Ein Haus in Schottland - Christa Canetta - E-Book

Ein Haus in Schottland E-Book

Christa Canetta

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Beschreibung

Marys wildromantischer Weg zum Glück: Die Hamburger Angestellte Mary erbt zu ihrer Überraschung in Schottland ein Häuschen. Dort angekommen, stellt sich die Erbschaft als großes Anwesen heraus. Mary, eine leidenschaftliche Gärtnerin, nimmt die Herausforderung an und findet dort ihre Bestimmung und ihre Liebe.

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Christa Canetta

Ein Haus in Schottland

Roman

LangenMüller

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www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2009 by Edition Tosca in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: Maria Seidel; Thinkstock/istockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8302-3

Prolog

Der Trauergottesdienst in der Nienstedtener Kirche entsprach der Bedeutung des Verstorbenen in der Hansestadt. Der Hamburger Bürgermeister und zahlreiche Senatoren waren gekommen, die Vorsitzenden von Handelskammer und Handwerkskammer waren ebenso anwesend wie zahlreiche Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Kultur. Sie alle ehrten nicht nur den Verstorbenen mit ihrem Erscheinen, sondern bezeugten der Familie ihre ganz besondere Anteilnahme.

Doktor Cornelius Marienthal, zu Lebzeiten hoch geehrt und geachtet, war nicht nur ein Großindustrieller von Rang und Namen, sondern ein Vertreter hanseatischer Traditionen, ein Reeder, Geschäftsmann und Mäzen, dem die Stadt weltweites Ansehen zu verdanken hatte. Er war der Patriarch einer Familie, die in Afrika, Asien und Europa ihre Niederlassungen besaß und Tausenden von Menschen Arbeit und Brot gab. Dabei hatte der Verstorbene stets dafür gesorgt, dass der Gewinn aus den Betrieben nicht nur in die Geschäfte zurückfloss, sondern auch den Bedürftigen unter den Arbeitern zugutekam.

So war es verständlich, dass die kleine Fachwerkkirche an der Elbchaussee nicht nur bis auf den letzten Platz gefüllt war, sondern dass man den Gedenkgottesdienst auch auf die Wiese vor der Kirche übertragen musste, denn auch in Hamburg selbst gab es zahllose Mitarbeiter und Angestellte, die ihrem Chef die letzte Ehre erweisen wollten.

*

Auf Wunsch des Verstorbenen wurde der Gottesdienst sehr schlicht gefeiert. Lediglich die 1751 zur Einweihung der Kirche von Georg Philipp Telemann komponierte Festmusik begleitete die kirchliche Liturgie und die kurzen Ansprachen einiger Gäste. Nach dem Gottesdienst geleiteten nur die engsten Angehörigen den Sarg zur Beisetzung im Mausoleum der Familie auf dem benachbarten Nienstedtener Friedhof. Die geladenen Gäste versammelten sich zu einem Essen im Restaurant Jacob an der Elbchaussee, an dem auch die Familie teilnahm.

Der Tod des vierundachtzigjährigen Patriarchen hatte die Familie nicht überraschend getroffen. Sein Herzleiden hatte sich über drei Jahre hingezogen und allen, den Kindern wie dem Vater, war Zeit geblieben, die Geschäfte und die Vermögensverhältnisse zu regeln. Bereits nach dem Tod seiner Frau Magdalena vor neun Jahren hatte Doktor Cornelius Marienthal damit begonnen, seine erwachsenen Kinder auf ihre Pflichten als Erben vorzubereiten, und bis auf wenige persönliche Regelungen hatte er sein Testament gemeinsam mit seinem Sohn, den beiden Töchtern, den Schwiegersöhnen und seinem Anwalt niedergeschrieben.

So gab es kaum Überraschungen, als Doktor Edwin Treuer, der Anwalt des Patriarchen, die Familie Marienthal sowie einige wenige Mitarbeiter und Angestellte der Geschäftsleitung und der Villa an der Elbchaussee zur Testamentseröffnung in die Kanzlei am Mittelweg berief.

Unter den Angestellten, die zu der Testamentseröffnung geladen waren und mit Leibrenten bedacht wurden, befand sich auch Marie Moorburg, die Gärtnerin. Zur Überraschung aller hatte ihr Cornelius Marienthal Hardinghouse, sein Cottage in den Highlands, vererbt. Ein, wie es schien, kleines Anwesen in Schottland, das niemand kannte und das er vor fast dreißig Jahren erworben hatte, um wenigstens einmal im Jahr, befreit von Verpflichtungen jeglicher Art, seinem Hobby, der Moorhuhnjagd, nachzugehen.

1

Verblüfft und auch erschrocken nahm Marie Moorburg als letzte Aufgerufene den versiegelten Umschlag in Empfang. Sie hatte mit einer kleinen Abfindung gerechnet, denn nach dem Tod des alten Herrn hatte man sie entlassen und eine Gartenbaufirma mit der Pflege des Parks beauftragt.

Was soll ich denn mit einem Cottage in den Highlands, dachte sie. Ich bin jetzt arbeitslos, etwas Geld hätte ich gebrauchen können, aber doch keine Hütte in Schottland. Ich dachte, Herr Marienthal hätte gewusst, dass ich entlassen werde. Die Familie hatte es gar nicht gern gesehen, wenn wir im Park miteinander redeten.

Da Marie das Interesse und die Neugier der anderen Erben spürte, bedankte sie sich höflich bei dem Anwalt, unterschrieb die Empfangspapiere, steckte den Umschlag in ihre Tasche und verließ die Anwaltskanzlei. Die Testamentseröffnung war beendet.

Erst daheim, in ihrem kleinen Haus in Övelgönne, das sie von den Großeltern geerbt hatte, öffnete sie den Umschlag. Er enthielt einen sehr kurzen Brief:

»Liebe Marie Moorburg, ich bitte Sie von ganzem Herzen, mir meinen letzten Wunsch zu erfüllen und mein Cottage in Schottland anzunehmen. Mein Anwalt in Edinburgh wird Sie über alle Einzelheiten informieren. Ich glaube zu wissen, dass Sie sich in Hardinghouse sehr bald heimisch fühlen werden, und ich wüsste keinen Menschen, dem ich mein heimliches Paradies lieber anvertrauen würde. Ich danke Ihnen für die Gespräche, die wir führen durften, und dass Sie immer Zeit für mich hatten.

Ihr Cornelius Marienthal«

Es folgten Anschrift und Telefonnummern des Anwaltes in Edinburgh sowie die Bitte, diese Angaben nicht an die Familie weiterzugeben. Außerdem lag ein Scheck über fünftausend Euro mit dem Vermerk »Reisekosten« in dem Umschlag.

*

Gedankenverloren setzte sich Marie an den Tisch im Wohnzimmer und sah durch das kleine Fenster hinaus in den Vorgarten und auf die Elbe, die ruhig und behäbig ihrer Mündung zustrebte. Hin und wieder glitt ein Schiff vorbei, Containerriesen, dachte sie, nicht mehr die kleinen Frachter, mit denen Großvater noch die Weltmeere befahren hatte. Als Kaphoornier war er einer der angesehensten Kapitäne der Hansestadt und konnte sich eines der kleinen Kapitänshäuser am Övelgönner Elbufer kaufen. Damals wohnten noch viele der Kap-Hoorn-Bezwinger hier unten am Elbufer, überlegte sie, aber die alten Abenteurer sind nun doch fast alle gestorben.

Heute gehört das Häuschen mir, dachte sie dankbar und lächelte dem Porträt des alten Mannes in seiner schmucken Uniform zu. Schön ist es hier, immer, sogar wenn das Hochwasser durch Küche und Wohnzimmer schwappte und die Großmutter weinend den hineingespülten Sand wieder mühsam hinausschippte.

Marie strich lächelnd über die gestickte Decke auf dem Tisch und beschloss, im Vorgarten einen frischen Strauß mit Margeriten und Kaisernelken zu pflücken und vor die Bilder der Großeltern zu stellen. Sie war in diesem Hause aufgewachsen. Hier hatte sie ihre Kindheit und Schulzeit verbracht, von hier aus hatte sie die Förderschule für Gartenbau besucht und sich schließlich für die Ausbildung im Garten- und Landschaftsbau entschieden.

Und dann, während einer praktischen Prüfung im Hirschpark von Blankenese, hatte sie ein alter, fremder Spaziergänger angesprochen und gefragt, ob sie sich einmal seinen eigenen Park anschauen würde. Er hätte den Eindruck, ihre Ideen entsprächen genau den Plänen, die er für seinen Park habe. So hatte sie vor vier Jahren Doktor Cornelius Marienthal kennengelernt, und noch bevor sie ihre Prüfungsurkunde in den Händen hielt, hatte er sie als seine Landschaftsgärtnerin engagiert.

Marie wischte sich eine Träne von der Wange. Sie vermisste die Gespräche mit dem väterlichen Freund, denn einen Vater hatte sie nie kennengelernt. Früher, als Kind, hatte sie die Mutter ein paarmal nach dem Vater gefragt, aber die Mutter, Stewardess auf einem Luxusliner, hatte die Antwort immer hinausgezögert und war auch nur sehr selten in Hamburg, und als Marie zwölf Jahre alt war, hatte sie einen kanadischen Holzhändler in Vancouver geheiratet und den Kontakt nach Hamburg abgebrochen. Und die Großeltern hatten immer nur gesagt, »wir kennen ihn nicht«, wenn sie nach dem Vater fragte.

Und nun war auch dieser väterliche Freund gegangen. Sie dachte daran, wie gern sie sich unterhalten hatten, selbst als er in der letzten Zeit von seinem alten Butler mit dem Rollstuhl durch den Park gefahren werden musste, hatte er sich bei ihr nach dem Gedeihen neuer Sträucher und junger Bäume erkundigt, hatte sie gefragt, ob der letzte Sturm den alten Rosen geschadet habe oder ob der Frost Schäden angerichtet hätte. Immer ging es in den Gesprächen um den Park, um die Pflanzen, um die Vögel, die in den Bäumen nisteten, und um Schäden, die Ratten unten in Ufernähe anrichteten. Trotzdem waren es schöne Gespräche, weil Marie fühlen durfte, dass sie ernst genommen wurde und gern gesehen war. Sie las noch einmal den kurzen Brief, den der Anwalt ihr übergeben hatte. Er ist so typisch für Cornelius Marienthal, sachlich und herzlich, genau wie seine Gespräche, dachte sie.

Im Flur klingelte das Telefon. Sie meldete sich und hörte erstaunt, dass der alte Butler Walther aus der Villa der Marienthals am Apparat war. Erst konnte sie ihn kaum verstehen, weil er so leise sprach, aber als sie ihn bat, etwas lauter zu reden, erklärte er nur: »Ich kann nicht viel sagen, passen Sie auf, die Familie will das Cottage in Schottland.« Und gleich darauf war das Gespräch beendet.

Erschrocken hielt Marie den Hörer noch eine Weile in der Hand. Die Familie will das Cottage, dachte sie verblüfft. Aber keiner kennt es, und der alte Mann will unbedingt, dass ich es nehme. Ich kann mich doch nicht mit den reichen Marienthals streiten, wenn sie jetzt Ansprüche stellen.

Noch einmal las sie den kurzen Brief, dann stand ihr Entschluss fest. Ich fahre nach Schottland. Ich will es wenigstens ansehen. Und wenn es sein großer Wunsch ist, dann behalte ich die kleine Kate im Hochland. Sie sah sich um. Der Abschied von hier wird mir schwerfallen, aber es muss ja nicht für immer sein. Wichtig ist jetzt nur, dass ich hier verschwinde, bevor mir die Familie Marienthal ihren Anspruch ins Haus schickt.

Und noch am selben Nachmittag begann Marie zu packen. Eine Reisetasche, ein Koffer und alle wichtigen Papiere, dachte sie, das muss genügen. Sie fuhr mit dem Bus nach Altona, löste den Scheck ein und dachte: Morgen schau ich mir in aller Ruhe mein Erbe an. Danach kann ich immer noch entscheiden, ob ich in Schottland bleibe oder ob ich mir in Hamburg eine neue Arbeit suche.

Wieder zu Hause, rief sie am Flughafen an, buchte den ersten Flug am nächsten Morgen nach Edinburgh und bestellte ein Taxi für fünf Uhr früh.

Dann ging sie hinüber zu ihren Nachbarn. Die Roses waren ihre besten Freunde, sie versorgten gegenseitig ihre Häuser und ihre Gärten, wenn einer auf Reisen war, und Marie wusste, dass sie ihnen voll vertrauen konnte.

Anne Rose saß auf der Bank vor dem Haus und sah hinüber zu den beleuchteten Hafenanlagen, wo ihr Mann auch heute wieder in der Spätschicht arbeitete. »Hallo, Marie, komm und setz dich zu mir. Wie geht es dir denn? Du hast so traurig ausgesehen in den letzten Tagen, da mochte ich dich gar nicht stören.«

Marie tröstete die Freundin. »Lass nur, mir geht es ganz gut. Ich habe nur so viel zu überlegen, dass ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht.«

»Ja, das kann ich verstehen. Das Wichtigste wird eine neue Arbeit sein. Hast du dich schon umgehört?«

»Nein, heute war ja die Testamentseröffnung, und eigentlich hatte ich mit einer kleinen Abfindung gerechnet, dann hätte ich mir mit der Arbeitssuche Zeit lassen können.«

»Ja, und? Hast du etwas geerbt?«

»Ja, aber keine Abfindung, sondern ein Cottage in Schottland.«

»Meine Güte, was willst du denn mit einem – was ist das, ein Cottage?«

»Ein kleines Häuschen mit einem Garten drum herum.«

»Und das hast du geerbt?«

»Ja. Die Hütte war so etwas wie ein verstecktes Feriendomizil vom alten Herrn Marienthal, aus dem er immer ein Geheimnis gemacht hatte.«

»Warum denn das?«

»Er wollte einmal im Jahr ganz ungestört Ferien machen. Keine Mitarbeiter, keine Familie, kein Telefon – niemand sollte wissen, wo er einen Monat lang war.«

»Und nun schenkt er dir diese Hütte? Das ist wirklich komisch.«

»Ach, komisch ist es vielleicht nicht, wir haben uns immer viel über Gärten und Landschaften und Pflanzen unterhalten, wenn er ab und zu in den Park kam und ich dort arbeitete. Manchmal dachte ich sogar, er ist froh, dass er mit mir über so etwas reden kann. Ich glaube, in der Familie wurde immer nur über Schiffe und Geschäfte gesprochen.«

»Na ja, wenn man so ein bekannter Geschäftsmann ist …«

»Eben, und ich habe mich überhaupt nicht für Geschäfte interessiert.«

»Und was wird nun? Willst du dieses Cottage erben?«

»Ich habe es schon geerbt. Es gehört bereits mir. Ich kann es auch nicht ablehnen, weil er mich in seinem Abschiedsbrief sehr herzlich gebeten hat, das Haus anzunehmen. Er hat mir sogar das Reisegeld gegeben.«

»Na, das ist doch sehr anständig. Und nun?«

»Nun habe ich erfahren, dass die Familie, die sich nie darum gekümmert hat, das Cottage selber haben will. Sein alter Butler hat mich vorhin heimlich angerufen.«

»Na, so was! Können sie dir das denn wegnehmen?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich lass es gar nicht erst darauf ankommen. Ich fliege morgen ganz früh nach Schottland und schau mir alles an.«

»Du meine Güte!«

»Ja, und ich wollte dich nun bitten, auf mein Häuschen hier zu achten. Die Schlüssel hast du ja. Meine Zimmerpflanzen stelle ich alle in den Garten, damit du sie nicht gießen musst, und dann wollte ich dich noch bitten, meine Post anzunehmen, eine Vollmacht gebe ich dir noch. Und wenn etwas von der Familie Marienthal oder von irgendeinem Rechtsanwalt dabei ist, dann öffne bitte die Umschläge und schau nach, was da steht. Ich rufe dich ab und zu mit dem Handy an, dann kannst du mir Bescheid sagen.«

»Kannst du mir nicht deine Adresse geben, dann schicke ich die Sachen nach.«

»Ich habe die Adresse nicht. Die bekomme ich erst von einem Anwalt in Edinburgh.«

»Himmel, wie geheimnisvoll!«

»Ja, der alte Herr wollte wirklich nicht, dass irgendjemand erfuhr, wo er seine Ferien verbrachte.«

»Also, ich finde, das sind wirklich komische Familienverhältnisse, wenn die Kinder nicht wissen, wo der Vater Urlaub macht.« Marie zuckte mit den Schultern. »Sie haben sich eigentlich immer ganz gut verstanden. Ich habe nie etwas von einem Streit gehört.«

»Na, wer weiß, was da so unterirdisch gelaufen ist!«

Marie musste lachen. »Unterirdisch ist gut. Trotzdem, sie waren immer nett zueinander, wenn ich das beobachten konnte. Er wollte einfach einmal im Jahr seine Ruhe haben, so habe ich das verstanden.«

»Na schön, wenn du meinst. Und jetzt wollen sie plötzlich diese Hütte in Schottland. Sonderbar finde ich es schon.«

»Ich auch. Aber vielleicht ist das Stückchen Land, auf dem sie steht, wertvoll, oder allein die Tatsache, sagen zu können, wir besitzen Land in Schottland, beeindruckt doch die Leute. Frag mich nicht, was in den Köpfen von sehr reichen Geschäftsleuten so vor sich geht.«

»Nein, ich frage dich nicht, aber ich denke mal, die können den Hals nicht vollkriegen.«

»Vermutlich hast du recht.«

»Und was wird aus deinem Häuschen hier?«

»Das ist und bleibt mein Zuhause. Ich werde immer hierher zurückkommen.«

»Bleib nicht so lange weg, Marie, du wirst uns fehlen.«

»Ich weiß, ihr werdet mir auch fehlen, grüß Jens von mir, aber erzähle ihm nicht zu viel. Was man nicht weiß, kann man nicht weitersagen.«

»Jens kannst du vertrauen.«

»Natürlich, aber ich weiß nicht, mit welchen Mitteln die Marienthals arbeiten, wenn sie es ernst meinen mit ihrem Protest.«

»Du kannst dich auf uns verlassen. Wir wissen nichts, und wir reden mit keinem Menschen über dich. Wir gießen nur die Blumen in deinem kleinen Garten, das ist alles.«

»Danke, Anne.« Schweigend sahen die beiden jungen Frauen in die Dunkelheit. Vom Hafen herüber waren die Signalhörner einzelner Schiffe zu hören. Jetzt mit der Flut begannen die großen Containerriesen auszulaufen. Stumm, wie riesige Schatten und kaum beleuchtet, glitten sie an Övelgönne vorbei.

Anne stand auf und holte eine Kerze, eine Flasche Rotwein und zwei Gläser aus dem Haus. »Komm, Marie, wir trinken auf dieses Cottage in den Highlands.«

Marie nickte lächelnd. »Mir kommt das alles wie ein Traum vor.«

»Dann trinken wir auf deine schottischen Träume.«

Marie lachte: »Du sagst es: Schottische Träume.«

»Kennst du Schottland überhaupt?«

»Ich war einmal mit einer Studiengruppe dort. Im August, als die Heide in den Highlands blühte, es war wunderschön. Dann haben wir königliche Parks und Gärten besichtigt und zum Schluss das Military Tattoo in Edinburgh. Wir saßen in der obersten Reihe einer riesigen Tribüne, und unter uns war ein fürchterlicher Abgrund. Es war beängstigend und beeindruckend.« Marie lächelte in der Erinnerung und dachte an Tobias, den sie auf dieser Reise kennengelernt hatte.

Als könne sie Gedanken lesen, fragte Anne leise: »Weiß Tobias Bescheid?«

Marie schüttelte den Kopf. »Er ist in Potsdam, sie müssen den Park am alten Schloss umgestalten. Ich rufe ihn an, wenn ich mich in Schottland umgesehen habe.«

»Und wenn er sich bei mir meldet, weil er dich nicht erreicht?«

»Dann sagst du nur, ich sei für ein paar Tage verreist und würde mich bei ihm melden.«

»Na schön, zufrieden wird er mit meiner Antwort nicht sein.«

»Ach, er wird es schon verstehen. In unserem Beruf sind Reisen ab und zu arbeitsbedingt. Und ich rufe ihn ja auch an, sobald ich mir ein Bild von dem Cottage gemacht habe.«

*

Marie dachte an den Freund, den sie in der letzten Zeit kaum gesehen hatte. Nach seinem Studium in Berlin hatte er sich beim Gartenbauamt in Potsdam beworben und war an der Havel geblieben, während sie ihr Zuhause und dann auch ihre Arbeit an der Elbe hatte. Es war lange Zeit bei einer Wochenendbeziehung geblieben, dann hatten sie zwei Urlaubsreisen an die Ostsee gemacht und waren sich nähergekommen. Aber zurzeit gingen sie, berufsbedingt, wieder getrennte Wege.

Ach, Tobias, dachte sie, ich würde gern mit dir reden, aber du bist immer so weit weg, wenn ich dich wirklich einmal brauche. Sie dachte an den fröhlichen, optimistischen, gut aussehenden Mann, den damals alle Studentinnen nett fanden. Er hätte jede haben können, aber mich mochte er vom ersten Augenblick an, das spürt eine Frau. Sie lächelte in Gedanken an die ersten Treffen, die sie miteinander hatten. Mal fuhr sie nach Berlin, mal kam er nach Hamburg, und mit den schnellen ICEs war es kein Problem, einen Tagesausflug einzuplanen. Dann wurden Wochenendausflüge aus den Treffen und dann der erste Urlaub in Travemünde. Schön war das. Sie hatten nicht nur die kleine Stadt und die Umgebung erkundet, sie hatten vor allem sich selbst erkundet. Und was ich gefunden habe, war sehr schön, erinnerte sie sich.

»Woran denkst du, Marie?«

»An meinen ersten Urlaub mit Tobias in Travemünde. Wir sind am Traveufer entlanggegangen, auf dem Wasser fuhren die großen Fährschiffe nach Finnland, am Uferrand watschelten ganze Entenfamilien mit ihrem Nachwuchs hin und her, und neben dem Weg gab es Verkaufsstände, an denen Tobias ständig stehen blieb, um mir etwas zu kaufen. Mal eine Mütze, mal einen schicken Schal, mal einen Cappuccino und meistens auf dem Rückweg ein Eis.«

»Schöne Erinnerungen. Und wie geht es nun weiter mit euch? So ein Abstand auf Dauer kann der Beziehung schaden.«

»Ja, ich weiß. Da hilft nur gegenseitiges Vertrauen.«

»Und, habt ihr das?«

»Ich weiß nicht, vielleicht kennen wir uns noch nicht lange genug?«

»Also, Marie, ich finde, es ist da oder es ist nicht da.«

»So kann man erst reden, wenn man sich richtig lange und gut kennt.«

»Und das ist bei euch noch nicht der Fall?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich warte ab, wie sich alles entwickelt. Und jetzt reise ich erst einmal nach Schottland, und danach sehen wir weiter.«

Sie stand auf. »Danke, Anne, für den Wein und fürs Zuhören und, vor allem, für das Vertrauen, das ich zu dir haben darf. Gute Nacht, du hörst von mir.«

Und dann rief sie den Freund doch noch an. Vielleicht hat Anne wirklich recht und ich muss mich mehr um diese Freundschaft kümmern. Andere Mütter haben auch nette Töchter, und Tobias ist täglich mit solchen zusammen. Und während das Telefon im entfernten Potsdam klingelte, dachte sie: Freundschaften müssen gepflegt werden, auch wenn es spätabends ist. Und dann nahm Tobias den Hörer ab, und Marie meldete sich. »Entschuldige die späte Störung.«

»Macht nichts, Marie, wir sitzen hier sowieso noch zusammen und diskutieren.«

»Jetzt noch?«

»Ja, wir haben ein Problem in den Rosengärten unterhalb von der Orangerie.«

»Bei den alten englischen Rosensorten?«

»Ja, die Blattläuse haben den warmen Winter gut überstanden und fressen uns jetzt die Rosen weg.«

»Und was macht ihr dagegen?«

»Na ja, wir wollen die chemische Keule natürlich vermeiden. Nun haben wir Unkraut eingeweicht, Ackerschachtelhalm und Brennnesseln, und spritzen mit der Lauge. Aber es bringt nichts.«

»Dann müsst ihr eine Marienkäferaufzuchtstation einrichten, die roten Glücksbringer sind ganz verrückt nach fetten Blattläusen.«

»Eine Marienkäferaufzuchtstation?« Im Hintergrund hörte Marie schallendes Gelächter, und Frauenstimmen waren auch dabei.

»Und wie macht man das?«, fragte Tobias lachend.

»Tja, da müsstest du einen Biologen fragen«, antwortete Marie reserviert. Dann sagte sie »Tschüss und gute Nacht« und hatte ganz vergessen, Tobias von der Erbschaft zu erzählen.

2

Der Streit begann bereits in der Anwaltskanzlei am Mittelweg.

Die mit einem Erbe versehenen Angestellten und Mitarbeiter hatten das Büro verlassen, als Doktor Nicolas Marienthal, ältester Sohn und jetzt Familienoberhaupt, stimmgewaltig und entrüstet protestierte. »Wie können Sie eine so entscheidende Erbschaft hinter unserem Rücken für eine Gärtnerin bereithalten? Grundstücke, Häuser, Liegenschaften gehören in den Familienbesitz und nicht in fremde Hände, Doktor Treuer.«

»Ich habe mich nach den Wünschen Ihres verstorbenen Herrn Vaters gerichtet, der ganz ausdrücklich bestimmte, Hardinghouse an die Gärtnerin Marie Moorburg zu übergeben.«

»Unsinn. Als er das bestimmte, war er nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.«

»Doktor Cornelius Marienthal war bis zu seinem letzten Atemzug im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Als er Hardinghouse an Frau Moorburg überschrieb, war zur Rechtssicherheit mein Kompagnon Doktor Tietze anwesend, der die Richtigkeit der Erblassung bestätigen musste. Ihr Herr Vater hat genau gewusst, was er machte.«

»Wir fechten diese Erbschaft an. Sie ist regelwidrig und falsch.«

»Die letzten Wünsche des Verstorbenen sind rechtsgültig, dokumentiert und nicht anfechtbar, Doktor Marienthal. Ihr Herr Vater hat sich nach allen Seiten hin sehr sorgfältig abgesichert.«

»Ich verstehe nicht, was an diesem Hardinghouse so bedeutungsvoll ist«, mischte sich Vivienne Speen, älteste Tochter von Cornelius Marienthal, in den Streit. »Ob wir nun so ein Cottage in den Highlands haben oder nicht, mich interessiert das nicht. Wir leben in Hongkong, das ist weit genug weg von Erbschaftsfragen und Protesten.«

»Red nicht so unbedacht daher. Du hast Kinder, du weißt doch gar nicht, ob sie nicht eines Tages mit Begeisterung in den Highlands leben wollen.«

»Ich finde auch, Nicolas hat recht. Häuser und Liegenschaften gehören in den Familienbesitz«, meldete sich nun auch Caroline Herrnberger, die jüngste Tochter im Hause Marienthal zu Wort.

»Ach was«, winkte Vivienne ab. »Du hast dein Haus, dein Weingut, deine Farm und deine neue Heimat in Südafrika, was willst du mit einem Bauernhaus in Schottland, wenn du in Kapstadt lebst.«

*

An der Bürotür klopfte es. Auf das »Herein« betrat eine Mitarbeiterin der Anwaltskanzlei das Büro und übergab dem Anwalt ein Billett. Doktor Treuer räusperte sich. »Meine Damen, meine Herren«, wobei er auch die Schwiegersöhne des Verstorbenen ansah, die sich bisher nicht in den Streit eingemischt hatten, »bitte beenden Sie den Streit oder führen Sie ihn zu Hause fort, ich muss mich zu einem Gerichtstermin fertig machen. Aber ich hoffe, Sie verstehen und respektieren die Wünsche Ihres verstorbenen Herrn Vaters und ersparen dieser Marie Moorburg einen für Sie aussichtslosen Kampf um ein kleines Anwesen, von dem kein Mensch weiß, ob es sich überhaupt lohnt, um seinen Besitz zu streiten.«

Die Mitarbeiterin öffnete die Flügeltür, und die Familie verließ die Kanzlei, verstimmt, erzürnt und fest entschlossen, Hardinghouse nicht einfach dieser Gärtnerin zu überlassen. Verdammt noch mal, wenn man wenigstens eine Adresse hätte, dann wäre alles leichter, dachte Nicolas und stieg wütend in seinen Bentley. Renate wird mir die Hölle heißmachen, wenn sie davon hört. »Fahren Sie los«, befahl er dem Chauffeur, lehnte sich in den Fond zurück und dachte an seine resolute Frau, die derzeit in einer Rehaklinik ihre frisch operierte Hüfte auskurierte.

Da hat man nun gedacht, alles sei bestens geregelt, und dann dieser Fauxpas, dachte er äußerst verärgert. Ich werde diese Erbschaft auf jeden Fall anfechten, schon aus Prinzip! Und als Erstes werde ich herausfinden, um was für ein Anwesen sich das überhaupt handelt. Von Doktor Treuer ist nichts zu erfahren, aber die Gärtnerin wird wissen, was sich hinter diesem Cottage in den Highlands verbirgt. Und vor allem, wo es zu finden ist. Nicht umsonst hat sie sich an Vater herangemacht. Zum Schluss ließ er sich fast jeden Tag in den Park fahren, um mit ihr zu reden. Wer weiß, was die da alles besprochen haben. Der Renate kam das schon lange höchst bedenklich vor.

Er nahm das Autotelefon aus der Station und rief zu Hause an. »Walther, wir sind in zehn Minuten in der Villa. Sorgen Sie dafür, dass das Essen pünktlich serviert wird.«

»Jawohl, Herr Doktor.«

Der alte Butler war auch so ein Nachlass des Vaters. Er hat ihn mit einer ansehnlichen Leibrente bedacht, jetzt sollte er sich zurückziehen und nach England gehen. Wir brauchen junge, dynamische Leute, überlegte Nicolas Marienthal und dachte nicht daran, dass er mit seinen vierundfünfzig Jahren bereits selbst zur »älteren Generation« gehörte. Man ist so alt, wie man sich fühlt, und ich könnte vom Kopf her noch immer Bäume ausreißen. Von den sportlichen Betätigungen ist zwar nur noch das Golfen übrig geblieben, aber bei mir kommt es auf den Kopf an und nicht auf den Körper. Dennoch war er stolz, wenn man ihn mit dem Vater verglich und als das Ebenbild des alten Herrn bezeichnete.

Der Wagen fuhr über den Gorch-Fock-Wall und über den Holstenwall bis hinunter zur Hafenstraße, dann hinauf zur Palmaille und dann weiter zur Elbchaussee. In den Gärten und in den Parks blühten die Kastanien, der Rhododendron, der Flieder und der Goldregen. Es war die schönste Jahreszeit in Hamburg, aber dafür hatte Doktor Nicolas Marienthal heute keinen Blick.

Er sah im Rückspiegel, dass der Geschäftswagen mit seinen Schwestern und deren Männern dicht hinter ihm fuhr. Die haben gut reden, dachte er verdrossen, die setzen sich morgen in ihre Maschinen und fliegen nach Hause, die eine nach Süden, die andere nach Osten. Die interessiert unser kleines Europa dann überhaupt nicht mehr.

In der Villa angekommen, traf sich die Familie zu einem späten Dinner. Die Damen hatten sich frisch gemacht und die Herren einen ersten Cognac getrunken. Dann versammelten sich alle um den Tisch. Während des Essens wurden keine Diskussionen geführt, das hatte der Vater so bestimmt, denn die Familienrunde bei Tisch war ihm heilig. Zu selten waren sie alle zusammen um den Tisch vereint. Und noch galten Vaters Bestimmungen im Hause Marienthal.

»Wie soll es nun weitergehen?«, fragte Caroline und ließ sich nach dem Essen einen Espresso servieren. »Viel Zeit zum Überlegen haben wir nicht mehr.«

Vivienne schüttelte den Kopf. »Lasst doch den Streit. Vater hat ein gutes Testament gemacht. Wir haben es mit ihm abgesprochen, und er hat sich daran gehalten. Wir können alle zufrieden sein, wir sind weiß Gott nicht schlecht bei der Aufteilung bedacht worden.«

»Bis auf Hardinghouse«, unterbrach Caroline die ältere Schwester. »Wer weiß, was dahintersteckt.«

»Vater war sein ganzes Leben lang ein bescheidener Mann. Moorhuhnjagd, wenn ich überlege, das war sein einziges Hobby. Er hat mir immer von den stillen Hügeln in Schottland erzählt, von der Farbenpracht, wenn die Heide blühte, und von dem See, auf dem er manchmal mit einem Kahn unterwegs war, um ein paar Fische zu fangen. Vater hätte die schicksten Jachten haben können, die weitesten Reisen machen können, es gab einfach nichts, was er sich nicht hätte leisten können. Und was wollte er wirklich? Ein Paar Gummistiefel, einen Regenumhang und ein Gewehr, und das fast dreißig Jahre lang. Also hört auf mit dem Gerede, Hardinghouse ist ein kleines Cottage mitten im Hochland und sonst nichts.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe.«

»Und wie willst du es finden?«

»Es gibt Detektive für solche Aufgaben. Und als Erstes wechsle ich den Anwalt. Dieser Doktor Treuer war gut für den Vater, jetzt fühle ich mich von ihm im Stich gelassen. Ich habe einen alten Studienfreund, den wollte ich schon lange als zweiten persönlichen Rechtsberater hinzuziehen, aber Vater zuliebe habe ich es unterlassen. Jetzt sehen wir, wohin uns das gebracht hat.«

»Blödsinn, Nicolas. Doktor Treuer hat uns immer gut beraten, und auch jetzt hat er nur Vaters Wünsche respektiert.«

»Ja, zu unserem Nachteil«, protestierte Caroline. »Er war unfair, und das müssen wir nicht akzeptieren. Ich bin auch dafür, dass wir einen neuen Anwalt hinzuziehen.«

Heinrich Herrnberger wollte seine Frau beruhigen. »Liebling, wir haben zu Hause jede Menge Hütten in den Weinbergen und auf den Farmen, warum sollen wir einer Gärtnerin ein kleines Cottage vorenthalten?«

»Weil es sich nicht gehört, hinter unserem Rücken, und nachdem wir alles besprochen hatten, das Testament zu ändern.«

»Aber von einer Änderung ist doch gar keine Rede«, mischte sich Vivienne ein. »Es gab halt noch einen Zusatz, den Vater geheim gehalten hat, und das ist alles.«

»Nein, das ist irgendwie Betrug, und den lassen wir uns nicht gefallen. Nicolas, ich bin ganz auf deiner Seite. Vielleicht wollen meine Kinder auch eines Tages Moorhühner jagen, und dann könnten sie so ein Cottage sehr gut gebrauchen.«

»Himmel, Caroline, deine Kinder sind fünfzehn und dreizehn Jahre alt, und sie leben in Hongkong, wie sollen sie denn auf die Idee kommen, in Schottland Moorhühner zu jagen?«

»Wer weiß, vielleicht steckt es in den Genen?«

»So ein Blödsinn.«

»Hört doch auf mit dem Streit«, mischte sich Viviennes Mann ein. Markus Speen war ein ruhiger, besonnener Mann, der den Frieden liebte, vor allem den Frieden in der eigenen Familie.

»Wir haben nur noch ein paar Stunden miteinander, die sollten wir in Ruhe genießen, uns über unsere Kinder, über Zukunftsaussichten und meinetwegen auch über Geschäfte unterhalten, aber doch nicht über eine Hütte in den schottischen Bergen. Wer weiß, wann wir mal wieder alle zusammen sind. Ich habe unser Zusammensein trotz des traurigen Anlasses sehr genossen, jetzt bringt dieser Streit nur Unruhe und Unfrieden in die letzten Stunden.«

Nicolas Marienthal nickte und stand auf. »Markus hat recht. Schluss jetzt. Aber wenn ihr fort seid, kümmere ich mich um diese Hütte. Das verspreche ich.«

Es war genau jener Augenblick, an dem Walther, der alte Butler, Marie Moorburg anrief.

Am nächsten Tag wirkte die Villa an der Elbchaussee sehr verlassen.

Vivienne war mit ihrem Mann und den drei Kindern auf dem Rückflug nach Hongkong, sie wollten nicht länger als nötig in Hamburg bleiben, denn Moritz, der älteste Sohn, hatte gerade mit dem Jurastudium begonnen, Markus, der zweite, steckte mitten im Abitur, und Melanie, eine begeisterte Reiterin, fieberte den großen, anstehenden Turnieren in China entgegen.

Auch Caroline war mit der Familie am Nachmittag von Hamburg aus über Frankfurt nach Kapstadt gestartet. Ihre beiden Kinder wären zwar gern noch in Hamburg geblieben, aber die Hauslehrer und Erzieher erwarteten sie, und Caroline wollte vermeiden, dass die sich im Hause zu sehr als die eigentlichen Herrschaften den schwarzafrikanischen Angestellten gegenüber aufspielten. Die Rassenfrage war noch immer ein sehr heikles Thema und musste mit viel Verständnis und Vertrauen behandelt werden.

*

Nicolas Marienthal hatte sich bereits sehr früh am Morgen von seinen Geschwistern verabschiedet, die Villa verlassen und war in die neue Geschäftszentrale in der Hafencity gefahren. Eigentlich war der Patriarch gegen den Neubau am Hafen gewesen und hätte das Firmenzentrum lieber in der City Nord behalten, Nicolas aber war der Meinung, das Hauptgebäude müsse in dem Neubaugebiet direkt am Hafen liegen, und hatte seinen Willen durchgesetzt. Immerhin war der neue Glaspalast mit seinen elf Stockwerken ein Prestigeobjekt für das ganze Unternehmen und wurde von allen Geschäftspartnern als Mittelpunkt des Konzerns anerkannt.

Eine vorbildliche Führung ist das A und O einer erfolgreichen Firma, sinnierte er, blinzelte in die aufgehende Sonne über dem Hafen und dachte: Eine erfolgreiche Führung beginnt mit einem pünktlichen Erscheinen am Morgen und setzt sich bis zu den Überstunden am Abend fort, die für mich längst selbstverständlich geworden sind.

*

Der Bentley hielt pünktlich vor dem Geschäftshaus am Sandtorkai. Nicolas stieg aus, bedankte sich wie immer bei dem Chauffeur für die pünktliche Fahrt, ging ins Foyer und betrat den Lift. Als er oben in der elften Etage ausstieg, läuteten die Glocken von der nahe gelegenen St.-Katharinen-Kirche achtmal. Wie an jedem Morgen standen neue Blumen auf seinem Schreibtisch und ein Tablett mit frisch aufgebrühtem Kaffee, Sahne und Zucker. Frau Wellingstedt wusste, wie er den Kaffee mochte und dass sie ihn in der ersten halben Stunde nicht stören durfte.

Er hatte die Chefsekretärin von seinem Vater übernommen, wie überhaupt alles in der Firma und zu Hause. Renate war damit eigentlich nicht einverstanden, sie war der Ansicht, er müsste mehr Selbstbewusstsein und mehr Eigenständigkeit in der Firma zeigen, damit man wüsste, wer der Chef im Hause sei. Aber Nicolas lehnte dieses überhebliche und großspurige Anliegen seiner Frau ab. Die Firma ist unter der Regie des Vaters gewachsen, und zwar hervorragend, und ich selbst bin in seine Aufgaben mit hineingewachsen. Warum soll ich etwas ändern? Ich bin der Chef, das wissen alle, und der Erfolg der Firma beweist, dass ich meine Arbeit gut mache. Immerhin ist der Vater schon vor zwei Jahren aus der aktuellen Arbeit ausgestiegen und hat mir vertrauensvoll die Geschäfte übergeben. Nein, an der Firma werde ich nichts ändern, nur die Sache mit dem Cottage muss revidiert werden.

Und als die halbe Stunde vorbei war, bat er Frau Wellingstedt: »Bitte verbinden Sie mich mit Doktor Harald Baumeister.«

3

Die Maschine der Fluggesellschaft British Airways landete bereits kurz vor zehn in Edinburgh. Marie holte ihren Koffer vom Gepäckband, folgte den Hinweisschildern zum Taxistand und gab dem Fahrer die Anschrift von Doktor Manores. Sie hatte von Hamburg aus in der Kanzlei angerufen und sich angemeldet und wurde jetzt von einer Mitarbeiterin freundlich und mit einer Tasse Tee empfangen.

Der Anwalt, ein älterer, korpulenter Herr mit hoher Stirn und leicht ergrautem Backenbart, begrüßte sie wenig später und bat sie in sein Büro.

»Sie werden verstehen, Miss Moorburg, dass ich mich zuerst von Ihrer Identität überzeugen muss.«

»Selbstverständlich.« Marie reichte ihm ihren Reisepass und die Unterlagen, die ihr Doktor Treuer gegeben hatte. Der Anwalt studierte die Papiere und reichte sie ihr dann zurück. »Danke, aber alles muss seine Ordnung haben«, lächelte er beruhigend und entnahm seinem Schreibtisch eine Mappe mit Papieren. »Sie haben also Hardinghouse geerbt. Ich gratuliere Ihnen, es ist ein schönes Anwesen, und Sie werden Ihre Freude an dem Besitz haben. Es sei denn, Sie mögen die Einsamkeit nicht, die Doktor Marienthal gerade so besonders liebte.«

»Wenn man aus einer Großstadt wie Hamburg kommt, sehnt man sich oft nach der Stille des Landes. Ich werde versuchen, ob ich sie auf die Dauer ertragen kann.«

»Ganz allein sind Sie natürlich nicht. Zu Hardinghouse gehört ein Wirtschaftshof mit Viehbestand und ziemlich viel Land. Der Bauer, der dort mit seiner Familie lebt, versorgt Hardinghouse mit frischen Lebensmitteln, wenn jemand dort wohnt, im Übrigen rechnet er die Erträge und die Ausgaben mit mir ab. Diese Verrechnungen können Sie natürlich später selbst einmal übernehmen.«

»Nein, nein, danke, ich verstehe zu wenig von Landwirtschaft und ihren Erträgen, belassen wir es doch bitte erst einmal so, wie es ist.«

»Gut, wie Sie wünschen. Sie bekommen dann die Abrechnungen immer am Ende des Jahres. Im Laufe der letzten beiden Jahre, in denen Doktor Marienthal nicht mehr herkommen konnte, hat sich ein ansehnlicher Betrag angesammelt, der Ihnen zur Verfügung steht, allerdings müssen Sie auch immer auf die Anschaffungen Rücksicht nehmen, die der Bauer für nötig hält. Neues Vieh für die Zucht, modernere Maschinen für die Landwirtschaft, Reparaturen in oder an den Häusern, irgendetwas muss immer erneuert werden bei so einem Anwesen.« Er hob beschwichtigend die Hände: »Aber keine Sorge, die Einnahmen waren immer größer als die Ausgaben, weil der Bauer ein bekannter Züchter ist und einen anerkannten Viehbestand hat. Das englische Königshaus hat zwei Pferde bei ihm gekauft, ein Rennpferd und ein Vielseitigkeitspferd, seitdem nennt er sich heimlich Hoflieferant«, lächelte Doktor Manores, »aber es spricht sich herum, und die Züchter schätzen ihn.«

Marie nickte. »Ich will daran so wenig wie möglich ändern. Ich bin von diesem Erbe völlig überrascht worden und muss nun erst einmal sehen, um was es sich handelt und wie ich damit umgehen kann, das müssen Sie verstehen.«

»Selbstverständlich, aber ich kann Ihnen garantieren, dass es Ihnen gefallen wird, und mit der Zeit wächst man sogar in neue Aufgaben hinein.«

»Danke für Ihr Verständnis. Und wie geht es nun weiter?«

»Ich möchte ein Konto für Sie eröffnen, damit ich die Einnahmen in Zukunft an Sie weiterleiten kann, dazu müssten wir noch heute die New Scotland Bank in der Royal Road aufsuchen, denn Sie müssen dort persönlich erscheinen und die entsprechenden Papiere unterschreiben. Dann würde ich Ihnen raten, hier in der Stadt zu übernachten und morgen früh die Fahrt nach Hardinghouse anzutreten.«

»Kann ich es mit der Bahn oder zur Not auch mit einem Bus erreichen?«

»Sie könnten bis Stirling mit der Bahn fahren, dort aber sollten Sie schon ein Auto für die Weiterreise mieten.«

»Dann ziehe ich es vor, hier das Auto zu mieten und die ganze Strecke selbst zu fahren. Wie lange werde ich brauchen?«

»Vier bis fünf Stunden. Die kleinen Landstraßen zum Schluss sind keine Rennstrecken.«

Marie lachte: »Ich habe nicht vor, Rennen zu fahren, ich muss mich erst an den Linksverkehr gewöhnen, so eine Umstellung kostet ihre Zeit. Außerdem habe ich es nicht eilig.«

»Ich habe eine Karte mit den entsprechenden Straßen für Sie vorbereitet.« Er zeigte ihr die Karte und erklärte: »Sie fahren Richtung Stirling, von Callander aus dann über die A 81 nach Süden in Richtung Loch Lomond und kommen nach Aberfoyle. Dort beginnt die Landstraße, an der nur noch Wegweiser zum Ufer des Loch Ard zeigen. Hardinghouse liegt an dem südlichen Teil des Sees. Es hört sich kompliziert an, ist es aber nicht. Ich bin vor wenigen Tagen diese Strecke gefahren.«

»Dann kennen Sie Hardinghouse?«

»Selbstverständlich, ich habe Mister Marienthal mehrmals dorthin begleitet und musste jetzt dem Landwirt die veränderten Verhältnisse erklären.«

»Und was hat er gesagt?«

»Nicht viel. Er weiß, dass er sich den Erbschaftsbestimmungen beugen muss.«

»Dann war er nicht begeistert?«

»Er ist es gewohnt, selbstständig zu arbeiten, es wird darauf ankommen, ob Sie etwas ändern.«

»Ich habe nicht vor, irgendetwas zu ändern, aber ich muss wissen, woran ich bin.«

»Selbstverständlich.«

»Er weiß also, wer ich bin.«

»Nein, natürlich nicht, ich kannte Sie ja bis heute Morgen, als Ihr Anruf kam, auch nicht.«

»Ich werde ihn in seiner Arbeit bestimmt nicht stören.«

»Die Browners bewirtschaften den Hof schon in der dritten Generation, aber es war immer ein jämmerlicher Betrieb, der kaum die Familie ernähren konnte. Aber dann kam der Doktor und hat den Hof großzügig finanziert, und jetzt wirft er Gewinne ab, die beträchtlich sind, obwohl viel Geld aus den Einnahmen in den Betrieb zurückfließt.«

»So hat es Doktor Marienthal auch mit seinen Fabriken und den anderen Liegenschaften gehalten. Der Überfluss ging zum großen Teil in neue Investitionen, nur so, meinte er, kann eine Firma wachsen.«

»Sie kannten den alten Herrn gut?«

»Wir hatten gemeinsame Ideen und Gedanken, aber nur was Pflanzen und Parkanlagen betraf, aber vieles lässt sich eben auch auf andere Bereiche übertragen.«

»So ist es. Doktor Marienthal war ein weitsichtiger Mann.« »Deshalb werde ich auch erst einmal nichts ändern, was Hardinghouse betrifft. Ich muss es ja auch erst einmal kennenlernen, bevor ich mich entscheide, das Erbe grundsätzlich anzunehmen.«

»Sobald Sie sich entschieden haben, bitte ich Sie, mich anzurufen. Ich komme dann mit den letzten endgültigen Unterlagen nach Hardinghouse, um sie Ihnen zu übergeben.«

»Gibt es noch mehr Unterlagen?«

»Ja, aber die darf ich erst aus der Hand geben, wenn Sie sich entschieden haben.«

»Und wenn ich das Erbe ablehne?«

»Dann geht es in den Besitz der Familie Marienthal über. Was der alte Herr allerdings vermeiden wollte.«

»Ich muss mir Hardinghouse ansehen. Nur um einem alten Herrn einen Gefallen zu tun, kann ich nicht mein ganzes Leben umkrempeln.«

»Das verstehe ich natürlich. Aber wenn es Ihnen recht ist, sollten wir jetzt zur Bank fahren, sie ist über Mittag geschlossen. Anschließend darf ich Sie zum Essen einladen?«

»Danke, gern.«

*

Die Bankgeschäfte waren schnell erledigt. Marie legte ihre Papiere vor, Doktor Manores bestätigte ihre Identität, sie bekam ihr Konto eingerichtet, das Geld wurde auf dieses Konto überschrieben, und sie war angenehm überrascht von der Höhe der Eingänge, die ihr nun zur Verfügung standen. Abschließend übergab ihr der Banker eine Scheckkarte und einen Blumenstrauß.

Überrascht bedankte sich Marie. Aber der Mitarbeiter lächelte sie höflich an und erklärte: »Das ist unser übliches Dankeschön, wenn wir eine neue Kundin begrüßen dürfen.«

Während des Essens erklärte ihr Doktor Manores die Straßenverhältnisse, erzählte ein paar Geschichten über die Gegend und die Menschen und empfahl ihr eine Verleihfirma für Geländewagen. »Ich rate Ihnen auf jeden Fall zu einem Wagen mit Allradantrieb, mit dem Sie auch über die Hügel Ihres Anwesens fahren können, wo es dann keine Straßen oder Wege mehr gibt.«

»Aber ich bitte Sie, Doktor Manores«, lachte Marie, »ich rechne mit einem Blumengarten rund ums Haus, da brauche ich doch kein Auto, um den zu erkunden.«

»Ich glaube, Miss Moorburg, von der Größe des Anwesens haben Sie etwas falsche Einschätzungen. Das Land ist dort kaum besiedelt, es ist reines Weideland, und in den Hügeln spielen ein paar Kilometer mehr oder weniger kaum eine Rolle.«

»Sie überraschen mich immer wieder, Doktor Manores, mit wie viel Land muss ich denn da rechnen?«

»Ich kann es Ihnen nicht genau sagen, Miss Moorburg, ich weiß nur, dass Mister Marienthal, wann immer er konnte, Land dazugekauft hat. Die letzten gültigen Eintragungen vom Landvermessungsamt liegen bei den Papieren in meinem Büro. Aber der Bauer kennt sich dort draußen genau aus, er kann Ihnen die Grenzen zeigen.«

»Wie heißt er eigentlich, dieser Bauer?«

»Es handelt sich um die Familie Browner, Paul und Belinda sind die Eltern, dann gibt es da drei Söhne und die Großmutter, die Namen sind mir aber nicht geläufig.«

»Danke«, sagte Marie höflich, »ich würde mir so schnell auch nicht alle merken können.«

»Ja, und dann ist da natürlich noch Miss Lizzy, sie ist so etwas wie eine Lebensgefährtin, Verzeihung, sie war so etwas wie eine Lebensgefährtin für Mister Marienthal. Sie ist leider etwas anmaßend, aber Sie werden schon mit ihr zurechtkommen.«

»Warum ist sie noch dort?«

»Ich weiß es nicht genau, aber sie scheint eine Art Wohnrecht auf Lebenszeit da zu haben.«

»Bei dem Bauern?«

»Nein, in Hardinghouse, aber so ganz genau bin ich da nicht informiert.«

»Dann wohnt sie in dem Cottage, das ich geerbt habe?«

»Ich denke, das müssten Sie klären, wenn Sie dort sind.«

»Geht das nicht aus den hinterlegten Papieren hervor?«

»Ich habe nichts darüber gefunden, und Mister Marienthal hat auch nie mit mir über diese Dame gesprochen.«

»Das wäre aber sehr unangenehm, wenn ich dort hinkomme und das mir vererbte Haus wird von einer fremden, anmaßenden Dame bewohnt.«

»Ich denke, Sie werden das regeln.«

Marie sah den Anwalt zweifelnd an. »Sie wird irgendwelche Rechte beanspruchen. Ich habe eigentlich keinen Bedarf an einem Streit über das Wohnrecht einer fremden Frau in meinem Haus.«

»Schauen Sie sich doch erst einmal alles an.«

»Nur ungern.« Marie wusste, dass ihr vermutlich nichts anderes übrig blieb, als nach Hardinghouse zu fahren und an Ort und Stelle nach dem Rechten zu sehen. Der Anwalt schien kein Interesse an der Klärung dieses seltsamen Wohnverhältnisses zu haben, und von hier aus konnte sie sowieso nichts ändern. Aber seltsam und unzumutbar kam ihr die ganze Angelegenheit schon vor.

*

Marie entschloss sich, am nächsten Morgen in einem ihr vom Hotel empfohlenen Leasing-Car-House einen Range Rover zu mieten. Wenn sie schon so belastet nach Hardinghouse fahren musste, dann wollte sie wenigstens einen sicheren Wagen zur Verfügung haben. Sie ließ sich in die Besonderheiten der Fahrtechnik einweisen, machte einige Proberunden auf einem Trainingsplatz des Autohauses, kaufte zusätzlich noch zwei Reservekanister mit Treibstoff und machte sich um zehn Uhr auf den Weg nach Stirling. Da das Autohaus am Rande der Stadt lag, kam sie sehr schnell auf den Highway, und als sie die letzten Vorstädte Edinburghs hinter sich gelassen hatte, begann sie die Fahrt zu genießen. Das Wetter war schön, am blauen Himmel zogen einige weiße Quellwolken vorüber, und Marie öffnete das Verdeck. Hinter Stirling, als die Straßen sich teilten, beruhigte sich der Verkehr. Die sanften Hügel wuchsen zu dicht bewaldeten Bergen zusammen, und von Callander aus führte die Straße an den Menteith Hills entlang nach Westen.

Marie umfuhr Aberfoyle und verließ kurz danach die B 829, um einem schlichten Wegweiser aus Holz zum Loch Ard zu folgen. Die Straße verwandelte sich in einen Sandweg und etwas später in einen Feldweg, der quer über hügelige Wiesen führte. Überall hatte der Frühling gerade erst Einzug gehalten. Auf einigen Weiden grasten zottelige braune Hochlandrinder mit langen spitzen Hörnern, und Marie hoffte, ihnen nicht direkt begegnen zu müssen. Auf anderen Hügeln waren Schafherden unterwegs. Die Weiden waren eingezäunt, aber dort, wo der Weg sie kreuzte, waren seltsame Rollengitter in den Boden eingelassen.

Da Marie diese rostigen Rollen noch nie gesehen hatte, stieg sie aus und kontrollierte das erste Gitter, bevor sie hinüberfuhr. Da sich die Rollen drehten, wenn sie darauf trat, musste sie aufpassen, nicht mit dem Fuß zwischen die Rollen zu geraten. Dann aber erkannte sie, dass die Gitter dem Vieh das Betreten unmöglich machten. So ersetzten sie Tore und Gatter, die dem Autofahrer das Öffnen und Schließen ersparten. Wenig später erreichte sie eine Kreuzung mehrerer Feldwege und musste aussteigen, um die verwitterten Wegweiser überhaupt lesen zu können, und einmal endete der Weg direkt am Seeufer, und sie musste umkehren. Na bravo, dachte sie amüsiert, und dieser Anwalt meint, man findet sich hier gut zurecht. Vielleicht, wenn man die Strecke ein Dutzend Mal gefahren ist, ich habe jedenfalls große Mühe, Hardinghouse zu finden.

*

Weiden, Moore, dicke Findlingssteine glitten an ihr vorbei, und zwischendurch erhaschte sie immer wieder einen Blick auf das in der Sonne glänzende Wasser des Loch Ard. Das Land erschien ihr menschenleer, und ganz langsam wurde die Einsamkeit bedrückend. Was mache ich hier eigentlich, was will ich hier? Ich gehöre doch in die Stadt, ich liebe das Leben, die Geräusche und die Betriebsamkeit von Hamburg. Dort ist mein Zuhause, dort sind meine Freunde, dort ist das Leben, das ich kenne. Hier draußen, in einem Land, das mir fremd und fern ist, das mich allmählich bedrückt mit seiner Stille und Verlorenheit, fühle ich mich allein und unwillkommen. Was hat sich Cornelius Marienthal nur dabei gedacht, mich hierherzuschicken? Schön, er hat das Land geliebt, und wahrscheinlich wollte er mir eine Freude damit machen, aber er war ein alter Mann, der sein Leben hinter sich hatte, ich aber bin jung, ich habe das Leben vor mir. Aber doch kein Leben in dieser Einsamkeit? Nein, ich drehe um. Ich will das nicht. Ich gehöre nicht hierher, und ich will auch gar nicht hierher gehören.

Marie schaute sich um. Sie hatte mitten in einem Buchenwald angehalten. Das Laub war jung und von einer frischen, hellgrünen Farbe. Die Mittagssonne streifte durch die Äste und verwandelte die Blätter in winzige glänzende Spiegel. Als sie den Motor abstellte, hörte sie die Vögel in den Bäumen, den Wind, der durch das Laubwerk wehte, irgendwo hämmerte ein Specht, und in der Ferne blökten Schafe, die auf einer Weide grasten.

Sie betrachtete die Karte. Eigentlich müsste ich schon angekommen sein, dachte sie. Hier kann ich sowieso nicht umdrehen, dann fahre ich eben bis zum offenen Gelände und versuche, dort zu wenden.

Sie startete den Motor wieder und fuhr langsam aus dem Wald heraus. Vor ihr dehnten sich erneut hügelige Wiesen, aber dann sah sie ein Strohdach hinter einem der Hügel, und da der Weg jetzt direkt darauf zuführte, fuhr sie weiter. Langsam tauchte es aus der Niederung auf, das Cottage in den Hügeln. Es war ein langgestrecktes, dreiteiliges, weiß getünchtes Haus mit einem größeren Mittelteil und zwei kleineren Anbauten rechts und links.

Das Haus war nicht mit Stroh gedeckt, das sah die Gärtnerin sofort, sondern mit einem schon ziemlich verwitterten Schilf, das dringend eine Erneuerung brauchte. Langsam fuhr sie bis vor die Gartenpforte. In einem verwilderten, ungepflegten Blumengarten versuchten erste Blüten sich der Sonne zu öffnen, aber das verdorrte Unkraut des letzten Jahres stand fast einen Meter hoch, und die Blumen hatten den Kampf schon fast aufgegeben.

Hm, dachte Marie, die haben anscheinend auf mich gewartet. Sie stieg aus, öffnete die Gartenpforte und ging zur Haustür. An der Seite hing eine Glocke an einer Strippe. Also, wenn hier eine Dame wohnt, muss ich wohl erst einmal klingeln. Da auf ihr Klingeln und dann auf ihr Rufen niemand reagierte, versuchte sie durch die kleinen, verstaubten Fenster in das Innere zu schauen. Aber schmutzig graue Gardinen verwehrten ihr den Einblick. Langsam ging Marie um das Haus herum. Es schien unbewohnt zu sein, und zwar schon seit längerer Zeit. Sie ging zum Wagen zurück und holte den Schlüsselbund aus ihrer Tasche, den der Anwalt ihr übergeben hatte. Kopfschüttelnd besah sie die fünf Schlüssel an dem Ring. Komisch, überlegte sie, hier genügt doch wohl ein einziger Schlüssel, wozu dann der ganze Bund? Na ja, vielleicht sind das auch Schlüssel für den Wirtschaftshof, der ja anscheinend zu dem Anwesen gehört. Sie hupte zweimal kurz, aber so weit sie sehen konnte, bewegte sich, abgesehen von einer Schafherde, kein Mensch auf den Hügeln rund herum.

Sie schloss mühsam die verwitterte Tür auf und betrat den großen Wohnraum. Es roch muffig und staubig, und Marie spürte, dass hier seit langer Zeit keine Menschen aus und ein gegangen waren.

Und das war das Heim von Cornelius Marienthal, diesem akribisch sauberen, gepflegten alten Herrn, der selbst seinen eigenen Garten nur mit polierten Schuhen betrat?

Habe ich mich verfahren, überlegte Marie und schüttelte den Kopf. Nein, ich habe mich genau nach den Wegweisern gerichtet, und der Schlüssel passt ja auch in dieses Schloss. Unschlüssig sah sie sich um. Links führte ein Durchgang in einen der beiden Anbauten. Hier befand sich eine alte Küche mit einem Wirtschaftsraum. Rechts vom Wohnraum ging es in den anderen Anbau, hier gab es einen Schlafraum und dahinter einen primitiven Waschraum. Eine Treppe führte nach oben, aber den Weg ersparte sich Marie.

Kopfschüttelnd überlegte sie, hier hat nie und nimmer der Herr Marienthal gewohnt. Und von dieser anmaßenden Dame ist hier auch nichts zu sehen. Was also mache ich nun? Der Anwalt hätte mich wirklich auf diese primitiven Zustände aufmerksam machen müssen. Ein Cottage hin oder her, aber unter so einem Landhaus verstehe ich wenigstens eine bewohnbare Bleibe und keine muffige Absteige. Hier bleibe ich jedenfalls nicht. Das Haus ist verwahrlost und schmutzig, vermutlich wimmelt es von Mäusen und anderen Tieren, die im Dach hausen.

Aber wenn ich jetzt zurückfahre, werde ich es kaum bis zu einem Hotel in Aberfoyle schaffen, denn sobald es dunkel wird, ist es mit der Fahrt durch dieses seltsame Wegenetz vorbei. Sie verließ den muffigen Wohnraum wieder und verschloss die Tür hinter sich. Unschlüssig ging sie zu ihrem Wagen zurück und suchte nach dem Handy, um in Edinburgh anzurufen. Aber das Handy zeigte keine Signale. »Ja, klar, eine Verbindung gibt es hier draußen natürlich auch nicht«, schimpfte sie laut vor sich hin.

Dann fiel ihr ein, der Anwalt hat doch von einem Wirtschaftshof in der Nähe gesprochen. Ich werde auf einen der Hügel fahren und Ausschau halten. Schließlich müssen die Rinder und Schafe hier auf den Weiden irgendwo ihre Stallungen haben.

Dankbar für den Allradantrieb ihres Range Rovers fuhr sie quer über eine Weide auf den höchsten Punkt. In der Ferne sah sie eine Rinderherde, die, von zwei Reitern getrieben, zum See hinüberwanderte. Na, wenigstens ein paar Männer, dachte sie und fuhr hinter den Rindern her. Wenig später erkannte sie in einer Niederung mehrere Gebäude, weiß gestrichene Weidezäune mit Pferden dahinter, Personen, die zwischen den Gebäuden hin und her liefen, und Rauch, der aus einem Schornstein quoll. Na endlich, dachte sie, irgendwo musste es hier ja Menschen geben.

Je näher sie dem Anwesen kam, umso mehr erstaunte sie die gepflegte Sauberkeit der Anlage. Die hausnahen Weiden waren eingezäunt und die Zäune weiß gestrichen, der Feldweg wurde zu einer gepflasterten Straße, die auf den Hof führte, auf der anderen Seite aber mit Alleebäumen bepflanzt zwischen Hügeln verschwand. Trotz der Unruhe herrschte hier absolute Ordnung: Die Rinderherde wurde in einen Stall getrieben, von der anderen Seite herein kam ein Schäfer mit seiner Herde, vor einem der Ställe arbeitete ein Schmied mit loderndem Feuer und dampfenden Eisen, und zwei Arbeiter bemühten sich, einen Heuwender hinter einem Traktor zu befestigen.

Marie fuhr langsam auf den Hof. Aussteigen konnte sie nicht, denn zwei Border-Collies umrundeten knurrend ihr Auto. Als die Männer mit dem Heuwender fertig waren, kurbelte sie das Fenster hinunter und winkte ihnen zu. »Bitte, können Sie mir sagen, wo ich hier bin?« Einer der Männer pfiff die Hunde zurück und verschwand mit ihnen im Stall, der andere trat zum Auto und sah sie neugierig an. »Ja? Was gibt’s denn?«

Marie stieg aus und erklärte ihm: »Ich suche Hardinghouse, ein Cottage, aber ich habe nur eine unbewohnte Hütte ein paar Hügel von hier entfernt gefunden. Und da man mir sagte, zu dem Cottage gehörte auch ein landwirtschaftlicher Betrieb, bin ich hier gelandet.«

Der Mann schob seine Mütze in die Stirn, kratzte sich am Hinterkopf und fragte: »Und wer hat Ihnen gesagt, wo Hardinghouse ist?«

»Ein Rechtsanwalt in Edinburgh. Er hat mir auch die Straßen und die Wege auf der Landkarte eingezeichnet.«

»Und was wollen Sie in Hardinghouse?«

»Es gehört mir, ich habe es geerbt.«

Schallendes Gelächter war die Antwort.

4

Verblüfft starrte Marie den Mann an. Was gab es da zu lachen, wenn sie erklärte, dass Hardinghouse