Kinder des roten Kaisers - Hu Xiaoping - E-Book

Kinder des roten Kaisers E-Book

Hu Xiaoping

0,0

Beschreibung

Die Autorin Xiaoping Hu wuchs während der Zeit der Kulturrevolution Chinas in Peking, dem Zentrum des Geschehens, auf. Zunächst als Junge Pionierin, später als Rotgardistin entwickelte sich in ihr nach anfänglicher Begeisterung zunehmend Skepsis gegenüber den Auswirkungen dieser politischen Kampagne. Nach ihrer Zeit als Landarbeiterin durfte sie aufgrund der Reformen von 1977 dort ein wirtschaftswissenschaftliches Studium absolvieren und schließlich eine Tätigkeit in der Wirtschaftspraxis aufnehmen. Die Ereignisse vom 4. Juni 1989, dem blutigen Ende der friedlichen Bewegung für größere Freiheit, waren für sie ausschlaggebend für ihren Weg nach Deutschland. Hier absolvierte sie ein weiteres wirtschaftswissenschaftliches Studium an einer deutschen Universität und war dann lange Jahre als Beraterin zu deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen tätig. Ihre weitgehend autobiographische Erzählung über die wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Aspekte der Kulturrevolution kombiniert sie mit fiktiven Figuren des Freundeskreises. Damit verschafft sie einen umfassenden und authentischen Einblick in die China bis heute prägenden ideologischen und praktischen Auswirkungen der Kulturrevolution.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 690

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1 - Jingxia wird Landarbeiterin

Vor dem Oberschulabschluss

Jingxia meldet sich zur Landverschickung

Kapitel 2 - Verabschiedung der Absolventen aufs Land

Kapitel 3 - Nach Tiangezhuang

Der erste Tag

Das Kennenlernen der Menschen, Häuser und Klassen

Kapitel 4 - Leben auf dem Land vom frühen Morgenstern bis zum abendlichen Mond

Die Frühjahrsaussaat

Harte Erntearbeit in einem heißen Sommer

Arbeitsreiche Zeit der Herbsternte

Kein Müßiggang im Winter

Kapitel 5 - Turbulente Zeiten im Jahr 1976

Zhou Enlais Tod

Ein Frühlingsfest auf revolutionärer Weise

Der Schlag gegen den Rechtstrend

Das große Erdbeben von Tang Shan

Nainai wird nach Sichuan zurückgebracht

Mao Zedong ist gestorben

Die Zeit in Wushan

Die Viererbande kommt zu Fall

Kapitel 6 - 1977: Wendepunkt im Leben und Schicksal

Enttäuschung nach all den Aufregungen

Initiative zur Aufnahme in die Kommunistische Partei

Die Aufnahmeprüfung zur Universität wird wieder eingeführt, Träume werden wahr

Nachlese

Aus Jürgen Trittins Vorwort zum ersten Band „Kinder des Roten Kaisers - Rote Garden"

Professor Dr. Dr.h.c. Jürgen Helle zu" Kinder des Roten Kaisers/Bd. 1 Rote Garden"

Dr. Alexander Will, NWZ - Rezension vom 18.12.2018 zu" Kinder des Roten Kaisers/Bd. 1 Rote Garden"

Einleitung

Lesern, die den ersten Teil dieses Doppelbandes nicht kennen, soll diese Einleitung als Information zu den bereits beschriebenen Geschehnissen dienen:

Erste Kontakte mit den politischen Gegebenheiten der Zeit der Kulturrevolution bekommt Jingxia, die Hauptfigur in „Kinder des roten Kaisers“, mit ihrem Beitritt zu den Jungen Pionieren während ihrer Schulzeit. Sie ist stolz und glücklich, in diese kommunistische Jugendorganisation aufgenommen zu werden. In diese recht friedliche Zeit schlägt wie ein Blitz der Beginn der Kulturrevolution ein. Ein Leitartikel der Volkstageszeitung leitet die ideologische Begründung für eine völlige Veränderung der Lebenssituation in China ein, von der alle Menschen in diesem großen Land betroffen sind. Die Großmutter, ehemalige sogenannte Großgrundbesitzerin, wird einem für das Kind erschreckenden Schauprozess unterzogen und muss die Familie verlassen. Sie wird als Arbeiterin aufs Land ihrer Herkunft geschickt. Die beiden kleinen Mädchen der Familie, Jingxia und Jingmei, müssen daraufhin anderweitig untergebracht werden, da beide Eltern voll berufstätig sind und sie noch zu jung sind, um allein in der Wohnung bleiben zu können. Im Luftwaffengebiet, in dem sie dann bei unterschiedlichen Kollegen ihres Vaters wohnen, erlebt Jingxia als kleines Kind das Grauen der blutigen und grausamen Schauverurteilungen durch eine Masse aufgepeitschter Mitglieder der Roten Garden.

Ihrer Familie wird ebenfalls übel mitgespielt. Auch die Mutter wird aufs Land in erbärmliche Verhältnisse verschickt. Die Begründung dafür heißt „Kaderschulung". Im Ergebnis muss die kleine Jingxia selbst für sich und ihre Schwester sorgen, da auch die Betreuung im Luftwaffengebiet nicht mehr hinreichend gewährleistet ist. Mit noch nicht einmal 12 Jahren erlernt sie das eigenständige Feuer machen auf dem primitiven kleinen Kohleofen und das Kochen darauf für sich und ihre Schwester.

Die Phase der Mittelschule 110, die sie anschließend besucht, ist durch eine Beschreibung der systematischen, politischen Indoktrinationen gekennzeichnet, der die Kinder unterzogen werden. Immer wieder werden neue Verläufe der ideologischen Entwicklung durch offizielle Verlautbarungen in den politischen Publikationsorganen eingeleitet, die dann im Unterricht sowie auch im täglichen Leben der Kinder und der Familie ihre Rolle spielen.

Jingxia hat noch keinen kritischen Blick, glaubt noch an das, was man ihr in der Schule vermittelt. Und es ist nicht nur die Schule, die ihre Sicht auf die damaligen Verhältnisse prägt. Die ganze Gesellschaft ist erfasst vom Vergötterungswahn des großen Vorsitzenden Mao Zedong. Szenen, die dies zum Ausdruck bringen, werden in unterschiedlichsten Erscheinungsformen beschrieben. Sie entbehren bisweilen nicht einer gewissen Komik, sind aber zugleich auch tragisch aufgrund ihrer durchschlagenden Wirkungen. Allerdings tauchen mit zunehmendem Heranwachsen Fragen auf, die zu Zweifeln führen. Jede von Jingxias Freundinnen hat ihr Familienschicksal, das etwas mit dem Unrechtssystem zu tun hat. Auch das Schicksal ihrer eigenen Familie bleibt davon nicht unberührt. Und die heranwachsenden Mädchen beschäftigen sich in ihren Diskussionen auch mit der Problematik der Vergötterung. Die Schriften von Marx sind ihnen zugänglich. Ihnen können sie kritische Anmerkungen zu einem solchen Trend entnehmen.

Die Unstimmigkeiten nehmen für die Kinder zu, als die Kommunistische Partei den Fall Lin Biao zu erklären versucht. Er war immerhin Maos Stellvertreter und dessen auserkorener Nachfolger. Plötzlich kommt er bei einem Flugzeugabsturz auf der Flucht ums Leben, nachdem er einen Putschversuch vorbereitet haben soll. Zunächst einmal wird dieses Ereignis so lange wie möglich vor der Bevölkerung verborgen gehalten. Das lässt sich allerdings nicht unbegrenzt fortführen. Gerade in einem Land mit gelenkter Presse gibt es eine funktionierende Nachrichtenbörse über die Gerüchteküche. Das Regime muss darauf achten, dass diese nicht überkocht. Eine so wichtige Nachricht wie das plötzliche Verschwinden von Maos Stellvertreter bedarf deswegen irgendwann einer Erklärung. Die wird mit einem ganzen Paket sorgfältig vorbereiteter Zusatzinformationen letztendlich auch geliefert. Um Lin Biaos Abgang ideologisch zu verarbeiten, werden den Schulen Gesprächsnotizen aus seiner politischen Gruppe zum Studium vorgelegt, die zum zentralen Unterrichtsmaterial werden. Erstaunlicherweise enthalten diese aber durchaus nachvollziehbare Kritiken am System, die die inzwischen schon älter gewordenen Kinder bereits erkennen können. Das Ganze findet seinen Höhepunkt, als nicht nur Lin Biaos Gruppe von den Schülern verurteilt werden soll, sondern zugleich auch die Philosophie von Konfuzius, die angeblich damit im Zusammenhang stehen soll. Ohnehin hatten die Kinder bis dahin keine Gelegenheit gehabt, Konfuzius kennen zu lernen. Seine Lehre, die vor der kommunistischen Zeit als entscheidende ethische Grundlage Chinas diente, wurde an den Schulen unter Mao systematisch unterdrückt. Aber um ihn verurteilen zu können, mussten die Lehrer mit ihnen auch die Originalschriften behandeln. Der Effekt ist wunderbar: Ihre Lehrer brauchen gar nicht zu kommentieren. Es reicht, Konfuzius‘ Gedanken kommentarlos vorzustellen, um zu begreifen, welche großartigen Teile der Kultur des alten Chinas sie verkörpern. Die Schönheit seiner Gedankenwelt wirkt aus sich heraus. Die ideologische Absicht wird in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Schulzeit zu Zeiten der Kulturrevolution ist durch weitgehend chaotische Verhältnisse geprägt. Über lange Strecken findet gar keine Schule statt oder aber die Kinder müssen immer wieder an Übungen teilnehmen, die den langen Marsch von Maos Truppen imitieren sollen. Auch werden sie häufig für längere Zeit aufs Land oder in die Fabriken geschickt. Die führende Klasse, an der man sich orientieren soll, ist nun einmal die Arbeiter- und Bauernklasse, nicht aber die heranwachsende Intelligenz. Das ändert sich für kurze Zeit, als der spätere große Reformer Chinas Deng Xiao Ping in die Regierung zurückkehrt. Er sorgt dafür, dass an den Schulen wieder ordentlich gelehrt und der Erfolg mit einem Zugang zu den Universitäten belohnt wird. In dieser Zeit wächst die Hoffnung bei Jingxia und ihren Freundinnen, durch das erfolgreiche Absolvieren der Oberschule diesen Weg einschlagen zu können. Unterstützt werden sie von Lehrern, die die Gestaltung des Unterrichts nach dem vorangegangenen Chaos an den Schulen zur Höchstform vorantreiben.

Heftige ideologische Auseinandersetzungen beenden diese kurze Phase der Konsolidierung. Der Zugang zu den Universitäten steht unmittelbar nun wieder Arbeitern, Soldaten und Bauern offen, nicht aber den Absolventen der Gymnasien. Diese müssen nach Abschluss ihrer Schulzeit für eine völlig unabsehbare Zeit Land- oder Fabrikarbeiter werden und können nur aus dieser Berufsgruppe heraus für die Aufnahme zur Universität empfohlen werden. Hier beginnt die Erzählung im zweiten Band „Hinunter ins Dorf, hinauf in die Berge". Jingxia hat die Oberschule mit Erfolg hinter sich gebracht. Der erhoffte Weg zur Universität bleibt aber versperrt.

Kapitel 1 - Jingxia wird Landarbeiterin

Vor dem Oberschulabschluss

Als die Schüler vom landwirtschaftlichen Betrieb zurück nach Peking gekommen waren, gab die Leitung der Schule ihnen zunächst zwei Tage frei. Sie konnten erst einmal zu Hause ein Bad nehmen und ihre Wäsche wieder in Ordnung bringen. Dann begann mit aller Macht die Mobilisierungskampagne zur Versendung aufs Land. In der Schule 110 waren es nicht nur zwei Klassen der Oberschule, die von dem Schicksal betroffen waren, aufs Land geschickt zu werden. Auch Schüler, die gar nicht bis zur Oberschule gekommen waren, wurden bereits als Mittelschulabsolventen dorthin verschickt.

Die Schule lud Schüler, die schon auf dem Land waren, als Vorbilder zu Vorträgen ein. Sie erzählten anschaulich von den ungewöhnlichen Heldentaten und Erlebnissen auf dem Land:

Jeden Tag lebten die Schüler mit den Bauern von morgens bis abends zusammen und hätten damit eine tiefe revolutionäre Freundschaft begründet. Sie hätten das Vertrauen der Bauern erworben und seien inzwischen äußerst beliebt. Sie seien auch als Parteimitglieder aufgenommen worden. Auf die Tagungen der fortschrittlichsten Parteimitglieder seien sie eingeladen worden und hätten auch Auszeichnungen bekommen. Einige seien an die Spitze der lokalen Parteigruppierungen vorgerückt. Einer der Vortragenden habe gesehen, dass auf dem Land Medikamente und Ärzte fehlten. Die medizinische Versorgung sei entsprechend lückenhaft. Durch eigenes Studium sei er Barfußarzt geworden. So könne er sich beim Kampf um die Gesundheit der ländlichen Bevölkerung verdient machen. Ein anderer hätte eine Gruppe für wissenschaftliche Forschung begründet. Er hätte darin die Zusammensetzung des Bodens und das Klima erforscht, um die passenden Saatgüter zum Einsatz zu bringen. Mit den Bauern zusammen führe er somit wissenschaftliche Experimente durch. Eine fortschrittliche Technik könne dort von nun an verbreitet und entsprechend könnten die Erträge erheblich gesteigert werden.

Die Vorträge waren lebhaft gestaltet, die Vortragenden verstanden es, ihre Zuhörerschaft mitzureißen. Aus einem kargen, unterentwickelten Land wurde in ihrer Sprache in den Augen der Schüler plötzlich eine Idylle voller Romantik mit duftenden Obstbäumen.

In der ganzen Schule, wo auch immer man sich befand, hingen auf den schwarzen Tafeln propagandistische Slogans in großen Lettern:

„Gebildete Jugendliche aufs Land zu schicken sowie die Weitererziehung und -bildung der armen und unteren mittleren Bauern anzunehmen, erscheint unabdingbar.

Das Land ist ein breiter Ort mit einem großen Himmel und einer weiten Fläche. Dort kann man seine Fähigkeiten zeigen.

Werdet auf dem Land heimisch und macht dort Revolution. Auf dem weiten Feld des Landes werden unsere roten Herzen gestählt.“

An der Tafel in jedem Unterrichtszimmer hing ein Zitat des Vorsitzenden Mao:

„Woran erkennt man, ob ein Junge Revolutionär ist oder nicht? Was ist das Kriterium? Wie kann man das erkennen? Es gibt nur ein Kriterium: Will er oder will er nicht, tut er es oder nicht, nämlich sich mit der Masse der Arbeiter und Bauern zusammenzuschließen. Diejenigen, die es wollen und tun, sind Revolutionäre. Die anderen sind keine Revolutionäre oder sogar Konterrevolutionäre.“

Vor dem Unterricht und nach der Schule oder in der Pause wurde über einen Lautsprecher ununterbrochen ein Lied nach einem Zitat des Vorsitzenden Mao verbreitet:

„Gebildete Jugendliche aufs Land zu schicken sowie die Weitererziehung und -bildung der armen und unteren mittleren Bauern anzunehmen, erscheint unabdingbar. Kader in der Stadt und weitere Personen sollen überzeugt werden, ihre eigenen Kinder, seien es Absolventen der Mittel- und Oberschulen oder der Universitäten, aufs Land zu schicken. Dafür soll mobilisiert werden. Die Genossen auf dem Land sollen diese Jugendlichen willkommen heißen.“

Der Inhalt des Liedes wurde so schrill vorgetragen, dass der Klang der Melodie völlig unterging. Allerdings war es schon für den Komponisten sehr schwierig gewesen, einen solchen Text ohne jegliches Versmaß zu vertonen.

In Jingxias Augen erschien die Begeisterung für die Landverschickung bei weitem nicht so groß wie beim Beginn dieser Aktion in den ausgehenden sechziger Jahren. Als der Vorsitzende Mao am 22. Dezember 1968 die Anweisung erteilt hatte, dass gebildete Jugendliche aufs Land gehen sollten, war das damals noch mit Jubel und unter Trommelschlägen auf der Straße verkündet worden so wie bereits vorher bei anderen Anweisungen von ihm. Alles wurde im Nu und ohne zu zögern umgesetzt. In der Schule, auf der Straße und in den kleinsten Gassen waren seinerzeit überall die Slogans zu sehen: „Die Weitererziehung und -bildung durch die armen und unteren mittleren Bauern auf das Land gehen“. Und die Roten Garden wetteiferten miteinander, wer als Erster freiwillig den Schritt aufs Land tat. Freiwillig gingen sie auch an Orte auf dem Land, in denen das Leben besonders hart war. Auch in Bai Wan Zhuang gab es etliche Schüler, die zum Teil noch nicht einmal die Ober- oder Mittelschule beendet hatten, und sich gleichwohl freiwillig meldeten. Sie gingen zum Teil in Gegenden der Inneren Mongolei oder in die nördliche Provinz Heilongjang, wo kaum Menschen lebten.

Wegen des aktiven Engagements der Roten Garden hatte damals die Bewegung aufs Land zu gehen eine politische Bedeutung erhalten. Es ging gar nicht mehr darum, dass für die Jugendlichen in der Stadt nicht genügend Arbeit vorhanden war. Die Jugendlichen sollten vor dem roten Altar in extremster Form ihre politische Treue zeigen.

Jeden Tag konnte man in dieser Zeit noch die aufgeregten Scharen von Schülern sehen, die auf ihrer Brust eine große rote Papierblume trugen und die den Menschen auf der Straße zum Abschied zuwinkten und laut riefen: „Wir haben auch zwei Hände und sind keine Schmarotzer in der Stadt.“ Oder: „Vorsitzender Mao, weise den Weg, ich gehe nach vorne, um auf dem Land heimisch zu werden und Revolution zu machen.“

Der Abschied nahm damals ein solch gewaltiges Ausmaß an, dass er sich durch die Straßen bis zum Bahnhof von Peking hinzog.

Es dauerte aber nicht mehr lange, dann kamen bereits die ersten Rückmeldungen von den Schülern auf dem Land. Die dörfliche Situation sei völlig isoliert, unterentwickelt und die Armut viel größer, als man das vermutet hätte. Die armen und unteren mittleren Bauern seien zumeist Analphabeten oder halbe Analphabeten. Von einer Weitererziehung oder -bildung der Schüler könnte überhaupt keine Rede sein. Sehr schnell zerplatzten die Träume von den neuen Idealen. Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei gab gegen die Konterrevolutionsgruppe von Lin Biao zum Projekt 571 Verurteilungsmaterial mit Sätzen wie „Bauern fehlen Essen und Kleidung“ und „Jugendliche Intellektuelle auf das Land zu schicken, ist nichts anderes als Umerziehung durch körperliche Arbeit“ sowie „Die roten Garden wurden von Anfang an belogen und ausgenutzt, sie wurden als Kanonenfutter missbraucht und dann als Sündenböcke hingestellt“ aus. Dies erweckte nun keinen Unmut mehr, sondern Zustimmung.

Ganz bewusst hatte das Zentralkomitee der kommunistischen Partei solche Aussagen als klassenfeindlich und landesverräterisch bezeichnet. Die Aktion der Versendung aufs Land sollte auf jeden Fall weitergehen. Die Probleme der starken Unterentwicklung auf dem Land, mit denen die Jugendlichen dann konfrontiert wurden, waren aber inzwischen bekannt. Dafür war kein Idealismus mehr vorhanden, sondern ganz im Gegenteil, der Widerwillen dagegen verstärkte sich. Die anfängliche Begeisterung für diese Aktion war jedenfalls schon bald verschwunden.

Das heldenhafte Gelöbnis: „Wir gehen aufs Land bis in seine Grenzregionen, wir gehen dahin, wo das Vaterland uns dringend braucht“ wurde längst nicht mehr freiwillig abgegeben. Es war zu einem erzwungenen Schwur geworden. Die Mobilisierungsarbeit für die Versendung aufs Land wurde entsprechend intensiviert. Sie fand nicht mehr nur in den Schulen statt, sondern wurde jetzt umfassend organisiert. Überall, auf allen Stufen von Regierung und Verwaltung, in den Betrieben der Eltern, in den für die Jugendlichen zuständigen Straßenkomitees und ähnlichen Institutionen wurde die Aufgabe weitergegeben, die Mobilisierungskampagne zum Erfolg zu führen. Zudem gab es auch noch Zwangsmaßnahmen für die Eltern. Die gingen so weit, dass Gehaltskürzungen und -streichungen angedroht wurden oder das in China bis heute geltende und an die jeweilige Stadt gebundene Bleiberecht („Huko“) gestrichen werden konnte.

Die Aktion zur Verschickung aufs Land wurde massiv fortgesetzt, war aber mit wesentlich mehr Aufwand verbunden als anfänglich und ging entsprechend langsamer voran. 1973 war sie an manchen Orten sogar schon völlig zum Erliegen gekommen. Die nach Deng Xiao Pings Rückkehr inzwischen zeitweilig erzielten Fortschritte in der industriellen Produktion waren durch die Kampagne zur Verurteilung von Lin Biao und Konfuzius längst wieder zurückgegangen. Entsprechend verringerten sich auch die Beschäftigungsmöglichkeiten in den industriellen Zentren. Deswegen befand das Zentralkomitee wieder vermehrt die Notwendigkeit, Jugendliche aufs Land zu schicken. Um die Aktion erneut zu einem Höhepunkt zu führen, wurden Stimmen gegen die Landverschickung zurückgedrängt. Das Zentralkomitee der kommunistischen Partei gab im Juni und Juli 1973 zwei Dokumente - die Nr. 21 und 30 - nach unten weiter. Darin wurden alle unteren Parteikomitees aufgefordert dafür zu sorgen, dass diese Dokumente bis ins letzte Glied verteilt würden.

Das Parteikomitee der Schule 110 sorgte dafür, dass diese neuen Dokumente ausgiebig und sorgfältig von den Absolventen behandelt wurden. Die Schüler aus der Oberschule und der Mittelschule hörten gemeinsam die Vorträge und bekamen die Dokumente vorgestellt. Das Ganze wurde dann in der Unterrichtsarbeit in Diskussionen vertieft.

Die zweite Klasse der Oberschule bearbeitete die Thematik wie schon früher in den Marxismus-Leninismus-Lerngruppen in kleinen Gruppen. Lehrer Lu kam ab und zu in die Klasse und fragte nach dem Stand der Diskussion und stand für Rückfragen zur Verfügung.

Eigentlich war das Studieren von Dokumenten des Zentralkomitees nur eine formale Angelegenheit. Darüber hinaus schätzten aber alle Schülerinnen und Schüler, dass noch etwas Zeit verblieben war, in der sie gemeinsam im Klassenzimmer sitzen durften. Man nutzte die Zeit, um sich über die individuellen Zukunftssorgen auszutauschen.

Yu Dan schaute in ihr Heft und las vor: „Genosse Li Qinglin: Sende 300 Yuan, unterstütze beim Kauf von Lebensmitteln. Im ganzen Land gibt es diese Probleme zuhauf, wir müssen sie gemeinsam bewältigen. Mao Zedong, 25. April 1973.“

„Ich bewundere dich sehr! Bereits in ein paar Tagen werden wir die Schule verlassen und Du schreibst immer noch so aufmerksam mit“, sagte Jingxia.

„Egal, wie aktiv man sich zeigt, Mitglied der Partei zu werden ist doch hoffnungslos.“

Lin Nan schaute Cimei vorwurfsvoll an: „Schlimm, Du wirst niemals aufhören mit Deinem Sticheln!“

Yu Dan lächelte etwas einfältig und klappte ihr Heft zu. „Ich arbeite schon lange im Jugendverband. Das Mitschreiben ist mir zur Gewohnheit geworden.“

Xiaodi konterte: „Ich finde, Li Qinglin ist großartig. Er kann sogar an den Vorsitzenden Mao einen Brief schreiben und die Probleme der Jugendlichen auf dem Land ansprechen.“

„Er hat aber auch ein riesiges Glück. Er hat eine handgeschriebene Antwort vom Vorsitzenden Mao bekommen“, erwiderte Jingxia.

Yang Jie schüttelte den Kopf und alle lachten laut. „Und er bekam auch noch 300 Yuan geschickt. Ich sage Euch ganz ehrlich, seit meiner Kindheit habe ich noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen.“

„Wenn ich solches Geld bekommen würde, würde ich es nicht ausgeben. Das ist doch Geld vom Vorsitzenden Mao. Das muss man gut aufbewahren“, betonte Yu Dan.

„Wahrscheinlich“ warf Lin Nan ein, „macht das der Genosse Li Qinglin genauso.“

Das Dokument Nummer 21 des Zentralkomitees beinhaltete für die Schüler gezielt Signale. Der Vorsitzende Mao nahm danach Probleme bei der Verschickung aufs Land als sehr ernst und kümmerte sich darum. Bereits die Überschrift des Dokuments 21 erweckte Neugier und versetzte in Aufregung: „Das Zentralkomitee der chinesischen kommunistischen Partei gab den Brief von Li Qinglin und die Antwort des Vorsitzenden Mao weiter.“ Der Vorsitzende Mao schrieb sogar höchstpersönlich einen Brief an einen normalen Genossen. Schon das grenzte an ein Wunder.

Der Brief war von einem mutigen Grundschullehrer aus Fujian geschrieben worden. Er hatte ihn im Dezember 1972 an den Vorsitzenden Mao geschickt: Der Mann hatte zwei Söhne, der ältere war bereits aufs Land geschickt worden, der zweite bereitete mit 16 Jahren seine Reise dorthin vor. Der Ältere befand sich im Gebirge. Dort arbeitete er das ganze Jahr über in der Landwirtschaft. Jedes Jahr bekam er nur etwa 50 Kilo Gramm Getreide zugeteilt. Davon wurde er nicht satt. Monatlich verdiente der Papa 45 Yuan. Seine Frau hatte keine Arbeit. Ab und zu musste er dem älteren Sohn Geld schicken, damit er auf dem Schwarzmarkt Lebensmittel kaufen konnte. Im Brief schilderte er das wie folgt:

„Mein Sohn kann nicht nur nicht satt werden, sondern er bekommt für seine Arbeit auch kein Geld. Wenn das ihm zugeteilte Essen zur Neige geht, bleibt ihm kein Bargeld mehr, um Weiteres zu kaufen. Bei der Arbeit wird seine Kleidung zerschlissen, aber er hat kein Geld, um neue zu kaufen. Wenn er krank ist, kann er den Arzt nicht aufsuchen, da er kein Geld hat. Für alle alltäglichen Dinge fehlt das Geld. Von 1969 bis heute arbeitet mein Kind im Gebirge, aber sein gesamter Aufwand wird von mir bestritten. Man kann darüber lachen, aber obwohl er im Wind zur Arbeit geht und bei Regen zurückkommt, hat er nicht einmal das Geld, sich die Haare schneiden zu lassen.“

In Li Qinglins Brief war unverhohlen die Sorge um seine beiden Kinder zum Ausdruck gekommen. Seine Zweifel daran, dass die Regierung diese Probleme lösen könne oder wolle, waren unverkennbar. Mutig war auch, dass er schrieb: „Wenn die oben genannten Probleme nicht einmal der Regierung vorgetragen werden dürfen, liegt die gesamte Lösung bei den Eltern. Das geht nicht. Wenn ich eines Tages sterbe, verliert mein Kind die Unterstützung der Familie. Wie kann es weiterleben? Ich habe wirklich Sorgen.“

In der Bevölkerung verbreitete sich das die Aufregung noch weiter schürende Gerücht, dass der Vorsitzende Mao beim Lesen dieses Briefes geweint habe. Deshalb habe er seine kurze klare Antwort auch selbst verfasst und 300 Yuan beigelegt.

Aber was die Schüler nicht ganz verstehen konnten, waren die düsteren Zeiten der Kinder, die aufs Land geschickt worden waren. Die waren doch wirklich nicht besser als die Worte, die von Rechtsabweichlern zum Ausdruck gebracht wurden. Es klang ganz wie die Kritik der Lin Biao-Gruppe, nach der die aufs Land verschickten Kinder ausgebeutet würden. Normalerweise hätte man für eine solche Kritik bestraft werden müssen. Stattdessen gab es diesmal nicht nur die persönliche Antwort des Vorsitzenden Mao, sondern darüber hinaus auch noch 300 Yuan. Und von einem Tag zum anderen wurde Herr Li auch noch zu einer landesweiten Berühmtheit.

Nach dem 25. April 1973 wurde der Brief von Mao verfasst und bereits am 27. April hatte der Premierminister Chou En Lei das Politbüro zu dieser Sache eingeladen. Darin wurden die Probleme der aufs Land verschickten Jugendlichen zur Sprache gebracht. Er betonte in dieser Sitzung, diese Arbeit müsse jetzt selbst in die Hand genommen werden, damit der Vorsitzende Mao nicht weiter Sorgen haben müsse. Nach der Anweisung des Premierministers schickte das Zentralkomitee sofort eine Untersuchungsgruppe in zwölf Provinzen. Diese sollte Berichte über die Situation der Jugendlichen auf dem Land erstellen.

Am 10. Juni wurde das Dokument Nr. 21 vom Zentralkomitee zu den untergeordneten Behörden weitergegeben.

Vom 20. Juni bis zum 7. August hatte der Staatsrat zum ersten Mal die Situation der Jugendlichen auf dem Land in seiner Sitzung behandelt. 47 Tage lang wurden die Probleme diskutiert. Einige Lösungsvorschläge wurden unterbreitet, so zum Beispiel eine Lösung für die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und mit Wohnraum sowie für die medizinische Versorgung. Dafür solle das Land die nötige finanzielle Unterstützung geben. Die Ausgaben für die Unterbringung sollten erhöht werden. Es wurde ein Plan für die Zeit von 1973 bis 1980 für die Lösung der Probleme mit konkreten Zielvorgaben erstellt.

Am 4. August, nachdem der Vorsitzende Mao diesen Lösungsplan gebilligt hatte, hat das Zentralkomitee der kommunistischen Partei den Bericht des Staatsrats in Form des Dokuments Nr. 30 in ganz China weitergegeben.

In diesem Dokument wurde die Situation der Jugendlichen auf dem Land über mehrere Jahre hinweg beschrieben und behauptet, in ganz China seien schon über 8 Millionen Kinder aus der Stadt aufs Land gegangen. Das hätte es in der gesamten Geschichte vorher noch nie gegeben. Über 95.000 von diesen Kindern seien Mitglieder der Partei geworden und über 830.000 Mitglieder des Jugendverbandes. Über 240.000 dieser Jugendlichen seien in Führungspositionen aufgerückt. Es wurde noch einmal betont, was für eine großartige Sache es sei, die Jugendlichen aufs Land zu schicken. Aber die sozialistische Gesellschaft befinde sich immer noch in einer Zeit, in der es zwei Linien, zwei Klassen und zwei unterschiedliche Denkarten gäbe. Das Ziel bei der Verschickung der Jugendlichen aufs Land sei, eine Nachfolgeklasse aus Millionen und Abermillionen für das Proletariat heranzubilden. Das führe zu einem beschleunigten Aufbau des Sozialismus in einem neuen China. Es sei eine Strategie zum Schutz vor Revisionismus.

Das Dokument rief noch einmal die Jugendlichen auf, dem Weg aufs Land zu folgen. Zusammen mit den armen und unteren mittleren Bauern solle mit Ehrgeiz die Landwirtschaft modernisiert werden. Die Jugendlichen sollten zu dieser historischen Aufgabe beitragen.

Nachdem das Dokument Nr. 30 ausgegeben worden war, wurde es sofort in den Provinzen und Städten verbreitet. In den Partei- und Verwaltungsorganisationen auf dezentraler Ebene wurden überall Konferenzen zu diesem Thema veranstaltet. Das Dokument Nr. 30 wurde zur Grundlage und die eigene Situation in der jeweiligen Provinz oder Stadt wurde mit ihm abgestimmt, um eigenständige Lösungen zu erzielen. Das Gesamtziel war, die Kampagne zur Verschickung aufs Land zu einem neuen Höhepunkt zu führen. Hervorzuheben ist, dass die Verschickung aufs Land mit einem langfristigen Plan verbunden war. Jedes Jahr musste eine bestimmte Planziffer von Verschickten erreicht werden.

Die Pekinger Regierung befand sich in einer Situation, die auch die anderen Provinzen und Städte traf. Um die Jugendlichen aufs Land zu schicken, musste die Propaganda verstärkt werden. Überall gab es Veranstaltungen mit Berichten über die Heldentaten der Jugendlichen auf dem Land oder Ausstellungen dazu. Das betraf sämtliche Organisationseinheiten bis hin zu den Straßenkomitees und den kleinsten Dörfern, alle mussten zuständige Personen für die Problemlösung der aufs Land verschickten Jugendlichen finden.

Die Durchführung der Verschickung aufs Land war im Detail korrigiert worden.

Erstens: Es wurde konkretisiert, welche Jugendlichen nicht aufs Land geschickt werden müssen, zum Beispiel:

Behinderte oder schwer Kranke, die nicht in der Landwirtschaft arbeiten könnten;

Einzelkinder;

bei mehreren Kindern musste gewährleistet sein, dass zumindest ein Kind in der Nähe der Eltern blieb;

wenn beide Eltern gestorben oder sehr alt oder krank und die Geschwister noch zu jung waren und dann eine Abhängigkeit von den infrage kommenden jugendlichen Personen bestand oder

Kinder mit chinesischem Pass aber ausländischer Herkunft.

Zweitens: Die Mittelschulabsolventen aus Peking sollten nicht in die Provinz geschickt werden, sondern in die Vororte von Peking. Die Jugendlichen, die aus der Stadt aufs Land geschickt wurden, sollten nicht mehr mit den Bauern zusammenwohnen und essen. Jetzt gab die Regierung Geld dafür, dass für die Schüler ein eigenes Haus gebaut werden konnte, in dem sie zusammen wohnen und essen konnten. Sie sollten zusammen mit den Landarbeitern arbeiten und sich selbst ernähren können, indem sie selbst Geld verdienten.

Die Verschickung der Jugendlichen aufs Land hatte nun einen gewissen Ordnungsrahmen bekommen. Die Aktion nahm wieder neue Fahrt auf. Die Anzahl der auf das Land Verschickten stieg wieder an. Im Winter 1974 erreichte sie einen neuen Höhepunkt. Er war schon mit dem Zeitpunkt des Beginns von 1968/69 vergleichbar. 2,67 Millionen Jugendliche wurden verschickt und 1975 belief sich deren Zahl auf 2,36 Millionen Jugendliche. Es ging für die kommunistische Führung also wieder aufwärts.

Jingxia meldet sich zur Landverschickung

Nachdem das Revolutionskomitee der Schule 110 die organisatorischen Maßnahmen für die Mittelschulabsolventen, die nicht zur Oberschule gehen sollten, in die Wege geleitet sowie das intensive Studium der neuen Dokumente des Zentralkomitees für die Versendung aufs Land und die Veranstaltungen zu deren Umsetzung durchgeführt hatte, ging es zu der mit Spannung erwarteten Verteilungsphase der Absolventen über.

Bei der Verteilung ging es eigentlich nur darum, wer nicht aufs Land geschickt werden sollte. Dafür musste ein Antragsformular ausgefüllt werden, in dem zu begründen war, warum man nicht an der Aktion teilnehmen wollte. Das Formular war von der gesamten Familie auszufüllen. Das Formular musste zudem von den Arbeitgebern der Eltern bestätigt werden. Im Ergebnis wurde es dann an die Behörde weitergereicht, die für die Landverschickung eingerichtet worden war. Dort wurde es noch einmal geprüft und gebilligt oder auch abgelehnt. Nach der Genehmigung, in der Stadt bleiben zu dürfen, wurden Empfehlungen an potenzielle Arbeitgeber weitergegeben, die dann in die Schule kamen, um ihre Auswahl vorzunehmen. Das Gremium für die Absolventenverteilung in der Schule entschied zusammen mit den Arbeitgebern, wohin solche Absolventen zu schicken waren. Sie bekamen eine Arbeit, die sie dann auf jeden Fall annehmen mussten. Blieben welche über, die immer noch nicht für eine bestimmte Beschäftigung vorgesehen waren, so wurde der Vorgang an das jeweilig örtlich zuständige Straßenkomitee weitergereicht. Das Straßenkomitee hatte dann die Zuständigkeit für die Zuteilung einer Arbeit.

Für diejenigen die nicht in der Stadt bleiben durften, bildete die Schule zunächst einmal Kontingente von denen, die für den Abruf bereitstanden. Je nachdem, welche Anfragen aus der Landwirtschaft in den Kreisen, Kommunen und Produktionseinheiten kamen, geschah dann die Verteilung.

Der Sprachregelung gemäß würde man zukünftig nicht aufs Land geschickt, sondern meldete sich freiwillig dafür. Das werde dann von der zuständigen Behörde genehmigt. Es war allerdings jedermann klar, dass diese Bezeichnung falsch war, denn die Regelung beruhte letztlich auf Zwang. Man hatte ja keine andere Wahl. Wurde man als geeignet angesehen, hing es gar nicht davon ab, ob man sich anmeldete oder nicht; man musste nolens volens aufs Land gehen. Diejenigen, die sich davor drücken wollten, bekamen keine andere Arbeit. Und sie wussten, dass sowohl die Schule als auch das Straßenkomitee auf Dauer Druck ausüben würden, um sie doch noch zum gewollten Ziel zu führen. Sie erhielten in solchen Fällen ständig Hausbesuche, bei denen ideologische Überzeugungsarbeit geleistet wurde. Führte das immer noch nicht zum Erfolg, so war es durchaus üblich, einen Boten mit einem Durchdringenden Gong zu senden, der sich mit lautem Getöse vor die Haustür stellte und dabei rief: „Herzliche Verabschiedung der Jugendlichen, die aufs Land gehen.“ Das wurde so unerträglich, dass in der Regel doch noch die „freiwillige“ Beantragung folgte. Nutzte das immer noch nichts oder wurden gar noch Worte gegen die Landverschickung gerichtet, so bekam man das Signum „Saboteur und Gegner der Landverschickung“ verpasst. Damit war man als Konterrevolutionär abgestempelt. Die politischen Folgen, mit denen man dann rechnen musste, waren jedem bewusst. In Wahrheit hatte man also gar keine andere Wahl, als „freiwillig“ mitzumachen.

Die Liste der zweiten Klasse der Oberschule derer, die nicht aufs Land gehen mussten, wurde nun ausgegeben. Die Veröffentlichungsart war dabei ganz anders als man das bei früheren wichtigen Ereignissen kannte, zu denen bestimmte Schüler ausgewählt wurden. Es geschah nun nicht mehr öffentlich im Unterricht oder gar mit Veröffentlichungen in Form von Aushängen. Der Lehrer gab jedem Schüler, der in der Stadt bleiben durfte, einen entsprechenden Ausweis, den er ihm persönlich in die Hand drückte. Dieser Ausweis wurde von der Bezirksbehörde für die Landverschickung ausgestellt.

In der ganzen Klasse gab es 42 Schüler. Drei waren bereits zur Armee gegangen. Weitere 10 durften in der Stadt bleiben. Xiaodi gehörte dazu. Sie erfüllte die Voraussetzungen für folgende Klausel: Es gab in ihrer Familie zwar mehrere Kinder, aber sie blieb als letztes zu Hause. Lin Nan erfüllte zwar ebenfalls diese Voraussetzungen, aber sie hatte nicht den Antrag gestellt, in der Stadt zu bleiben. Sie wollte diese Gelegenheit für ihre Schwester reservieren. Diese war als Konterrevolutionärin nach Yunnan geschickt worden. Sie wartete darauf, dass man sie rehabilitierte. Dann durfte sie zurückkommen. Yang Jie war das einzige Kind zu Hause und durfte selbstverständlich bleiben. Jingxia wie auch die Mehrheit der Klasse konnte solche Voraussetzungen nicht nachweisen und musste deswegen aufs Land gehen.

Den Schülern der zweiten Klasse der Oberschule war schon lange vorher bewusst, ob sie solche Voraussetzungen erfüllen würden oder nicht. Deswegen konnten sie sich, als ob das vorher abgesprochen worden wäre, am Tag, an dem die Liste ausgegeben worden war, ohne Zögern bei Lehrer Lu melden, um „freiwillig“ aufs Land zu gehen. Das wurde dann vom Revolutionskomitee der Schule öffentlich belobigt. Der Klassensprecher Gao Xiangyan nahm ein paar besonders engagierte Jungen und schrieb mit ihnen zusammen eine Wandzeitung, die er vor der Schultüre an der Tafel aufhing. Mit einem Pinsel in deutlichen Lettern auf rotem Papier geschrieben war zu lesen: „Wir, Nachfolger der revolutionären proletarischen Klasse, zeigen vor der Partei und dem Vorsitzenden Mao unsere Entschlossenheit: Wir werden konsequent den vom Vorsitzenden Mao gewiesenen goldenen Weg beschreiten und aufs Land gehen, bis wir das Ziel des Kommunismus‘ erreicht haben.“

War das naiv? Oder war es etwa besonders reif? Oder war es einfach Ironie? Was auch immer, diese Generation, die seit Beginn der Kulturrevolution immerhin ein Jahr normalen Unterricht erlebt hatte, gehörte damit schon zu einer privilegierten Minderheit. Sie träumte davon, einmal den Zugang zur Universität zu erreichen. Jetzt wusste sie aber, dass das Komitee der Partei sowie der Vorsitzende Mao diesen Traum zum Platzen gebracht hatten. In der Stadt zu bleiben, war nur noch den Wenigsten möglich. Sie wussten, dass es auf dem Land extrem hart werden würde. Sie wussten aber auch nicht, wie lange sie dort bleiben würden. Trotzdem sind sie nicht in Jammern und Wehklagen verfallen, sondern haben nach vorne geblickt und nicht ihren Mut verloren.

Bis zum Frühlingsfest 1975 war es noch eine Woche. Das Revolutionskomitee der Schule teilte mit, dass die Absolventen der Schule noch vor dem Feiertag das Klassenzimmer gründlich zu säubern hätten. Im nächsten Schuljahr könnten sie es ja nun nicht mehr genießen. Diejenigen, die nicht aufs Land gingen, warteten zu Hause auf die Mitteilung, welche Arbeit ihnen zugeteilt würde. Diejenigen, die aufs Land gingen, warteten zu Hause auf die offizielle Genehmigung ihres „freiwillig“ gestellten Antrages.

Am ersten Samstag im Februar stand ein letztes Mal das Klassenzimmer der zweiten Klasse der Oberschule zur Verfügung. Am frühen Morgen, als Jingxia und Xiaodi ins Klassenzimmer kamen, wurden sie von folgendem Bild überrascht: Gao Xiangyan stand zusammen mit anderen Jungen auf der Fensterbank. In der Hand hatten sie Zeitungspapier, mit dem sie die Fenster putzten; Lin Nan, Yang Jie und Ci Mei sowie weitere Mädchen hatten Lappen in der Hand, und wischten Tische und Stühle ab. Ein sehr kalter Wind drang durch die geöffneten Fenster in das Klassenzimmer und war auf den Gesichtern zu spüren. Früher hätte Yangjie bestimmt laut geschrien. Heute blieb es insgesamt ruhig. Es war vermutlich die Trauer vor dem Abschied, die zu dieser Stille führte. Niemand sprach, alle arbeiteten stumm vor sich hin.

„Ihr seid ja schon so früh gekommen“, unterbrach Xiaodi die Stille.

Jingxia erblickte neben dem Lehrertisch einen Eimer, in dem das Wasser bereits sehr schmutzig war.

„Ich gehe das Wasser wechseln“, sagte Jingxia und nahm den Eimer.

„Lass mich das machen, der Eimer ist sehr schwer.“ Gao Xiangyan sprang von der Fensterbank, wischte sich seine Hände an der Kleidung ab und klopfte den Staub vom Hemd. Dann nahm er Jingxia den Eimer aus der Hand, drehte sich um und ging aus dem Klassenzimmer.

Jingxia spürte, wie ein warmer Strom durch ihren Körper ging. Auch ihre Backen wurden heiß. Als er ihr den Eimer abgenommen hatte, war es unbewusst zu einer Berührung ihrer Hände gekommen.

„Ich bin sehr neidisch auf Euch!“ Xiaodi schaute auf den Rücken von Gao Xiangyan.

„Auf uns neidisch?“ Jungxias Herz fing an zu klopfen. Sie unterdrückte ihre innere Unruhe, ging zur Zimmerecke, nahm einen Besen in die Hand und schaute mit fragendem Blick auf die Freundin.

„Ja, das stimmt. Ihr geht aufs Land und werdet jeden Tag zusammen sein. Wir bleiben in der Stadt und werden in der Zukunft allein sein.“

Jingxia fing an zu kehren. Sie war über diese Erklärung erleichtert. Xiaodi hatte ihre innere Unruhe nicht bemerkt.

„Du lebst dann doch im Glück und bemerkst das gar nicht“, sagte Ci Mei.

„Ich finde, das ist kein Glück. Ich möchte gerne mit Euch zusammen aufs Land gehen“, sagte Xiaodi.

„Das geht aber nicht! Sonst wird Deine Mama allein sein.“, erwiderte Yang Jie. „Ich möchte mit Euch für immer zusammen sein.“ Xiaodi lächelte, als ob sie zu sich selbst gesprochen hätte. Ihre hellen großen Augen verrieten ihre Trauer.

Seit der Ausgabe der Liste derer, die in der Stadt bleiben durften, gehörte sie nicht zu denen, die darüber in Jubel ausbrachen. Jingxia wusste, es war Gao Xiangyan, der ihr am Herzen lag.

„Du kannst doch oft zu unserem Dorf kommen und uns besuchen“. versuchte Jingxia zu trösten.

„Wer weiß, welche Arbeit mir zugeteilt wird und ob ich dafür noch Zeit haben werde.“

„Dringdringdring!“ Der Ton der Unterrichtsglocke unterbrach die Unterhaltung. Ein Schüler nach dem anderen kam ins Klassenzimmer.

„Sind schon alle da?“ Gao Xiangyan kam mit dem Eimer in der Hand und schaute sich unter seinen Mitschülern um.

„Ich denke schon“, antwortete ein Junge.

„Nein, Jianguo und Zhiqiang sind noch nicht gekommen!“ Gu Xiaogong rief von seinem Platz auf der Fensterbank aus.

„Ich komme schon“, meldete sich Ding Zhiqiang hinter dem Rücken von Gao Xiangyan. Neben ihm stand auch Li Jianguo.

„Kaum spricht man vom Teufel, schon ist er da“, sagte Gu Xiaogong und sprang von der Fensterbank.

„Wir sollen uns beeilen. Eben habe ich im Flur Lehrer Lu getroffen. Er sagte, er würde mit Lehrer Wang zusammen zu uns kommen“, sagte Gao Xiangyan und stellte den Eimer auf den Boden. Dann nahm er einen Wischmopp, tauchte ihn ein und legte ihn auf dem Boden zum Putzen bereit.

„Lass mich machen, gib mir die Gelegenheit, das zu übernehmen!“ Li Xianguo nahm ihm den Mopp aus der Hand und fing an zu putzen.

„Na ja, und was hast Du davor gemacht? Wenn Du jeden Tag auch schon in der vergangenen Zeit den Boden gewischt hättest, wärst Du längst Mitglied im Jugendverband geworden“, lachte Ding Zhiqiang.

„Ich bin ganz wie Lei Feng. Wenn ich etwas Gutes tue, lasse ich es die anderen nicht bemerken.“

„Da redest Du aber groß daher! Wer war es denn, der im landwirtschaftlichen Betrieb ständig über Rückenschmerzen geklagt hat?“

„Hahahaha“, brach jetzt ein allgemeines Gelächter aus, in das auch die Mädchen einfielen.

„Jetzt reden wir einmal über ernsthafte Dinge. In unserem Wohnviertel hat sich ein Junge für Yan An angemeldet. Das wurde bereits gebilligt“, erzählte Li Jianguo und fing kräftig an mit seinem Mopp zu putzen.

„Wirklich? Bewundernswert!“ Ding Zhiqiang saß auf dem Tisch und hob seine Beine an, damit der Mopp unter ihm durchkommen konnte.

„Er sagte, in ganz Peking gäbe es über 60 Oberschulabsolventen, die sich ebenfalls dahin gemeldet hätten.“

„Das ist aber gar nicht viel!“

„Das ist in etwa von Tausend einer.“

„Ist seine Familie damit einverstanden?“

Jingxia nahm den Besen und fegte die Papierreste zusammen. Dann nahm sie sie mit dem Handfeger und der Schaufel auf. Im Anschluss entdeckte sie einen Lappen auf dem Lehrertisch. Den tauchte sie in Wasser und fing an die Tafel zu wischen. Sie nutzte die Gelegenheit, um zu lauschen, was die Jungen untereinander besprachen.

„Sie ist nicht einverstanden! Er hat mit seinen Eltern gestritten. Seine Mutter flehte mich an, ihn davon zurückzuhalten.“

„Warum will er denn unbedingt nach Yan An gehen?“, fragte Gao Xiangyan. „Er hat erzählt, der Premierminister Zhou Enlai habe eine vietnamesische Regierungsvertretung nach Yan An begleitet. Dort sei er sehr traurig gewesen und habe sogar geweint. Seit der Befreiung der Volksrepublik habe sich dort nur wenig geändert. Die Wirtschaft sei nach wie vor sehr unterentwickelt und das Leben des Volkes entsprechend schwer.“

„Das ist wirklich so. Ich habe das in unserem Wohnviertel gehört, als die Leute aus dem nördlichen Shanxi zurückkamen. Dort seien die Bauern wirklich sehr arm. In manchen Familien gäbe es nur eine Hose. Wenn einer aus der Familie, Eltern, Bruder oder Schwester aus dem Haus gehe, trage er diese Hose.

Diejenigen, die nicht aus dem Haus gingen, säßen auf dem Kang und bedeckten sich mit einer alten kaputten Decke. Die gesamte Familie habe nur eine gemeinsame Bettdecke.“

Ein Junge mit Brille kam hinzu.

„Das hast Du falsch gehört! Da wurde bestimmt über die Zeit vor der Befreiung gesprochen“, sagte Ding Zhiqiang.

„Nein, nicht vor der Befreiung, sondern jetzt!“

„Sei der Befreiung sind so viele Jahre vergangen. Warum herrscht dort immer noch so viel Armut?“

„Deshalb sagte mein Freund: Yan An ist ein heiliger Ort der chinesischen Revolution. Unsere Generation trägt die Verantwortung dafür, dass dort gut aufgebaut wird. Das Volk von dort muss ein besseres Leben führen können.“

„Ein Idealist! Sehr ehrgeizig!“ Gao Xiangyan nickte.

„Selbst, wenn einige Jungen aus Peking dorthin gehen, können sie sich denn wirklich von der Armut befreien?“, wandte der Junge mit der Brille ein.

„Psssst!“ Ding Zhiqiang hielt den Finger mahnend vor die Lippen. Dann schaute er zur Türöffnung und überprüfte den Flur. Mit einem Mal sprang er auf dem Tisch auf und rief: „Lehrer Wang, guten Tag!“

„Guten Tag, alle Schüler!“ Lehrer Wang trat lächelnd ins Zimmer.

„Was für ein interessantes Thema habt Ihr diskutiert? Schon im Flur habe ich Eure Stimmen gehört.“ Lehrer Lu trat hinter Lehrer Wang nun auch ins Klassenzimmer.

„Lehrer Wang, Lehrer Lu!“ Jingxia stand noch mit dem nassen Lappen vor der Tafel und begrüßte lächelnd ihre beiden Lehrer.

„Oh, nun ist aber die schwarze Tafel wirklich sehr sauber geworden.“ Lehrer Wang drehte sich von der Seite zur Tafel und schaute sie genau an.

„Ich habe sie auch mehrfach gewischt“, erwiderte Jingxia.

„Wir haben gerade darüber diskutiert, dass sich einige Jugendliche nach Yan An gemeldet haben. Ich denke nicht, dass, wenn ein paar mehr oder weniger junge Leute aus Peking dorthin gehen, sie an der Armut dort etwas ändern können“, antwortete der Junge mit der Brille in unverändert lautem Ton.

„Heute ist der letzte Tag, an dem wir gemeinsam diesen Unterrichtsraum benutzen. Da sollten wir ausgiebig die Zeit nutzen, miteinander vergnüglich zu plaudern.“ Der Humor von Lehrer Wang brachte die Schüler wieder einmal zum Lachen. Er drehte sich um und ging zur Mitte des Zimmers, nahm einen Stuhl und setzte sich.

„Lehrer Wangs Vorschlag ist gut. Kommt, wir setzen uns hier alle hin.“ Lehrer Lu lenkte geschickt von dem gerade angeschnittenen Thema ab, schaute zu dem Jungen mit der Brille und dem neben ihm stehenden Jungen und setzte sich neben Lehrer Wang.

„Was habt Ihr vor, wenn Ihr auf das Land geht?“ Als die Schüler sich alle hingesetzt hatten, blickte Lehrer Wang in die Gruppe der Mädchen.

„Gute Arbeit machen, so früh wie möglich in die Partei eintreten“, erwiderte Yu Dan.

„Wenn ich dort Barfußärztin werden kann, ist das auch gut.“ Lin Nan stützte ihr Kinn auf, als sie sprach.

„Und Du?“ Lehrer Wang schaute Jingxia an.

„Ich?“ Jingxia schüttelte den Kopf: „Ich weiß es nicht.“

„Ich habe keine andere Fähigkeit, als mit dem Gesicht zur Erde und dem Rücken zum Himmel mein Tageswerk zu verrichten, was sollte ich anderes tun?“

Ci Mei brachte sich in ihrer typischen Weise ein.

„Hahaha“, lachten nun alle.

„Eine Sache solltet Ihr Euch nicht nur vornehmen, sondern konsequent verfolgen!“ Lehrer Wang schaute sich im Kreis der Schüler um.

„Was?“ Jingxia schaute erstaunt Lehrer Wang an.

„Lesen!“

„Lesen? Welche Bücher sollen wir lesen?“, fragte ein Junge.

„Lest die Bücher, die Ihr selbst liebt!“

„Wir können doch sowieso nicht mehr zur Universität gehen. Was soll uns dann das Lesen bringen?“, erwiderte Ci Mei.

„Gleichgültig, ob Ihr zur Universität geht oder nicht, Lesen und Lernen hat für das menschliche Leben eine überragende Bedeutung.“ Lehrer Wangs Ton klang etwas ungeduldig, nicht mehr wie sonst gewohnt. Jingxia konnte die Sorgen in seinen Augen sehen.

„Lehrer Wang hat Recht.“ Lehrer Lu schaltete sich ein und sprach weiter: „Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer das gesagt hat, aber es war gut gesagt: Bücher sind die Nahrung der Welt. Ein Leben ohne Bücher ist wie ein Leben ohne Sonnenstrahlen. Weisheit ohne Bücher ist wie ein Vogel ohne Flügel.“ „Das ist von Shakespeare“, hörte man eine Stimme aus der Gruppe der Jungen.

„Ein gutes Gedächtnis!“ Auf dem Gesicht von Lehrer Lu war ein Lächeln zu erkennen, als er zu Gao Xiangyan blickte.

„Wer ist Shakespeare?“ Li Jiangou blickte zu Gao Xiangyan.

„Shakespeare war ein großer Dramatiker und Dichter der Renaissancezeit in Europa. Er war Engländer. Etliche seiner Theaterstücke wurden in fast alle Sprachen übersetzt.“

„Welche Werke von ihm sind denn besonders berühmt geworden?“, fragte ein Junge.

„Alleine über 30 Theaterstücke haben Berühmtheit erlangt, daneben viele Dichtungen. Ich habe von ihm nur ‚Hamlet‘ und ‚Romeo und Julia‘ gelesen.“

„Kennst Du diese Bücher?“ Jingxia legte die rechte Hand vor ihren Mund und sprach leise ins Ohr der neben ihr sitzenden Lin Nan.

„Ich habe von meiner Mama gehört, als sie noch in der Uni war, habe sie im Theaterstück ‚Romeo und Julia‘ mitgespielt. Das ist eine berührende Liebesgeschichte.“

„Ich habe noch nie davon gehört“, flüsterte Jingxia. Mit bewunderndem Blick schaute sie zu Gao Xiangyan und sagte zu Lin Nan: „Wie kann er nur so viele Bücher gelesen haben?“

Die Zeit verging unbemerkt im Nu. Immer wieder ertönte das Klingeln des Beginns oder des Endes von Unterrichtsstunden. Die beiden Lehrer und die Schüler saßen zusammen, gerade so, als ob sie das Läuten gar nicht gehört hätten. Sie sprachen von Shakespeare und der Renaissance in Europa und parallel dazu, über welche Dynastie in dieser Zeit in China herrschte. Der Stil der chinesischen Lyrik im Vergleich zu der von Europa wurde angesprochen, die klanggleichen Endungen in Gedichten und ihr Versmaß, auf der anderen Seite das indirekte Zeigen von Gefühlen in China im Gegensatz zur offenen Ausdrucksweise in der europäischen Dichtung. Von einem Thema kann man zum nächsten. Plötzlich war schon Mittagszeit und in einem Moment kurzer Stille hörte man bereits das Knurren hungriger Mägen einiger Jungen.

„Da scheint bei jemandem eine Revolution im Bauch stattzufinden. Wahrscheinlich ist die Essenszeit gekommen.“ Lehrer Lu erheiterte die Runde.

„Oh ja, es ist schon bald zwölf Uhr!“ Lehrer Wang schaute auf seine Armbanduhr.

„Die Zeit verging so schnell“, sagte Jingxia zu Lin Nan.

„Bis hierhin hatten wir Gelegenheit miteinander zu plaudern. Ich freue mich sehr darüber, noch einmal mit Euch zusammen gewesen zu sein.“ Lehrer Wang stand von seinem Platz auf und warf noch einen Blick auf alle. Seine Augen waren voller Güte. Langsam sprach er weiter: „Gleichgültig, wohin Ihr geht, vergesst nicht Eure alte Schule! Sie wird Euch auch künftig im Auge behalten und Eure Wege verfolgen. Komm so oft wie möglich nach Hause. Teilt uns Eure beruflichen Erfolge mit, wir wollen uns doch mit Euch darüber freuen. Das gilt aber auch umgekehrt: Rückschläge und Schwierigkeiten wollen wir auch erfahren; wir wollen auch Eure Sorgen teilen. Schüler, ich bin sehr stolz auf Euch!“

Jingxia kamen die Tränen. Sie biss die Zähne aufeinander, damit sie nicht zu fließen begannen. Die vergangenen Jahre streiften in diesem Moment Bild für Bild durch ihren Kopf. Es war, als ob es erst gestern gewesen wäre:

Die Grundschule Yu Hong. Da stand die von ihr bewunderte Lehrerin Liu neben ihrem Lehrertisch und musste immer wieder auf einen dreibeinigen Stuhl steigen, was bei den Kindern jedes Mal großes Gelächter hervorrief. Ratlos schaute sie in den Kreis dieser bösartigen Kinder.

Das Gesicht des Direktors von der Grundschule Yu Hong wurde mit Tinte verschmiert. Seine Haare wurden zur Hälfte abrasiert. Und noch nicht genug, sie gaben ihm auch noch Ohrfeigen. Schließlich schlugen sie ihn mit Ziegelsteinen und prügelten ihn mit Faustschlägen und Fußtritten. Dann drehten sie seine Arme nach hinten. Er konnte diese Quälereien und Beleidigungen nicht länger aushalten und beging Selbstmord.

Die Musiklehrerin Zhang von der Schule 110 trug immer hässliche, blaue, weit geschnittene Kleidung. Sie ging mit gesenktem Kopf der ihr auferlegten Arbeit nach, die Toiletten zu putzen. Wenn die Schüler an ihr vorbeigingen, war sie entweder Luft für sie oder sie erntete nur Blicke voller Verachtung. Begrüßt wurde sie von niemandem.

Lehrer Wang stand ihr im Moment gerade gegenüber. Mit einem Stock trug er damals sein schweres Reisegepäck auf dem Rücken. Gemeinsam mit den Schülern unternahm er den langen Marsch, gemeinsam arbeitete er mit ihnen auf dem Land. Unter der heißen Sonne rollten ihm die Schweißperlen von der Stirn. Sein Hemd war völlig durchnässt. Als er selbst dringend Wasser benötigte, gab er häufig seine Feldflasche an die Schüler weiter.

Es waren Dinge, an die sie eigentlich nicht mehr zurückdenken wollte. Sie fragte sich: Warum hat meine Generation ihre Lehrer so behandelt? Sie hatten ihr doch Wissen, ja Liebe geschenkt. Zurück bekamen sie Hass und Gewalt.

Was für eine Sünde!

„Das Frühlingsfest steht vor der Tür. Ich wünsche Euch frohe Feiertage!“

Auch Lehrer Lu stand jetzt auf.

„Genießt das gute Essen und die schönen Spiele in der Familie! Erholt Euch gut und bereitet Euch auf den neuen Kampf vor!“ Das Gesicht von Lehrer Wang zeigte ein Lächeln. Er winkte den Schülern zu, drehte sich um und ging aus dem Klassenzimmer. Lehrer Lu folgte ihm.

Jetzt standen auch alle Schüler auf und winkten ihnen nach. Als sie „Auf Wiedersehen, Lehrer“ sagten, konnte man heraushören, wie nah sie sich ihnen fühlten.

Als beide Lehrer verschwunden waren, lief Jingxia mit einem Mal aus dem Klassenzimmer. Sie rief hinter Lehrer Wang her: „Lehrer Wang!“

Lehrer Wang blieb stehen und drehte sich um. Lächelnd schaute er zu Jingxia und wartete auf ihre Frage.

„Lehrer, vielen Dank für ihre Betreuung!“ Jetzt rollten ihr die Tränen über die Wangen.

„Mir brauchst Du nicht zu danken! Die Stunden, in denen ich Euch Unterricht erteilen durfte, waren meine glücklichsten. Schülerin Wu Jingxia, eines musst Du mir versprechen.“ Jingxia schaute ihn fragend an. „Du warst immer eine meiner besten Schülerinnen. Du hast eine Begabung für das Schreiben. Vergiss das nicht. Wenn Du aufs Land gehst, gleichgültig, wie beschäftigt oder müde Du bist, nimm Dir die Zeit zum Lesen und zum Schreiben! Eines Tages wird das nützlich sein.“

„Das werde ich gewiss tun!“ Jingxia nickte und presste fest ihre Lippen aufeinander.

„Der Himmel schuf in uns die Gaben –

so müssen wir sie nutzen.

Wenn tausend Gulden verschleudert sind –

Sie kehren wieder ein andermal.“

Lehrer Wang schaute Jingxia an. In seinen Augen stand eine Frage.

„Das ist ‚Hier kommt der Wein‘ von dem Dichter Li Bai!“

„Nicht schlecht!“

„Geh zurück, auf Wiedersehen!“ Lehrer Wang winkte noch, drehte sich um und entfernte sich.

„Ich werde zuerst dieses Gedicht vortragen und dann sagt Ihr, wer es geschrieben hat.“ Sie schaute dem kleinen, nicht so fixen Lehrer nach und ein bekannter Ton kam ihr wieder ins Ohr. Ihr kam die Szene vor Augen, als er das erste Mal ins Klassenzimmer gekommen war: sie schloss die Augen zur Hälfte, schaute über die Schüler hinweg nach vorne und nahm wieder den starken Akzent aus Sichuan wahr. Langsam und gefühlvoll hatte er das Gedicht von Li Bai vorgetragen.

Kapitel 2 - Verabschiedung der Absolventen aufs Land

„Jingxia, Jingxia!“

„Das ist Fengxin.“ Nachmittags saß Jingxia mit Nainai zusammen und nähte an ihrer Bettdecke. Sofort sprang sie begeistert auf und lief zum Fenster.

„Dieses Kind war schon lange nicht mehr bei uns.“ Nainai lief in kleinen Schritten hinter Jingxia her und schaute mit ihr nach draußen.

„Komm hoch!“ Jingxia winkte ihr zu und lief schnell zur Tür, um ihr zu öffnen. Sie beugte sich über das Treppengeländer, um zu sehen, wie sie nach oben kam.

„Wann bist Du zurückgekommen? Während des Frühlingsfestes sind Xiaodi, Lin Nan und ich zu Dir nach Hause gegangen. Deine Mama hat gesagt, Du seist nicht zurückgekommen.“

„Ich habe das von meiner Mama gehört. Ich bin erst gestern Abend zurückgekommen.“

„Nainai!“ Als sie zur Tür hereinkam, begrüßte sie sie liebevoll.

„Ich habe Dich schon lange nicht mehr gesehen.“

„Das stimmt. Ich bin etliche Monate nicht mehr nach Hause gekommen.“

„Warum? Bist Du so beschäftigt? Das Frühlingsfest ist schon seit einer Woche vorbei und Du kommst erst jetzt zurück“, bemerkte Jingxia.

„Setz dich, dann können wir in Ruhe plaudern.“ Nainai zog einen Stuhl vom Esstisch hervor und ging in die Küche.

„Naja, nach der Herbsternte fing unser Dorf an, ein Staubecken auszuheben.

Deshalb hatte ich immer noch keinen freien Tag.“

„Aber zum Frühlingsfest müsst Ihr doch frei haben.“

„Um das Staubecken vor der Frühlingseinsaat fertigstellen zu können, forderte die Produktionseinheit die Jugendlichen aus der Stadt und dem Dorf auf, eine jugendliche Stoßbrigade zu bilden. Sie sollten ein revolutionäres und kämpferisches Frühlingsfest verbringen.“

„Dann hast Du also freiwillig aufgegeben, Dein Frühlingsfest zu Hause zu verbringen?“

„Natürlich! In solch wichtigen Momenten musst Du Dich aktiv zeigen.“

„Ist Dein Parteieintritt schon in Sicht?“

„Ich bin schon auf der Kandidatenliste.“

„Wirklich? Du bist super!“

„Ich hab noch bessere Nachrichten.“

„Was denn? Schnell heraus damit!“

„Komm, Fengxin, probiere einmal den von mir gebrauten Reisschnaps.“ Nainai kam aus der Küche und unterbrach den Dialog.

„Danke, Nainai!“ Fengxin stand auf, nahm eine kleine Schale aus Nainais Hand und stellte sie auf den Tisch. Dann legte sie ihre mitgebrachte Umhängetasche ab, gab sie Nainai und sagte: „Ich habe die ganze Zeit mit Jingxia geplaudert und das ganz vergessen. Das ist für Sie.“

„Für mich?“ Nainai setzte sich, legte die Tasche auf den Tisch und öffnete sie. In ihr war eine Pappschachtel. Sie entnahm sie der Tasche. Jetzt wurde Jingxia neugierig. Sie nahm den Deckel der Schachtel ab. In ihr lag trockenes Heu. Sie nahm es ab und rief laut: „Eier!“

„Fengxin, Du weißt doch, um Eier zu kaufen, braucht man Lebensmittelkarten. Pro Person gibt es dafür jeden Monat 250 g. Du bringst uns so etwas Wertvolles und Dein Bruder befindet sich gerade in der Wachstumsphase. Ihr müsst die Eier selbst behalten“, sagte Nainai, legte den Deckel wieder auf die Schachtel und schob sie zu Fengxin zurück.

„Tante Zhang, meine Hauswirtin, hat mir viele geschenkt. Meine Familie hat noch genug davon. Behalten Sie sie doch!“

„Sie ist aber wirklich ein guter Mensch. Ein paar Hühner zu züchten und die Eier zurückzubehalten, ist nicht einfach.“

„Das stimmt. Tante Zhang hat gesagt, wenn man es mit der Hühnerzucht übertreibt, wird man als kapitalistischer Schwanz abgehackt. Deshalb kann man nur heimlich ein paar Hühner halten. Noch trauriger ist es, wenn man Eier weiterverkaufen will und erwischt wird. Dann werden sie alle beschlagnahmt. Wenn man in unserem Dorf eigenes Getreide oder Gemüse im eigenen Garten anpflanzen will, geht das auch nicht. Alles wird wieder herausgerissen.“ Nainai schüttelte den Kopf und sagte: „Einen lieben Gruß von mir an Tante Zhang!“

„Mache ich! Ehrlich gesagt, ich habe sie nur ungern verlassen.“

„Sie verlassen?“ Jingxia schaute sie fragend an.

„Ja, eben hatte ich noch nicht zu Ende erzählt.“ Fengxin lächelte.

„Ja, das stimmt! Du sprachst von einer noch besseren Nachricht. Welche Nachricht?“

„Bevor ich nach Hause kam, hat der Parteichef in unserer Produktionseinheit mit mir gesprochen. Er sagte, die Kommune habe unserer Produktionseinheit aus der Quote einen Platz für den Zugang zur Universität zugeteilt.“

Jingxia stockte der Atem, als sie Fengxin anschaute.

„Der Parteichef sagte, die Produktionseinheit werde mich für den Zugang zur Universität empfehlen.“

„Wow, was für ein riesiges Glück! Da hast Du aber wirklich das große Los gezogen. Ich freue mich für dich. An welche Universität wirst Du kommen?

Welches Fach?“ In ihrer Freude redete Jingxia schon etwas durcheinander.

„Die Rede war von der Industrieuniversität in Peking. Da könne ich Hausbau erlernen.“

„Zur Universität gehen, um Hausbau zu erlernen?“ Nainai grummelte vor sich hin und ging wieder nach nebenan, um mit dem Nähen an der Bettdecke fortzufahren.

„Was soll das? In der Universität heißt das Bauingenieurwesen.“

„Bauingenieurwesen?“ Fengxin schaute Jingxia erstaunt an.

„Ja, natürlich! In diesem Fach erlernt man das Zeichnen und die Konstruktion von Gebäuden, die Auswahl der erforderlichen Baustoffe und so weiter.“

„Ist das so kompliziert?“

„Fengxin, dieses Fach passt sehr gut zu dir. Hast Du vergessen, in der Mittelschule im Basisunterricht für Industrie hast Du dreidimensionale Zeichnungen sehr gut hinbekommen und Modelle der Industrieprodukte hervorragend geknetet. Du wurdest vom Lehrer immer gelobt. Ohne Deine Hilfe hätte ich meine Aufgaben nie erledigen können.“

„Naja, lobe mich nicht! Ohne Deine Hilfe hätte ich auch meine Aufsätze nicht schreiben können.“

„Jeder hat seine Stärken. Wann gehst Du zur Uni?“

„Ich habe gehört ab Anfang April.“

„Oh ja, das ist ja schon sehr bald. Du musst dich beeilen und dich gut vorbereiten, damit Du nicht bei den Eingangsprüfungen durchfällst.“

„Seit dem letzten Jahr brauchen die zur Universität Empfohlenen keine Eingangsprüfungen mehr abzulegen. Ich würde das sowieso nie schaffen.“

„Ja, das stimmt! Wenn Du mich jetzt nicht darauf hingewiesen hättest, hätte ich das glatt vergessen. Seit der Geschichte von Zhang Tiesheng mit seinem leeren Prüfungsbogen sind ja die Prüfungen abgeschafft worden.“

„Im vorletzten Jahr wurde ein lokaler Junge aus unserer Kommune empfohlen. Er musste an einer Eingangsprüfung teilnehmen. Dabei hat er etwas Lustiges gemacht. Als bei seiner Prüfung die Frage gestellt wurde, wie viele Länder Indochina umfasse, was meinst Du, wie er darauf geantwortet hat?“

„Wie?“

„Indien, Indonesien, Pakistan.“

„Hahahaha! Wie kann man die zusammenschmeißen?“ Jingxia lachte und sagte weiter: „Aber selbst, wenn sie zur Uni gegangen sind, sind sie auch nicht besser. Ich habe von Ci Mei in unserer Klasse gehört, ein Student aus dem Fach Mathematik konnte nicht ½ und ½ zusammenrechnen.“

„Wirklich? ½ und ½ macht doch 2/4. So eine einfache Rechnung! Das ist wirklich dumm.“ Fengxin schaute mit großen Augen.

Jingxia verbarg ihre Verlegenheit, schaute Fengxin an und sagte: „Du hast wirklich Glück gehabt, Du kannst ohne Prüfung direkt zur Uni gehen.“

„Eigentlich hättest Du zur Uni gehen sollen.“

Die Worte von Fengxin stachen Jingxia ins Herz. Die Atmosphäre im Zimmer wurde stiller.

„Nainai, der Reisschnaps von Ihnen schmeckt wirklich gut.“ Fengxin lenkte etwas vom Thema ab und unterbrach die Stille.

„Früher gab es in unserer Heimat Sichuan überall Klebreis, die Grundlage dafür. Jetzt kann man nur zum Frühlingsfest ein wenig davon einkaufen.“

„Nainai, diese Überdecke ist sehr elegant und schön.“ Fengxin stand auf und ging zu dem Bett, wo Nainai gerade arbeitete.

„Jingxia wird aufs Land gehen. Ich mache ihr eine dicke und solide Bettdecke.“

„Ich habe das von meiner Mama gehört. Wann gehst Du und wann Lin Nan?“

Fengxin drehte ihren Kopf zu der am Tisch sitzenden Jingxia.

„Das weiß ich nicht. Wir haben noch keine Mitteilung bekommen.“

„Nächsten Montag muss ich zurück zu meinem Dorf fahren. Schade, dass ich bei Deinem Abschied nicht dabei sein kann.“

„Hast Du morgen Vormittag Zeit? Wir können zusammen Xiaodi und Lin Nan besuchen.“

„Einverstanden!“ Fengxin nickte.

Gegen Abend stand Jingxia vor dem Fenster und sah Fengxins Silhouette langsam entschwinden. Sie erinnerte sich daran, wie sie vor zwei Jahren mit ihr zusammen im Zizhu Park plauderte: „Unser Parteichef in der Produktionseinheit hat gesagt, wer die meisten Schwielen an den Händen habe, zeige, dass er schwer gearbeitet hat. Je mehr er davon habe, desto eher sei er geeignet, zur Uni zu gehen.“

„Das ist nicht einfach, Fengxin! Wann kannst Du nach Peking zurückkehren?“

„Wer weiß? Ehrlich gesagt, ich vermisse die Zeit in der Schule, obgleich ich nicht so gut im Lernen war. Aber trotzdem möchte ich nicht lebenslänglich aufs Land gehen. Die einzige Chance, das Land zu verlassen, ist aus meiner jetzigen Sicht die Empfehlung zur Uni.“

„Wenn Du zwei Jahre hart gearbeitet hast, bekommst Du bestimmt diese Empfehlung.“

„Im Moment sind das nur Träume.“

„Na ja, vielleicht können wir in zwei Jahren in derselben Uni studieren.“

„Aber Deine Träume gehen immer tiefer.“

Jingxia spürte in ihr Traurigkeit aufkommen.

„Diese Welt hat sich wirklich verändert.“ Nainais Worte rissen Jingxia aus ihren Gedanken.

„Was hat sich verändert?“

Jingxia drehte sich um und sah Nainai am Tisch mit in die Hand gestütztem Kopf sitzen, als sie zu sich selbst sprach: „Dein Vater war in der Oberschule wegen seiner guten Noten. Dann hat er auch die Aufnahmeprüfung zur Universität geschafft. Jetzt ist es umgekehrt. Die Schüler mit den besseren Noten gehen aufs Land als Bauern und diejenigen, die nicht gut lernen können, gehen zur Universität.“ Nainai stöhnte schwer auf.

Jingxia setzte sich zu Nainai und sagte: „Nainai, Du brauchst keine Sorgen zu haben. Ich werde es auf dem Land wie Fengxin tun. Ich werde schmutzige und harte Arbeit annehmen und mich von meiner besten Seite zeigen. Dann werde ich wahrscheinlich auch in zwei Jahren von den Bauern zur Uni empfohlen.“ „Du kannst Deinen Körper nicht mit dem von Fengxin vergleichen. Sie hat schon als Kind hart im Haushalt gearbeitet, hat auch das Wasser getragen.“

„Ich werde meine Kräfte steigern.“ Nainai schüttelte den Kopf, stand auf und sagte: „Ich muss das Abendessen vorbereiten.“ Dann ging sie in die Küche.

Anfang März bekam Jingxia von ihrer Schule die Mitteilung über ihre Zuteilung aufs Land.

Die Mitteilung hatte die Größe und Form einer Auszeichnung, wie man sie zuvor bisweilen an die Wand gehängt hatte. Sie war auf weißem Papier abgedruckt. Im unteren Teil befand sich ein buntes Bild. Ein mittlerer Bauer stand ganz vorne und trug auf der linken Schulter eine Hacke. Mit der rechten Hand zeigte er nach vorne. Hinter ihm standen junge Mädchen und Jungen, die ebenfalls auf der Schulter solche Hacken trugen. Sie strahlten voller Dynamik. Ein Mädchen trug eine noch gute Militäruniform. Um ihre Schulter hing der rote Medikamentenkoffer der Barfußärzte mit dem Rote-Kreuz-Aufdruck. Ein Junge mit blauer Kleidung trug in der Hand einen Strohhut und hatte seine Arme bis zum Ellbogen hochgekrempelt. Auf seinem hübschen Gesicht zeigte sich ein Lächeln. Hinter ihnen war ein riesiges grünes Feld zu sehen. Auf beiden Seiten standen hohe Weidenbäume, die vom Wind bewegt wurden.

Auf dem oberen Teil des Papiers stand in roten Lettern ein Zitat des Vorsitzenden Mao: Das Land ist ein breiter Ort mit einem großen Himmel und einer weiten Fläche. Dort kann man seine Fähigkeiten zeigen.

In der Mitte stand in auffällig großer roter Schrift: Mitteilung über den Gang aufs Land und ins Gebirge.

Unter dieser großen Schrift war zu lesen:

Schülerin Wu Jingxia

Du hast durch Dein praktisches Verhalten voller Begeisterung dem Aufruf des großen Führers, des Vorsitzenden Mao, Folge geleistet und dich aktiv gemeldet, aufs Land zu gehen. Du nimmst weiter an der Erziehung und Bildung durch die armen und unteren mittleren