Kastanienmond - Christa Canetta - E-Book

Kastanienmond E-Book

Christa Canetta

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Beschreibung

Die Tessiner Familie D'Amareni besitzt ein prächtiges altes Weingut. Ihr Gast im Herrenhaus ist die Geologin Lisa, sie versucht die Weinbauern vor drohenden Felsabbrüchen zu warnen.Leonardo, der jüngste Sohn des Besitzers, unterschätzt jedoch lange die gewaltigen Kräfte der Natur. Während einer Weinprobe in einem abgelegenen Kellergewölbe kommt es zur Katastrophe. Nun müssen Lisa und Leonardo gemeinsam handeln und entdecken dabei Gefühle, die sie erst nicht wahrhaben wollen.

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Seitenzahl: 460

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Christa Canetta

Kastanienmond

Roman

LangenMüller

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www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2010 Edition Tosca in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Thinkstockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8015-2

Prolog

Plötzlich war sie da, die Katastrophe. Es gab keine Warnung, keinen ohrenbetäubenden Krach, keine Explosion, keinen Knall, es gab nur ein unheimliches Grummeln und Beben und eine Angst einflößende Stille – dann erst stürzten Regale um, zerbarsten Flaschen, verloschen Kerzen. Finsternis und Staub und ein atemberaubender Alkoholdunst erfüllten die Luft.

Lisa und Leon kauerten dicht nebeneinander an die Felswand gelehnt auf dem Boden. Das ist das Ende, dachte Lisa und Tränen rannen über ihre Wangen. Wie, um Himmels willen, bin ich in dieses Chaos geraten? Da legte sich ein Arm schützend um ihre Schultern und Leon sagte: »Nicht weinen, Lisa, alles wird gut.«

1

Aufmerksam und neugierig fuhr Doktor Elisabeth Farmsen die Autobahn zum St. Gotthard hinauf. Noch zwei Stunden und ich bin im Tessin, überlegte sie. Interessiert betrachtete sie die Berge, die sich rund um das fast dreitausend Meter hohe St.-Gotthard-Massiv auftürmten. Ein Wahnsinn wäre das, wenn sie zerfallen würden, dachte sie und starrte auf die Autobahn vor sich, an deren Rändern überall kleine Gesteinsbrocken lagen. Obwohl die Felsen rechts und links mit Maschendraht gesichert waren, kam es immer wieder zu kleinen und größeren Abbrüchen, die der Draht nicht verhindern konnte. Erst vor Kurzem hat ein tonnenschwerer Felsbrocken zwei Touristen auf dieser A 2 getötet und weiter südlich, bei Biasca, wurde eine Autofahrerin von einem Erdrutsch erfasst und verschüttet, erinnerte sie sich und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr, der dicht und unübersichtlich diese Route in den Süden nutzte. Früher, dachte sie, mussten wir in Andermatt das Auto verladen und bis Airolo mit dem Zug fahren, wenn der Gotthard oben noch gesperrt war. Heute erspart uns die A 2 diese Tortur und man kann bei jedem Wetter die Straße nutzen – wenn nicht gerade wieder einmal eine Mure abgegangen ist oder die Felsen sich vom Massiv lösen.

Na ja, dachte sie, genau wegen dieser Gefahren bin ich ja unterwegs. Mit dem Gotthard habe ich zwar nichts zu tun, die Untersuchungen führen die Geologen aus Zürich durch, aber etwas weiter im Süden fängt meine Arbeit an.

Mein Gott, grübelte sie, was wird aus den Alpen, wenn der Klimawandel seine Spuren hinterlässt, wie man in den kompetenten Expertenkreisen befürchtet?

Dann konzentrierte sich die Geologin wieder auf den Verkehr. Vor der Einfahrt in den Tunnel gab es einen kurzen Stau, dann ging es weiter durch die endlos lange Tunnelröhre, die von den Autofahrern höchste Konzentration forderte.

Das Wetter war wie umgewandelt, als Lisa in Airolo den fast siebzehn Kilometer langen Tunnel verließ. Sonnenschein hatte den grauen Regentag auf der nördlichen Seite des Bergmassivs abgelöst und Wärme strömte durch das Fenster herein, das Lisa geöffnet hatte, um den Benzindunst der Tunneldurchfahrt aus dem Auto zu verbannen. Jetzt ging es immer bergab und je weiter sie nach Süden kam, umso grüner wurden die Almen rechts und links an den Berghängen und umso bunter wurden die Blumen in den Gärten der Dörfer, an denen sie vorbeifuhr.

Endlich erreichte sie das Tal des Ticino dort, wo die Autobahnen vom St. Bernardino und vom St. Gotthard zusammentrafen. Jetzt heißt es aufpassen, dachte sie, denn hier muss ich die Autobahn verlassen und über Landstraßen die Hochebene von Valle di Vargoletto erreichen. Die Straßenkarte, die ich in Hamburg gekauft habe, ist nicht sehr genau. Mit den Autobahnen und Landstraßen hatte ich keine Schwierigkeiten, aber Feldwege sind leider nicht eingezeichnet. Außerdem war Lisa jetzt müde von der langen Fahrt, denn seit dem nächtlichen Schlafstopp hinter Basel war sie durchgefahren, um bei Tageslicht im Tessin anzukommen. Und die ungewohnte Hitze hier machte ihr zusätzlich zu schaffen.

Lisa verließ die A 2, fuhr durch Bellinzona, dann weiter in Richtung der Hochebene von Valle di Vargoletto, hielt schließlich, als die Asphaltstraße endete und in einen breiten, steinigen Weg überging, und parkte den Wagen am Rand des Weges. Ich muss ein paar Schritte gehen und dann die Karte noch einmal studieren, überlegte sie und legte den Plan vor sich auf die Motorhaube. Aber wie sie das Blatt auch drehte und wendete, sie fand sich nicht zurecht. Dabei hatte sie die richtige Autobahnausfahrt bei Bellinzona genommen und war auf die ausgeschilderte Landstraße nach Camorino eingebogen, das wusste sie genau.

Erschöpft und ratlos sah sie sich um. In einem Weinberg weiter vorn arbeiteten Männer und befestigten Reben an langen Drähten. Vielleicht können sie mir weiterhelfen, dachte sie erleichtert und fuhr bis zur Feldsteinmauer, die den Weinberg zur Straße hin begrenzte. Ein paar anerkennende Pfiffe begrüßten sie, und als sie sich nach dem Weg erkundigte, erhob sich ein freundlich geschwätziges Durcheinander, sodass sie trotz ihrer ziemlich guten italienischen Sprachkenntnisse kaum verstand, was die Männer sagten. Es ist hier im Tessin genauso wie in Deutschland: Auf dem Lande spricht man Dialekt und hätte ich als Hamburgerin in einem bayerischen Dorf nach dem Weg gefragt, hätte ich wohl auch nicht sehr viel verstanden, dachte sie nachsichtig. Aber wie sich dann doch zum Glück herausstellte, war es gar nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel und wenige Kilometer später sah sie auch schon die Kastanienallee, die zur Villa der Amarenis führte. Endlich angekommen, dachte sie und freute sich auf ein kühles Zimmer, ein Bad und frische Kleidung.

Auch hier hatten sich die Besitzer, wie in so vielen ehemals aufwendig geführten Herrenhäusern, längst dazu entschlossen, zahlende Feriengäste aufzunehmen und das traditionsreiche Ambiente mit Fremden zu teilen. So war hier ein vornehm-rustikaler Feriensitz entstanden, den Lisa als Domizil gewählt hatte, um während ihrer Arbeit in den Bergen eine angenehme Unterkunft zu haben. Zwei Wochen würde sie hier wohnen, um von dem Hochplateau aus die Klimaschäden in den angrenzenden Bergen zu untersuchen. Das war jedenfalls ihr Plan. Wie sehr ihre Pläne sich noch ändern sollten, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht.

Während sie nach einem Schattenplatz für ihren Wagen suchte, kam der Hausdiener, der sich als Sandro vorstellte, und versprach, das Auto in der Tiefgarage, einem umgebauten Kellergewölbe neben der Villa, abzustellen. Er war ein etwas rundlicher, höflicher Mann, der mit leiser Stimme sprach, aber durchaus eine seiner Stellung entsprechende angemessene Kompetenz ausstrahlte. Dann half er Lisa, die Fototaschen und Stative, die Messgeräte und Fernrohre, die Kiste mit den Gläsern und Behältern für Bodenproben, das persönliche Gepäck und das Notebook ins Haus zu tragen.

Dunkel und angenehm kühl war es in der großen Eingangshalle, was zweifellos an den dicken Mauern und den geschlossenen Fensterläden lag, die die Hitze und das Sonnenlicht nicht hereinließen. Sandro passte in seiner dezenten Kleidung, bestehend aus weißem Hemd, schwarzer Hose mit Weste und blank geputzten schwarzen Schuhen ebenso in dieses Haus wie der große Buchara-Teppich mit den Adlermotiven auf dem gefliesten Hallenboden und die Bodenvasen voller Herbstblumen. Er führte Lisa durch die Halle und über die breite Marmortreppe hinauf in ein reserviertes Zimmer und öffnete die Fenster und die Holzläden, bevor er ging, um den Rest des Gepäcks zu holen.

»Gegessen wird um neun Uhr, Signora, dann lernen Sie auch die Hausherren und die anderen Gäste kennen. Ab acht Uhr treffen sich die Herrschaften zum Cocktail auf der Gartenterrasse. Wenn Sie einen Wunsch haben, erreichen Sie uns über das Telefon, die Nummern sind angegeben. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt, Signora.«

»Danke, Signore Sandro, ich denke, ich komme zurecht.«

»Bitte sagen Sie nur Sandro, so bin ich es gewohnt.«

»Gerne, wie Sie wünschen.«

Lisa sah sich um. Das Zimmer war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet: ein harmonisches Ensemble Tessiner Bauernmöbel, die durch wenige antike Einzelstücke ergänzt wurden. Das Bad nebenan war neu, modern und komfortabel und lockte mit einem dezenten Duft von Herbstastern und frischen, an der Luft getrockneten Tüchern. Die beiden Fenster boten eine herrliche Aussicht auf die dicht bepflanzten Weinberge und die nahen Zweitausender, die das versteckte Hochplateau umringten. Lisa beugte sich etwas weiter hinaus und sah rechts vom Haus den Wirtschaftshof. Hier befand sich wohl auch die Cantina, das Herz des Weingutes. Weit mehr als diese Cantina aber interessierten sie die Berge, die die Hochebene umgaben und vom Klimawandel extrem bedroht waren. Wie sehr, das sollte ihre Untersuchung ergeben, denn Doktor Elisabeth Farmsen war mit einer Gruppe von zwanzig Geologen aus Zürich und Berlin aufgebrochen, um die immensen Schäden, die der Klimawandel in den Alpen bereits verursacht hatte, zu prüfen.

Lisa füllte Wasser in die Wanne und zog sich aus. Welche Wonne, die verschwitzte Kleidung und den Straßenstaub abzustreifen, dachte sie zufrieden und ließ sich behaglich in das lauwarme Wasser gleiten. Später wickelte sie sich in das Badetuch und legte sich aufs Bett, nicht ohne vorher den Wecker auf sieben Uhr zu stellen. Den Cocktail auf der Terrasse wollte sie nicht versäumen. So ein Beisammensein ist immer wichtig für die ersten Kontakte, für ein zwangloses Kennenlernen und den ersten allgemeinen Eindruck, überlegte sie und schlief ein, bevor sie noch weitere Vorzüge des ersten Kennenlernens aufzählen konnte.

Dann kam es ihr vor, als seien nur Minuten vergangen, als der Wecker sie aus tiefstem Schlaf riss. Benommen sah sie sich um, dann war sie mit einem Schlag hellwach. Himmlisch, freute sie sich, ich bin im Süden, in der Villa der Amarenis, der bekanntesten Winzer im ganzen Tessin, und Hamburg mit seinen schon grauen Septembertagen ist weit fort. Hier war immer noch Sommer.

Schnell stand sie auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne stand schon weit im Westen und warf lange Schatten über die Berge. Noch immer war es sehr warm. Lisa zog ein leichtes Sommerkleid an, bürstete das inzwischen trockene Haar und holte ihre Pumps aus dem Koffer.

Mal sehen, wie es hier mit der Kleiderordnung steht, überlegte sie. Trifft man sich in zwangloser Garderobe oder legt man großen Wert auf Etikette? Da muss ich erst einmal meine Fühler ausstrecken. Dann blickte sie in den Spiegel, und was sie sah, gefiel ihr: eine große, schlanke Frau Anfang dreißig, weder zu dick noch zu dünn, ein ebenmäßiges Gesicht und kurz geschnittenes dunkles Haar.

Es ist schon recht so, wie es ist, dachte sie lächelnd. Zu dem Kleid passt die Glasperlenkette, die ich mir vor Jahren aus Murano mitgebracht habe: schlicht, schön und einmalig! Auf kleine, dezente Einmaligkeiten legte Lisa in vielen Dingen wert, Dutzendware war nicht ihr Ding.

Langsam ging sie die Treppe hinunter und sah sich um. Mit den Ahnenbildern und Wappen, mit den Jahreszahlen und Jagdtrophäen werde ich mich beschäftigen, wenn ich Zeit dafür habe. Jetzt geht es erst einmal um die Sicherheit der ganzen Anlage, dazu bin ich schließlich hergekommen, lächelte sie den alten Greis auf dem untersten Porträt an. Heute aber will ich nur genießen und mich wohlfühlen, Leute kennenlernen, den wunderschönen Spätsommerabend auf mich wirken lassen und mit den anderen fröhlich sein.

Irgendwo hörte Lisa Stimmen, Türen wurden geöffnet und geschlossen. Die Fenster standen jetzt weit offen und ließen das späte Sonnenlicht herein. Vor dem Haus wurde gehupt, dann war es wieder ganz still. Etwas zögernd ging sie weiter. Ein gemütliches Kaminzimmer mit Terrakottafliesen und orientalischen Teppichen grenzte an die Halle. Danach kam sie in ein Speisezimmer, in dem die Tische stilvoll für das Abendessen gedeckt waren. Eine breite Glastür führte auf die Terrasse – daher also kamen die Stimmen. Zehn, zwölf Personen standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich, lachten, sprachen und tranken sich zu.

Eine zierliche, weißhaarige Frau löste sich aus einer Gruppe und kam zu ihr. Das muss Maria D’Amareni sein, die Hausherrin, mit der ich ein paar Mal telefoniert habe, dachte Lisa. Sie kam einfach auf die junge Frau zu und nahm sie in die Arme. »Herzlich willkommen, Elisabeth, wie schön, dass Sie da sind. Ich bin Maria, das genügt. Sandro sagte mir, dass Sie recht müde gewesen seien, und da wollte ich nicht stören.«

Maria war eine sehr mütterliche Frau mit Lachfältchen im Gesicht und tiefbraunen Augen, die fröhlich in die Runde blickten. Völlig ungeniert sah sie den neuen Gast prüfend an, musterte Lisa von Kopf bis Fuß, nickte beifällig und sagte ganz ungezwungen: »Sie werden sich hier sehr wohlfühlen, ich spüre das.«

Lisa war ziemlich überrascht von ihrer direkten Art, aber ihre Warmherzigkeit war so ausgeprägt, dass sie sich diese Offenheit wohl erlauben durfte.

Sie dankte ihr für das freundliche Willkommen: »Ja, ich habe tief und fest geschlafen, und wenn der Wecker nicht gewesen wäre, hätte ich das alles hier versäumt. Und bitte sagen Sie einfach Lisa zu mir.« Sie sah sich um, man hatte sie beobachtet, winkte ihr zu oder hob ihr die Gläser entgegen.

»Herzlich willkommen«, hörte sie von mehreren Seiten. Dann wurde ihr ein Tablett mit verschiedenen Getränken gereicht. Sie wählte einen Prosecco, sicherlich gab es zum Essen Wein, und sie wollte nicht zu viel durcheinandertrinken. Maria D’Amareni führte sie herum und machte sie mit den anderen Gästen bekannt: deutsche, englische, italienische Namen – unmöglich, sie alle zu behalten.

»Mein Mann und mein ältester Sohn sind heute in Mailand, die kann ich Ihnen erst morgen vorstellen, aber mein jüngerer Sohn wird wohl gleich kommen«, erklärte die Hausherrin.

Sie schlenderten langsam weiter, man sprach über das Wetter, vergangene und geplante Ausflüge, ein Fest in Lugano am kommenden Wochenende und über einen Adler, den jemand beobachtet hatte.

»Früher gab es hier mehrere Adlerpaare, aber das war in grauer Vorzeit«, erklärte Maria, und während sie weiterging und in ihrer herzlichen Art andere Gäste begrüßte, blieb Lisa bei der Gruppe stehen, die sich über die Vögel unterhielt.

Und dann sah sie ihn. Er lehnte an der Terrassenbalustrade, in einer Hand ein Glas, die andere lässig in der Hosentasche. Er sah sehr gut aus, doch er wirkte überaus gelangweilt, arrogant und desinteressiert. Sein Anblick traf Lisa wie ein Schlag. Sie hatte ihn nicht kommen sehen, sie wusste nicht, wer er war – er stand plötzlich da und beobachtete die Menschen. Da er sehr groß war, blickte er auf fast alle herab, was den Eindruck von Hochmut noch verstärkte. Dann stand Maria neben ihr.

»Leonardo ist da, kommen Sie, ich mache Sie bekannt, mit ihm werden Sie viel zu tun haben. Er ist der Arbeiter hier bei uns, sein Bruder ist der Kaufmann.«

Sie gingen zu ihm hinüber. Er bewegte sich überhaupt nicht, nur in seinem dunklen, taubenblauen Seidenhemd und in seinem Haar spielte der Abendwind.

»Lisa, das ist mein Sohn Leonardo, Leon, das ist Doktor Elisabeth Farmsen aus Hamburg.« Er nahm die Hand aus der Tasche, sah die Fremde an und verbeugte sich leicht. »Ich bin gespannt auf die Zusammenarbeit«, erklärte er höflich, aber die Hand reichte er ihr nicht.

Wenig später wurde zu Tisch gebeten. Die Gäste waren unter sich. Die Familie D’Amareni aß in den privaten Räumen. Es wurde eine sehr lustige Mahlzeit, in deren Verlauf die etwas steife Höflichkeit, die auf der Terrasse geherrscht hatte, einer angenehmen Ungezwungenheit wich.

Die Gespräche gingen kreuz und quer von Tisch zu Tisch. Es waren insgesamt sechzehn Gäste und für die Unterhaltung sorgten vor allem zwei amerikanische Paare, die mit einer Reisegruppe nach Europa gekommen waren, sich dann aber abgesondert hatten, um die Alte Welt alleine zu entdecken.

Das Essen war vorzüglich. Es gab Antipasti und später Frascarelli, eine spätzleartige Speise, und als Hauptgericht Wildschweinrücken in Tessiner Kräuterkruste mit Maronencreme und verschiedenen Salaten. Dazu wurden zwei elegante, ausgewogene Weine aus dem Hause D’Amareni gereicht. Auf die Nachspeisen verzichtete Lisa, zu gut hatte alles andere geschmeckt. Nur den abschließenden Espresso nahm sie mit Vergnügen. Es war kurz vor elf, als alle den Speiseraum verließen, fröhlich, satt und sehr zufrieden. Einige verabschiedeten sich und gingen zu Bett. Ein paar Gäste ließen sich im Kaminzimmer nieder, wo ein kleines Feuer gegen den kühlen Abend ankämpfte, andere wollten in der Bibliothek nach einer Bettlektüre suchen.

Lisa schlenderte noch einmal auf die Terrasse. Eine wunderbare, leicht herbe Luft wehte von den Bergen herunter. Es war dunkel, aber für einen kurzen Spaziergang auf den Gartenwegen würde das Licht der Hauslaternen noch reichen. Der Himmel war sternenklar, aber vom Mond war noch nichts zu sehen. Leicht fröstelnd in ihrem dünnen Kleid sah sie zum Haus zurück. Warm und gemütlich schien das Licht aus den Fenstern. Wie schön es hier war. Im nahen Wald zirpten Zikaden, ab und zu rief ein Käuzchen, in weiter Ferne läutete eine Glocke. Es war elf Uhr. Lisa atmete tief ein. Diese wunderbare frische Luft mit ihren schwachen Gerüchen nach Erde und Wald und Herbst, wie gut das tat. Dann ging sie zurück, es wurde kühler, immerhin war es Mitte September.

In der Halle traf Lisa Leonardo, und wieder empfand sie gleichzeitig Erregung und Kälte, ein seltsames Nebeneinander, das sie sich nicht erklären konnte. Über dem Seidenhemd trug er jetzt einen Pullover und in den Händen hielt er einen Stapel Papiere. Als er sie bemerkte, blieb er stehen und sah sie abschätzend an.

»Sie werden sich erkälten.«

»Ich hoffe nicht.«

»Wollen Sie morgen mit Ihrer Arbeit anfangen?«

»Ja, das wäre mir recht.«

»Gut, dann treffen wir uns morgen früh um halb sechs auf dem Wirtschaftshof. Frühstück gibt es später im Berg. Buona notte.« Und weg war er. Lisa flüsterte ein ›Gute Nacht‹ hinterher, aber das hörte er schon nicht mehr. Welch ein seltsamer Mann. Und sie spürte, dass ihr Frösteln nur bedingt etwas mit der kühlen Nachtluft zu tun hatte.

In ihrem Zimmer legte sie sich alles zurecht, was sie morgen brauchen würde: die Fototasche mit allem Zubehör, die Utensilien für die Bodenproben, Kugelschreiber und Stenoblock, braune Leinenhosen und derbe Schuhe, eine Bluse und einen Pulli für die Morgenstunden. Dann wurde der Wecker auf halb fünf gestellt. Das fing ja gut an!

Am nächsten Morgen betrat Lisa fünf Minuten vor halb sechs den Wirtschaftshof. Mit ihr warteten etwa vierzig Arbeiter neben einem Traktor mit zwei Anhängern. Genau um halb sechs kam Leonardo. In seinen blauen Jeans, seinen schwarzen Stiefeletten, einem blau-weiß karierten Hemd und seinem dunkelblauen Pulli wirkte er, als sei er einem Journal für Country-Style entstiegen. Jetzt bei Tageslicht sah Lisa, dass er braun gebrannt war und älter, als sie gedacht hatte. Ein Hauch von Grau lag über seinem dunkelblonden Haar und ein Schatten über seinem Gesicht. Zu ihrer Überraschung begrüßte er alle Arbeiter mit Handschlag und erkundigte sich bei jedem, wie es ihm ging. Zweimal lachte er laut auf, aber sie konnte nicht feststellen, ob es ein herzliches Lachen war oder nur ein aufgesetztes. Der Mann war ihr ein Rätsel. Als er ihr die Hand gab, eine kühle, schlanke Hand mit festem Druck, sagte er nur: »Also, dann wollen wir mal, Sie können Leon zu mir sagen«, und ging zum Traktor hinüber.

Mit einem Kopfnicken wies er ihr einen provisorischen Sitz über dem rechten Hinterrad zu, auf den sie klettern sollte. Und während die Männer sich auf die flachen Anhänger setzten, nahm er auf dem Traktor Platz und ließ den Motor an. Sie fuhren kreuz und quer durch die Weinberge immer bergauf. Fast eine halbe Stunde waren sie unterwegs, als sie ein Plateau mit einem Schuppen erreichten. Die Arbeiter stiegen ab und holten sich Arbeitsgeräte aus dem Verschlag. Leonardo gab seine Anweisungen, aber von all den italienischen Fachausdrücken verstand Lisa kaum etwas. Die Männer verteilten sich und sie blieb vor dem Schuppen stehen. Leon zeigte ihr die wunderschöne Umgebung: die zum Teil schon mit Schnee bedeckten Gipfel der nahen Zweitausender, kleine, ockergelbe Ortschaften, hingewürfelt in die typischen Landfarben Grau und Grün, Hügel und Täler in der Nähe, den blauen Dunst über dem fernen Lago Maggiore, Kastanienwälder, Olivenhaine, und natürlich die Weinberge der Umgebung, die zum Gut der D’Amarenis gehörten.

Und während er mit offenkundigem Stolz auf die Schönheit seiner Heimat hinwies, spürte Lisa zum ersten Mal so etwas wie menschliche Wärme bei diesem Mann. Dann zeigte er auf einige Hügel im Süden und erklärte: »Da beginnen die Weinberge von Montefalco, unserem großen Nachbarn und größten Konkurrenten.« Die Milde in seiner Stimme hatte sich in eine geschäftsmäßige Härte verwandelt, die sie sogleich auf den Boden der Realität zurückholte.

Auch während der Wanderung durch die zahllosen Weinrebenreihen behielt er diesen kühlen Ton bei. Lisa lernte verschiedene Bodenbeschaffenheiten und Felsformationen kennen, zerkrümelte Hände voller Erde und zerbröselte Ton und Lehm, sie verglich Steine und Mineralien und machte sich ständig Notizen. Dabei ging es bergauf und bergab und wieder hinauf und wieder hinunter, bis ihr vor Erschöpfung die Beine zitterten und sie kaum noch schreiben konnte. Oft standen sie ganz eng beieinander, weil der Hang zu abschüssig oder die Rebenreihen so dicht waren, aber niemals berührten sie sich und niemals richtete Leon ein persönliches Wort an sie. Immer war seine Stimme kühl und neutral und absolut emotionslos. Diese Distanziertheit ärgerte sie sehr, zumal er eine Anziehungskraft besaß, die sie in ziemliche Unruhe versetzte. Natürlich verbot es ihr Stolz, Gefühle zu zeigen, und so reagierte sie mit entsprechender Zurückhaltung und knappen Antworten.

Nach einem kargen Frühstück, das aus Ciabatta, Ziegenkäse und schwarzem Kaffee bestand, wollte Lisa zu den in der Nähe aufragenden Felsen gehen, um erste Gesteinsproben zu nehmen. Und während sie durch die Rebenreihen ging, fotografierte sie die steil aufragenden Felsen, die Männer bei ihrer Arbeit und heimlich auch Leon, wenn er mit ihnen sprach. Zum Mittagessen, bei dem sich alle im Schatten eines kleinen Kastanienhaines niederließen, gab es kalte Linsenpfannkuchen mit Oliven, Tomaten und eingelegten Auberginenscheiben. Einige der Männer aßen rohe Zwiebeln dazu, andere kauten auf Pfefferminzblättchen herum, die hier wild wuchsen. Diesmal gab es einen leichten Wein zum Essen, der Lisa sehr müde machte.

Zum Glück blieb Leon mit ihr in den nächsten zwei Stunden im Schatten des Kastanienwaldes. Er führte sie zu Stellen, wo im Winter schwarze Trüffel wachsen, zeigte ihr den Bau eines Stachelschweines und einige Dachshöhlen und kommentierte das alles mit der trockenen Rhetorik eines Professors in einem Hörsaal voller gelangweilter Studenten. Lisa hingegen kämpfte nur noch mit der Müdigkeit und war so erschöpft, dass sie sowieso nichts mehr aus ihrer stumpfen Lethargie gerissen hätte. Als sich alle um fünf Uhr am Schuppen trafen, konnte sie sich nur noch mit Mühe auf den unbequemen Sitz ziehen und auf eine sanfte Rückfahrt hoffen, denn Kraft zum Festklammern hatte sie nicht mehr.

Während der Fahrt sah sie an sich hinunter. Sie war verstaubt und ihre Kleidung trug überall Spuren der verschiedenen Erdsorten, die an diesem Tag durch ihre Hände gerieselt waren. Ihr Haar war zerzaust und voller Spinnweben vom Kriechen durch die Weinreben und ihr Gesicht war in der Sonne knallrot geworden. Leon dagegen sah perfekt aus, nicht einmal seine Stiefeletten hatten ein Körnchen Staub abbekommen. Jedenfalls kam es ihr so vor. Sie hoffte inständig, sich nach der Ankunft in der Villa von den anderen Gästen unbemerkt in ihr Zimmer schleichen zu können.

2

An diesem Abend ging Lisa nicht zu dem Cocktailtreff, sie war müde und alles tat ihr weh. Als sie schließlich zum Essen hinunterging – darauf wollte sie nach den kargen Mahlzeiten im Berg natürlich nicht verzichten, traf sie die Familie D’Amareni in der Halle: die drei Herren in weißen Dinnerjackets, Maria in einem rustikalen Kaminkleid.

»Lisa, schön, dass Sie gerade kommen. Das ist mein Mann und das ist mein Sohn Enrico.«

Beide reichten ihr die Hand und lächelten. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war unverkennbar. Beide waren groß gewachsen, aber im Gegensatz zu dem schlanken Leonardo von stämmiger Statur. Beide hatten volles, gelocktes Haar und trugen einen gepflegten Sechstagebart. Aber während beim Hausherrn Haar und Bart weiß waren, zeigten sich bei Enrico nur wenige graue Strähnen. Sie sprachen kurz über das Wetter, über Gäste, die noch erwartet wurden, baten darum, in den nächsten Tagen Einzelheiten über die geologischen Untersuchungen mit ihr besprechen zu dürfen, und trennten sich dann mit guten Wünschen für das Abendessen.

Während die Familie in die Privaträume ging, suchte Lisa ihren Platz im Speisezimmer auf. Selbst das Hinsetzen tat ihr weh. Die Tischnachbarn hatten sie belustigt beobachtet und die Fragen blieben nicht aus.

»Wie man sieht, hatten Sie einen anstrengenden Tag.«

»Ja, das Auf und Ab in den Bergen bin ich nicht gewöhnt. Und die Sonne auch nicht.«

Während alle eine gekühlte Gemüsesuppe aßen, schilderte Lisa ihren Tagesablauf und ließ auch die Rücksichtslosigkeit ihres Begleiters durchblicken.

»Ja, Leonardo ist etwas schwierig«, bestätigte Linda, eine Londonerin, die mit ihrem Mann David schon zum dritten Mal hier Urlaub machte. »Er ist sehr introvertiert und es heißt, er habe sich entschieden dagegen gewehrt, die Villa für Feriengäste zu öffnen. Wir kennen niemanden, der einen engeren Kontakt zu ihm hätte. Außer der Familie natürlich.«

»Und außer den Arbeitern, die gehen für ihn durchs Feuer«, fügte David hinzu.

»Ja, das ist mir auch aufgefallen«, bestätigte Lisa, »im Umgang mit ihnen war er wie ausgewechselt.«

»Und außerdem«, fügte Angela, eine korpulente ältere Dame aus Mailand, hinzu, die mit ihren leicht geröteten Wangen und den verschmitzt blitzenden schwarzen Augen sehr sympathisch wirkte, »außerdem hat er für uns Frauen überhaupt nichts übrig.«

»Es soll ja Frauen geben, die verbringen nur seinetwegen jedes Jahr ihre Ferien hier«, fügte ihre Tochter, eine gut aussehende junge Frau ohne Trauring, hinzu.

Lisa unterdrückte ein Lächeln und die Frage, ob sie auch dazugehöre. Aber Linda nahm ihr die peinliche Frage ab: »Woher wissen Sie das?«

»In gewissen Kreisen spricht man darüber, und so weit weg ist Mailand ja auch nicht.«

»Ach ja«, bestätigte Linda, »und seit wann kennen Sie die D’Amarenis?«

»Wir sind von Anfang an hier, vor fünf Jahren wurde die Villa für Gäste geöffnet«, erwiderte sie, ohne zu zögern.

Mutter und Tochter nickten sich zu und Lisa griff nach ihrer Serviette, um hinter ihr ein Lachen zu verstecken.

Verstohlen sah sie sich im Raum um, wer von den Damen mochte noch dazugehören?

Und dann sah Lisa die Fremde. Sie stand an der Terrassentür und unterhielt sich mit Enrico. Eine große, sehr schlanke Frau mit dem schönsten kastanienroten Haar, das Lisa je gesehen hatte. Hätte ihr Gesicht nicht die Blässe Florentiner Marmorstatuen gehabt, hätte sie dieses Haar für gefärbt gehalten. Aber ihr Teint unterstrich die Echtheit und damit die Schönheit dieser Frau, die zudem ungemein dominierend wirkte. Sie strahlte Willenskraft, Unabhängigkeit und Kompetenz aus, und obwohl Lisa sie nicht kannte, wusste sie, dass sie sie nicht mochte. Eine Frau, die plötzlich da war, sehr professionell in ihren Gesten wirkte und ein fast arrogantes Desinteresse an den Gästen zeigte.

Angela, die ihrem Blick gefolgt war, zwinkerte ihr zu. »Das ist Lola Molinari, die Schwester von Enricos Frau. Sie gehört sozusagen zur Familie.«

Lisa nickte und widmete sich wieder ihrem Teller. Aber Angela ließ nicht locker, und so ein bisschen Klatsch und Tratsch amüsierten sie schon.

»Lola hat sozusagen eine Option auf Leonardo und die Villa, jedenfalls glaubt sie das.«

»Und – glaubt sie es mit Erfolg?«

»Da bin ich nicht sicher. Leonardo ist ein harter Brocken mit einer Aversion gegen Frauen und sie kämpft schon seit Jahren.«

»Sie kämpft? Um einen Mann, der Frauen nicht ausstehen kann?«

»Um einen sehr begehrten Mann mit Villa und Weingut und mit einem Ambiente, das sich sehen lassen kann. Lola darf man nicht unterschätzen, die weiß, was sie will.«

»Und was tut sie hier, wenn sie nicht gerade kämpft?«

»Sie versucht, sich nützlich zu machen. Zumindest soll es in den Augen von Maria so aussehen. Außerdem folgt sie Leonardo auf Schritt und Tritt und sie malt. Sie meint, nirgendwo gebe es schönere Landschaftsmotive und besseres Licht als hier. Mehr oder weniger lebt sie hier. Und den D’Amarenis ist das recht. Sie bringt Freunde und Künstler her und Maria gefällt es, wenn das Haus voll ist und wenn in Mailand über die Villa gesprochen wird. Sie will Bewegung hier haben und vor allem zahlende Gäste. Und das alles gegen den Willen von Leonardo D’Amareni.«

Das Gespräch hatte viele von Lisas Fragen geklärt. Vor allem wusste sie nun, weshalb dieser Leonardo so kühl und distanziert war. Erstens war sie ein zahlender Gast, den er hier nicht haben wollte, zweitens würden ihre geologischen Untersuchungen und Veröffentlichungen dazu führen, die Villa weithin bei interessierten Leuten bekannt zu machen, was gegen seinen Willen geschah, und drittens war sie eine Frau. Wie sollte da eine Zusammenarbeit überhaupt funktionieren?

Während Lisa in den inzwischen servierten Bandnudeln mit Trüffelsoße herumstocherte, erzählten die anderen weiter: Ein paar Missernten vor einigen Jahren, erhöhte Steuerauflagen, die keine Rücksicht auf die Ernteverluste nahmen, und die durch einige Panscher ausgelöste Krise im europäischen Handel mit südländischen Weinen hatten das Gut an die Grenze des Ruins gebracht.

Die D’Amarenis hatten ums Überleben kämpfen müssen, bis es Leonardo und seinem Vater nach mühsamen und zeitintensiven Experimenten schließlich gelungen war, den ›Vino Amareni‹ zu entwickeln, mit dem das Gut wieder bekannt und berühmt wurde. Jenen Wein, der auch in Deutschland einen ausgezeichneten Ruf genoss und der Lisa unter anderem dazu bewogen hatte, dieses zwischen den Zweitausendern versteckte Weingut als Standort für ihre geologischen Untersuchungen auszusuchen.

Zwar war der ›Vino Amareni‹ inzwischen ein Inbegriff Tessiner Weinkultur, aber aus dem finanziellen Dilemma hatte dieser Wein die Familie, die Arbeiter und die Anlagen noch nicht entlassen. Aus diesem Grund hatte die Familie die Villa vor fünf Jahren in ein Gästehaus umgewandelt, erfuhr Lisa.

Während man den Gästen gefüllte Ente mit gratinierten Kartoffeln und Salaten servierte, begann Lisa, Leonardo zu verstehen. Vielleicht erklärten diese Umstände den verbitterten Ausdruck in seinem Gesicht und diesen Hauch von Trauer um die Augen, der ihr aufgefallen war.

Nach dem Dessert nahm Lisa ihren Espresso und schlenderte auf die Terrasse. Der sanfte Abendwind, die Stille rundum taten ihr gut. Sie setzte sich auf einen Stuhl an der Hauswand, die noch die angenehme Sonnenwärme des Tages zurückstrahlte. In kleinen Schlucken trank sie diese Winzigkeit von Kaffee und ließ den Rest mit dem Zuckersatz genüsslich im Munde zergehen.

Sie spürte ihn, bevor sie ihn sah. Dann kam er ins Licht der Terrassentür, ein dunkler Umriss nur, und doch schon vertraut. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte er förmlich.

»Natürlich, es ist ja Ihre Terrasse, auf der wir uns befinden«, erwiderte Lisa so kühl wie möglich. Die Ablehnung, die sie den ganzen Tag gespürt hatte, verstimmte sie immer noch, auch wenn sie nun die Gründe dafür kannte.

»Sie sind verärgert?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Es war ein sehr anstrengender Tag für mich und ich denke, ganz so strapaziös hätte er nicht sein müssen.«

»Ja, das stimmt.« Er sagte das ohne eine Spur von Reue oder Verständnis. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

»Welche Kraftanstrengung ist dafür nötig?«

»Sie müssten mit mir zur Cantina gehen.«

»Jetzt? Es geht auf Mitternacht zu.«

»Ich weiß.«

Mühsam stand Lisa auf und stellte ihre Tasse ab. Vielleicht war das, was immer auch kommen mochte, seine Art, sich zu entschuldigen? Sie verließen die Terrasse, durchquerten einen Teil des Gartens und gingen über den Wirtschaftshof. Es war sehr dunkel, die Sterne und zwei einsame Hoflaternen spendeten kaum Licht. Dann standen sie vor der Kellerei. Leonardo öffnete die große, massive Holztür und ließ der Frau an seiner Seite den Vortritt. Auch hier drinnen gab es nur spärliches Licht. Sie gingen eine breite Steintreppe mit alten, ausgetretenen Stufen hinunter und standen in einem weiten Kellergewölbe.

»Die ersten Lagerhallen hat mein Urgroßvater in den Berg schlagen lassen«, erklärte Leonardo, »später kamen immer mehr dazu, man ist weiter und tiefer in den Berg vorgestoßen und hat auch ein paar vorhandene Höhlen mit einbezogen. Inzwischen haben wir den halben Berg unterhöhlt, bessere Lagerungsmöglichkeiten gibt es nicht. Die Luft, die Temperatur, die Feuchtigkeit, das ist alles optimal.«

Er sah auf die Uhr. »Kommen Sie«, und weiter ging es. Sie kamen in eine Art Halle, bestiegen einen kleinen Elektrokarren und fuhren durch tunnelartige Gewölbe, von denen immer wieder andere Räume abgingen. So groß hatte Lisa sich das alles nicht vorgestellt. Schließlich hielt Leonardo.

»Um Mitternacht fangen wir mit dem Abfüllen des vorjährigen Weines an. Für uns ist das so eine Art heilige Handlung. Alte Männer, die sich genau auskennen, bestimmen in jedem Jahr das Datum und die Zeit und ich wollte, dass Sie das miterleben. Heute um Mitternacht ist es wieder so weit. Dann kommt der Wein in die Flaschen, in denen er sieben Jahre schläft.«

»Schläft?«

»Ja, so nennen wir das.«

Sie kamen in eine weitere Halle. Hier herrschte emsige Betriebsamkeit, aber in völliger Stille. Mehrere Männer standen an den Fässern, die zu beiden Seiten des Ganges aufgereiht waren, ein paar hielten Schläuche und andere Geräte in den Händen und alle sahen immer wieder auf ihre Uhren. Carlo, der Kellermeister in Leinenkittel und grüner Arbeitsschürze, kam auf sie zu. Leonardo stellte die beiden einander vor. Er war ein kleiner, auf plumpe Art hübscher Mann mit einer zu großen Nase und sehr dunklen Augen. Seine Stimme war leise und liebenswürdig, aber er strahlte absolute Kompetenz aus und wusste das auch.

»Wir sind so weit.«

»Dann fangt jetzt an, Männer«, sagte Leonardo und Lisa sah, dass es Mitternacht war. Einige zündeten dicke Kerzen an, die auf Fässern standen oder in Haltern an der Wand steckten. Dann wurden die Leuchtstoffröhren an der Decke ausgeschaltet. Irgendwie feierlich ist das schon, dachte Lisa und sah zu, wie die Männer Spunde in die Fässer trieben, Schläuche an den Zapfen befestigten und erste Schlucke in kleine Gläser füllten. Alle kosteten, sahen sich an und beobachteten Leonardo. Als er nickte, ging ein Aufatmen durch das Gewölbe und die Arbeit begann. Niemand sprach, es war sehr still. »Warum muss das so leise geschehen?«, fragte Lisa nun ebenfalls flüsternd.

»Wir wollen den Wein ja nicht erschrecken«, kam die Antwort, und zum ersten Mal sah sie ein leichtes Lächeln, das ihr galt. »Probieren Sie«, Leon gab ihr ein Glas, und sie nahm einen Schluck. Fragend sah sie ihn an, außer Säure schmeckte sie nichts. Er hatte es sofort bemerkt.

»Macht nichts«, erklärte er, »es gehört schon jahrelange Erfahrung dazu, diesen jungen Wein richtig einzuschätzen.«

Sie gingen von Fass zu Fass weiter. Die schweren Eichenbehälter, Seite an Seite auf Gestellen gelagert, wirkten gewaltig auf Lisa. Über Schläuche lief der Wein nun in die bereitgehaltenen Flaschen, die von Hand verkorkt und in Regalen gelagert wurden.

»Ich dachte, diese Arbeiten würden längst maschinell gemacht.«

»Bei uns nicht«, klärte sie Leon auf, »Handarbeit ist das Geheimnis eines guten Weines, zuerst im Berg, dann bei der Ernte und schließlich im Keller.«

Nun wusste sie, weshalb seine Weine allererste Klasse waren – und seine Preise auch.

Nach etwa einer Stunde verließen sie die Kellerei. Es wurde Zeit für Lisa, an die frische Luft zu kommen. Die Probeschlückchen, die sie aus Höflichkeit immer wieder nahm, und die Luft, die so wunderbar nach Wein duftete, hatten sie ganz schön schwindelig gemacht. Auf dem Hof war es jetzt, weit nach Mitternacht, kalt. Lisa fröstelte und Leon legte ihr sein immer noch blütenweißes Dinnerjackett um die Schultern. Eine wohlige Wärme umgab sie. Sie gingen durch einen Nebeneingang ins Haus. In der Halle verabschiedeten sie sich.

»Sind Sie um halb sechs wieder dabei?«

»Ja, wenn es mir gelingt, meine müden Beine in Bewegung zu setzen«, versuchte Lisa zu scherzen.

»Gut, dann bis nachher«, sagte er kurz angebunden und ging. Die alte Kruste der Reserviertheit war also wieder da. Und sie hatte schon gedacht, die finge an zu bröckeln. Als Lisa in ihrem Zimmer stand, merkte sie, dass sie noch immer seine Jacke trug. Zu dumm, hier muss sie ja nun nicht gerade gefunden werden, überlegte sie, ging mühsam noch einmal hinunter und hängte das Jackett in der Halle auf. Der bescheidene Reiz der vergangenen Stunden mit Kerzenschein und Weinduft und der kleinen Intimität einer geliehenen Dinnerjacke waren vorbei. Es war zwei Uhr, als Lisa endlich im Bett lag – viel Zeit zum Schlafen blieb ihr nicht mehr!

Aber am Morgen stand sie pünktlich bei den Arbeitern auf dem Hof. Auf dem Traktor, so stellte sie erfreut fest, lag eine gefaltete Decke auf ihrem Sitz. Sie fuhren in den gleichen Weinberg wie am Vortag. An diesem Morgen verließ Lisa sofort die arbeitenden Männer und machte sich mit ihren Werkzeugen auf in die Richtung der überhängenden Felswände, die sie untersuchen wollte. Sie musste Bohrungen ausführen, um festzustellen, ob das Abschmelzen der Permafrost-Schichten hier eine Verschiebung des Untergrundes befürchten ließ.

Wäre Lisa nicht so müde gewesen, hätte die Arbeit ihr Interesse geweckt. So aber arbeitete sie nur aus Pflichtgefühl, setzte den kleinen Bohrer ein, wo sie es für angebracht hielt, und füllte die Gesteinsproben sorgfältig in die mitgebrachten Behälter. Sie verließ die Gegend der schroff überhängenden Felsen und ging zu den Arbeitern in dem Weinberg zurück, um die Behälter zu beschriften und sich Notizen zu machen. Abends im Zimmer würde sie mit dem Mikroskop arbeiten und erste Untersuchungen vornehmen. Die Ergebnisse würde sie dann per E-Mail nach Hamburg schicken.

Die Männer im Weinberg lachten viel und scherzten und man spürte das Pflichtgefühl und die Liebe zur Arbeit, die sie erfüllte. Leonardo sah sie selten. Er war mit anderen Arbeitern in einem anderen Weinberg. Mittags kam ein Motorradfahrer und brachte in einem kleinen Anhänger das Essen: heißes Risotto mit Salsiccie, den berühmten Tessiner Schweinswürstchen, dazu Pecorino, den klassischen Schafskäse, und natürlich Wein, der Lisa wieder sehr müde machte.

Und er brachte Lola Molinari mit. In ihrem karierten Bauernkleid mit passendem Kopftuch war sie durchaus eine attraktive Erscheinung, die von den Männern mit leisen Pfiffen begrüßt wurde. Das reservierte Gesicht von Leonardo übersah sie und setzte sich mit Grazie auf eine Decke, die sie für ihn und sich mitgebracht und ausgebreitet hatte. Fröhlich mit den Männern scherzend und dennoch auf absolute Distanz bedacht, nahm sie teil an dem gemeinsamen Essen und übersah die fremde Deutsche voll und ganz.

Während sie mit spitzen Fingern an Krumen naschte, Leonardos Becher benutzte und jede Möglichkeit nutzte, ihn zu berühren, sprach sie ständig leise auf ihn ein, brachte ihn zum Lachen und dann dazu, mit ihr wegzufahren. Schließlich nahm er das Motorrad, ließ den Motor an, nachdem sie sich zurechtgesetzt hatte, rief den Arbeitern zu: »In zwei Stunden bin ich zurück«, und fuhr davon. Lisa war das recht. Sie holte die Decke vom Traktor und setzte sich in den Schatten, um weitere Notizen zu machen. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder glitten ihr die Gedanken davon und machten sich selbstständig. Sie legte sich hin, sah hinüber zu den schneebedeckten Bergen in Richtung St. Bernardino und in den wolkenlosen Himmel.

Als Lisa die Augen öffnete, weil sie jemand berührt hatte, stand die Sonne schon weit im Westen und Leonardo vor ihr.

»Ich nehme an, Sie wollen mit uns zurückfahren?«, fragte er amüsiert und reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Meine Güte, ist das peinlich, dachte sie, ich habe tatsächlich den ganzen Nachmittag verschlafen! Aber sie fühlte sich wunderbar erholt, sammelte ihre Papiere und die Decke ein und kletterte auf den Traktor, während Leonardo bereits den Motor anließ.

Für den Rückweg wählte er eine andere Strecke. Hin und wieder zweigten durch Brombeerhecken begrenzte Bergpfade ab, die scheinbar ins Nirgendwo führten. Sie kamen an einem baufälligen alten Schuppen vorbei. In seinem Schatten saß eine alte Frau in einem schwarzen Kleid und in schwarzen Strümpfen. Leon winkte ihr zu und die Arbeiter grüßten sie mit fröhlichen Rufen. Ihre Beine ruhten auf einem zerbeulten Korb voller Grünzeug und ihre dunklen Augen funkelten, als sie die Grüße erwiderte. Sie kaute genussvoll auf einem Stück Brot und hielt nur inne, um ein paar Krümel von ihrem Kleid zu wischen. Einer der Arbeiter sprang ab und nahm ihren Korb mit auf den Hänger.

»Anna ist unsere Kräuterfrau«, erklärte Leon, »ohne sie läuft in der Küche gar nichts. Ihren Korb dürfen wir mitnehmen, aber sie selbst würde nie aufsteigen, Motoren sind für sie Teufelszeug.«

»Sie haben einen guten Kontakt zu all diesen Leuten.«

»Ich bin zwischen ihnen groß geworden. Viele sehen in mir noch den Knirps von damals.«

»Aber sie respektieren Sie.«

»Das mussten sie lernen. Nicht allen ist das leichtgefallen.« »Ich habe den Eindruck, Sie sind der Herr im Hause.«

Leonardo sah Lisa eher verärgert als erstaunt an. »Einer muss die Zügel in der Hand halten.«

»Das dürfte nicht ganz einfach sein.«

»Vieles läuft nicht so, wie ich es will.«

»Ja, ich weiß.«

Wütend sah er Lisa an. »Gar nichts wissen Sie, sonst wären Sie nämlich überhaupt nicht hier.«

»Pardon, ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.«

»Keine Sorge, mir kommt man nicht zu nahe.« Verärgert jagte er den Motor hoch und der Traktor zog mit einem heftigen Ruck an. Schweigend setzten sie den Rückweg fort. Arroganter Miesmacher, dachte Lisa und setzte sich aufrecht hin. Abschütteln lass ich mich noch lange nicht, dachte sie.

Lisa hatte vor, am folgenden Morgen allein ein kleines Seitental zu durchstreifen und zu untersuchen. Sie durfte sich nicht auf die Stellen verlassen, die Leonardo ihr zeigte. Wer weiß, vielleicht war er längst über die Gefahren informiert, die seinem Tal drohten, wenn es plötzlich zu größeren Abgängen kam, wollte aber vermeiden, dass Lisa die Gefahren untersuchte und meldete. Sie durfte sich nicht auf ihn verlassen, sie musste selbst auf die Suche gehen.

Lisa stand bereits in der Morgendämmerung auf, was ihr schon immer sehr schwergefallen war, denn sie war kein Morgenmensch, wie man die Frühaufsteher gern nennt, sondern eher ein Abendmensch. Heute riss sie sich aber zusammen und stand mit ihren nötigen Sachen und einem kleinen Proviant versehen bereits vor dem Haus, als die Sonne gerade über die Kastanienwälder am Monte Lungo kletterte.

Sie ging, mit ihren Werkzeugen bepackt, die Auffahrt hinunter und wollte gerade in den kleinen Weg nach Camogelle einbiegen, als ihr ein fremder Wagen entgegenkam. Etwas verwundert blieb sie stehen, wer so früh schon unterwegs war, musste bereits in der Nacht irgendwo abgefahren sein. Auch der Fahrer des Range Rovers hielt, als er die Frau mit dem Rucksack sah. Und zu ihrer Verblüffung rief er: »Hallo, Lisa, schön, dich zu sehen, gerade das hatte ich heute vor.«

Lisa ging ein paar Schritte näher an den Wagen und dann erkannte sie den Fahrer. »Ja, Klaus, was machst du denn hier? Hast du dich verfahren?«

Lisa kannte Klaus Kaufmann seit Jahren, sie hatten zusammen studiert, dann hatten sie sich aus den Augen verloren und vor einiger Zeit in Hamburg wiedergetroffen. Er war noch immer als Geologe unterwegs und ab und zu, aber wirklich nur sehr selten, trafen sich die beiden per Zufall irgendwo wieder.

Lisa mochte Klaus nicht besonders, er war ein unzuverlässiger Kumpel, und einmal hatte sie sogar gedacht, allein mit ihm möchte ich nicht unbedingt zusammen sein. Aber dann verlobte er sich mit einer jungen Studentin und die Sache war für Lisa erledigt.

Und nun stand er plötzlich wieder vor ihr.

Er hatte den Wagen verlassen und wedelte mit einer Landkarte herum. »Ich suche das Hotel der Amarenis, man sagte mir, dass du dort wohnst.«

»Das stimmt, zwei Kurven weiter und du stehst davor«, erklärte sie, »aber die Kurven kannst du dir sparen, ich bin dir ja, wie du siehst, schon entgegengekommen.«

»Und wo willst du in aller Frühe hin? Du siehst nach Arbeit aus, wenn ich mir dein Gepäck ansehe.«

»Ich möchte mir ein paar Abhänge im Val d’Arpina ansehen.«

»So ganz allein und zu Fuß?«

»Mit dem Wagen komme ich nicht dorthin und ich wollte unbeeinflusst arbeiten.«

»Unbeeinflusst?«

»Ja, die Eigentümer dieser Gegend sind sehr hilfsbereit und führen mich überall herum, aber ich fürchte, sie zeigen mir nur Abhänge und Steilwände, die sie für richtig halten und die nichts mit meinen Befürchtungen von Schäden durch den Permafrost zu tun haben.«

»Aber die sollten doch froh und dankbar sein, wenn sie jemand auf Gefahren aufmerksam macht.«

»Ich fürchte, die Bewohner einzelner Gegenden leben lieber mit der Gefahr als mit der Gewissheit. Ihnen ist das Heute wichtiger als das Morgen und deshalb finden wir bei unseren Untersuchungen so wenig Unterstützung.«

»Wie kurzsichtig.«

»Oder wie geschäftstüchtig. Wenn die Gäste der Amarenis wüssten, welche Gefahr ihnen vielleicht droht, würden sie kaum hier ihren Urlaub verbringen. Heute fließt viel Geld in die Hotelkasse, bei der Verkündung von Gefahren wäre der finanzielle Strom sofort versiegt, und das können sich die Einheimischen nicht erlauben. Auch die Amarenis nicht.«

»Und was willst du dagegen tun? Musst du das überhaupt?«

»Meine Zentrale in Zürich erwartet eine gewissenhafte Untersuchung. Ich muss also sehr gründlich vorgehen und nicht nur Felswände untersuchen, die mir die Amarenis zeigen.«

»Und jetzt bist du still und heimlich auf dem Weg dahin?«

»So ist es. Aber was tust du hier, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin auf der Suche nach dir«, Klaus lachte, »und wie du siehst mit größerem Erfolg als du, denn ich habe mein Ziel erreicht, du noch nicht.«

»Und was willst du von mir?«

»Die Rank-Over-Stiftung in Wien möchte geologische Untersuchungen im Vorarlgebiet durchführen lassen und man ist aufgrund deiner Berichte in Zürich davon überzeugt, dass du mit meiner Gruppe gemeinsam diese Untersuchungen durchführen sollst. Lisa, du hast einen guten Namen, das weißt du doch?«, fragte er ganz ernsthaft.

»Ich muss meinen Auftrag hier beenden, dann können wir darüber sprechen.«

»Das ist mir klar. Aber ich wollte die neuen Aufgaben schon einmal andeuten, bevor du andere Aufträge annimmst.«

»Und deshalb kommst du in aller Frühe hierher? Wo hast du denn geschlafen?«

»Ich habe in Bellinzona übernachtet und bin extra zeitig losgefahren, um dich nicht zu verpassen.«

»Na, das hat ja auch geklappt. Und nun?«

»Ich begleite dich. Wir können doch gemeinsam zu deinen Untersuchungsfelsen gehen.«

»Na, dann stell deinen Wagen zur Seite und übernimm meinen Rucksack, mit dem Auto kommen wir hier nicht weiter.«

Klaus Kaufmann fuhr seinen Range Rover in den Schatten einiger Esskastanienbäume, holte einen eigenen Rucksack aus dem Wagen, schulterte beide Gepäckstücke, einen vor der Brust und einen auf dem Rücken, und erklärte lachend: »Dein Packesel ist bereit.«

Die Sonne hatte die Wand des Monte Lungo überstiegen und schien mit voller Kraft ins Tal. Der steinige Pfad führte steil nach oben und bog nach etwa zweihundert Metern scharf nach links ab. Lisa verglich die Route mit ihrer Karte und sah, dass sie die Klamm, die sie erreichen wollte, direkt vor sich hatten. Nach etwa zehn Minuten tauchten sie ein in den Schatten der steilen Felsen, die hier beängstigend eng zusammenrückten.

»Wir können hier anfangen«, rief sie Klaus zu, der noch immer gut trainiert vor ihr hermarschierte.

Er drehte sich um und ließ die Rucksäcke zu Boden gleiten. Lisa legte ebenfalls die Taschen mit ihren Werkzeugen ab und sie sahen sich, leicht außer Atem und doch zufrieden, an. »Erst einmal eine kleine Pause zum Verschnaufen«, erklärte Klaus und holte eine Thermosflasche mit heißem Tee und eine Dose mit Butterbroten aus seinem Rucksack.

Lisa hatte nichts gegen eine Verschnaufpause. Der Tag war noch lang genug und der Anstieg hier herauf ziemlich steil gewesen.

Die beiden legten ihre Jacken auf einen kleinen Streifen Gras und setzten sich, die Gesichter der Sonne zugewandt, die nur durch einen winzigen Spalt bis hinein in die Klamm leuchtete.

Nachdem der erste Hunger gestillt war, wollte Lisa eigentlich mit ihrer Arbeit anfangen, aber Klaus rührte sich noch nicht. »Langsam, Mädchen«, lachte er, »wir haben Zeit bis zur Dämmerung, die Arbeit läuft uns nicht davon.«

Na ja, dachte sie, eigentlich hat er recht. Mir tun noch die Knochen von gestern weh, warum also nicht noch eine kleine Pause einlegen. Aber dann fing er an, sie auszufragen, und das gefiel ihr gar nicht. »Klaus, was interessiert dich meine Vergangenheit. Wir haben uns seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen, jeder ist seinen Weg gegangen und das war gut so.«

»Aber ich habe dich nie vergessen. Hast du einen festen Partner?«

»Das geht dich gar nichts an«, versuchte sie leichthin abzuwinken.

Aber der Mann blieb stur. »Natürlich interessiert mich, was aus meiner besten Freundin geworden ist.«

»Ich bin und ich war niemals deine beste Freundin. Soviel ich weiß, hast du dich mit Henriette Demut verlobt und ihr seid ein sehr attraktives Paar gewesen. Was ist aus euch geworden?«

»Wir haben geheiratet.«

»Wie schön.«

»Und wir sind längst wieder geschieden.«

»Wie schade. Warum denn?«

»Daran bist du schuld.«

»So ein Blödsinn. Ich habe keinen von euch jemals wiedergetroffen.«

»Eben, du hast mir gefehlt, ich konnte ohne dich nicht zurechtkommen.«

»Also, so viel Dummheit ist mir selten begegnet.«

»Das hatte nichts mit Dummheit zu tun, sondern mit Sehnsucht.«

»Klaus, es wird Zeit, dass du auf den Grund der Tatsachen zurückkommst. Ich bin seit Jahren mit einem Mann liiert und ich gedenke, daran festzuhalten.«

»Meinst du etwa diesen Sportreporter, der in der ganzen Welt unterwegs ist und überall kleine Heulsusen hinterlässt, wenn er abreist?«

»Was fällt dir ein. Du kennst Alexander doch gar nicht.«

»Er interessiert mich deinetwegen und es fällt nicht schwer, seinen Spuren zu folgen.«

»Blödsinn.«

»Du willst nichts verstehen, nicht wahr?«

»Ich habe keine Lust, mir solchen Schwachsinn anzuhören. Los, komm, ich muss an die Arbeit.«

»Was ist dir wichtiger, dieses Steinebeklopfen oder die Wahrheit über deinen zweifelhaften Freund zu hören?«

»Meine Arbeit hat Vorrang.« Lisa stand auf, sie hatte wirklich keine Lust auf dieses Geschwätz. Dass ihr Alex nicht immer treu war, damit musste sie rechnen, zu lang waren die Trennungszeiten zwischen den wenigen vergnüglichen gemeinsamen Tagen, Aber um mir das zu sagen, musste nicht dieser geschwätzige Klaus Kaufmann mit mir hier in den Bergen herumkraxeln, dachte sie verärgert. Sie suchte Hammer, Feilen, Bohrer und Probenbecher zusammen und wollte in die Klamm hineingehen, aber Klaus hielt sie fest. »Lisa, ich bin nicht hier heraufgeklettert, um mit dir Steine zu beklopfen, sondern um mir dir zu reden. Und zwar ein ernstes Wörtchen.«

»Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten. Und jetzt lass mich los, ich habe zu tun.«

Aber anstatt sie loszulassen, packte er sie noch fester und zwang sie auf die Jacke zurück.

»Ich will, dass du mir zuhörst, und zwar jetzt und hier.«

»Ich denke gar nicht daran.«

»Lisa, ich liebe dich, ich habe dich schon immer geliebt und ich weiß, dass wir zusammengehören. Vergiss diesen Alexander, er passt nicht zu dir, und komm zu mir zurück.«

»Was heißt hier zurückkommen? Ich war noch niemals mit dir zusammen und ich gedenke auch jetzt nicht, an deiner Seite weiterzulaufen. Schlag dir das aus dem Kopf.« Lisa war wütend, aber sie wusste gleichzeitig nicht, wie sie sich verhalten sollte. Was konnte sie tun, wenn er zudringlich wurde? Sie kannte ihn kaum, sie konnte nicht berechnen, wie er sich verhalten würde, wenn sie ihn konsequent ablehnte. Früher erzählte man sich, dass er manchmal sehr jähzornig sein konnte, aber war das auch heute noch der Fall?, überlegte sie. Ich bin keine ängstliche Person, aber der Mann ist einen ganzen Kopf größer als ich und nicht gerade ein Schwächling. Und es ist verdammt einsam hier oben.

Ich werde also erst einmal ruhig hier sitzen bleiben, überlegte sie und besah sich ihre Füße. Zum Glück habe ich meine derben Bergstiefel an, mit denen kann ich ganz gut zutreten, wenn es nötig werden sollte. Und sonst?

Sie legte ihre Werkzeuge zur Seite, nur die Feile behielt sie und versteckte sie in einem Blusenärmel.

»Also, ich höre?«, versicherte sie ihm und setzte sich so, dass sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte.

»Lisa, wir haben uns immer gut verstanden, warum soll sich daran etwas ändern?«

»Klaus, ich habe mich nie gut mit dir verstanden, weil wir nämlich gar nicht zusammen gesprochen haben. Wir haben freundliche Grüße ausgetauscht, nach dem Ergehen und nach dem Vorhaben des anderen gefragt und das war dann schon alles.«

»Du warst es, die so kurz angebunden war. Ich hätte gern länger mit dir geredet – und so dies und das mit dir unternommen.«

»Du hast dich verlobt, damals, als sich unsere Wege hin und wieder kreuzten.«

»Ich wollte dich eifersüchtig machen.«

»Wie kann man eifersüchtig werden, wenn einer den anderen kaum kennt.«

»Du hattest alle Chancen, mich besser kennenzulernen.«

»Ich hatte keine Zeit für private Gefühle. Ich hatte gerade meinen Doktor gemacht, ich fing gerade mit der Geologie an. Ich wollte die Praxis kennenlernen und mich auf neue Aufgaben vorbereiten. Ich hatte doch keine Zeit für Gefühle.«

»Gefühle hat man oder man hat sie nicht. Warum hattest du keine Gefühle für mich?«

Er stand auf und setzte sich zu Lisa auf deren Jacke. Jetzt, so eng neben ihr, hatte sie keine Chance mehr, ihn zu beobachten. Was hatte er vor? Wozu war er fähig? Ihr Herz begann schneller zu klopfen. War sie ihm wehrlos ausgeliefert, wenn er zudringlich wurde?

Natürlich war sie das. Ich muss ruhig bleiben, nahm sie sich vor. Ich muss auf ihn eingehen, ihn hinhalten.

Plötzlich strich er mit der Hand Lisas Haare aus der Stirn, eine raue und keineswegs zärtliche Geste. Aber der Wind wehte ihr Haar gleich wieder nach vorn und seine Hand strich ein zweites Mal über ihr Gesicht. »Lass das«, wollte sie sagen, schwieg dann aber, sie wollte ihn ja ruhig halten und nicht verärgern.

Er ließ seine Hand auf ihrer Schulter liegen. Sie rührte sich nicht. Dann begannen seine Finger mit ihrem Kragen zu spielen und dann öffneten seine Finger die obersten beiden Knöpfe ihrer Bluse.

»Was soll das, Klaus?«

»Nichts, mein ängstlicher kleiner Schatz, oder magst du meine Finger nicht?«

»Sie sind rau und kratzen auf meiner Haut.«

»Daran wirst du dich gewöhnen müssen.« Gleichzeitig öffnete er zwei weitere Knöpfe und steckte die Hand in ihre Bluse.

»Ich will nur nachsehen, ob noch alles da ist.« Er rückte so nah an Lisa heran, dass er seinen Schenkel gegen ihren pressen konnte.

»Schön so, diese Zweisamkeit«, grinste er und zog – noch immer lächelnd – die Feile aus ihrem Blusenärmel. »Ein hartes Ding, könnte uns stören«, murmelte er und öffnete die restlichen beiden Knöpfe der Bluse.

Lisa schwieg einen Augenblick, dann presste sie heraus: »Willst du mich vergewaltigen? Das brauchst du nicht. Hier ist es ungemütlich, lass uns hinunter ins Herrenhaus gehen, ich habe dort ein sehr gemütliches Zimmer mit Doppelbett.«

Er lachte laut heraus. »Vergewaltigen? Wofür hältst du mich. Ich brauche niemanden zu vergewaltigen. Ich bekomme immer mit Lust und Liebe und größtem Vergnügen, was ich will. Ich brauche keine Gewalt anzuwenden, ich brauche nur mit dem Finger zu schnippen und erobere die Frauen mit größter Lust – aber doch nicht mit Gewalt. Genauso wird es mit uns beiden sein.«

Er griff nach Lisas Brust und presste sie, bis sie vor Schmerz beinahe aufgeschrien hätte. Aber sie biss die Zähne zusammen. »Lass das, mit Lust hat das nichts zu tun, du tust mir weh.«

»Aber natürlich hat das was mit Lust zu tun. Je größer der Schmerz, umso größer die Lust. Du wirst es gleich spüren.« Er schnallte sich den Gürtel ab und schwenkte ihn durch die Luft, so dicht über Lisas Kopf hinweg, dass sie sich bücken musste, um nicht getroffen zu werden. Jetzt hatte sie wirklich Angst. Sollte sie schreien, aber wer würde sie hören? Und während sie ihre Angst damit verriet, würde sie seine perverse Lust nur noch steigern.

»Schön ist es, dich so liebevoll und willenlos neben mir zu haben. Ich genieße deine Art, aber ein paar kleine lustvolle Schreie würden meine Lust vergrößern«. Jetzt presste er ihre andere Brust und sie konnte ein Stöhnen nicht mehr unterdrücken. »Recht so, ich muss doch hören, wie glücklich du bist.«

Er begann gerade am Reißverschluss ihrer Hose zu zerren, als sie ihn sah.

Leandro, der Kellermeister, stand mit schussbereitem Gewehr am Abhang und zielte auf Klaus. »Hände hoch!«

Klaus sprang auf und griff gleichzeitig nach der Feile, die neben ihm lag. In dem Augenblick, als er sich, die Feile drohend auf ihren Hals gerichtet, über sie beugte, knallte der Schuss und Klaus ließ schreiend das Werkzeug fallen. Blut tropfte aus seiner Hand direkt in Lisas Gesicht.