Kerbels Flucht - Uwe Timm - E-Book

Kerbels Flucht E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

Christian Kerbel, 29, einst politisch engagierter Germanistikstudent, schlägt sich als Taxifahrer in München durch. Die Welt verbessern wollte er, nun hört er sich den "Gesprächsmüll" der Fahrgäste an. Und wenn er in seine WG kommt, wartet nicht mal mehr Freundin Karin. Er selbst hat sie zum Flughafen gefahren, damit sie zu einem anderen kann – nun wird er mit dem Verlust nicht fertig.

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Seitenzahl: 223

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Uwe Timm

Kerbels Flucht

Roman

Kurzübersicht

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> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

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Inhaltsverzeichnis

MottoKerbels Flucht
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Ein stiller Landregen fiel überall nieder. Ich suchte Sterne in den Wolken und dachte mancherlei. Denn Nahes und Fernes, alles war so dunkel. Mir wars, wie ein Eintritt in ein anderes Leben.

Heinrich v. Kleist

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Kerbel hatte sie zum Flughafen gefahren. Als sie in die Abflughalle kamen, wurden die Passagiere für die Maschine nach Berlin-Tegel gerade zum zweiten Mal aufgerufen. Sie bat ihn, da sie ihre Haarbürste vergessen hatte, um seinen Kamm und kämmte sich vor der spiegelnden Scheibe eines Parfümerieladens. Dann umarmte sie ihn und ging durch die Sperre. Einmal noch winkte sie ihm, bevor sie die Kabine betrat, in der sie nach Waffen abgetastet wurde. Hinter ihr wurde der Vorhang zugezogen.

Kerbel ging zum Parkplatz.

Noch wälzte sich der morgendliche Dunst über die Straßen, aber schon kam hin und wieder die Sonne durch, und über dem Grau schimmerte der Himmel.

Es war kurz nach neun und der 19. April.

*
Ohne Datum

In ihrem Zimmer sieht es aus wie nach einer Explosion. Kleider, Blusen und Schuhe am Boden verstreut. Die Schubladen aus der Kommode gerissen, die Schranktür offen. Sie hat ihre Wäsche einfach aus dem Schrank gezerrt und in den Koffer gesteckt.

Als ich ihr anbot, sie zum Flughafen zu fahren, nahm sie sofort an. Ich fuhr und dachte, jetzt hilfst du ihr auch noch, rechtzeitig zu dem anderen zu kommen.

Noch vor einer Woche hatte sie mir mit ihren Klamotten eine Modenschau vorgeführt. Zog Kleider, Blusen und Hosen in den kühnsten Kombinationen an und kam dann in mein Zimmer getänzelt, drehte sich vor mir mit vorgeschobenem Becken, legte den Oberkörper zurück und rauschte wieder raus. Sie machte das mit wunderbarem Ernst, während ich mich vor Lachen nicht halten konnte. Und nichts deutete auf die Katastrophe.

 

20. April

Ich habe ihren Schreibtisch durchsucht. Las in ihren Briefen und blätterte in ihrem Taschenkalender. Kinobesuche, Besprechungen, Skitouren, die wir gemeinsam gemacht haben, sie hat alles eingetragen. Ein kleines, auf wenige Stichworte geschrumpftes Tagebuch. An bestimmten Tagen finden sich kleine Bleistiftkreuze, deren Bedeutung ich aber nicht erraten kann.

Ihre Haarbürste fand ich unter einem schwarzen Unterrock auf dem Sessel.

 

21. April

Fuhr fast zehn Stunden. Bekam aber nur kurze Fahrten.

Abends traf ich Anna in der Küche, die zwei rohe Eier unter das Beefsteakhack manschte, das Fressen für Frank Zappa.

Was macht denn Karin in Berlin, fragte sie.

Sie trifft einen Freund.

Anna begann daraufhin, als habe sie nicht recht verstanden, von dem Konzert zu erzählen, das der Namensgeber von Frank Zappa neulich gegeben hatte.

Musikalisch war das ziemlich hausbacken, sagte sie, wenn man bedenkt, dass Frank Zappa der Erste war, der sich für ein Plakat auf dem Klo sitzend fotografieren ließ.

Es klingelte. Sie stand sofort auf und sagte, das ist für mich. Es war Punkt sieben, und ihr Verehrer, der Archäologie-Assistent, kam. Sie führte ihn in ihr Zimmer.

Vor meinen Füßen fraß Frank Zappa. Mit stumpfsinniger Gier verschlang er das Hack.

 

Im Fernsehen eine Meisterschaft im Eiskunstlaufen. Las in den Briefen, die Freundinnen an Karin geschrieben hatten. Ich wurde darin meist nur am Schluss herzlich gegrüßt. Trank den Rotwein, den sie vor ein paar Tagen gekauft hatte, und sah zwischendurch, wie die Männer auf dem Eis ihren Partnerinnen zwischen die Beine griffen und sie über den Kopf stemmten.

 

22. April

Fuhr frühmorgens zum Flughafen.

Am Stand mindestens fünfzig Taxen. Ich stellte mich zu den anderen Fahrern. Sie erzählten von ihren weitesten Fahrten. Einer war vor drei Wochen in Paris gewesen. Er hatte hier einen Vertreter für Schiffsturbinen bekommen, der am nächsten Morgen in Paris sein musste. Es ging um ein Millionengeschäft. Der Flughafen war wegen Nebel geschlossen.

Wieder im Auto, hörte ich auf Ö3 Bob Dylan. Sie wusste, als wir uns kennenlernten, jedes Lied von Bob Dylan auswendig.

Gegenüber, am Flughafeneingang (Abflug), öffnete und schloss sich eine der automatischen Türen, ohne dass jemand herausgekommen oder hineingegangen wäre. Wahrscheinlich war die Steuerung kaputt.

 

Als sie vor einer Woche von dem Kongress zurückkam und ich sie vom Bahnhof abholte, war die Umarmung – bilde ich mir heute ein – wie immer. Aber schon auf dem Bahnsteig sagte sie: Ich muss mit dir reden. Bevor es dazu kam, fuhr mich ein Gepäckwagen ziemlich schmerzhaft an. Erst zu Hause, in der Küche, am Tisch, sagte sie unvermittelt: Was ich dir gleich sagen wollte, ich habe mit einem Mann geschlafen.

Sie sagte das, während sie Zwiebeln schnitt und dabei – wie immer – weinte. Ich pellte Kartoffeln. Sie wolle, sagte sie, für ein paar Tage nach Berlin fahren und ihn dort treffen. Vorsichtig zog ich die Schale ab. Das Wort Erdapfel kam mir in den Kopf, und ich dachte, wie unfassbar schwer er in der Hand lag, bis ich merkte, dass es die Hitze war. Das Bemühen, vernünftig zu sein, wie wir es vereinbart hatten. Jetzt versuche ich, mich immer wieder selbst zur Vernunft zu bringen, indem ich mir Sätze vorsage, die von ihr stammen, wie: Jeder hat das Recht, auch seine eigenen Erfahrungen zu machen. Was einfach ausgedrückt doch wohl heißt: Ich will auch mal mit einem anderen vögeln.

 

Beim Aufrücken mit dem Wagen entdeckte ich, dass ein Kind drinnen mit dem Mechanismus der Tür spielte. Es fuhr mit der Hand durch die Lichtschranke und lachte, wenn sich die Tür automatisch öffnete und wieder schloss.

 

Abends.

Kam nach Hause und hatte einen Moment das Gefühl, sie sei zurückgekommen. Aber es war nur Oberhofer, der in der Küche kramte. Ich sah ihn vor dem Eisschrank gebückt. Er ist der Einzige, der hin und wieder den Eisschrank ausräumt und säubert.

Aus Annas Zimmer kam das übliche Gemurmel. Sie hatte wieder Besuch von dem Assistenten, mit dem sie bis in die Morgenstunden darüber redet (idiotischerweise flüstern sie immer), warum sie nicht mit ihm schlafen kann. Am nächsten Tag wird sie wieder über Unausgeschlafenheit und Konzentrationsmangel klagen, was sie wiederum daran hindert, an ihrer Doktorarbeit zu schreiben. Der Vorwand der Treffen ist aber stets, dass sie mit dem Assistenten Probleme ihrer Arbeit (mykenische Goldmasken) durchsprechen will.

Ich war in Karins Zimmer und las Petras Briefe an Karin. Ich tat das mit dem Gefühl des Selbstekels.

 

Ich habe alle Briefe, die ich ihr geschrieben habe, herausgesucht und in mein Zimmer getragen.

 

Im Fernsehen ein alter Hans-Moser-Film, den ich mir ohne Ton ansehe.

Gegen elf kam Anna und sagte: Telefon, Karin. Ihre Stimme. Sie fragte, ob ich gerade die Treppe hochgelaufen sei. Ich sagte: Ja. Das Wetter in Berlin sei schön. Das Gespräch stockte, als ich sie fragte, wie es ihr denn gehe. Was für eine Frage, sagte sie plötzlich feindselig, was erwartest du darauf als Antwort. Ich sagte, dass ich das ohne Hintergedanken gefragt hätte. Wieso Hintergedanken? Ich habe das nur so hingesagt. Du sagst doch nie einfach so was hin. Willst du dich streiten. Willst du mir Vorwürfe machen. Dann, nach einer Pause, sagte sie, es ist besser, wir reden nicht weiter. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nach dem 1. Mai zurückkomme. Und dann, wie zur Entschuldigung, sie wolle den 1. Mai einmal in Berlin erleben. Dann aber komme sie, weil sie ja dem Wollfritzen die Wohnung einrichten müsse. (Also kommt sie dann nicht meinetwegen.) Zum Schluss sagte sie: Bis dann.

Eine kleine Mickymaus

zog sich mal die Hose aus,

machte dann die Möse zu,

und raus bist du.

Jetzt, am Tisch sitzend, vor mir das Telefon, warte ich, da ich mir sage, sie kann mit einem so dämlichen: Bis dann – nicht eingehängt haben.

Ich warte und sage mir: Man muss von unseren Empfindungen die Atavismen abziehen wie die Häute einer Zwiebel. Die Liebe hat nicht den Kern, den man in sie hineingeheimnist.

Ich sage mir: Der Vorgang ist einfach – jemand tut sein Geschlechtsorgan in das Geschlechtsorgan eines anderen. Nur dass der andere K. ist.

Die Einsicht: dass in einer Welt des Habens Liebesverlust auch Besitzverlust ist.

Die Einsicht: dass im Verlassenwerden uns der Tod begegnet.

Die Einsicht: dass Eifersucht viel mit politischer Ökonomie zu tun hat.

Aber was soll der ganze abstrakte Quatsch!

Unerträglich: dass alle die mir so vertrauten Reaktionen auch ein anderer auslösen kann.

 

Saß vor dem Fernseher. Ein Eishockeyspiel Deutschland – USA. Ich verstand weder die Regeln, noch konnte ich den hin und her flitzenden Puck verfolgen. Meine Enttäuschung, als die Absage kam. Auf allen Kanälen das graue Flimmern.

 

23. April

Träumte, dass ich durch eine parkähnliche Landschaft ging. Sah ein Fohlen auf einer Wiese. Der Wunsch, dieses Fohlen zu sein. Das Fohlen wurde geschlachtet, das Fell abgezogen. Ich durfte in die noch feuchte Haut steigen. Tollte auf der Wiese herum. Die Sonne schien warm und stark vom Himmel. Da begann die Haut zu trocknen und schrumpfte. Von den entsetzlichen Schmerzen schrie ich. Hörte meinen Schrei noch im Erwachen. Der Pyjama war nass von Schweiß und von Samen. Seit Jahren hatte ich erstmals wieder im Schlaf ejakuliert.

 

In der Morgenzeitung las ich von Idi Amins Soldaten, die an der Grenze zu Kenia in von ihnen selbst gelegte Minenfelder getrieben worden waren. Die immer wieder hörbaren Explosionen und die kaum verdeckte Genugtuung des Berichterstatters darüber.

 

Trank den Bananenlikör, den ich von Kreta mitgebracht hatte und den niemand mochte. Ein Gesöff wie süßer Leim. Rief bei W. an, dass ich heute nicht fahren könne. Übelkeit. (Ich log nicht.) Hörte Udo Lindenberg und dann die Johannes-Passion:

Der Vorhang reißt, der Fels zerfällt,

Die Erde bebt, die Gräber spalten,

Weil sie den Schöpfer sehn erkalten:

Was willst du deines Ortes tun?

Schlief bis in den Abend.

Oberhofer weckte mich, Telefon.

W. wollte wissen, ob ich morgen wieder fahren könne, sonst müsse er sich sofort nach einem anderen Fahrer umsehen. Der Schornstein muss rauchen. Es war eine freundliche Drohung. Ich sagte zu.

 

Im Flur stand Oberhofer. Mit einem Arm schon im Mantel, wühlte er mit der anderen Hand in einem Aktenordner. Er musste zu seiner Parteigruppe in die Uni und fragte mich überraschend, ob ich mitkommen wolle, ein brisantes Thema stehe zur Diskussion: Freiheit im Sozialismus. Ich muss ihn auf eine Weise angeblickt haben, dass er ging, ohne meine Antwort abzuwarten. Er musste die Diskussion leiten.

Ich öffnete eine Dose Nasi Goreng, zerkrümelte den Reis in der Pfanne. Kurz blickte Anna herein, sagte, sie sei auf dem Sprung und Tschau.

In ihrem Zimmer winselte Frank Zappa. Ich holte ihn in die Küche. Er saß am Boden und beobachtete, wie ich die Eier in die Pfanne schlug. Aber die Spiegeleier, die ich sonst – im Gegensatz zu Karin – stets unversehrt auf den Reis schieben konnte, zerliefen diesmal schon in der Pfanne. Das feuchte Dotter erstarrte zu einer gelben Pampe. Ich aß nur wenig, und auch Frank Zappa ließ Reis und Ei stehen. Nahm von den Bierflaschen Oberhofers und ging mit Frank Zappa in mein Zimmer, setzte mich an den Tisch. Das Schreiben macht alles erträglicher, auch das Selbstmitleid. Auf dem Fenstersims gurren Tauben, die Zuflucht vor dem Regen gesucht haben. Frank Zappa hat sich auf dem Sessel zusammengerollt und schläft. Ich mag keine Hunde, aber jetzt hat sein Schnaufen etwas Anheimelndes.

Gegen zwölf zu Bett. Konnte aber trotz des Biers nicht einschlafen.

 

24. April

Sah heute B. beim Tennisspielen. Er schlug einem Mädchen die Bälle vor die Füße und korrigierte durch Zurufe Schlägerhaltung und Beinarbeit. Das Mädchen stellte sich besonders dämlich an, lief aber mit grazilen Schrittchen und wippenden Brustspitzen auf dem Platz hin und her. B. machte ein kleines Kunststück. Er klemmte zwischen alle Finger der linken Hand Tennisbälle und drückte dann noch einen fünften Ball von unten hinein, so hielt er wie eine große Traube die Bälle in der Hand und ließ einen nach dem anderen fallen, um ihn ihr zuzuspielen. Zwischendurch erklärte er dem Mädchen den Balltrick, stand am Netz und versuchte, ihr die Bälle zwischen die Finger zu schieben. Sie gackerte. B. hatte eine Halbglatze bekommen, war aber braun gebrannt und athletisch trainiert. Beim Lachen legte er, wie früher, den Kopf ins Genick.

Er hatte eine Dissertation schreiben wollen: Stifters Nachsommer als Reaktion auf die Revolution von 1848.

 

25. April

Am Stand eine lange Schlange. Regen. Ein Fahrer setzte sich zu mir in den Wagen. Er bot mir eine Zigarette an, und wir rauchten. Er sagte, dass er schon zwölf Jahre Taxe fahre. Jetzt besuche er Kurse, um Heilpraktiker zu werden.

Ich musste ihm versprechen, zu ihm in die Praxis zu kommen. Zur Massage. In zwei Monaten sei Eröffnung. Visitenkarten hat er sich schon drucken lassen.

 

Nachmittags eine Fahrt vom Rundfunkhaus zum Flughafen. Den Mann hatte ich noch nie gesehen, aber seine Stimme kam mir bekannt vor. Er brachte dann seinen Beruf schnell selbst ins Gespräch. Rundfunkredakteur. Einige Male hatte ich von ihm Theater- und Konzertkritiken gehört, die er selbst verlas, mit einer bedeutungsvoll modellierten Stimme.

Er fragte, was ich studiere.

Literaturwissenschaft, hätte aber das Studium abgebrochen.

Was uns fehlt, sagte er, ist der Kritikernachwuchs, junge Leute, engagiert, mit sozialkritischem Biss. Er suche solche Leute, ob ich mich schon mal auf dem Gebiet versucht hätte.

Nein.

Dann fragte er, in welchem Trödel ich die Lederjacke gekauft habe.

Ein Erbstück, sagte ich. Mein Großvater war Marine-Luftschiffer. Er flog im Ersten Weltkrieg nach England und warf Fliegerpfeile auf Hull und London.

Interessant, sagte er und befühlte das Leder und die abgewetzten Metallknöpfe mit der Kaiserkrone. Ein schönes altes Stück. Er habe ein Faible für solche Sachen, so solide verarbeitet, so sichtbar alt und schonend abgetragen. Ob ich ihm die Jacke verkaufen wolle, 700 Mark.

Ich schüttelte den Kopf.

1000.

Die Jacke ist unverkäuflich.

Schade, sagte er.

Am Flughafen gab er mir fünf Mark Trinkgeld, gegen Quittung.

 

Die Legende von K.

Once upon a time ging Kerbel auf die Geburtstagsparty eines Freundes. Befragt, wie es ihm gehe, sprach er von der Qual der Zulassungsarbeit. Er komme damit nicht voran, auch sei er ständig von fiebrigen Grippen geplagt, die ihn stets als Ersten erreichten, die Hongkong-Grippe, die Schweine-Grippe, die Kanton-Grippe. Er saß herum und knabberte Salzstangen. Gern hätte er sich mit der Frau unterhalten, die ihm gegenübersaß, aber mit einem Maler in ein Gespräch über Fotorealismus verwickelt war. Kerbel hatte sich schon entschlossen zu gehen, da kam plötzlich die Rede auf Filme, und jeder in der Runde nannte seinen Lieblingsfilm.

Kerbel sagte: Andrej Rubljow von Tarkowskij und begann, da niemand den Film gesehen hatte, sogleich zu erzählen: wie der Bauer in einem Fellballon aufsteigt und abstürzt, wie der Mönch durch den Regen geht, die Gaukler, die Bettler, die Strickreiter, die Bildhauer, die geblendet werden, das Kloster im Schnee, das Gemetzel in der Kirche, das Schweigegelübde, der Gaukler mit der abgeschnittenen Zunge, das Gießen der Glocke und zum Schluss, ungeheuer, die Farbigkeit der Fresken, erst da merkt man, wie gedämpft braun die Farbe vorher war. Kerbel redete wie auf Flammen stehend von Einstellungen, Kamerafahrten und Bildschnitten. Unvergleichlich sei die russische Originalfassung, die er in Ost-Berlin gesehen habe (er war extra deswegen nach Berlin gefahren), denn das sei ein Ton, der das Schweigen eigentlich erst hörbar mache.

Alle saßen und sahen auf Kerbel.

In das Schweigen sagte die Frau, die Kerbel gegenübersaß: Ein Film-Jünger nach der Ausschüttung des Heiligen Geistes.

Alle lachten, auch Kerbel.

Karin war von dem Film enttäuscht gewesen. Aber wahrscheinlich hätte kein Film die von Kerbels Begeisterung hochgeschraubte Erwartung erfüllen können. Karin war an historischen Stoffen nicht sonderlich interessiert.

 

 

Die Slingpumps vor ihrem ungemachten Bett. Der Zwang, die Schuhe aufzuheben und sorgfältig zusammenzustellen. Ein Zwang, der sich sonderbarerweise nur bei ihren Sachen einstellt. Eine tief sitzende Vorstellung, sie müsse – im Gegensatz zu mir – ordentlich (sauber) sein.

Ich schreibe an ihrem Tisch, vor mir meine Fotografie.

Früher habe ich meine Nase als zu groß empfunden und sie durch Kontraktion der Nasenflügel schmaler zu machen versucht. Sie mag große Nasen. Kleinnäsige kriegen im Alter vergreiste Kindergesichter, sagte sie.

 

26. April

Elf Stunden im Wagen. Ein Besoffener, der sich nach Solln fahren ließ, dann aber nur noch acht Mark in den Taschen hatte. Dennoch ein guter Tagesschnitt von 168 Mark.

Das Bedürfnis zu laufen, aber auf Waldboden.

Habe sorgfältig alle Blattpflanzen gegossen, auch das Papyrusschilf. Sie behauptet, das Schilf mache die von der Heizung ausgetrocknete Luft wieder feucht, was für den Teint und die Atmungswege gut sei. Gran Chaco nennen (nannten?) wir dies Zimmer.

Jeder von uns muss das Recht haben, einmal wegzugehen und als ein anderer wiederzukommen, hatte sie gesagt, als wir zusammenzogen. Der andere ist Architekt. Er hat seinen ersten Wettbewerb gewonnen und wird in H. eine Kunsthalle bauen. Mehr hat sie über ihn nicht erzählt. Und doch ist damit viel gesagt. Das ist der Typ, der sich in den Heiratsanzeigen der Zeit so vorstellt: Junger erfolgreicher Architekt, ruhig und doch dynamisch, guter Tennisspieler, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, Frankreichfahrer, speziell Burgund, Provence und Auvergne.

Mir dagegen versucht man die Jacke abzukaufen.

In ihrem Schreibtisch habe ich Referate und Aufzeichnungen von mir gefunden. Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. 1971 in einem politischen Arbeitskreis gehalten. Ich konnte einmal, was ich von mir heute nur noch wie von einer anderen Person denken kann, vor einem Hörsaal reden und diskutieren. Noch vor drei Jahren bin ich durch Vorlesungen und Seminare gerannt und habe dort zum Kampf gegen die neue Studienordnung aufgerufen. Habe geholfen, Teach-ins vorzubereiten und Flugblätter zu schreiben. Gegen die Zwangsexmatrikulation.

Die Devise war: Die neue Prüfungsordnung muss vom Tisch. Dabei wussten alle, dass die gar nicht mehr vom Tisch kommen konnte. Und insgeheim wusste ich schon damals, dass die ganze Arbeit umsonst sein würde. Aber niemand sprach das aus. Da gab es nämlich diesen Vorschlaghammer: Zurückweichler.

Was für eine wirkungslose Betriebsamkeit. Und ich kann von dieser Zeit in mir nichts finden, außer dem faden Gefühl, Zeit vertan zu haben. Ich bin ganz langsam an die Wand geschoben worden. Natürlich hat Oberhofer recht (wie immer), wenn er sagt, man muss sich wehren, man muss das Mögliche tun. Aber vielleicht hätte man auch etwas anderes, etwas Realistisches tun können. Aber was?

Dann traf ich K.

In derselben Schublade lagen meine biografischen Notizen, die ich ihr vor gut zwei Jahren zum Lesen gegeben hatte. Das sollte ein biografischer Roman werden. Sie hat dann aber nie mit mir darüber geredet, worüber ich froh war. Und ich habe auch nicht mehr daran geschrieben und in letzter Zeit nicht einmal mehr daran gedacht. Neben einigen Notizen hat sie mit Bleistift Frage- und Ausrufungszeichen gemacht.

Ich trage alles in mein Zimmer.

 

Biografische Notizen. Kindheit 1

Kerbel malte gern. Der Vater, der Kunstmaler hatte werden wollen, sah die Zeichnungen durch und schrieb Noten darunter. Einmal zerriss er ein Blatt.

Kerbel hatte ein Segelschiff gemalt, das durch eine wild bewegte See fährt. Die Flagge, groß und bunt, wehte nach hinten aus. Der Vater betrachtete das Bild, sagte, es sei gut gemalt, aber falsch. Der Wind komme, wie man an der Stellung der Segel sehen könne, von hinten. Er schrieb eine 1 an den Rand, zerriss dann aber das Bild.

Von dem Tag an malte Kerbel nicht mehr.

 

27. April

Ich hatte mir vorgenommen, abends mit Anna über Karin zu reden. Im Zimmer ihr Freund aus Brüssel, den ich nur vom Telefon her kannte. Jurist und jetzt im diplomatischen Dienst bei der EG. Darum auch der SAAB-Turbo mit dem CC vor unserer Haustür. Peridam, den schlichten Adelsring am kleinen Finger, erzählte unaufgefordert von dem aufgeblähten Apparat der EG. Eine Verwaltung, die sich inzwischen schon wieder selbst verwalten muss, die ein äußerst vitales Eigenleben führt, unabhängig von der Außenwelt, wenn man einmal von den Steuergeldern absieht, die ihr aus den neun Ländern zufließen.

Offenbar wurde Peridam oft auf diesen Verwaltungsapparat angesprochen und entzog durch seine Radikalkritik jedem nur denkbaren Einwand gegen die Institution den Boden.

Er wollte aus seinem Wagen ein paar Flaschen Burgunder holen, vom Weingut eines französischen Kollegen.

Ich sagte, ich müsse weg, und ließ mich auch von Anna nicht zum Bleiben überreden.

Immer noch lag das Tiefdruckgebiet über Mitteleuropa fest, eingeklemmt zwischen zwei Hochdruckkeilen über Grönland und Russland. Polare Kaltluft strömte ein. Schneeregen fiel. Mich fror.

Im Alten Ofen standen die Veteranen der 68er-Jahre, die meisten bärtig und langhaarig, einige waren kahl. Sie standen, als warteten sie schon seit Jahren hier, tranken ihr Bier und redeten davon, dass unter dem Asphalt der Strand liege, man müsse nur das Pflaster aufreißen.

Es gibt eine Fotografie von Jerome, dem Apachenhäuptling, der einmal eine Eskadron der US-Kavallerie geschlagen hat. Die Fotografie zeigt ihn ein Jahrzehnt später, in dem ihm zugewiesenen Reservat. Vor einem abgerissenen Wigwam, neben sich vier zerlumpte Frauen, von denen eine ein greisenhaftes Kind in den Armen hält, sitzt er da, krumm, die Hände gichtig, ein vom Alkohol zerstörtes Gesicht, die Augen so stumpf, als habe sich zum Schutz eine Hornhaut darübergezogen.

Jemand winkte mir vom Tresen.

Ich kaufte Bier und ging nach Hause.

 

Kindheit 2

Die Großmutter kam aus Ostpreußen. Sie war als Findelkind auf einem Gut nahe bei Dubeningen aufgewachsen und hatte dort später gegen Kost und Logis als Magd gearbeitet. Den Kindern erzählte sie manchmal, wie im Winter die Wölfe aus den polnischen Sümpfen herüberkamen.

Einmal, in einem besonders strengen Winter, war ein Kind, das frühmorgens, also noch in der Dunkelheit, Milch vom Stall ins Herrenhaus hatte tragen sollen, von hungrigen Wölfen angefallen worden. Auf die Schreie des Kindes kamen Knechte mit Fackeln und Knüppeln gelaufen. Aber ganz gegen ihr sonstiges Verhalten ließen die Wölfe nicht von dem Kind, sondern zerrten es durch den Schnee. Bei Tageslicht sah man den Schnee zerwühlt und rot von Blut. Die angefressene Leiche des Kindes fand man im nahen Unterholz.

Diese Erzählungen bewirkten, dass Kerbel als Kind eine entsetzliche Angst vor dem Wald hatte, die sich auch später nie ganz verlor. So überkam ihn, wenn er abends von der Universität durch den Englischen Garten nach Hause ging, eine Unruhe, die ihn manchmal laufen ließ.

 

Der Klapperstorch

Einmal, zufällig, sah Kerbel seine Mutter im offenen Badezimmer nackt. Sie schlug die Tür vor ihm zu.

Eine Zeit lang streute Kerbel Salz auf das Fensterbrett. Die Mutter hatte gesagt, er solle sich ein Brüderchen wünschen. Er wünschte sich aber gar kein Brüderchen. Dennoch war er neugierig, ob er mit dem Salzstreuen etwas bewirken könne. Tatsächlich kam die Mutter wenig später ins Krankenhaus, und Kerbel wollte den Klapperstorch sehen. Aber der Vater verbot es. Am folgenden Tag sagte der Vater, Kerbel habe ein Schwesterlein bekommen, allerdings klebten zwei Finger zusammen, das komme vom Storchenbiss.

Am selben Tag erklärte ein älterer Junge Kerbel, wie Kinder gemacht werden: Hose runter, Beine breit, Ficken ist ’ne Kleinigkeit.

Der Vater bestritt den ihm so beschriebenen Vorgang.

 

28. April

Wachte auf, hellwach, aber völlig verstört. Konnte mich an keinen Traum erinnern. Hatte aber die tagtraumartige Vorstellung, dass sie gerade jetzt mit dem anderen im Bett zusammen war, sah zwischen ihren Beinen, deren Oberschenkel sie mit den Händen an den Leib zog, sodass die Knie ihre Brüste berührten, einen männlichen Körper, muskulös und behaart, sah einen massiven Schwanz, der nur aus ihrem Leib herausgezogen wurde, um sofort wieder darin zu verschwinden, sah deutlich ihre geschlossenen Augen und ihren leicht geöffneten Mund.

Ich duschte.

In der Küche saßen Anna, der Diplomat und Oberhofer. Sie stritten sich. Es musste Oberhofer gelungen sein, irgendeine ungeschützte Stelle bei dem EG-Mann gefunden zu haben. In seiner furchtsamen Erregung wirkte der Diplomat plötzlich fast sympathisch. Oberhofer dagegen war ruhig wie stets. Anna, in einen übergroßen Schal gehüllt, der bei näherem Hinsehen ein Pullover war, goss mir Kaffee ein. Sie wollte mit Peridam ein paar Tage zum Skilaufen fahren.

Oberhofer stellte offenbar nicht nur den EG-Apparat infrage, sondern die gesamte EG. Peridam sagte: Man muss das Machbare machen.

Oberhofer: Prost.

Oberhofer mit den schwarz über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen ließ, während er redete, den Honig auf die Scheibe Brot tropfen. Es war – und das schüchtert auch mich stets ein –, als berühre ihn die Diskussion überhaupt nicht. Die Gegenargumente schien er alle im Voraus zu kennen.

Anna machte keine Anstalten, Peridam beizuspringen. Sie hörte zu. Dann begann sie, Sachen für die Reise zusammenzutragen. Als sie wieder einmal auf dem Flur kramte, ging ich ihr nach und fragte sie, ob sie von Karins Reise gewusst habe.

Ja. Karin habe ihr erzählt, dass sie nach Berlin fahren wolle. Sie habe noch um einen dicken Pullover gebeten. Aber von einem anderen Mann war nicht die Rede. Das alles tue ihr leid. Anna sagte das mit den Skisocken in der Hand. Dann hatte sie noch eine Bitte, ob ich in ihrer Abwesenheit Frank Zappa das Hackfleisch zubereiten könne.

Ich sagte, ja.

Auch sei es nötig, ihn mindestens zweimal am Tag auf die Straße zu führen. Allein dürfe er noch nicht runter, dafür sei er noch zu jung. Sie fragte nochmals, ob sie mir das zumuten könne.

 

29. April

Das Gelaber der Fahrgäste. Die meisten glauben, sie müssten den Fahrer unterhalten, reden dann in ihrer Hilflosigkeit vom Wetter. Andere fragen nach dem Studium, um zu zeigen, dass sie einen nicht für einen Taxifahrer halten, nach dem Motto: Qualität erkennt Qualität. Am schlimmsten aber die arrivierten Akademiker, die erzählen, sie hätten während ihres Studiums auch jobben müssen. Andererseits lenkt dieses Gerede mich von mir ab.

 

Fand abends einen Zettel an meiner Tür: Karin hat angerufen. Ruft morgen wieder an. Oberhofer.

Ich stürzte in Oberhofers Zimmer. Oberhofer war schon weg. Ich bekam eine maßlose Wut auf Oberhofer, weil er nicht die Uhrzeit des Anrufs auf den Zettel geschrieben hatte. In Annas Zimmer winselte Frank Zappa.

Er sprang an mir hoch, als ich die Tür aufschloss. Ihm war die leere Wohnung unheimlich.

Rief W. an und sagte ihm, dass ich morgen nicht fahren könne. Ich will ihren Anruf nicht verpassen.

 

Jan Mollsen

Am Sonntagmorgen durfte der kleine Kerbel zum Vater ins Bett kriechen. Der erzählte ihm dann die Fortsetzung einer schier endlosen Geschichte: wie die Feldmaus Jan Mollsen von einer räuberischen Katze vertrieben wird und in einer alten Konservendose die Elbe hinunterfährt, welche Abenteuer sie auf der Reise zu bestehen hat, bis sie schließlich zu einer Sandbank kommt, wo schon ein schiffbrüchiger Igel lebt. Dort leben sie noch heute, friedlich und zufrieden, wenn sie nicht gestorben sind.

Was Kerbel später, nach dem Tod des Vaters, nie klären konnte, war, ob der Vater sich die Geschichte selbst ausgedacht oder sie irgendwann einmal gelesen hatte.

Auf einer Dampferfahrt nach Cuxhaven zeigte der Vater dem kleinen Kerbel die mit Weidenbüschen bestandene Insel.

Der Dampfer hieß Jan Mollsen.

 

30. April