand ich gerade deshalb wieder häufig den Weg zur Kirche, entweder ging ich in den Dom in die kleine rechte Turmkapelle, um eine Kerze anzuzünden, oder ich besuchte die Kirche des Kapuzinerklosters bei mir in der Nähe. Ich bin und war immer sehr mit meinem katholischen Glauben verbunden, aber in dieser Zeit empfand ich den kirchlichen Raum der Stille noch stärker als zuvor als Trost und Rückzug. Nicht selten überkamen mich die Tränen, wenn ich allein in einer Bank saß. Es waren Tränen der Erleichterung, ich fühlte mich in diesen Momenten so überhaupt nicht mehr allein. Gott war bei mir, das spürte ich.

Der Weg rief mich. Oft musste ich an das Gelesene denken, sah die in den Büchern gezeigten Bilder plastisch vor mir: Die roten Klatschmohnfelder, die Weinberge, durch die sich der Weg hindurchschlängelte, die Pilgerrucksäcke mit den Jakobsmuscheln, aber für mich kam es wegen der äußeren Umstände einfach nicht in Frage. Der Satz »wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, er traf damals nicht auf mich zu. Mein Wille war hier nicht entscheidend, obwohl ich ein sehr willensstarker Mensch bin. Hürden, die sich in meinen Weg stellen, werden ausgeräumt. Woran fehlte es mir nun? War es mangelnder Mut gegenüber dem völlig Unbekannten, der mich zögern ließ? War mir mein Verstand im Weg? Wie so oft jagte ein Gedanke den anderen.

Ordneten sich mein Herz und mein Bauchgefühl meinem Pflichtbewusstsein unter? Heute weiß ich, dass es genau das war, was mich abhielt. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mir diesen Traum erfülle, verhalte ich mich egoistisch, lasse die anderen im Stich. Die anderen, das waren in erster Linie mein ältester Bruder, der als Geschäftsführer die Firma leitet und meine unmittelbaren Mitarbeiter. Auch meinen Vater, der in der Firma nicht mehr aktiv war, wollte ich nicht enttäuschen. Der Verantwortung, die mir übertragen worden war, wollte ich in jedem Fall gerecht werden. Deshalb las ich einfach weitere Bücher über den Jakobsweg, das war schließlich fast dasselbe. Oder nicht?

Im August des nachfolgenden Jahres passierte etwas, was meine damalige Gefühlswelt in andere Bahnen lenkte und mir ganz neue Energien schenkte. Ich verliebte mich wieder. Während eines kurzen Urlaubes lernte ich einen wunderbaren Mann mit seiner Tochter kennen. Ich schwebte über den Wolken, da ich endlich das Gefühl hatte, angekommen zu sein. In einer E-Mail an ihn zitierte ich daher auch eine entsprechende Textzeile: »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« Unsere Beziehung empfand ich als Begegnung, die sich auf vielfältige Weise ausdrückte, durch unterschiedliche Spielarten und viele Facetten. Ich empfand unser Zusammensein als etwas ganz Besonderes, da ich sehr viel Zärtlichkeit, Fürsorge und auch Vertrauen verspürte. Wir diskutierten über alles und jedes, besprachen unseren Alltag miteinander, erzählten uns von unseren Sorgen und Ängsten. Wir waren uns sehr nahe, sowohl geistig wie körperlich. Mit seiner Tochter verstand ich mich ebenfalls sehr gut und wurde von ihr sehr schnell akzeptiert. Die ersten Wochen waren sehr harmonisch, problematisch war nur, dass wir eine Fernbeziehung führten. Unsere Heimatstädte waren nicht wirklich weit voneinander entfernt, aber wiederum auch nicht so nah, dass man mal kurz zueinander fahren konnte. Genau hier begann unser Problem, das heißt aus meiner Sicht war es ein Problem. Ich verspürte den immer stärker werdenden Wunsch mehr Zeit miteinander zu verbringen und wollte unsere Wochenenden langfristiger planen. Durch unsere sehr zeitintensiven Berufe war es nicht selbstverständlich jedes Wochenende gemeinsam zu verbringen. Walter berät und coacht als Diplomsoziologe Unternehmen und Einzelpersonen, er war ständig unterwegs. Auch seine Tochter mussten und wollten wir mit einbeziehen. Dadurch entstanden Stresssituationen, wer sollte fahren, wer konnte fahren, alleine darüber nachzudenken und zu sprechen war für ihn schon mit Anspannung verbunden. Ich interpretierte dies als Zurückweisung und mangelnde Zuneigung, mein altes Gedankenmuster, geprägt durch die früheren Erfahrungen, kam wieder zum Vorschein. Ich begann mir unserer Beziehung nicht mehr sicher zu sein und er bestätigte mir dies auch indirekt in einem unserer Gespräche: »Ich kann so schnell nicht von Liebe reden, ich empfinde das Hier und Jetzt als wunderschön, aber über die Zukunft bereits zu sprechen, das ist mir nicht möglich. Ich habe mich auch am Anfang nicht Hals über Kopf in dich verliebt.« Dies nagte sehr an mir, vor allem weil ich sein Verhalten mir gegenüber als komplettes Gegenteil empfand, wertschätzend und liebevoll. Gerade deshalb hielt ich an uns fest. Ich vermisste zwar einiges, aber ich bekam auch sehr, sehr viel und mir machte es so viel Freude mich und meine Gefühle zu verschenken.

Mit meinem Berufsleben haderte ich immer mehr. Es gab Felder in meinem vielfältigen Job, die mir unendlich Spaß machten. Der Umgang mit Mode, sich gedanklich damit auseinanderzusetzen, Frauen durch Kleidung schöner zu machen, ihre persönlichen Stärken zu unterstreichen und ihre körperlichen Problemzonen zu kaschieren, brachte mir sehr viel Freude. Ein weiterer positiver Faktor war der Kontakt mit den Mitarbeitern und die Nähe zu ihnen, Teamentwicklung und -arbeit bewertete ich als entscheidend. Distanziertes Verhalten fand ich meinen Mitarbeitern gegenüber als unangebracht und der Sache nicht förderlich. Transparenz in allem strebte ich an, denn nur gut informiertes Personal konnte entsprechende Leistungen bringen, das war mein Credo. Jederzeit war ich für jeden erreichbar. Meine Belastbarkeit war immens, zwar war ich dabei nicht immer ausgeglichen und nicht die Ruhe in Person, bisweilen war ich auch gereizt und reagierte sehr emotional, aber ansprechbar war ich auf jeden Fall und kümmerte mich sofort, wenn man auf mich zukam.

Häufig war ich beruflich auf Reisen, zusammengerechnet mindestens acht bis zehn Wochen im Jahr. Die Messen und die Lieferantenbesuche in den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen waren spannend, nährten meinen Wissensdurst und stillten meine Neugierde. Allerdings waren es auf der anderen Seite immer nur Momentaufnahmen. Natürlich bekam ich einen Eindruck von Shanghai, Hongkong oder Seoul, schnupperte in diese fremde, asiatische Welt hinein und machte auch Unterschiede in den jeweiligen Mentalitäten fest, aber es blieb immer beim kurzfristigen Eintauchen. Zu mehr war nie Zeit. Abflug, Ankunft, Koffer im Hotel abladen, direkt zum Lieferanten oder zur Messe, weiter zum nächsten Termin, dazwischen ein schneller Imbiss, abends Essen gehen, später todmüde ins Bett fallen, am nächsten Tag wieder der gleiche Ablauf. Nur ein einziges Mal habe ich in Asien einen Tempel besuchen können, allenfalls hier und da einen Besuch auf einem der zahlreichen Märkte, wo unzählige Markenplagiate angeboten werden, ließ der eng bemessene Zeitplan zu. Mindestens zwei Mal im Jahr war ich in Paris, nie habe ich in all den Jahren den Louvre oder den Eiffelturm besucht, dafür kannte ich jedes Modegeschäft zwischen der Champs-Élysées, der Rue Saint Honoré und dem Boulevard Saint Germain. Die Uffizien in Florenz habe ich besichtigen können, weil unser Flugzeug wegen Nebel erst am Nachmittag starten konnte. Wie oft hatte ich mir vorgenommen, einen oder zwei Tage Urlaub anzuhängen, um von diesen Städten mehr zu sehen als die Geschäfte, Restaurants und Hotels. Aber die Kollektionsfertigstellung ließ keinen Platz dafür, mehr von dem Flair zu genießen und die Momentaufnahmen zu tieferen Eindrücken reifen zu lassen. Trotzdem, die Reisen möchte ich nicht missen. Jedes Eintauchen in fremde Welten erweitert den Horizont und die eigenen Sichtweisen, auch wenn es sich nur um kurze Einblicke handelt.

Die Modebranche ist eine wunderschöne, bunte Welt, in der es aber auch schnelllebig und hektisch hergeht. Man ist immer mit mehreren Kollektionen, die auch noch verschiedene Jahreszeiten abdecken, gleichzeitig beschäftigt. Das Karussell dreht sich permanent, Verschnaufpausen gibt es nicht. Man ist laufend in Entwicklungsprozessen. Jeder Einzelne muss in diesem Zirkus Höchstleistungen bringen, Schwächen sind nicht erlaubt. Die Kollektionen müssen fertig werden, damit der Vertrieb vermarkten und die Betriebe produzieren können. Ein Rad muss in das andere greifen. Irgendwann war ich all dem gegenüber müde, nichts ging mehr locker von der Hand. Ich fühlte mich, obwohl erst Ende dreißig, häufig uralt. Mein Beweggrund jeden Tag zur Arbeit zu gehen, war nicht mehr Freude an meinem Beruf, sondern es war in erster Linie Pflichtgefühl unserem Familienunternehmen gegenüber. Ich fühlte Abhängigkeit, eine Abhängigkeit, die ungesund war, die mir wehtat. Meine emotionale Unabhängigkeit war mir abhanden gekommen, ich erlebte mich als unfrei und befangen. Freude, die sich aus meinem Selbst entwickelte, nahm ich nur noch wenig wahr. Das fand ich, war eine schlechte Grundlage für die tägliche Arbeit. Es war nicht fair mir selbst gegenüber und schon gar nicht gegenüber unserem Unternehmen. Meiner Meinung nach hatten alle Mitarbeiter Anrecht auf eine voll motivierte, ohne Selbstzweifel geplagte Führungskraft.

Immer wieder kam mir der Jakobsweg in den Sinn. Würde eine Auszeit mich wieder nach vorne bringen, mich wieder klarer sehen lassen? Wie das Zeitproblem lösen?

Die Zeit mit Walter war auch von Höhen und Tiefen geprägt.

Was war das für eine Bindung, die keine Perspektiven kannte?

Je näher mein 40. Geburtstag rückte, desto intensiver dachte ich über mein Leben nach. Immer wieder die gleichen Gedanken. Natürlich war ich dankbar für vieles: Ich war gesund; ganz attraktiv; finanziell unabhängig, konnte mir vieles leisten, ohne großartig dafür zu sparen; konnte Rücklagen für später bilden; hatte eine schöne Wohnung, liebevolle Eltern und Geschwister, süße Neffen und Nichten, wunderbare Patenkinder, tolle und zuverlässige Freunde. Dankbar zu sein, ist eine wunderbare Eigenschaft und ein großartiges Gefühl. Aber darauf wollte und konnte ich nicht mein ganzes Leben aufbauen. Mehr und mehr wuchs die Unsicherheit darüber, ob mich das alles auf Dauer wirklich glücklich machen konnte. Dieses Glück war ein äußeres Glück, nicht in mir verwurzelt. Welche Kraft konnte ich aus mir selbst schöpfen? Was würde passieren, wenn sich um mich herum alles radikal ändern würde? Irgendetwas fehlte. Irgendetwas lief schief. Gleichzeitig verbot ich mir aber solche Überlegungen: »Reiß dich zusammen!«, predigte ich mir, »andere haben wirkliche Probleme, dir geht es doch gut! Sei nicht so undankbar!« Da war sie wieder, meine Selbstdisziplin, mich in bestimmten Momenten zusammenzureißen, um den an mich gestellten Erwartungen gerecht zu werden. Letztendlich war es so auch bequemer. Trotz meiner immer wiederkehrenden Gedanken und Fragen verhielt ich mich wahrscheinlich wie die meisten Menschen in der Situation. Warum verändern, was bestens funktioniert? Das Gewohnte erscheint uns perfekt, da kennen wir uns aus.

Im Frühjahr 2005 geschah dann einiges. In der Firma ging es mehr als turbulent zu, neben der normalen Hektik tauchten zusätzliche Probleme auf. Entlassungen aufgrund von Produktionsverlagerungen wurden ausgesprochen. Es fanden deshalb Umstrukturierungen und organisatorische Neuausrichtungen statt. Emotional empfand ich diese Zeit als sehr belastend. Ein Päckchen kam zum anderen, so erschien es mir. Walter und ich trennten uns und kamen kurze Zeit später doch wieder zusammen. Ausgerechnet zu einer wichtigen Stoffmesse wurde ich so krank, dass ich zu Hause bleiben musste. Ich hatte mir einfach zu viel zugemutet und mein Körper rächte sich mit einer schweren Grippe. Christa, eine meiner besten und langjährigen Freundinnen, schickte mir daraufhin einen Brief. Dieser enthielt ein Schreiben des Mönchs Bernhard von Clairvaux an seinen Freund Papst Eugen aus dem 12. Jahrhundert »Gönne Dich Dir selbst.« Ich las Zeilen, die mich tief berührten: »Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für die Besinnung vorsiehst, soll ich Dich da loben? (…) Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben, dann sei auch Du selbst Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. (…) Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? (…) Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal.« Diese Worte ließen mein schlechtes Gewissen, nicht auf der Messe zu sein, schlagartig zur Ruhe kommen. Im Laufe des Jahres nahm ich diesen Text immer wieder zur Hand, er befand sich jederzeit griffbereit in meinem Timer. Ich versuchte die Worte zu beherzigen und sorgte dafür, dass ich mir immer wieder kleine Inseln der Ruhe, Entspannung und Besinnlichkeit schaffte.

Die Beziehung zu Walter war wieder entspannter, auch weil ich beschlossen hatte, mehr Zeit im Hier und Jetzt zu verbringen, mehr den Augenblick zu genießen und nicht ständig den Blick nach vorne zu werfen. Dies gelang mir ganz gut und dadurch wich der Druck. Wir beschlossen, zum ersten Mal allein, nur zu zweit, ein paar Tage Urlaub zu machen. Unser Reiseziel war eine einsam gelegene Finca im Nordosten von Mallorca. Wir verbrachten traumhafte Tage und kehrten beschwingt einen Tag vor meinem 40. Geburtstag im Mai wieder zurück. Meinen runden Geburtstag feierte ich dann mit meiner Familie, allen meinen Freunden und auch vielen Kollegen aus der Firma mit einer stimmungsvollen Party im Hafen von Münster. Selbst schenkte ich mir eine zehntägige Ayurveda-Kur, die zwei Tage später in Bad Wildstein begann. Die Ruhe dort, das Entgiften des Körpers durch die ayurvedische Kost und die wohltuenden Behandlungen, der Verzicht auf Alkohol, das tägliche Yoga, das Faulenzen im grandiosen Park unter uraltem Baumbestand, die Radtouren an der nah gelegenen Mosel, dies alles tat unendlich gut. Ich fühlte mich zufrieden, obwohl es auch in der Kur Momente gab, in denen ich tieftraurig war. Diese traten immer dann auf, wenn ich mich draußen im Park aufhielt. In meinem Liegestuhl sitzend, schaute ich in die Baumkronen, hörte das Laub rascheln, sah die Eichhörnchen von Ast zu Ast klettern, spürte den Wind in meinen Haaren und versuchte mich der Zeit hinzugeben, die langsam und träge verging. Schmerzlich wurde mir dann bewusst, wie wenig ich gedanklich im Heute war. Ständig waren meine Überlegungen mit dem Morgen, mit der Zukunft beschäftigt. Nicht nur, weil dies mein Job so erforderte, es lag ganz einfach an mir, an meiner Persönlichkeit. Ich brauche Ordnung und Struktur um mich herum, möchte alles planen und vorausschauend bedenken, Chaos ist mir zuwider. Deshalb bin ich immer erst dann zufrieden, wenn alles erledigt ist und mein Dasein klar und übersichtlich vor mir liegt. Mit dieser Haltung ist es sehr schwierig, im Hier und Jetzt zu sein. Ich realisierte, dass ich mir dadurch auch vieles nahm. Wenn ich gedanklich ständig woanders war, konnte ich mich auch auf die Gegenwart nicht voll einlassen. War ich deshalb von den Zielen meines Lebens so weit weg?

In diesem Urlaub dachte ich zum ersten Mal über Kündigung nach und darüber, wie ich mich beruflich verändern könnte. Meine alte Leidenschaft für das Schreiben von Texten und Briefen kam mir in den Sinn. Hatte ich vielleicht sogar das Talent ein Buch zu schreiben? War es nicht leichtsinnig meinen sicheren Job aufzugeben, um etwas mir völlig Neues und Unbekanntes zu wagen?

Nach meiner Rückkehr war meine Erholung schnell dahin, meine Überlegungen waren flink beiseitegeschoben, der alte Rhythmus schlich sich wieder ein. Das Gefühl, niemandem wirklich gerecht zu werden, kehrte zurück. Schwierigkeiten, die auftraten, machte ich häufig an mir und meinem Verhalten fest. »Ich bin schuld, ich habe mich nicht richtig verhalten« waren Sätze, die ich oft und gerne innerlich benutzte. Wieder bemerkte ich nicht oder wollte es nicht bemerken, dass ich mich nur von außen bestimmen ließ. Jegliche Zweifel, die mahnend in mir hochkamen, unterdrückte ich. Zwischendurch schützte ich mich, indem ich verbal austeilte, oft war ich ungenießbar. Meine Unzufriedenheit ließ ich an anderen aus. Keine leichte Zeit, weder für mich, noch für die Menschen um mich herum. Durch Meditation und Auseinandersetzung mit meinem Glauben versuchte ich etwas Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden. Der Jakobsweg spukte immer noch in meinem Kopf herum, verbunden mit der Sehnsucht einfach alles stehen und liegen zu lassen.

Im Sommer urlaubten wir dann nochmals auf Mallorca, diesmal zu dritt. Einen Tag, bevor wir abflogen, ließ ich von meinem Bruder, der mir als Geschäftsführer vorstand, den Urlaubsschein abzeichnen und nutzte dabei die Gelegenheit, ihm zwei weitere Scheine mit der Bitte um Bewilligung zu geben. Bei dem einen war mir klar, dass er diesen abzeichnen würde, auch wenn die Zeit, in der ich frei haben wollte, nicht selbstverständlich war. Zwischen Weihnachten und Neujahr wollte ich ein spirituelles Seminar besuchen und gerade dieser Zeitraum ist eine ganz heiße Phase in der Kollektionserstellung, aber nach fünf Jahren Präsenz konnte ich das guten Gewissens vertreten. Nachdem er seine Unterschrift unter den ersten Schein gesetzt hatte, schaute er mich bei dem zweiten mit mehr als fragendem Blick an: »Das ist nicht dein Ernst, oder? Sechs Wochen am Stück im nächsten Jahr, im Mai und Juni? Wofür?« Daraufhin erzählte ich ihm von meinem Wunsch den Jakobsweg zu gehen, ebenso erzählte ich ihm von meinen Zweifeln und meinen inneren Konflikten. Es war ein gutes Gespräch, wir tauschten uns über unsere größten Wünsche aus, aber auch über unsere Gedanken und Vorstellungen vom Leben. Ich fühlte mich von meinem Bruder verstanden, empfand eine besondere Nähe zu meinem »großen« Bruder. Dennoch, das war mir vorher bereits klar gewesen, die Unterschrift bekam ich nicht. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in unserem Unternehmen: Das, was wir unseren Mitarbeitern nicht zugestehen, ist auch für uns tabu. Wieso hatte ich es dann überhaupt versucht? Wollte ich ein Signal setzen? Sollte ich mich entscheiden? Hieß es am Ende sogar Karriere oder Jakobsweg?

Der Urlaub zu dritt war schön und schrecklich zugleich. Obwohl ich mich mit Marie, Walters Tochter, sehr gut verstand, kam ich mir oft als drittes Rad am Wagen vor. Es gab eine Symbiose zwischen Vater und Tochter, die so stark war, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Es gab auch keinen Zweifel daran, wer die oberste Priorität bei Walter hatte. Auf der einen Seite absolut in Ordnung, auf der anderen Seite schmerzhaft. Wäre ich mir seiner Gefühle sicherer gewesen, hätte ich mich selbst nicht ständig in Frage gestellt, vielleicht wäre der Urlaub dann so richtig entspannt gewesen. So war er neuer Nährboden für meine Zweifel. Der Druck war wieder da. Mein Beschluss, mehr in der Gegenwart zu leben, war eben nicht so einfach in die Tat umzusetzen.

Kurz nach Ende des Urlaubs begann erneut die Periode der Messen und der Konzeptfindung für die neue Saison. Es reihte sich Reise an Reise, Termin an Termin. Der September und der Oktober sind immer eine der reiseintensivsten Monate in der Modebranche, jedenfalls im Bereich der Produktionsentwicklung. Gerade in dieser Zeit ist es so, als wenn man wie im Hamsterrad läuft, immer nach vorne – schnell, schneller, am schnellsten.

Anfang Oktober war ich dann über das Wochenende bei Walter in Bonn. Wir waren diesmal allein. Wir hatten wunderbares herbstliches Wetter, wir flanierten am Samstag durch die Geschäfte der Stadt, verbrachten einen harmonischen Abend miteinander, frühstückten am anderen Morgen lange und ausgiebig und begaben uns dann an den Rhein, um einen langen Spaziergang in der Sonne zu unternehmen. Es war herbstlich warm, der Rhein floss träge dahin. Wir genossen die letzten intensiven Sonnenstrahlen des Herbstes, wie die Menschen um uns herum. Wir aßen Eis, lagen sogar im Gras, es war einfach schön. Vielleicht war es diese entspannte Atmosphäre, dass die Unterhaltung wieder einmal auf das Thema unserer Beziehung zusteuerte. Das Gespräch wurde zunehmend hitziger und emotionsgeladener, unsere unterschiedlichen Erwartungen an unsere Partnerschaft standen im Mittelpunkt der Diskussion. Dann fielen der folgenschwere Satz und die Entgegnung, von wem zuerst, weiß ich heute nicht mehr: »Dann lassen wir es.« »Ja, gut, dann lassen wir es.« Und wir ließen es dann auch, wir trennten uns. Wir weinten beide. Ich, weil ich wieder alleine war und dachte, dass meine Liebe wieder nicht ausgereicht hat: »Ich bin wieder gescheitert.« Er, weil er begriff, wie ernst es mir diesmal war.

In einer späteren Mail schrieb ich ihm, dass es besser sei, sich zu trennen, wenn der eine den anderen ständig davon überzeugen müsse, dass er es wert sei, von ihm geliebt zu werden. Das ist auf Dauer anstrengend und man verliert darüber seine eigenen Wünsche und Vorstellungen aus dem Blick.

Auf dem Weg nach Hause hatte ich an diesem Sonntagabend im Auto sehr viel Zeit meinen Tränen freien Lauf zu lassen und nachzudenken. Es war sehr viel Schmerz in mir, trotzdem konnte ich fahren, es war, als ob das Fahren auf der dunklen Autobahn meinen Kummer aus mir herausspülte und Platz machte, damit meine Gedanken frei fließen konnten. Ich ließ mein ganzes Erwachsenenleben Revue passieren, erinnerte mich an Schönes, an Trauriges, an meine ersten Berufspläne nach dem Abitur, meine beruflichen Stationen, meine erste große Liebe, meine erste Ehe, meine Partnerschaft danach. Ich fragte mich: Was macht dir so richtig Freude in deinem Leben? Wo sind deine Talente, was hast du aus ihnen gemacht? Was wünschst du dir am meisten? Bist du wirklich glücklich oder fehlt dir etwas? Warum waren meine Beziehungen gescheitert, warum hatte meine Ehe nicht gehalten? War ich bei der Liebe immer dem gleichen Muster gefolgt, hatte mir einfach den falschen Mann ausgesucht? Wurde ich deshalb nicht geliebt, weil ich die Liebe, die mir im Laufe der Jahre für mich selbst abhandengekommen war, bei anderen suchte und damit jeden Mann überforderte? Ich ging mit mir selber schonungslos ins Gericht, gab mir auf alle Fragen ehrliche Antworten, es hörte ja keiner zu. Aber es gab auch Fragen, auf die ich keine Antworten hatte, da blieb es in mir einfach stumm. Auf dieser Fahrt begriff ich, dass nur ich selbst die noch fehlenden Antworten finden konnte, ich allein war dafür verantwortlich, niemand sonst. Auch wurde mir klar, dass ich dafür Zeit brauchte. Was hatte Bernhard von Clairvaux noch geschrieben: »Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst.« Ich wollte mir nicht länger den Kopf darüber zerbrechen, ob ich so viel arbeitete, weil ich keine eigene Familie hatte oder ob ich keine Familie hatte, weil ich so viel arbeitete. Ich hatte es satt, als Karrierefrau abgestempelt zu werden. Ich wollte einfach nicht länger zwischen zwölf und vierzehn Stunden am Tag mit meinem Beruf verbringen, um am Ende meiner Berufslaufbahn alleine und eine dieser unzufriedenen Modetanten zu sein.

Als ich in Münster ankam, hatte ich Entscheidungen gefällt, die mein Leben verändern sollten. Ich war mir ganz sicher. Ich wollte noch in der gleichen Woche kündigen, ich wollte die Modebranche verlassen und noch mal etwas ganz Neues beginnen. Was das sein könnte, darüber würde ich in aller Ruhe nachdenken und die Zeit würde mir dabei helfen. Kurz nach meinem letzten Arbeitstag wollte ich mich auf den Weg nach Santiago de Compostela machen und mich endgültig zu dem spirituellen Seminar zwischen den Jahren anmelden. Dem nächsten Mann, in den ich mich verlieben sollte, wollte ich von vornherein klaren Wein einschenken: »Eine eigene Familie ist für mich wichtig. An einer Beziehung nach dem Motto, wir schauen mal, was draus wird, und lassen alles ganz langsam auf uns zukommen, habe ich keinerlei Interesse.«

An dem Abend war mir innerlich zum Weinen und Lachen zumute. Ich fühlte mich befreit, gleichzeitig hatte ich Angst vor meiner eigenen Courage. Trotzdem oder gerade deswegen setzte ich alles, natürlich nur das, was ich selbst beeinflussen konnte, in die Tat um. In der gleichen Woche kündigte ich. Das spirituelle Seminar besuchte ich wie geplant zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein letzter Arbeitstag war gegen Ende April 2006, sodass ich am 21. Mai 2006, meinem 41. Geburtstag, nach St. Jean-Pied-de-Port aufbrechen konnte, um endlich zum Grab des heiligen Jakobus zu pilgern.

Noch heute freue ich mich darüber, wie liebevoll und souverän mein Bruder und mein Vater auf meine Kündigung reagierten. Nachdem sie durch unser Gespräch klar verstanden hatten, wie ernst es mir war, versuchten sie auch nicht, mich von meinem Entschluss abzubringen. Mein Bruder sagte mir: »Ich arbeite gern mit dir zusammen, du machst deine Arbeit gut und gerne würde ich auch weiterhin mit dir zusammenarbeiten wollen. Ich werde dich aber trotzdem nicht überreden, bei uns zu bleiben, weil ich dann immer mit dem Gefühl leben müsste, dass du doch irgendwann gehst, und mit dieser Unsicherheit ist kein gutes Zusammenarbeiten möglich.« Für diese Worte war ich ihm sehr dankbar, weil sie mir in der folgenden Zeit bei aufkommenden Zweifeln immer wieder eine Hilfe waren. Die Wertschätzung meines Bruders tat gut, aber auch seine klare Aussage, dass die Firma für ihn Priorität habe, bestärkte mich. Letztendlich fühlte ich mich dadurch noch mehr bestätigt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Denn ich wollte dem, was mir wichtig war, mehr Priorität geben.

Bei meinem Vater hatte ich trotz seiner für mich positiven Reaktion das Gefühl, dass er auch ein wenig enttäuscht war, dass ich seine bisher gut funktionierende Nachfolgeregelung nun durcheinanderbrachte. Doch sein gesunder Pragmatismus und auch seine väterlichen Instinkte rückten schnell anderes in den Vordergrund. Er sorgte sich, wie auch später meine Mutter, sehr stark um die Folgen für mich. »Was willst du denn machen, welche Pläne hast du, wovon willst du auf Dauer leben?«, waren seine Fragen. Fragen, die ich mir natürlich auch stellte. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich viele Ideen hätte, aber noch nichts Konkretes ins Auge gefasst hätte. Vielleicht studieren: Journalismus, Bibliothekswissenschaften, Literatur- oder Kommunikationswissenschaften. Meinen alten Traum ein Buch zu schreiben, in die Tat umsetzen. Mich sozial engagieren. Alles das, was mich als Abiturientin auch interessiert hatte. Vieles schwirrte in meinem Kopf herum, sortiert war noch nichts, wie denn auch, ich musste erst einmal diesen gravierenden Einschnitt überhaupt verarbeiten.

Wir hatten vereinbart, meine volle Kündigungszeit von einem halben Jahr auszuschöpfen, und ich hatte versprochen, erst dann zu gehen, wenn die Nachfolge feststand und ich sie eingearbeitet hatte. Bis dahin wollten wir den Mitarbeitern auch nichts sagen, um keine unnötige Unruhe aufkommen zu lassen. Ich hatte für mich beschlossen, mich mit meinem neuen Weg erst dann weiter auseinanderzusetzen, wenn der Kopf dafür so richtig frei war – frei zu sein vom Arbeitsalltag mit seinen festgelegten Tagesabläufen. Mit meinen Ersparnissen, so hatte ich mir ausgerechnet, konnte ich mir dies auch einige Zeit leisten. Sicher war nur, dass ich den Jakobsweg gehen würde, sobald ich aufhören würde zu arbeiten.

Seltsamerweise machte mir meine Arbeit in den folgenden Monaten wieder sehr viel Spaß, vieles klappte leichter als vorher. Woran lag das? Sicherlich, weil ich damit aufgehört hatte, mich ständig in Frage zu stellen, alles in Zweifel zu ziehen. Ebenso war ich mir trotz der Unruhe bezüglich meiner beruflichen Zukunft immer sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich bereute nichts, im Gegenteil, ich empfand pure Lebensfreude.

Die Weisheit von Andre Gidé »Man entdeckt keine neuen Weltteile ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verliere« drückte meinen Seelenzustand aus. Ich hatte den Mut gehabt, meinen sicheren Boden unter den Füßen zu verlassen, ohne zu wissen, was kommt. Aber wie jeder Entdecker, so dachte ich, würde ich auf etwas stoßen, etwas Neues, Unbekanntes, aber bestimmt auch etwas Spannendes und Lohnendes. Später haben mir viele, nicht nur jene aus meiner engsten Umgebung, Bewunderung für diesen Mut entgegengebracht. Mehr noch, ich spürte sehr viel Respekt, das wiederum verlieh mir noch mehr Mut und Entschlossenheit. Etwas Anderes, etwas sehr Wesentliches, gab mir ebenso die tiefe Zuversicht, dass ich das Richtige tat. Es war mein Glaube. Ich wusste, ich bin nicht allein, Gott ist da, bei mir, in mir und gibt mir die Kraft, alle Antworten auf meine Fragen zu finden.

Ein Geschenk für meinen Mut zu neuen Ufern aufzubrechen, bekam ich übrigens sehr schnell. Bis heute verstehe ich rein rational nicht, warum ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, in der Situation. In der gleichen Woche, in der ich kündigte, begegnete ich dem Mann, der heute mein Mann ist. Verrückt, total verrückt. Die Umstände unseres Kennenlernens, das Wie, alles war schon ungewöhnlich.

Wie es unter Frauen üblich ist, müssen die besten Freundinnen von allen wichtigen Entscheidungen sofort in Kenntnis gesetzt werden. Ich bin da nicht anders gestrickt. Allerdings habe ich mich doch in einem Punkt zurückgehalten, meine »alten« Freundinnen aus meiner Heimatstadt band ich nicht ein, nicht weil ich sie nicht für vertrauenswürdig hielt, sondern weil alle auch eine Nähe zu meiner Familie dort haben und ich sie nicht in eine Zwickmühle bringen wollte. Denn mir war klar, dass mein Bruder zunächst Stillschweigen bewahren wollte. Meinen Freundinnen aus Münster, Susanne, Larina und Anne, erzählte ich natürlich die Neuigkeiten. Freunde sind wichtig, vor allem wenn man keine eigene Familie hat. Sie haben meist einen anderen Blickwinkel als die Herkunftsfamilie, vieles wird dadurch anders eingeordnet. Deswegen bedeutete mir das Feedback, die Reaktion auf meine Entschlüsse, seitens meiner engsten Vertrauten sehr viel.

Larina erreichte ich erst nach zwei Tagen telefonisch, eigentlich hatte sie auch an diesem Dienstagabend keine Zeit. Sie hatte vor kurzem eine spirituelle Ausbildung begonnen und gerade an diesem Abend traf sie sich mit einem ihrer Kollegen in unserer damaligen kleinen Stammkneipe, dem »Rabenschwarz« um die Ecke. Sie lud mich ein, dazu zu kommen, wenn mich die Anwesenheit von Gu, so sein Name, nicht stören würde. Es störte mich überhaupt nicht, besser gesagt, es war mir sogar egal, ob dieser Wildfremde dabei sitzen würde. Er kannte mich nicht, ich ihn nicht, sollte er doch zuhören, wenn er denn wollte, es interessierte mich in dieser Situation sowieso nicht. Als ich dann in das »Rabenschwarz« eintrat, saßen die beiden schon dort. Larina stellte uns kurz vor. Ohne ihn danach großartig zu beachten, sprudelten die Ereignisse der vergangenen Tage nur so aus mir heraus. Ich ließ keinen meiner gefassten Vorsätze aus, nicht einen einzigen. Larina, aber auch Gu, hörten interessiert zu. Larina, wie später auch meine anderen Freunde, unterstützte mich vorbehaltlos in meinen Plänen und freute sich mit mir, ja, sie bestärkte mich sogar. Irgendwann meldete sich auch Gu zu Wort und meinte, er würde meinen Mut sehr bewundern und er freue sich, dass er an meiner Geschichte hätte teilhaben dürfen.

Noch ungefähr eine halbe Stunde plauderten wir über alles Mögliche, der Abend war kurzweilig und lustig. Gu fand ich sympathisch. »Netter Typ«, dachte ich mir. Als Mann nahm ich ihn an diesem Abend eigentlich nicht so richtig wahr. Wie auch, das, was hinter mir lag, war noch viel zu frisch. Dennoch muss ich zugeben, dass ich seine braunen Augen und den intensiven Blick daraus schon attraktiv fand, und seinen Po stufte ich auch als ganz knackig ein, als er sich zwischendurch auf den Weg zum stillen Örtchen machte. Dann wollte ich mich verabschieden, Gu hielt mich aber auf, ich solle bitte kurz warten. Er verließ das »Rabenschwarz« mit den Worten: »Ich hole nur schnell etwas aus dem Auto. Da gibt es etwas, was ich dir geben möchte.« Larina und ich schauten uns erstaunt an, sie hatte auch keine Ahnung, wovon er sprach. Bei seiner Rückkehr überreichte er mir ein Päckchen mit den Worten: »Ich weiß nun, warum ich vor einigen Wochen aus einem Impuls heraus etwas gekauft habe, ohne zu wissen, warum oder für wen. Heute nun ist es mir klar geworden. Das darin enthaltene Geschenk ist für dich bestimmt.« Ich reagierte mit Ungläubigkeit: »Das sagst du jetzt nur so, eine schön ausgedachte kleine Anekdote.« Er blieb ganz ruhig, sah mich eindringlich an und meinte nur: »Pack es einfach aus, du wirst schon sehen.« Eine wunderschöne Kette mit leuchtenden kristallblauen Steinen kam zum Vorschein, ich schaute ihn verwundert an. »Die Steine der Kette haben die gleiche Farbe wie deine Augen, sie passt zu dir. Ich möchte dir etwas schenken, weil ich deinen Mut und deine Lebensfreude als etwas Besonderes erachte.« Das erste Kennenlernen zwischen uns hört sich kitschig an. Für mich war dieser Abend einfach nur heiter und schön. Ich ging positiv gestimmt nach Hause, freute mich über das unerwartete Präsent und vor allem über dessen Begründung. Gu sagte mir später, dass er sich bereits an diesem Abend in mich verliebt hat. In der Folgezeit ließ er über Larina immer wieder Grüße an mich übermitteln. Ehrlich gesagt, das tat mir sehr gut, es beruhigte mein verwundetes Herz und schmeichelte natürlich auch meinem Ego. Es sorgte zusätzlich dafür, dass ich nicht wieder in ständige Grübeleien verfiel, warum ich wieder einmal allein war. Nach und nach eroberte Gu mein Herz und überzeugte mich davon, wie ernst es ihm mit mir war. Das, was ich mir immer gewünscht hatte, einen Menschen zu finden, der ohne Wenn und Aber ja sagt, ich habe ihn in Gu gefunden. Oft denke ich, dass Gu in mein Leben getreten ist, damit ich täglich daran erinnert werde, bewusst und auf meine innere Stimme hörend, meinen neuen Weg zu gehen. Er ist eine Antwort auf eine meiner vielen Fragen, aber ich habe ihn nur gefunden, weil ich mich auf den Weg zu mir selbst gemacht habe. Auf den Weg, der mein eigener und nur für mich bestimmte Weg ist.

Im Dezember, zwischen den Jahren, nahm ich am Seminar »Der Weg ins Licht« teil. Bei diesem spirituellen Seminar geht es im Wesentlichen darum zu erkennen, welche Qualitäten man in seinem Leben bereits lebt und welche sich noch verbergen. Sich bewusst zu machen, was man in sich trägt, und das Vertrauen und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, dieses auch nach außen zum Ausdruck zu bringen und es zu leben. Sita, die spirituelle Leiterin, arbeitete dabei unter anderem mit den verschiedenen Chakren. Die Tage am Bodensee, das Seminarzentrum lag nur unweit davon entfernt, waren entspannend, sehr intensiv und in vielerlei Hinsicht klärend. Mir wurde einmal mehr deutlich, wie eng meine Beziehung zu meinem Glauben ist, aber auch was Stille und Meditation bewirken und auslösen können. Durch das Miteinander mit den anderen Teilnehmern spürte ich, wie gerne ich mich auf andere Menschen einlasse. Ich genoss die entstehende Gruppendynamik und den Wunsch, gemeinsam für jeden Einzelnen ein gutes Fortkommen und Ergebnis zu erreichen.

Untergebracht war ich auf einem Ferienbauernhof. Die Atmosphäre dort war heimelig, gemütlich und sehr fürsorglich. Die Nähe zum Alltag des Bauernhofes war ein wohltuender Kontrast zu den Tagen vorher, die sich um die neuesten Modetrends für den darauf folgenden Winter gedreht hatten. Der Geruch des nahen Kuhstalls, der Duft der überall herumliegenden Apfelprodukte und die liebevolle Gastfreundschaft der jungen Bauernfamilie ließen mich so richtig zur Ruhe kommen. Es hatte zudem geschneit und anders als beim münsterschen Schmuddelwetter konnte man hier in eine weihnachtlich-besinnliche Stimmung eintauchen. Die Spaziergänge zwischendurch und ab und zu auch am Abend, manchmal unter wunderbar klarem Sternenhimmel, öffneten mich zusätzlich für die Seminararbeit. Ich fühlte mich als Teil von Gott und empfand eine Energie, die mich durchflutete und die ganze Woche über begleitete.

Am Ende des Seminars bekam jeder Teilnehmer von Sita einen Satz geschenkt, der die jeweilige Lebensaufgabe beschreiben sollte. Dieser Satz bewegte mich sehr: Wahrheit und Frieden so in mir in Einklang zu bringen, dass ich damit die Herzen anderer Menschen berühre. »Was bedeutet er eigentlich?«, fragte ich mich. Für mich sagte er aus, dass ich meine eigene Wahrheit finde, Erkenntnisse in mir suchen und reifen lasse, sie in Übereinstimmung mit mir selbst bringe. Darüber hinaus Harmonie und Ausgleich im persönlichen Inneren zu erlangen, um inneren Frieden zu verspüren. Wahrheit und Frieden, zwei wunderbare und sehr erstrebenswerte Ziele, so in sich selbst in Einklang zu bringen, also mit sich selbst im Reinen, im Konsens zu sein, um damit als wahrhaftiger, authentischer, in sich ruhender Mensch andere Menschen zu berühren.

Die Aufgabe drückte für mich auch noch eine weitere wichtige Erkenntnis aus: Der innere Wachstumsprozess muss mit dem äußeren Sein und Tun konform gehen. Ich kann nicht im Inneren in Harmonie bleiben, wenn meine Wünsche, Ziele und Visionen im Außen keine Entsprechung finden. Auch heute denke ich, dass in diesem Satz genau die Wahrheit für mein Leben liegt, die ich gesucht habe. Ich habe sie zwar immer noch nicht vollständig gefunden, aber ich bin ihr ein sehr, sehr großes Stück näher gekommen.

Im Februar, nach den großen Stoffmessen, wurde die Entscheidung meiner Kündigung den Mitarbeitern und Kollegen mitgeteilt. Es gab keine einheitliche Reaktion, wie auch, die Menschen und ihre Empfindungen sind verschieden. Eines wurde mir aber deutlich entgegengebracht: Verständnis und Respekt. An meinem letzten Tag, während einer kleinen Abschiedsfeier, kam dies ganz besonders zum Ausdruck. Ich bekam ein Bildobjekt von der Künstlerin Susanne Hegmann sowie ein liebevoll gestaltetes Erinnerungsalbum geschenkt. Alle Abteilungen hatten sich an dem Album beteiligt. Auf vielen Seiten waren darin Wünsche für meine Zukunft in Weisheiten, Gedichten und Texten zum Ausdruck gebracht worden. Was mich am meisten berührte, sie hatten sich mit mir als Menschen auseinandergesetzt, sich mit meinen Motiven beschäftigt und auch meinen Abschied für mich als Start in einen neuen Lebensabschnitt begriffen. Sie verstanden, wie schwer mir dieser Schritt trotz allem fiel, dass ich nicht nur in eine neue, ungewisse Zukunft ging, sondern auch, dass ich quasi meine Familie verließ, und sie machten mir deshalb Mut. Eine der vielen Weisheiten lautete: »Viele Wege führen zum Ziel, aber nur dein eigener Weg führt dich ins Glück.« Ich sehe noch heute die Gesichter vor mir. Neugierde, Anerkennung, Zuneigung, Wohlwollen, aber auch Skepsis und Verwunderung spiegelten sich auf den Gesichtern wider. Viele kannten mich schon eine Ewigkeit. Schon als Teenager hatten meine Geschwister und ich in den Ferien in der Firma gejobbt, andere waren mit mir zur Schule gegangen. Es war ein sehr persönlicher Abschied und deshalb ging ich nicht nur traurig, sondern auch glücklich und zufrieden nach Hause. Etwas ganz Entscheidendes verstand ich an diesem Tag aber auch. Es war nicht wichtig, was Menschen, die mich nur von außen wahrnahmen und oberflächlich kannten, über mein Ausscheiden aus dem Familienunternehmen spekuliert und vermutet hatten und welche falschen Schlussfolgerungen sie daraus gezogen hatten. Es war nur entscheidend, was die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung dachten. Sie hatten meine Kündigung als das wahrgenommen, was sie war. Es war überflüssig, an die in der Fachpresse im März veröffentlichte negative Berichterstattung über mein Ausscheiden überhaupt einen Gedanken zu verschwenden. Sie war es nicht wert, negative Gefühle in mir hochkommen zu lassen. Die, die meine Familie und mich kannten, wussten, dass nichts Negatives zwischen uns vorgefallen war.

Einen Monat später wollten wir aufbrechen und uns auf unsere Pilgerreise begeben. Wir, das waren Gu und ich. Irgendwann im Laufe des Frühjahres hatte er gefragt, ob er mitkommen könne. Zunächst war ich skeptisch, was sollte ich antworten, eigentlich wollte ich den Weg doch alleine gehen. Fairerweise muss ich aber zugeben, dass mein Respekt vor dieser Unternehmung mit den zunehmenden Reisevorbereitungen und dem sich nahenden Reisedatum immer mehr wuchs. Die Tragweite des Pilgerns wurde mir immer mehr bewusst. Deshalb wies ich das Ansinnen Gu’s auch nicht sofort zurück. Er machte den Vorschlag zwei Wochen vor Ende der Reise dazu zu stoßen und den Rest des Pilgerweges bis nach Santiago mit mir zu gehen, da er nur zwei Wochen Urlaub nehmen konnte. Wir überlegten und diskutierten. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und sagte ihm, dass ich es besser finden würde, wenn er mich am Anfang begleiten würde. Meine nicht uneigennützigen Gründe verschwieg ich ihm nicht: »Gerade der Beginn der Reise wird für mich nicht einfach sein. Noch nie bin ich mit Rucksack gewandert, seit Jahren bin ich Komfort auf meinen Reisen gewohnt. Und dann bin ich doch in bestimmten Situationen auch ein Angsthase, allein im Dunklen zum Beispiel. Mich macht auch dieser ganz andere Tagesablauf nervös, was, wenn ich es nicht schaffe. Ich finde es schön, wenn du mich die ersten Tage begleitest und ich dann alleine weitergehe. Ich glaube, das ist für mich besser.« Ein Stück weit noch Begleitung, eine Brücke zwischen dem alten Weg und dem neuen Weg, so dachte ich mir, das könnte Gu als Reisebegleitung für mich sein. Er reagierte mit Verständnis, nahm mich liebevoll in den Arm und versprach mir: »Ich bin die ersten Tage gerne dein Beschützer. Ich glaube zwar, dass du mich dazu nicht brauchst. Du schaffst das auch allein.«