Schottische Stürme - Christa Canetta - E-Book
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Schottische Stürme E-Book

Christa Canetta

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Beschreibung

Die sympathische Anne-Sophie tritt eine Stelle als Gesellschafterin bei Lady MacAdleston an. Doch die Erben dieser zerstrittenen Familie lehnen sie ab. Welche geheimen Pläne verfolgt Dylan, der jüngste Sohn, zu dem Anne-Sophie sich unwiderstehlich hingezogen fühlt?

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Seitenzahl: 450

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Christa Canetta

Schottische Stürme

Roman

LangenMüller

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www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2010 by Edition Tosca in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: Maria Seidel; Thinkstock/istockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8301-6

1

Das Aprilwetter ließ keine Frühlingsgefühle aufkommen. Hagelschauer, Regengüsse, leichtes Schneetreiben und zwischendurch verlockende Sonnenstrahlen vermittelten den Eindruck, die Natur wisse nicht, was sie wolle. Dabei hatten Schneeglöckchen und Märzenbecher, Krokusse und Minihyazinthen die Vorgärten der alten Patrizierhäuser von Harvestehude längst mit einem bunten Blütenteppich übersät.

Anne schaute durch das regennasse Fenster nach draußen und träumte einen Augenblick lang von Sonne und Sommer, von bunten Kleidern und luftigen Sandalen. Dabei trug sie noch die schwarze Kleidung der Trauer, und sie fror, denn sie hatte die Heizung bereits abgedreht und den elektrischen Wärmestrahler längst verpackt. In der Wohnung sah es so trostlos aus, wie es bei einem Auszug eben typisch war.

Als es klingelte, ging sie nur langsam zur Tür. Wer sollte jetzt noch kommen? Sie hatte sich abgemeldet, sie wollte auch niemanden mehr sehen.

Als sie schließlich zögernd öffnete, stand Daniel vor der Tür, der Freund, den sie seit der gemeinsamen Schulzeit kannte und auch mochte.

»Daniel, was treibt dich bei diesem Wetter auf die Straßen?«

Der gut aussehende Mann war alles andere als vergnügt, denn das Regenwasser tropfte ihm aus den Haaren in den Kragen, und die Brille war beschlagen.

»Himmel«, stöhnte er, »was für ein Wetter und kein Parkplatz in der Nähe. Und meinen Schirm habe ich natürlich auch vergessen.«

»Komm herein, Wärme kann ich dir nicht anbieten, aber wenigstens ist es hier drinnen trocken.«

Er zog den nassen Trenchcoat aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. »Sag mal«, begann er vorwurfsvoll, »warum höre ich von Joachim, dass du Hamburg verlässt? Ich dachte, wir sind Freunde, Vertraute, und dann verheimlichst du mir das?«

»Du warst nicht da, und ich will kein Aufsehen erregen, und noch bin ich ja nicht weg. Ich gebe nur die Wohnung auf.«

Anne verschnürte das letzte Paket. Daniel sah ihr kopfschüttelnd zu. »Du machst also wirklich Ernst?«

»Mir bleibt nichts anderes übrig. Morgen kommt der Umzugswagen, dann verlasse ich die Wohnung für immer.«

»Aber warum? Ich begreife das nicht. Es ist doch die Wohnung, in der du groß geworden bist. So etwas gibt man doch nicht einfach auf.«

»Daniel, ich möchte endlich frei sein, alles abschütteln, was ich in den letzten Jahren hier mitgemacht habe.«

»Aber ich dachte immer, es sei dir eine Herzensangelegenheit gewesen, deine Mutter zu pflegen und ihr das geliebte Zuhause zu erhalten.«

»Es war mir wirklich eine Herzensangelegenheit, und ich habe meine Mutter mit aller Liebe gepflegt, Daniel, aber jetzt ist sie tot, und für mich allein ist diese Wohnung zu groß und zu teuer und zu aufwendig und mit zu vielen Erinnerungen belastet.«

»Und wo willst du in Zukunft wohnen, ich meine, wenn du nach Hamburg zurückkommst?«

»Ich suche mir eine kleine Zweizimmerwohnung, wo, das wird sich zeigen, wenn ich wieder hier bin.«

»Und ich habe immer gedacht, wir beide würden eines Tages zusammenziehen, zusammenleben, Anne, denkst du denn nie an diese Möglichkeit?«

»Daniel, du bist im Begriff, als Architekt nach Dubai zu gehen, was willst du mit einer Bindung an Hamburg, wenn dir die Welt offensteht.«

»Na, hör mal, ich will keine Bindung an Hamburg, ich will eine Bindung mit dir. Aber du hattest ja nie Zeit für gewisse Zweisamkeiten.«

»Ich hatte eine Mutter, die mich brauchte, hast du das vergessen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber du hattest immer Zeit für Kurse in der Altenpflege und in der Krankenpflege. Du hast sogar ein Diplom in diesen Jahren gemacht, nur für mich war dann keine Zeit mehr da.«

»Ach Daniel, du weißt, wie schwer mir das alles gefallen ist. Erst habe ich auf mein Medizinstudium verzichtet, um meiner Mutter zu helfen, und letzten Endes auch auf einen großen Teil meiner Jugend. Ich hätte auch gern vergnügliche, wenn auch anstrengende Studienjahre erlebt, aber für mich war es selbstverständlich, nachdem Wolfgang mit seiner Frau nach Freiburg gezogen ist, hierzubleiben und mich um meine kranke Mutter zu kümmern.«

»Aber jetzt bist du frei und kannst machen, was du willst. Warum kommst du nicht mit nach Dubai? Wir könnten so ein schönes Leben haben.«

»Du weißt, dass ich mich für ›Ärzte ohne Grenzen‹ entschieden habe und mit der Organisation nach Afrika gehen werde.«

»Das heißt, deine Pflegepflichten sind dir wichtiger als ich.«

»Das heißt, im Moment bin ich nur müde und ausgelaugt und lustlos. Die Beerdigung, die Auflösung aller Verpflichtungen, die Mutter und ich so hatten, Wolfgang, der sich um nichts kümmern konnte und gerade mal nur für einen Tag nach Hamburg kam, und nun die Wohnungsauflösung, ich bin eigentlich fix und fertig.«

»Und warum gönnst du dir nicht wenigstens ein paar Tage Ferien? Machst irgendwo Urlaub, und wenn du willst, sogar in Dubai?«

»In einem Land, in dem du dir erst einmal ein Zuhause suchen und einrichten musst? In dem du erst einmal einen eigenen Anfang finden musst? Nein, Daniel, es ist nett, dass du mich mitnehmen willst, aber ich brauche jetzt erst einmal Luft zum Atmen. Ich habe ein kleines Hotelzimmer am Mittelweg gemietet und werde jeden Morgen einmal um die Außenalster joggen, und wenn ich dann wieder Luft zum Atmen habe, geht’s ab nach Afrika. Ich warte nur noch auf den endgültigen Bescheid.«

»Na ja, irgendwo hast du ja auch recht.« Daniel sah die verschnürten und etikettierten Pakete an. »Müssen die zur Post?«

»Ja, ich bringe sie gleich zum Postamt in die City Nord.«

»Ich kann dich fahren, ich habe den Wagen hinten auf der Straße stehen.«

»Das wäre wunderbar. Ich hätte mir ein Taxi rufen müssen.«

»Wohin gehen die Pakete?«

»Nach Freiburg. Wolfgang hat sich nach Mutters Beerdigung ein paar Sachen von den Eltern herausgesucht, die er gern haben wollte. Bücher, Fotoalben – ein paar Erinnerungen eben, und ich habe versprochen, sie ihm zu schicken. Nun hat es wirklich bis zum letzten Augenblick gedauert.«

»Und du, hast du schon gepackt?«

»Ja, natürlich, meine Sachen sind im Hotel.«

»Und was wird mit der ganzen Einrichtung?«

»Meine eigenen Sachen kommen in ein Lager, bis ich sie eines Tages brauche, und der Rest kommt in ein Möbeldepot, wo ab und zu Versteigerungen stattfinden. Mit dem Erlös wird dann alles Restliche bezahlt.«

»Du hast ja wirklich an alles gedacht.«

Anne lächelte. »Das habe ich in den vergangenen Jahren gelernt – neben der Alten- und Krankenpflege.«

Daniel sah sich um. »Einen heißen Tee oder Kaffee hast du wohl nicht für mich?«

Anne schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich habe nicht mehr mit einem Besuch gerechnet, und es ist alles verpackt beziehungsweise verschenkt. Lebensmittel und solche Sachen hat die Reinemachfrau mitgenommen, als sie heute morgen hier die letzten Ecken geputzt hat.«

»Kann ich dich denn wenigstens zu einem Kaffee irgendwo einladen? Sehr warm ist es hier drin auch nicht gerade.«

»Die Heizung ist abgestellt, ich wollte die Wohnung ja gerade verlassen, als du geklingelt hast.«

»Na, dann habe ich tatsächlich Glück gehabt, dich noch zu erwischen.« Er schüttelte den Kopf. Warum war diese Frau so konsequent, so wenig ansprechbar, so unnahbar geworden? Wir hatten doch früher so viel Spaß, wir haben uns doch immer gut verstanden. Wahrscheinlich hat die Pflege der demenzkranken Mutter sie verändert, dachte er und zog seinen Mantel wieder an. Dann half er Anne in ihren Mantel und brachte die drei Pakete ins Treppenhaus. Anne verschloss die Wohnungstür, warf den Schlüssel in den Briefkasten des Hausmeisters und folgte Daniel nach draußen. Mit ihrem kleinen Taschenschirm versuchte sie, dem Wetter zu trotzen und sich und den Freund zu schützen, aber bereits an der ersten Ecke knickte der Schirm vom Wind ein, und Anne steckte ihn in den nächsten Abfalleimer. Nachdem die Pakete auf der Post abgeliefert waren, bat Daniel: »Und nun? Ein letzter Kaffee, Anne, oder ein heißer Tee?«

Anne zögerte einen Augenblick. Eigentlich wäre sie am liebsten ins Hotel gefahren und hätte sich in ihrem Bett verkrochen. Sie wollte nichts mehr sehen und hören, und reden wollte sie schon gar nicht. Sie wusste aber auch, dass sie den Freund nicht so vor den Kopf stoßen konnte. Er hat ja recht, mir Vorwürfe zu machen, dachte sie müde, denn ich habe mich in der letzten Zeit in keiner Weise um meine Beziehungen gekümmert, und eigentlich hat er eine solche Haltung nicht verdient. Er war immer liebevoll und auch ein richtig guter Freund – bis wir mehr oder weniger getrennte Wege gingen. Er machte seine Ausbildung und lernte andere Frauen kennen, und ich hatte keine Lust mehr auf irgendwelche Beziehungen, ich hatte einfach keine Zeit und keine Kraft dafür. Sie sah ihn an und nickte. »Ja, ein heißer Kaffee wäre genau richtig.«

»Dann fahren wir zum Hafen. Der Überseeclub ist genau der richtige Ort, um von Hamburg Abschied zu nehmen.«

»Aber noch bin ich ja nicht weg«, entgegnete Anne.

»Aber ich. Meine Maschine geht morgen früh, ich sagte ja schon, ich habe dich sozusagen im letzten Augenblick erwischt.«

»Den letzten Augenblick habe ich auf mich bezogen.«

»Was deinen Auszug aus der Wohnung betrifft, ja, aber was die Abreise aus Hamburg angeht, betrifft er mich.«

Sie fuhren quer durch die Stadt von der City Nord zur Hafencity im Süden.

Per Handy bestellte Daniel einen Tisch im Club. Die Rushhour war vorbei, die Straßen wurden leerer, und sie kamen schnell ans Ziel.

*

Wie immer verzauberten Hunderte von Lichtern den Hafen in eine bunte Märchenwelt. Von Kränen und Werften und Arbeitern war jetzt nichts mehr zu sehen, dafür spiegelten sich Scheinwerfer und Laternen, Laserstrahler und Reklamelichter in den buntesten Farben im Wasser. Es war ein atemberaubender Blick vom Überseeclub aus, und Anne genoss die Farbenpracht in vollen Zügen, denn noch immer schlug der Regen gegen die Fensterscheiben, und die Tropfen verwandelten die Lichter in funkelnde Diamanten.

Der Oberkellner führte sie zu einem Tisch am Fenster. Es war früh am Abend, und die Gäste kamen erst später zum Essen. Daniel sah Anne fragend an. »Einen Tee, einen Kaffee oder lieber gleich einen Drink und dann ein letztes Hamburger Hafenmenue?«

Anne lächelte den Kellner entschuldigend an. »Ich hätte gern einen heißen Tee mit Rum, wenn das möglich ist.«

»Aber selbstverständlich. Und der Herr?«

»Ich schließe mich an und dann hätten wir gern die Speisekarten.« Er sah Anne fragend an. »Du hast doch nichts gegen ein Abschiedsessen?«

»Wenn du das so siehst, dann nicht.«

»Wer weiß, wann wir wieder einmal hier zusammensitzen können. Uns trennen demnächst Welten, um das ganz klar auszudrücken.«

»Welten, die wir uns selbst ausgewählt haben, nicht wahr?« Anne streichelte die Hand des Mannes, der etwas traurig neben ihr saß. »Wir werden in Verbindung bleiben, Daniel, wir schreiben uns, und Telefone gibt es auch.«

»Versprichst du mir, wirklich ab und zu an mich zu denken?«

»Aber natürlich, und denk daran, für ein Flugzeug ist die Welt recht klein geworden.«

Daniel seufzte, dann sah er hinüber zum Zeitungsstand, an dem täglich die neuesten Zeitungen hingen. »Warte mal, ich glaube, in der Überseezeitung vom Wochenende ist ein Bericht über Dubai, sie haben mich neulich um ein Interview gebeten, und Fotos von den Brückenplanungen hatten sie auch schon.«

Er stand auf und holte die Zeitung, und während der Kellner den Tee servierte, blätterte er aufgeregt die Seiten um. »Hier, siehst du«, er hielt Anne das Blatt hin, »das wird mein Arbeitsfeld.«

Auf den bunten Fotos waren aufgeworfene Sandberge, ein paar Kräne und viel Meer zu sehen. »Da entstehen ganze Stadtteile mitten im Wasser, und ich baue die Brücken dafür«, erklärte er stolz, denn er sah, wie beeindruckt die Freundin war.

»Ich gratuliere. Und wie bist du zu dem Auftrag gekommen?«

»Hier, in dieser Zeitung habe ich einen Aufruf zu einem Architektenwettbewerb gefunden. Das ist jetzt ungefähr ein Jahr her. Na, und weil ich mich schon lange für die modernen arabischen Zukunftsvisionen interessierte, habe ich mitgemacht.«

»Und gewonnen. Bravo.«

»Na ja, nicht allein, wir waren vier Architekten, die in die engere Wahl gekommen sind. Zu zweit haben wir dann die Verträge bekommen.«

»Ich gratuliere, Daniel, und ich freue mich für dich. Es muss wunderbar sein, einen so interessanten Beruf zu haben, der zugleich auch noch ein Hobby ist. Ich erinnere mich, du hattest schon immer einen Hang zu Experimenten. Wenn ich allein an deinen Metallbaukasten denke und was du mit dem konstruiert hast, dann musstest du eines Tages ganz einfach ein Brückenbauer werden.«

Daniel lachte. »Dass du dich daran noch erinnerst, wir waren in der neunten Klasse, als ich ihn bekam.«

Der Oberkellner brachte die Speisekarten, und Daniel sah die Freundin fragend an. »Ein typisches Hamburger Abschiedsessen?«

»Und was verstehst du darunter?«

Daniel sah in die Karte. »Da wäre die Hamburger Aalsuppe für den Anfang. Was hältst du von einer Wildschweinkeule aus dem Sachsenwald als Hauptgericht?«

»Hört sich wunderbar an. Je mehr du vorschlägst, umso hungriger werde ich.«

»Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?«

»Nein, eigentlich nicht, die Zeit hat nicht gereicht, und der Strom für den Herd war auch schon abgestellt.«

»Hab ich mir fast gedacht. Wie wäre es mit roter Grütze und Vanillesoße zum Abschluss?«

»Das wäre großartig.«

Daniel bestellte das Essen und stand auf, um die Zeitung wieder an den Ständer zu hängen. Dabei fiel sein Blick auf die Rückseite, und er stutzte. Dann kam er zum Tisch zurück. »Du, Anne, sieh mal.«

»Ja?«

»Hier ist eine Anzeige wie für dich gemacht?«

»Eine Anzeige für mich? Du träumst.«

»Nein, wirklich, hier sucht die Horneberger Reederei Andrew W. Möller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das neue Kreuzfahrtschiff ›S. M. Victoria‹ in Bremerhaven. Und da«, er zeigte mit dem Finger auf eine Zeile, »und da sucht man eine Alten- und Krankenpflegerin für die nächste Reise in die Karibik am ersten Mai.«

Anne sah unschlüssig auf die Zeitung.

»Na, was sagst du dazu? Eine Urlaubsreise mit Gehalt, wäre das nichts für dich? Du kannst dich erholen und dann kannst du immer noch nach Afrika reisen.«

»Ich weiß nicht.«

»Aber Anne, das wäre für dich eine tolle Chance, und du kommst erholt bei deinen Ärzten an und kannst voll zupacken.«

Anne sah den Freund unsicher an. »Was steht denn da über die Bedingungen?«

Daniel setzte sich wieder und studierte die Anzeige. »Na also, da heißt es, junge, gesunde Frau mit intensiver Berufserfahrung bevorzugt.«

Anne lachte. »Nein, das ganz bestimmt nicht. Und du meinst …«

»Na klar meine ich.«

»Und wie soll das praktisch aussehen?«

»Ich bitte den Restaurantchef um eine Kopie der Seite, und morgen schreibst du die Bewerbung.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben.«

»Ich gebe dir eine große Portion davon ab.« Daniel lachte. »Anne, mir hat die Zeitung Glück gebracht, dir wird es genauso gehen.«

Und dann kam der Kellner und servierte die Aalsuppe.

2

Zwei Wochen nach Daniels Abreise bekam Anne Post aus Bremerhaven. Die Horneberger Reederei Andrew W. Möller schrieb:

»Sehr geehrte Frau Wedel, Ihren Brief vom 18. März mit der Bewerbung um den Posten einer Alten- und Krankenpflegerin auf der ›S. M. Victoria‹ haben wir erhalten. Sie sind aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrungen in der o. g. Angelegenheit in die engere Wahl genommen worden. Wir möchten Sie kennenlernen und bitten Sie, zu einem persönlichen Gespräch am 3. April um elf Uhr in das Büro der Reederei in Bremerhaven zu kommen. Die Reisekosten werden Ihnen erstattet.«

Es folgten die genaue Anschrift und freundliche Grüße.

Du meine Güte, das ist ja schon morgen, dachte Anne und schaute in den Spiegel der Hotelrezeption. Was ziehe ich an? Wann fahren die Züge? Wie ist das Wetter morgen?

Sie bat die Mitarbeiterin an der Rezeption: »Bitte, ich brauche meinen Zimmerschlüssel zurück.« Die junge Frau, die Anne den Brief ausgehändigt und beobachtet hatte, wie sie ihn las, lächelte. »Gute oder schlechte Nachrichten?«

»Keine Ahnung. Aber morgen muss ich mit Volldampf nach Bremen. Haben Sie die Möglichkeit, im Internet die Zugverbindung herauszusuchen?«

»Selbstverständlich, und ich suche Ihnen gern einen passenden Zug heraus.«

»Das wäre sehr nett. Ich muss nach Bremerhaven und um elf Uhr dort sein.«

»Dann suche ich Ihnen eine Verbindung, mit der Sie früh genug dort ankommen, denn auch Bremerhaven ist nicht gerade eine kleine Stadt. Brauchen Sie sonst noch Hilfe?«

»Ach, ich bitte den Wettergott um Sonnenschein, damit ich nicht in Gummistiefeln reisen muss, und um einen windstillen Tag, damit meine Frisur ihre Form behält.«

Die beiden lachten. »So weit reichen meine Verbindungen leider nicht, aber in den Abendnachrichten gibt es ja immer ziemlich präzise Angaben über das Wetter.«

Anne nickte, bedankte sich für die Hilfe und ging zurück in ihr Zimmer. Dort las sie den kurzen Brief noch einmal. Meine Güte, überlegte sie aufgeregt, wenn das wirklich klappt, dann bin ich in den nächsten Wochen auf hoher See, unter wildfremden Menschen, mit einem Berg von Aufgaben, die ich vielleicht gar nicht bewältigen kann, und mit jeder Menge Verantwortung, mit der ich hoffentlich fertigwerde. Himmel, ich habe nicht einmal eine Ahnung, ob ich seekrank werde. Bloß das nicht, dachte sie und schaute in den Spiegel. Eine seekranke Pflegerin ist das Letzte, was die auf einem Schiff brauchen können.

In den Kleiderschrank brauchte sie nicht zu schauen, darin gab es nicht viel Auswahl, die Pflege der Mutter hatte keine großartige Garderobe verlangt – und was sie in Afrika brauchte, würde sie klären, wenn die Bestätigung der Organisation käme –, aber das dunkelblaue Kostüm mit der weißen Bluse hing immer im Schrank. Sie kontrollierte die schwarzen Pumps, den Inhalt der dazu passenden Handtasche und holte sich aus dem kleinen Safe in der Zimmerecke ihre Papiere, die Dokumente ihrer beiden Diplome und das Geld für die Reise. Duschen und die Haare waschen werde ich morgen früh, überlegte sie, in einer halben Stunde sind die Haare trocken geföhnt.

Dann setzte sich Anne ans Fenster und sah nach draußen. Der Regen der letzten Tage hatte etwas nachgelassen, aber die Leute hasteten noch immer mit aufgespannten Schirmen über die Straße. Sie dachte an Daniel, der sie schon zweimal angerufen und ihr von dem Sonnenschein und dem herrlichen Wetter in Dubai vorgeschwärmt hatte. Auch bei Wolfgang im Breisgau war der Frühling längst ausgebrochen. Der Bruder hatte von Tulpenbäumen, Forsythien und japanischen Kirschbäumen berichtet, die kurz vor der Blüte standen.

Und wenn ich die Stelle nicht bekomme? Dann muss ich auf die Nachricht der Organisation warten. Soviel ich gehört habe, stellten die ›Ärzte ohne Grenzen‹ immer im Frühjahr die neuen Einsatzgebiete zusammen. Und wenn das auch nichts wird, dann muss ich mir hier in Hamburg Arbeit suchen, dachte sie leicht enttäuscht. Aber ich würde schon gern mal die Tapete wechseln. In den letzten vier Jahren habe ich kaum einen Blick in die Umgebung werfen können, nicht einmal bis Harburg bin ich gekommen, und wenn ich einen der Kurse besuchen wollte, brauchte ich eine Vertretung, die bei Mutter blieb. Ihre Demenzerkrankung und später dann die Magenprobleme, als sie kaum noch die Nahrung bei sich behalten konnte, forderten eine ständige Betreuung. Aber ich habe es gern gemacht. Mutter war ein Leben lang für Wolfgang und mich da – na ja, überlegte sie, bis zu dem Unglück mit Vater, als sie selbst krank wurde –, da ist es doch selbstverständlich gewesen, dass ich ihr etwas von ihrer Fürsorge zurückgeben konnte.

Anne wischte eine Träne von der Wange. Die Erinnerung an den Tod der Mutter schmerzte noch immer, und die Einsamkeit, in die sie hineingezogen worden war, auch. Sie hatte Freundinnen verloren, weil sie nie Zeit für sie hatte, sie musste sich von dem Bruder trennen, als er zu seiner Frau nach Freiburg umsiedelte, und sie hatte einen Vater verloren, den sie kaum kannte und dessen Nähe sie sich oft so sehr gewünscht hätte. Als Diplomat war er viel unterwegs, hatte aber darauf bestanden, dass die Familie in Hamburg wohnte, um den Kindern eine Heimat zu geben. Und dann war sein Flugzeug kurz vor Kanada ins Meer gestürzt, als er im Auftrag der Regierung auf dem Weg nach Montreal war. Sie konnten ihn nicht einmal in Hamburg beerdigen, weil die Maschine nicht zu orten war. Das war jetzt zehn Jahre her, und mit dem Tod des Vaters fing die Krankheit der Mutter an. Ich konnte gerade noch mein Abi machen, dachte Anne, aber an ein Medizinstudium war nicht mehr zu denken. Mutter brauchte mich. Sie wischte noch eine Träne fort.

Draußen war es dunkel geworden. Anne ging noch einmal zur Rezeption, ließ sich die Abfahrtszeiten und die Verbindungen geben und bedankte sich mit einer kleinen Schachtel Pralinen. Die Dame an der Rezeption, die jetzt den Abenddienst übernommen hatte, freute sich. »Ich werde die Pralinen mit Marga teilen, wenn sie mich morgen früh ablöst. Und Sie wollen morgen verreisen?«

»Na ja, eine Reise ist es eigentlich nicht, nur ein Tagesausflug.«

»Etwas Berufliches?«

Anne hob die Schultern. »Ich weiß es noch nicht. Es wird sich morgen entscheiden.«

»Dann verlassen Sie uns?«

»Wenn es klappt, ja.«

»Und? Soll ich die Daumen drücken, damit es klappt?«

Anne lachte. »Ich weiß nicht, ich muss mir das alles anhören, und dann hängt es auch ein bisschen von mir ab, ob ich will oder nicht.«

»Darf man fragen …?«

»Nein, lieber nicht, es ist mir noch alles viel zu ungewiss.«

»Na schön, die Daumen drücke ich Ihnen auf jeden Fall.«

Andere Gäste betraten die Rezeption, und Anne verabschiedete sich schnell. Freundlichkeit war ja sehr schön, aber Neugier war ein bisschen zu viel!

Sie ging früh zu Bett, stellte den Wecker auf sechs Uhr und bat um den Weckdienst des Hotels. Sicher ist sicher, dachte sie und lag dann doch noch lange wach. Zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Wie würde so ein Dienst auf dem Schiff aussehen? Welche Arbeiten würden von ihr verlangt. Konnte sie unterwegs kündigen, wenn ihr die Arbeit nicht gefiel, oder würde man sie unterwegs entlassen, wenn sie den Aufgaben nicht gerecht wurde? Worauf musste sie bei einem Vertrag achten? Hatte sie auch irgendwelche Rechte der Reederei gegenüber?

Als der Wecker schließlich klingelte, hatte Anne kaum vier Stunden geschlafen. Na, großartig, dachte sie, ich werde trotzdem fabelhaft aussehen!

Sie stellte sich unter die Dusche, wusch und föhnte sich die Haare und war pünktlich um acht Uhr in der Hotelhalle, wo man ein Taxi für sie rief.

3

Anne kam fünf Minuten vor elf Uhr vor dem Bürohaus der Horneberger Reederei in Bremerhaven an. Der Hamburger Nieselregen hatte zwischen Bremen und Bemerhaven aufgehört, und sie konnte den Regenschirm in der Handtasche lassen.

Das Haus, vor dem das Taxi hielt, war ein typisches rotes Backsteinhaus mit einem von Säulen flankierten Portal, wie sie diese Gebäude von dem Hamburger Kontorhausviertel kannte.

Die große Eingangshalle bekam ihr Licht durch eine riesige Glaskuppel hoch oben in der fünften Etage. Anne ging zum Empfangstisch, hinter dem fünf Damen arbeiteten. »Bitte, ich möchte zur Geschäftsleitung der Horneberger Reederei.«

»Um was geht es?« Sehr höflich waren die Damen nicht.

»Ich habe mich um eine Stellung beworben und wurde zu einem persönlichen Gespräch hergebeten.«

»Ach so, ja, dann müssen Sie in die Personalabteilung gehen. Mit dem Lift bitte in die zweite Etage fahren und dann ist der Weg ausgeschildert. Aber ich muss Sie vorher anmelden, wie ist Ihr Name?«

»Anne-Sophie Wedel, ich komme aus Hamburg.«

»Einen Augenblick bitte.« Die junge Frau telefonierte, dann füllte sie einen Passierschein aus und reichte ihn Anne. »Bitte, Sie werden erwartet.«

*

Anne bedankte sich, fuhr mit dem Lift in die zweite Etage und ging den Schildern nach bis zur Tür mit dem Hinweis: Personalbüro/Anmeldung.

Auch hier endete ihr Weg vor einem Empfangstisch mit fünf Mitarbeiterinnen, die an Computern, Telefonen und Faxgeräten arbeiteten. Das muss ja ein riesiger Betrieb sein, dachte Anne, wenn schon in den Vorzimmern derartig viele Menschen arbeiten. Sie gab ihren Schein ab. Hier wurde sie freundlicher empfangen, man wusste, dass sie kam, und eine der Damen stand auf und bat: »Bitte kommen Sie mit, Sie werden erwartet.«

*

Anne wurde in ein großes, elegantes Büro begleitet, in dem zwei Herren saßen, die aufstanden, als sie hereinkam, und ihr die Hand reichten. »Guten Tag, Frau Wedel. Nett, dass Sie gekommen sind. Möchten Sie einen Kaffee oder einen Tee oder lieber ein Glas Mineralwasser?«

»Vielen Dank, nein.«

Die beiden Männer nickten ihrer Begleitung zu, und die junge Frau verließ das Büro. »Ich bin Doktor Jungius«, stellte sich der Ältere vor, »und ich bin Doktor Martin«. Die drei setzten sich, und Anne genoss für einen Augenblick die Ruhe, die dieses Büro mit seinen alten Möbeln, mit der großen Landkarte an einer Wand und den vielen Büchern an einer anderen Wand ausstrahlte.

»Sie kommen also aus Hamburg. Haben Sie Erfahrungen mit der Schifffahrt gemacht, oder ist es Ihre erste Seereise, die Sie mitmachen möchten?«, fragte Doktor Jungius.

»Es wäre meine erste berufsbedingte Seereise, aber als Kind war ich oft mit meinen Eltern auf See unterwegs. Mein Vater war Diplomat, und meine Mutter hatte Flugangst, so sind wir häufig mit dem Schiff gereist.«

»Dann leiden Sie nicht unter Seekrankheiten?«

Anne lächelte. »Nein, die plagen mich nicht.«

»Wir haben Ihre Bewerbungsunterlagen geprüft. Danach scheinen Sie uns geeignet für die Arbeit, die wir vermitteln wollen. Wir halten es aber für richtig, Sie auf Einzelheiten hinzuweisen, die Ihre Arbeit betreffen und die in der Annonce nicht im Detail erwähnt wurden«, erklärte Doktor Martin.

»Dann bitte ich um die genauen Angaben«, nickte Anne, nahm aus ihrer Tasche einen Notizblock und fragte: »Sie haben nichts dagegen, wenn ich mir die Einzelheiten notiere?«

»Nein, natürlich nicht, aber in den Unterlagen, die Sie bekommen, sollten Sie die Arbeit übernehmen, sind alle Einzelheiten aufgeführt.«

»Danke, dann kann ich mir die Notizen ersparen.« Sie sah die beiden Männer an, die ihr gegenübersaßen und eine größere Anzahl von Papieren in den Händen hielten.

»Wir haben Sie in die engere Wahl genommen, weil Sie eine jahrelange Erfahrung in der Alten- und Krankenpflege haben und weil Sie vier Sprachen fließend sprechen«, begann Doktor Jungius. »Und wir sind der Meinung, dass Sie in einem Alter sind, in dem Sie den Aufgaben gewachsen sind.«

Anne nickte verständnisvoll, unterbrach die Herren aber nicht. »Wir suchen eine junge, dynamische Frau mit einer gründlichen Berufserfahrung, mit Einfallsreichtum, mit psychologischem Einfühlungsvermögen und mit viel Verständnis.«

»Wir brauchen keine Betreuerin, die die älteren Gäste im Rollstuhl hin- und herfährt, sondern eine Frau, die unsere Senioren mit spontanen Ideen unterhält und unsere Kranken von ihren Problemen ablenkt«, fuhr der Doktor Martin fort.

Jetzt unterbrach Anne die Wunschliste der beiden aber doch. »Was verstehen Sie unter Einfallsreichtum und spontanen Ideen? Soll ich als Unterhalterin arbeiten oder als Pflegerin?«

»Eins darf das andere nicht ausschließen. Wenn unsere älteren Passagiere – und die meisten Reisenden sind Senioren – sich verstanden und gut betreut wissen, fühlen sie sich wohl, das beeinflusst ihr Befinden zum Positiven, und darum geht es doch bei einer Pflege. Und wenn sie dann noch gut unterhalten und verständnisvoll umsorgt werden, sind sie glücklich, dankbar, zufrieden und werden die nächste Reise wieder bei uns buchen«, lächelte Doktor Jungius.

Darum geht es den Herren also, dachte Anne. Das Geschäft muss florieren, und die Gäste müssen wiederkommen. Sie wusste aber auch, dass dieses Denken im Geschäftsleben selbstverständlich ist, und wenn es zum Vorteil für die Kunden war, dann war es auch berechtigt. Sie nickte. »Ich verstehe. Ich schließe mich Ihren Überlegungen an.«

Die Herren sahen sich an und nickten zufrieden. Dann fuhr der Ältere fort: »Zu Ihren Aufgaben gehört noch eine weitere Tätigkeit. Sie müssten die pflegebedürftigen Passagiere bei den Tagesausflügen begleiten und betreuen. Die Herrschaften wollen ja nicht nur auf dem Schiff sein, sie wollen auch etwas von der Welt sehen.«

»Was müsste ich bei diesen Ausflügen machen?«

»Zuerst einmal müssten Sie die Herrschaften begleiten, damit sie sich betreut fühlen. Sie müssten mit ihnen in die entsprechenden Restaurants an Land gehen und für die richtigen Speisen sorgen, ich denke da besonders an Diabetiker, Sie müssten die Ausflüge dem Alter der Reisenden entsprechend organisieren, indem Sie für Taxifahrten oder Bootsausflüge sorgen, und Sie müssten die Herrschaften betreuen, wenn es zu Unfällen kommt. In allen Dingen haben Sie aber die Unterstützung durch die Schiffsbesatzung, die Sie jederzeit über ein Handy anrufen, um Hilfe und um Ratschläge bitten können«, versicherte Doktor Martin.

»Das Schiff ist immer der Mittelpunkt, der Anker für Sie, Sie sind niemals allein, das müssen Sie wissen«, versicherte Doktor Jungius.

Anne schwirrte der Kopf. »Das ist sehr viel, was Sie da unter einer Alten- und Krankenbetreuung auf einem Passagierschiff verstehen, meine Herren.«

»Das wissen wir«, nickten die beiden. »Diese Aufgabe ist eine verantwortungsvolle Arbeit und keine erholsame Schiffsreise, und wir sind der Meinung, Sie sollten das vorher wissen. Wir sind aber auch der Meinung, dass Sie einer solchen Aufgabe gewachsen wären. Deshalb ist unsere Wahl auf Sie gefallen.«

Anne seufzte heimlich, dann fragte sie beherzt: »Ich kenne nun meine Pflichten, wie sieht es denn mit meinen Rechten aus?«

»Was meinen Sie?«, fragten die beiden im gleichen Augenblick.

»Muss ich eine Schwesterntracht anziehen?«

»Nein, wir wollen die Pflegebedürftigkeit einzelner Passagiere nicht in den Vordergrund stellen, eine dezente private Kleidung genügt.«

Aha, dachte Anne, die Betonung liegt natürlich auf »dezent«, als wohlhabende Reisende darf ich nicht auftreten. Na, macht nichts, ich habe sowieso nur eine schlichte Garderobe. Sie fuhr fort: »Wenn ich mich nach ein paar Tagen den Aufgaben nicht gewachsen fühle, kann ich dann kündigen, und wer bezahlt meine Rückreise? Wie sieht es mit einer Versicherung für mich aus, und was passiert, wenn ich selbst krank werde? Über mein Gehalt haben wir noch nicht gesprochen, auch über meine Freizeit nicht.«

Verblüfft sahen sich die Herren an. Die Dame hat Wünsche, dachten sie, und Grundsätze. Statt die Vorzüge einer Kreuzfahrt zu genießen, denkt sie an Geld, Versicherungen und freie Zeiten. Weiß sie denn nicht, was wir ihr bieten? Für unsere Luxusreisen zahlen die Passagiere ein Vermögen.

Verlegen sahen sie ihr Gegenüber an. »Frau Wedel, sind Ihnen unsere Kreuzfahrten bekannt? Wissen Sie, was wir bieten? Sie reisen auf einem der schönsten Schiffe der Welt, Sie haben eine eigene Kabine und ein vorzügliches Essen, Sie können an allen Veranstaltungen teilnehmen und die interessantesten Ausflüge mitmachen.«

Anne schüttelte den Kopf. »Ihre Kreuzfahrten sind mir nicht bekannt, aber ich denke, sie unterscheiden sich nicht im Wesentlichen von anderen Luxusreisen. Wo befindet sich meine Kabine, im untersten Deck im Mittelschiff und in der Nähe der Motoren? Kann ich in einem der Restaurants speisen oder esse ich in der Kantine für die Angestellten? Sitze ich bei den Veranstaltungen dabei oder achte ich auf meine Patienten, dass sie diesen nächtlichen Vergnügungen gewachsen sind? Und kann ich die Ausflüge genießen oder bin ich damit beschäftigt, auch da die älteren Passagiere nicht aus den Augen zu lassen? Meine Herren, ich arbeite, und wenn ich das richtig sehe, arbeite ich mehr oder weniger Tag und Nacht. Wann kann ich mich ausruhen und an Deck die herrliche Reise genießen, und wie oft braucht der Schiffsarzt meine Hilfe als Krankenpflegerin? Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen.«

Die beiden Männer raschelten in ihren Papieren. Dann erklärte Doktor Jungius: »Selbstverständlich sind Sie versichert.«

Und Doktor Martin fuhr fort: »Wir werden dafür sorgen, dass Sie einen freien Tag in der Woche bekommen.«

Anne nickte. »Dann sollten wir jetzt noch über mein Gehalt sprechen.«

»Aber Sie haben ein kostenloses Leben auf dem Schiff.«

»Genau wie der Kapitän. Arbeitet der auch für sein kostenloses Leben auf dem Schiff?«

Sprachlos sahen sich die Männer an. »Aber wir bitten Sie, es ist der Kapitän!«

»Und ich bin sowohl Pflegerin als auch Betreuerin und zusätzlich Unterhalterin, ich bin für die Menschen eine Vertrauensperson und trage eine große Verantwortung, das sollte nicht unterschätzt werden, meine Herren.«

*

Allmählich machte es Anne Spaß, die beiden in Verwirrung zu bringen. Sie wusste, mit ihren Forderungen und ihrem selbstsicheren Auftreten hatte sie sich die Stellung schon verscherzt, aber gerade deshalb machte es ihr nun Spaß, die beiden Herren in Verlegenheit zu bringen. »Außerdem«, fuhr sie fort, »ist eine Versicherung notwendig, wenn den betreuten Personen während der Ausflüge, die ich als besondere Risiken betrachte, etwas zustößt. Ich bin bereit, mich für sie einzusetzen, aber ich kann nicht die ganze Verantwortung übernehmen. Schließlich sind die Herrschaften selbstständige Persönlichkeiten und müssen sich nicht immer meinen Anordnungen unterordnen.« Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie entschieden: »Ich nehme an, meine Herren, dass Sie nicht mit Forderungen dieser Art gerechnet haben, und ich kann verstehen, dass Sie meine Einstellung nun nicht mehr in Betracht ziehen. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, aber ich akzeptiere Ihre Ablehnung. Vielen Dank.« Damit stand Anne auf und wollte gehen. Aber ein erschrockenes »Nein« hielt sie auf.

»Nein, bitte warten Sie, wir können doch über Ihre Forderungen verhandeln. Wie würden Ihre Gehaltsvorstellungen denn aussehen?«

»Meine Herren, es gibt Tarife. Und es gibt feste Vereinbarungen mit Versicherungen. Sie sind doch zuständig für die Einstellung des Personals, da bin ich doch nicht die Erste, die sich bewirbt.«

»Nein, natürlich nicht, aber wir hatten es meist mit Mitarbeitern zu tun, die sich um die Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff zu allen Bedingungen bemüht haben. So eine Arbeit ist eben etwas ganz Besonderes.«

»Nun, zu den Mitarbeitern gehöre ich nicht«, versicherte Anne, die aber jetzt doch noch eine Chance sah, die Stelle einer Alten- und Krankenpflegerin trotz ihrer Forderungen zu bekommen, »Arbeit ist Arbeit, mit allen Vorzügen und Nachteilen.«

Jetzt standen die beiden Mitarbeiter ebenfalls auf. »Sie werden verstehen, dass wir die Entscheidung Ihrer Anstellung mit dem zuständigen Personaldirektor besprechen müssen. Wir können Ihnen aber jetzt schon sagen, dass wir Sie für geeignet halten, auch und besonders wegen Ihrer konsequenten Art zu verhandeln. Die zeigt nämlich auch, dass Sie mit Patienten umzugehen verstehen«, versicherte ihr Doktor Jungius.

Anne reichte den Herren die Hand. »Wie verbleiben wir?«

»Sie hören in den nächsten Tagen von uns. Das Schiff, für das wir nach einer Alten- und Krankenpflegerin suchen, sticht in vierzehn Tagen von Rotterdam aus in See. Die Route führt über Liverpool nach New York, von dort die Ostküste der USA entlang nach Süden mit diversen Stationen, um Key West herum und durch den Golf von Mexiko nach New Orleans. Dort ist die Reise beendet, die Passagiere verlassen das Schiff und fliegen nach Hause, neue Passagiere kommen an Bord, und die Reise beginnt in umgekehrter Reihenfolge. Sie müssten sich auf jeden Fall für eine Reise verpflichten, das ist Voraussetzung.«

»Und wenn ich aus irgendeinem Grunde die Reise nicht bis zum Ende mitmachen kann?«

»Dann könnte es, wenn kein wirklich gravierender Grund vorliegt, zu einer Konventionalstrafe kommen.«

»Angenommen, ich werde krank?«

»Das wäre ein gravierender Grund. Aber deshalb wollen wir vorher ein Gesundheitszeugnis einsehen, das ein von uns benannter Arzt ausstellt.«

»Sie sind wirklich gründlich.«

»Das müssen wir sein, Sie glauben gar nicht, wie einfallsreich Arbeitssuchende sind, wenn es um eine so schöne Reise geht.«

»Doch, das kann ich mir vorstellen. Dann erwarte ich also Ihren Bescheid und die notwendigen Einzelheiten, für den Fall, dass es zu meiner Einstellung kommt. Vielen Dank.«

»Wir danken für dieses Gespräch.« Die Herren gaben Anne die Hand, und sie war entlassen.

*

Anne bat unten an der Rezeption, ihr ein Taxi zu bestellen, und trat vor das Haus. Eigentlich bin ich jetzt so klug wie vorher, dachte sie. Aber sollte ich ohne Einsprüche und eigene Forderungen alle Bedingungen annehmen, nur um den Posten zu bekommen? Es kann schon stimmen, dass manche Leute die Arbeit annehmen, nur um eine Kreuzfahrt mitzumachen. Aber ich sehe da eine gewaltige Arbeit und Verantwortung auf mich zukommen, da muss ich schon auch meine Bedingungen stellen dürfen. Na ja, einen Versuch ist diese Angelegenheit wert, wenn es nichts wird, habe ich eben Pech gehabt. Obwohl, die Reise interessiert mich schon: New York, Washington – das wird man bestimmt besichtigen –, dann die ganze Küste an den Südstaaten entlang, Charleston, Savannah, Cape Canaveral, Miami und Key West mit dem Haus und der Stammkneipe von Hemingway und dann auch noch New Orleans – eine tolle Strecke, und wahrscheinlich wünsche ich mir, dass die von mir betreuten Personen jeden einzelnen Ausflug mitmachen möchten, damit ich das alles auch besichtigen kann.

Das Taxi fuhr vor, und Anne stieg ein. »Zum Hauptbahnhof bitte.« Und dann beschloss sie, gleich eine entsprechende Karte von Amerika zu kaufen, damit sie auf dem Rückweg bereits die Strecke studieren könnte. Und wenn nichts daraus wird, überlegte sie und kaufte trotzdem eine Karte und einen Reiseführer gleich mit dazu.

4

Nach zwei Tagen wurde Anne per Telefon die Anschrift eines Hamburger Vertrauensarztes der Reederei mitgeteilt, der einen Gesundheitscheck durchführen sollte, und nachdem sie den Arzt aufgesucht hatte, bekam sie eine Woche später die Zusage aus Bremen. Sie war als Alten- und Krankenpflegerin auf der ›S. M. Victoria‹ eingestellt. Die Reederei Horneberger erwartete sie am 28. April in Rotterdam, zwei Tage bevor das Schiff am 1. Mai in See stach.

Anne war glücklich und auch überrascht, dass sie, trotz ihrer Einwände und Forderungen, die Arbeit bekommen hatte. In den Papieren wurden ihr ein freier Tag pro Woche und eine freie Stunde pro Tag zugestanden. Sie bekam einen tariflich festgelegten Lohn, die geforderten sozialen Leistungen sowie die gewünschte Versicherung für den Fall irgendwelcher Schadensansprüche betreuter Personen. Sie bestätigte telefonisch den Erhalt der Papiere und ihr pünktliches Eintreffen in Rotterdam. Dann schaute sie auf ihren Kalender und stellte fest, dass sie noch genau vier Tage Zeit hatte, um sich auf die Reise vorzubereiten, das Hotelzimmer zu kündigen, das restliche Geld von der Bank zu holen, um ein paar notwendige Einkäufe zu finanzieren, Daueraufträge zu stornieren und um das Konto aufzulösen.

Ein Blick in den Schrank genügte, um zu wissen, dass sie dringend neue Kleidung und neue Schuhe brauchte. Jahrelang hatte sie auf diese Anschaffungen verzichtet, denn zur Hausarbeit und zur Pflege der Mutter genügten die Kleider, die sie seit Jahren besaß, für eine Schiffsreise aber waren die nicht mehr zu gebrauchen. »Dezent und angemessen« soll ich mich kleiden, hatte dieser Doktor Martin gesagt, also werde ich Röcke in verschiedenen Braun- und Blautönen kaufen und dazu die passenden Blusen, Westen und Jacken. Vor allem aber brauche ich Schuhe, mit denen ich auf den blankpolierten Deckplanken nicht ausrutsche und gleichzeitig kilometerlange Strecken unter Deck auf den Fluren zurücklegen kann. Bequem müssen sie sein, bestens sitzen, nur kleine Absätze sind möglich, und vor allem müssen sie rutschfeste Sohlen haben, überlegte sie. Also, am Geld für die Schuhe kann ich nicht sparen, sie sind lebensnotwendig.

Am nächsten Tag fuhr Anne in die Innenstadt, erledigte ihre Bankgeschäfte am Gänsemarkt und beschloss, die Einkäufe am Jungfernstieg zu tätigen. Sie vermied die teuren Boutiquen und ging in das Modegeschäft, in dem sie, und früher auch die Mutter, schon oft und vorteilhaft eingekauft hatten. Mit dem Schuhkauf war es dann schon schwieriger, da musste sie auf beste Qualität achten, und die hatte ihren Preis. Beladen mit Tüten und Kartons gönnte sich Anne dann aber ein Taxi für den Rückweg.

Am Abend rief sie Daniel in Dubai an, um ihm von der geglückten Einstellung bei der Reederei zu berichten.

»Und dann bist du auf Kreuzfahrt und nicht mehr zu erreichen? Aber Anne, das geht doch nicht. Ich muss doch wissen, wo du bist und wie es dir geht.«

»Ach Daniel, jahrelang haben wir beinahe nebeneinander gewohnt und uns kaum gesehen, warum auf einmal diese Sorgen?«

»Na, hör mal, wir sind doch Freunde, da muss man wissen, was der andere so treibt.«

»Und wer ist hier fortgegangen? Einfach so nach Vorderasien?«

»Ich habe dich gebeten mitzukommen.«

»Du hast mir die Anzeige der Reederei gezeigt.«

»Klar doch, weil ich dir helfen wollte, nachdem du mein Angebot abgelehnt hast.«

»Ich bin dir auf jeden Fall sehr dankbar, wenn ich auch noch nicht weiß, ob mir die Arbeit wirklich gefällt.«

»Die ist bestimmt interessant. Allein die fremden Länder und Kulturen, die du kennenlernst.«

»Ich bin eher auf die Menschen gespannt, die ich treffe. Die Kranken werden kaum Wünsche äußern, aber vor den älteren Passagieren, wenn sie Betreuung brauchen, habe ich Angst.«

»Warum denn das?«

»Sie könnten sehr anspruchsvoll und gleichzeitig sehr eigenwillig sein.«

»Aber wenn sie betreut werden müssen, können sie doch dankbar sein. Du hast ein gutes Händchen für andere Menschen. Du warst schon in der Schule immer der Friedensengel.«

»Jetzt spinnst du aber.«

»Und wer hat die Streitereien geregelt, wenn es um die besten Plätze in der Klasse ging?«

»Ach du meine Güte. Hinten zu sitzen war immer besser als vorne, man musste die vorderen Plätze nur entsprechend loben, dann rissen sich die Kinder darum.«

»Na also, und das mit dem Loben konntest du am besten.«

Anne lachte, »Ja, und deshalb hatten wir immer die hinteren Plätze für uns. Aber jetzt mal im Ernst, wie geht es dir da in Dubai?«

»Du fehlst mir.«

»Ach Unsinn.«

»Ich habe viel zu tun, und wenn ich endlich Feierabend habe, bin ich verdammt einsam.«

»Das wird sich geben. Du lernst bestimmt nach und nach nette Leute kennen, dann bist du nicht mehr allein.«

»Ich habe nicht vom Alleinsein gesprochen, sondern von Einsamkeit. Das ist etwas ganz anderes.«

»Ach Daniel, willst du mir jetzt ein schlechtes Gewissen einreden?«

»Würde ich am liebsten tun. Aber ich will dir die Freude auf die neue Arbeit nicht nehmen. Ist schon gut so, wie es ist. Bist du denn telefonisch oder sonst irgendwie zu erreichen? Wie ist das mit dem Handy?«

»Das weiß ich alles noch nicht. Irgendetwas wird schon möglich sein.«

»Meldest du dich dann auch mal?«

»Ja, versprochen.«

»Höre ich vor deiner Abreise noch einmal von dir?«

»Nein, Daniel. Ich habe nur noch drei Tage für Hamburg, und die brauche ich für die Laufereien zur Post und zum Einwohnermeldeamt – na, du weißt doch, was da so alles nötig ist, wenn man ins Ausland geht.«

»Da hast du recht. Ich drück dir die Daumen, dass alles klappt und keiner dir irgendwelche Schwierigkeiten macht. Kommst du finanziell zurecht?«

»Ich bekomme mein monatliches Gehalt auf dem Schiff ausgezahlt. Hier ist alles beendet und abgemeldet. Ich habe auch sonst keine Verpflichtungen mehr.«

»Das ist beruhigend. Also, meine Liebe, alles, alles Gute und lass von dir hören, sobald du kannst.«

»Versprochen und toi-toi-toi auch für dich. Bis bald.« Anne legte auf. Warum wird Daniel plötzlich so sentimental?, überlegte sie. Hat er Heimweh oder ist er tatsächlich einsam? Das hätte er sich auch früher überlegen können. Dabei war es doch schon immer sein Traum, Brücken in fernen Ländern zu bauen, warum hadert er nun mit den Konsequenzen? Na ja, er wird es überleben. Und wenn er nun plötzlich eine Bindung sucht, dann ist er jetzt bei mir zu spät dran.

*

Zwei Tage später kam Anne in Rotterdam an und ließ sich mit einem Taxi zum Cruise Pier bringen. Stolz, groß und schneeweiß überragte die ›Victoria‹ die Hafenanlagen. Ein schönes Schiff, dachte Anne und bat den Chauffeur, vor der Gangway zu halten. Sie bezahlte ihn großzügig, und er brachte ihr den Koffer bis nach oben zum Eingang.

Ein Steward kam ihr entgegen.

»Verzeihung, gnädige Frau, die Passagiere kommen erst morgen an Bord.«

Anne lächelte ihn fröhlich an. »Ich bin kein Passagier, ich werde hier arbeiten. Können Sie mir zeigen, wo ich den Schiffsarzt finde?«

»Ja, natürlich, aber darf ich zunächst Ihre Papiere sehen?« Und nach der Einsicht in Annes Papiere: »Alles okay, kommen Sie bitte mit.« Er nahm ihren Koffer und führte sie über Flure, Treppen und Gänge, durch Hallen, Passagen und Foyers bis vor die Tür der Krankenstation.

»Bitte, hier ist die Krankenstation.« Dann klopfte er, und als die Tür geöffnet wurde, erklärte er höflich. »Herr Doktor Freiberg, die Dame wollte zu Ihnen.«

»Danke. Bitte kommen Sie herein«, bat der Arzt und öffnete die Türe weit genug, damit der Steward mit dem Koffer hinter Anne die Station betreten konnte.

Anne sah sich kurz um, dann reichte sie dem Arzt die Hand. »Ich bin Anne-Sophie Wedel aus Hamburg. Die Reederei hat mich als Alten- und Krankenpflegerin eingestellt.«

Doktor Freiberg lächelte. »Ich weiß, man hat mich informiert. Dann auf eine gute Zusammenarbeit.«

Er reichte ihr die Hand. »Vielleicht ist es Ihnen am liebsten, wenn ich Ihnen Ihre Kabine zeige, dann können Sie in Ruhe auspacken und sich frisch machen. Die Station werde ich Ihnen dann später zeigen.«

»Danke, das wäre nett, ich habe die halbe Nacht im Zug verbracht.« Sie bedankte sich bei dem Steward, der ihren Koffer getragen hatte, und folgte dem Arzt den Flur entlang.

»Unsere Kabinen liegen sich gegenüber. Hier, das ist Ihr zukünftiges Zuhause.« Der Arzt hielt ihr die Tür auf.

»Danke.« Anne nahm ihren Koffer und betrat den kleinen Raum. Wie erwartet war es eine Innenkabine ohne Fenster, mit einem Ventilator an der Decke und einem Bild an der Wand. Es zeigte wogende Wellen und sollte anscheinend den Blick aus einem Fenster ersetzen. Sie nickte dem Arzt zu. »Zum Schlafen reicht es, danke, dass Sie mich hergebracht haben. Ich packe meine Sachen aus und ziehe mich um. Ist es Ihnen recht, wenn ich in einer Stunde in der Station bin?«

»Natürlich, lassen Sie sich Zeit, noch haben wir keine Kranken an Bord.«

»Danke.«

Anne kontrollierte kurz den Raum. Das Bett war lang und breit genug. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, ein Schrank und ein Nachttisch vervollständigten die Einrichtung. Alle Möbel waren am Boden festgeschraubt. Neben der Kabine gab es einen kleinen Raum mit Dusche, WC und Waschbecken. Alles war sauber und roch nach Reinigungsmitteln.

Sie packte rasch ihren Koffer aus. Wie gut, dass ich knitterfreie Sachen gekauft habe, dachte sie und füllte den kleinen Schrank, stellte das Bild der Mutter auf den Nachttisch und brachte den Kulturbeutel ins Bad. Dann zog sie sich aus und stellte sich unter die Dusche.

Als sie eine Stunde später die Krankenstation betrat, fühlte sie sich ausgeruht und erfrischt.

»Schön, dass Sie da sind. Ist es Ihnen recht, wenn ich Schwester Anne zu Ihnen sage?«

»Gern, wenn Sie wollen?«

»Ja, es vereinfacht die Arbeit, wenn wir welche haben sollten.«

»Zweifeln Sie daran, Doktor Freiberg?«

»Nun, die Menschen kommen an Bord, um sich zu amüsieren und um sich zu erholen. Sie wollen nicht krank sein, das ist schon mal sehr wichtig. Sollte es doch einmal vorkommen, dass wir hier Patienten versorgen müssen, dann sind es meist nur kleinere Wehwehchen. Trotzdem würde ich Sie bitten, dann einen weißen Kittel anzuziehen.«

»Selbstverständlich, obwohl man mir zu einer normalen Kleidung geraten hat. Die Passagiere wollen nicht zeigen, dass sie gepflegt oder betreut werden.«

»Das stimmt, der weiße Kittel wäre auch nur innerhalb der Station notwendig, schon aus hygienischen Gründen.«

»Natürlich.«

»Könnten Sie zur Not bei einer Operation helfen?«

Anne sah ihn etwas erstaunt an. »Ich habe keine OP-Ausbildung, aber ich kann helfen, und wenn ich Blut sehe, wird mir nicht schlecht.«

Der Arzt lächelte und reichte ihr die Hand: »Das ist gut zu wissen, dann auf gute Zusammenarbeit, und ohne Patienten in der Nähe bin ich einfach der Franz.«

Anne schlug ein. »Nett, das zu wissen. Ich bin einfach die Anne.«

»Wollen wir hinaufgehen und einen Begrüßungscocktail nehmen? Der steht allen Neuzugängen zu, und ich könnte Ihnen bei der Gelegenheit die wichtigsten Wege auf dem Schiff zeigen.«

»Gerne.«

»Und anschließend stelle ich Sie dem Kapitän und den Offizieren vor.«

»Sollten wir das nicht lieber vor dem Cocktail machen?«

Franz Freiberg sah sie lachend an. »Da haben Sie wahrscheinlich recht. Also ist die Reihenfolge umgekehrt. Erst die Brücke, dann die Bar.«

5

Auf dem Weg zur Brücke zeigte Franz Freiberg ihr einige der Gesellschaftsräume und Salons, die Restaurants und ein paar Bars, die Festhalle und zwei Theatersäle. Anne war sehr beeindruckt. So groß hatte sie sich das Schiffsinnere nicht vorgestellt. Wie soll ich mich da jemals zurechtfinden, überlegte sie.

Das Schiff hat mindestens sechs Etagen, die nur von Passagieren bewohnt werden. Und dazu dann die Decks mit den Freizeiteinrichtungen, den Sonnenplätzen, Sportanlagen und Fitnessräumen. »Gibt es eigentlich einen Plan von diesem Schiff?«, fragte sie etwas atemlos, denn sie stiegen die letzten Stufen zur Brücke hinauf.

»Selbstverständlich, ich werde Ihnen den Plan besorgen, wenn wir wieder unten sind.«

»So groß habe ich mir das alles nicht vorgestellt. Da brauche ich ja Tage, um all die Einrichtungen kennenzulernen.«

»Na ja«, schmunzelte der Doktor, »wir erwarten eintausendfünfhundert Passagiere, die wollen untergebracht, verpflegt und unterhalten werden.«

»Hat da irgendjemand überhaupt noch einen Überblick?«

»Aber selbstverständlich, ohne Überblick wäre die Reise unmöglich. Wir haben fast so viele Angestellte wie Passagiere, das ist bei diesen Luxusreisen Vorschrift.«

»Ich bin beeindruckt«, keuchte Anne. Sie waren oben angekommen. »Bitte warten Sie einen Augenblick, ich muss erst etwas Luft bekommen.«

Der Arzt nickte verständnisvoll. »Ich weiß, die vielen Treppen haben es in sich. Wer steigt heute noch Treppen hoch, wenn es Lifte gibt. Aber wenn es Sie beruhigt, auch hier auf dem Schiff gibt es zahlreiche Lifte, doch die wollte ich nicht benutzen, dann hätten Sie vom Schiff nichts gesehen außer verglaste Aufzüge.«

»Sie haben recht«, stimmte Anne ihm zu, »und jetzt geht es auch schon wieder.«

Der Arzt öffnete die Tür, und sie betraten die breite, mit Hunderten von Instrumenten ausgestattete Kommandozentrale des Schiffes, in der sich niemand befand. Doktor Freiberg meinte: »Das ist die Seele vom Schiff, das Herz ist tief unter uns im Motorraum.« Er ging weiter und betrat einen kleinen Raum, in dem der Kapitän mit einigen Offizieren und Ingenieuren an einem Tisch saß. Die Herren standen auf, als der Arzt und Anne das Büro betraten.

»Herr Kapitän, meine Herren, darf ich Ihnen Frau Anne-Sophie Wedel vorstellen? Sie wurde von der Reederei als Alten- und Krankenpflegerin für die ›Victoria‹ eingestellt.«

Die Herren nickten, und Kapitän Schulte reichte Anne die Hand. »Herzlich willkommen an Bord. Wir haben morgen früh um acht Uhr, bevor die Passagiere eintreffen, ein Meeting aller für die Betreuung der Passagiere zuständigen Mitarbeiter. Ich werde Sie dann vorstellen.«

Er nickte Anne noch einmal zu und setzte sich wieder. Die Begrüßung war beendet, kurz, höflich und unverbindlich. Anne war leicht enttäuscht, aber was hatte sie auch erwartet? Sie war beinahe ein Niemand in dieser Menschenmasse, und letzten Endes war sie sogar froh darüber, sie wollte nicht auffallen, sie wollte wirklich nur ein kleines Rad in diesem Getriebe sein.

Als sie die Brücke verlassen hatten, erklärte Franz Freiberg vergnügt: »Und jetzt zum Begrüßungsdrink. Danach besorge ich Ihnen einen Schiffsplan, und Sie können selbst auf Entdeckungstour gehen.«

Während Doktor Freiberg für sich einen Cognac bestellte, bat Anne um einen frisch gepressten Orangensaft. Er nickte ihr verständnisvoll zu: »Sehr richtig, bei den vielen Treppen und Kilometern, die Sie noch vor sich haben. Übrigens, heute Nachmittag kommen noch zwei Assistenzärzte und zwei Krankenpflegerinnen an Bord.«

Verständnislos sah Anne den Arzt an. »Und warum dann die Frage, ob ich bei einer OP helfen könnte?«

»Ich wollte nur Ihre Reaktion beobachten. Sie haben fabelhaft reagiert.«

»Danke. Aber so viel Personal für die Krankenstation?«

»Bei eintausendfünfhundert Passagieren und fast tausend Mitarbeitern ist das nötig. Übrigens, wir nennen die Station Hospital. Ich werde, wenn meine anderen Mitarbeiter eingetroffen sind, heute Abend eine Führung durch das Hospital anbieten. Vielleicht möchten Sie auch kommen?«

»Auf jeden Fall, und danke, dass Sie mich aufgeklärt haben.«

»Es war mir ein Vergnügen.« Sie verließen die Bar, der Arzt ließ sich an der oberen Empfangshalle einen Plan des Schiffes geben, wünschte Anne »eine erfolgreiche Orientierungsreise«, zog mit einem Kugelschreiber um die Stelle, an der sich ihre Kabine befand, einen Kringel, nickte ihr noch einmal zu und ließ sie allein. Aber das machte ihr nichts aus. Sie war lieber allein unterwegs, und sie wusste außerdem, dass es von Mitarbeitern auf dem Schiff nur so wimmelte, da konnte sie sich jederzeit erkundigen, wenn sie nicht mehr weiterkam. Gegen Mittag wurde sie von einer Stewardess angesprochen, die sie schon eine ganze Weile beobachtet hatte. »Sie sind neu hier?«

»Ja, heute früh angekommen.«

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Na ja«, lachte Anne, »leicht ist es nicht, sich zurechtzufinden. Aber mit dem Plan geht es einigermaßen.«

»Es ist Mittag, wollen Sie nicht mitkommen, wir essen in einer der Mannschaftskantinen, ich zeige Ihnen den Weg.«

»Das ist nett«, bedankte sich Anne, »mein Butterbrot gestern Abend war das Letzte, was ich gegessen habe.«

»Dann aber schnell, sonst sind Sie der erste Patient hier.« Lachend liefen die beiden Frauen einen langen Gang entlang. »Ich bin Ruth«, rief ihr die junge Frau zu. »Ab morgen bin ich für die obere Lobby zuständig. Und was machen Sie?«

»Ich bin die Anne und soll mich um betagte Passagiere kümmern, die eine Betreuung wünschen.«

»Haben Sie das schon mal gemacht?«

»Betreuung ja, auf dem Schiff noch nicht.«

»Na, da wünsche ich Ihnen viel Glück, die Herrschaften können sehr seltsam sein.«

Anne lachte. »Damit muss ich rechnen.«

Sie hatten den Speisesaal für die Angestellten erreicht. »Da drüben gibt es ein Selbstbedienungsbüfett, es ist sehr zu empfehlen. Wann Sie an den jeweiligen Tagen dran sind, müssen Sie Ihrem Dienstplan entnehmen, die Zeiten sind vorgeschrieben, damit es nicht zum Stau am Büfett kommt.«

»Und den Dienstplan, wo bekomme ich den?«

»Morgen früh beim Meeting.«

»Danke.« Ruth und Anne stellten sich in die Schlange, die vor dem Büfett wartete, und als sie an die Reihe kam, war Anne erstaunt von der Vielfalt der Gerichte, die da angeboten wurden. So gute Sachen habe ich seit Jahren nicht gegessen, dachte sie, und es fiel ihr schwer, sich zwischen kalten und warmen Speisen zu entscheiden. Während des Essens sah Anne sich in dem riesigen Saal um. »Wissen Sie, so groß habe ich mir das alles nicht vorgestellt.«

»Sie meinen diese Kantine?«

»Nein, ich meine das ganze Schiff mit allem Drum und Dran.«

»Sie müssen es als eine Kleinstadt betrachten, mit Geschäften und Friseursalons, mit Wohnungen und Swimmingpools, mit Fitnessräumen und Büchereien, mit Küchen und Kühlräumen und Kinderspielplätzen, mit einem Hospital und einem Casino, mit einem Varieté, einem Theater und einem großen Kino. Mit allem eben, was es in einer Stadt auch gibt.«

»Und da soll sich ein einzelner Mensch zurechtfinden?«

»Ach, so schlimm ist das gar nicht. Irgendwie hat hier jeder seinen festen Platz. Ich denke mal, Sie werden bei den Passagieren der ersten Klasse arbeiten, solche Betreuung ist nämlich nicht ganz billig.«

»Dann werde ich mich heute Nachmittag dort umsehen.«

»Ich zeige Ihnen den Weg, wenn Sie sich das erst einmal alles angesehen haben, wird es für Sie ganz leicht sein, sich dort zurechtzufinden.«

Anne breitete den Schiffsplan auf dem Tisch aus. »Und könnten Sie mir auch noch zeigen, wie ich in meine Kabine komme?«

Ruth besah sich den Plan. »Ja, ich rate Ihnen, über das Promenadendeck, dann am Grillraum vorbei bis zum Swimmingpool zu gehen und dann mit einem der Lifte hinunter zum C-Deck zu fahren. Dann sind Sie im richtigen Gang und finden sich leicht zurecht.«