Kinder, Koks und Limonade - Stina Jensen - E-Book

Kinder, Koks und Limonade E-Book

Stina Jensen

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Beschreibung

»Kein Wort zu Mama!« Als seine Frau überraschend in die Klinik muss, holt Investmentbanker Christoph seine Mutter ins Haus – irgendwer muss ja die drei Kinder hüten, während er arbeitet! Katrin darf bloß nichts davon wissen – immerhin ist deren Verhältnis zu Oma Rosi nicht gerade ... tja ... das allerbeste. Doch was macht man mit einer Mutter, die nicht nur das Haus neu dekoriert und die Kinder umerzieht, sondern auch noch mit dem Nachbarn flirtet? Überhaupt ist sie ganz anders als gewohnt. Als auf der Arbeit eine Stange Geld verschwindet und auch Oma Rosi sich immer seltsamer benimmt, kommt Christoph ins Grübeln …

Ein Roman, so spritzig und leicht, wie ein Glas Hugo.

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Kinder, Koks und Limonade

STINA JENSEN

ROMAN

Inhalt

Über die Autorin

Vorwort

1

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Über die Autorin

STINA JENSEN

wurde in den wilden Siebzigern in Hessen geboren. Ihr Vater fuhr einen roten Manta, dabei wehten ihr auf der Kunstlederrückbank ABBA-Klänge um die Ohren. Mit Eintritt in die Grundschule kam die Autorin mit dem Hochdeutschen in Berührung – was ihre Leidenschaft für Fremdsprachen erklären könnte. Mit dem Schreiben hat sie 2008 begonnen. Kinder, Koks und Limonade war ihr erster Roman.

www.stina-jensen.de

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Vorwort

Bei einigen der im Roman genannten realen Örtlichkeiten hat sich die Autorin die schriftstellerische Freiheit genommen, sie den Bedürfnissen der Handlung anzupassen. Sollten Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen bestehen, so sind diese rein zufällig. Die Handlung ist frei erfunden.

1

ANFANG JUNI

Josefine lag auf ihrem Hochbett und betrachtete nachdenklich ihre verschlossene Zimmertür. Irgendwas war doch da draußen los. Oder warum hatte Mama, die eben vom Einkaufen zurückgekommen war, einfach Josefines Tür, die gleich bei der Haustür lag, zugemacht? Als hätte sie was zu verbergen!

Josefine kaute auf ihrem Pferdeschwanz. In ihrem Bauch kribbelte es, und außerdem war ihr auch ein bisschen schlecht. Vielleicht hatte Mama ihr Geburtstagsgeschenk besorgt?

Eben ging sie nach oben.

Leise richtete Josefine sich auf, kletterte von der Leiter ihres Hochbetts herunter, schlich zur Tür und horchte. Mama schleppte etwas die Treppe nach oben, eindeutig.

Vorsichtig, auf jede ihrer Bewegungen achtend, öffnete sie ihre Zimmertür einen Spaltbreit, schlüpfte hinaus und folgte Mama auf Strümpfen die Treppe hinauf. Oben angelangt, lugte sie um die Ecke und vernahm eindeutige Geräusche aus dem Elternschlafzimmer. Mama öffnete die Tür zum Kleiderschrank, und so wie es sich anhörte, verstaute sie etwas darin.

Josefine klopfte das Herz bis zum Hals, als sie zurück nach unten in ihr Zimmer schlich. Sie legte sich aufs Bett und schnappte sich das Buch mit dem kleinen Affen, in dem Papa abends mit ihr las.

Zu gerne wollte sie wissen, was Mama oben im Schrank verstaut hatte!

Erst am Nachmittag, als Mama Lotta fütterte und mit Sophie wegen der Schule redete, traute sie sich endlich ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Vorsichtig zog sie die Schiebetür des Kleiderschranks zur Seite und spähte hinein. Doch außer Mamas und Papas Kleidungsstücken entdeckte sie nur den Schuhkarton, der immer dort stand. Hatte Mama etwa wieder nur Süßigkeiten vor ihnen versteckt und in den Karton gepackt? Vorsichtig wühlte sie zwischen den Packungen – aber außer Gummibärchen, Bonbons und Schokolade war nichts in der Schachtel zu sehen. Josefine ließ die Schultern sinken und zog ein Kaubonbon aus einem Tütchen. Das Papier steckte sie in ihre Hosentasche, das Bonbon in den Mund. Unschlüssig sah sie sich um, dann ging sie zu Mamas weißem Nachttischchen. Darauf lagen Zeitschriften und ein Buch, außerdem ein zerknäultes Papiertaschentuch. Die Schublade des Schränkchens hatte Josefine schon häufiger geöffnet. Mama hob darin einige der für sie gebastelten Kleinigkeiten auf, die Josefine sich gerne hin und wieder ansah. Langsam zog sie die Lade auf und spähte hinein. Holzfigürchen, Papiertierchen, ausgeschnittene Herzen lagen dort. Eine Packung Tempos, Nasenspray und ein Tablettenstreifen.

Josefine griff danach. Ein paar der winzigen Pillchen fehlten, aber nicht viele. MO DI MI DO FR SA SO stand über den einzelnen Tabletten. Josefine runzelte die Stirn. Was sollte das denn bedeuten? Ah! So stand es ja auch auf ihrem Stundenplan, zumindest bis FR. Grübelnd drehte sie den Streifen zwischen ihren Fingern. Heute war Samstag, und die Tablette für SA war noch darin. Die für FR fehlte. Und fünf andere Tage vorher auch. Ohne lange zu überlegen, drückte sie das Pillchen für SA heraus und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war ganz glatt. Ups. Wenn Mama mitbekam, dass sie an ihrer Schublade gewesen war! Mit Medikamenten zu spielen war strengstens verboten! Aber was sollte sie jetzt bloß mit dem Ding anfangen? Eilig wickelte sie das Pillchen in das Bonbonpapier ein. Dann warf sie die Kugel in die hinterste Ecke der Schublade, schob sie mit beiden Händen zu und horchte. Mama schien noch immer mit Sophie beschäftigt. Ein Glück!

Schnell huschte Josefine aus dem Schlafzimmer und hopste die Treppe hinunter in ihr Zimmer zurück. Dort setzte sie sich an ihren Schreibtisch am Fenster, von dem aus sie den gesamten Kirchplatz überblicken konnte. Max aus ihrer Klasse fuhr eben auf einem Roller vorbei. Er winkte, als er sie entdeckte.

Josefine seufzte und stützte das Kinn in die Hände. Ach, wenn sie nur wüsste, was sie zum Geburtstag bekam!

2

ENDE AUGUST

Das gibt‘s nicht, dachte Katrin. Sie saß auf Dr. Göddens Untersuchungsstuhl und starrte auf den Ultraschall.

Ihr Arzt lächelte bedauernd. »Frau Bender, ich kann mir denken, dass das jetzt für Sie ein Schock ist. Aber, rein von der Statistik her, also, ich meine, es war klar, dass immer ein gewisses Restrisiko ...«

Sie konnte nur den Kopf schütteln. Wer die Pille wählte, dachte nicht an ein Restrisiko. Man entschied sich dafür, weil die Familienplanung abgeschlossen war! Ihr Blick klebte am Bildschirm. Ein kleines Herz pochte da. Katrin schluckte und blinzelte. Sie war wegen wochenlanger Schmierblutungen hier, die sie sich nicht hatte erklären können. Nicht wegen dem da. »Haben Sie eine Ahnung, was das für mich und meinen Mann bedeutet?«, fragte sie ihren Arzt. Der hob noch einmal bedauernd die Schultern. Nein, natürlich nicht, für ihn war sie ein Fall in der Statistik. »Können Sie mir sagen, wie ich das meinem Mann überhaupt beibringen soll?«, fragte sie fassungslos. Ihr war zum Schreien zumute. »In der wievielten Woche bin ich überhaupt? Und was ist mit diesen Schmierblutungen? Ich nehme die Pille, vielleicht hat die ja schon alles kaputt –?« Den Rest ließ sie offen.

Dr. Gödden schüttelte den Kopf. »Mit dem Baby ist alles in Ordnung. Der Ultraschall rechnet die Schwangerschaft auf zehn Wochen und vier Tage aus. Sie bluten wegen ihres Gebärmutterhalses, der momentan stark durchblutet ist – da ist ein bisschen Blut normal. Allerdings müssen wir das im Auge behalten. Ihr Gebärmutterhals ist verkürzt, das passiert häufiger nach mehreren Geburten, aber es gefährdet nicht die Schwangerschaft.«

Gefährdet nicht die Schwangerschaft. Sie wollte ja gar keine! Sie stand vom Stuhl auf und schlüpfte in ihre Sachen.

Als sie wieder vor Dr. Göddens Schreibtisch saß, sagte sie flehend: »Wir müssen das noch mal besprechen. Was man da tun kann, meine ich. Ich kann das Kind unmöglich bekommen! Ich gehe schon am Stock, und ... ich liebe meinen Beruf. Wenn ich noch ein Kind bekomme, kann ich meinen Job an den Nagel hängen. Mein Arbeitgeber ist tolerant, aber mit vier Kindern – das geht einfach nicht!« Sie schüttelte den Kopf. »Wirklich, völlig unmöglich!« Sie arbeitete beim HR als Sprecherin. Sie war doch voll eingespannt!

Ihr Arzt betrachtete sie nachdenklich, dann sagte er: »Reden Sie doch erst einmal mit Ihrem Mann. Vielleicht findet sich ja eine Lösung, und er reagiert gar nicht so, wie Sie vermuten. Denken Sie dran, es geht um ein Kind – Ihr Kind.« Er beugte sich ein Stück nach vorn. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass es mir leidtut. Eine Schwangerschaft trotz Pille habe ich nicht oft. Aber es kommt vor. Natürlich müssen Sie sich erst an den Gedanken gewöhnen. Aber ich traue Ihnen absolut zu, auch dieses Kind großzuziehen.«

Katrin glaubte, hysterisch zu werden. Als ob die anderen schon groß wären! Lotta war gerade mal dreizehn Monate alt! Und Sophie mitten in der Pubertät. Plötzlich stieg ein Lachen in ihr auf, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Vermutlich hatte sie einen Nervenzusammenbruch.

Dr. Gödden schien das genauso zu sehen. »Ich schreibe Sie jetzt erst mal eine Woche krank, und in der Zeit überlegen Sie und Ihr Mann genau, was Sie wollen. Einverstanden?«

Eine Viertelstunde später trat Katrin auf die Straße und hatte sich noch immer nicht im Griff. Wie ein verlorenes Kind stand sie auf dem Bürgersteig herum und fragte sich, wohin sie jetzt gehen sollte. Auf keinen Fall nach Hause. Dabei hatten ihre freien Tage so vielversprechend begonnen. Christoph war mit den Mädchen in eine Ferienanlage nach Belgien gefahren, damit sie mal so richtig zur Ruhe kam – sie war in letzter Zeit einfach ständig müde gewesen – und jetzt das! Zur Ruhe. Zu Hause würde sie es keine fünf Minuten aushalten, ohne durchzudrehen. Dabei hatte sie es sich gestern so richtig nett gemacht. Auf dem Sofa zu Abend gegessen. Katrin schüttelte den Kopf. Heringssalat hatte sie geholt. Ein Glas Gurken. Und zum Nachtisch eine halbe Tafel Schokolade. Wie deutlich hätte ihr Körper ihr eigentlich noch melden sollen, was los war? Und dann dieser feste Busen. Über den hatte sie sich einfach nur gefreut. Sie war nackt durchs Haus getanzt. Hatte das Gefühl genossen, zum ersten Mal seit Jahren in ihrem Haus alleine zu sein. Und auch alles andere, was sie sich vorgenommen hatte, erschien ihr jetzt völlig unwichtig. Shoppen? Was denn? Sie wollte nur Christoph! Und dann auch wieder nicht. Wie sollte sie ihm das beibringen? Unschlüssig stakste sie ein paar Meter, ließ sich auf einer Bank nieder und umarmte ihre Tasche. So saß sie und starrte ins Leere. Sie fühlte sich fast wie damals vor sechzehn Jahren, als sie mit Sophie schwanger geworden war. Unter der Dusche! Da hatten sie und Christoph sich gerade mal vier Wochen gekannt. Was hatte sie für eine Angst gehabt, dass er sie deswegen verlassen könnte. Er war doch gerade erst am Beginn seiner Karriere gewesen. Und sie hatte zu der Zeit bei einer Werbeagentur gearbeitet. Sie hatte sich so sehr auf die Zweisamkeit mit ihm gefreut, aber dann hatte das Schicksal etwas anderes vorgesehen. Wofür sie heute dankbar war. Genauso wie für ihre beiden anderen Mädels. Aber ein viertes Kind? Nein. Das war völlig undenkbar.

Christoph Bender saß gerade im Hallenbad der belgischen Ferienanlage und las in der Zeitung, neben sich die schlafende Lotta in der Babyschale, als Katrin anrief. Seine Frau klang nicht gut. Eigentlich so, als sei sie den Tränen nahe.

Das stritt sie allerdings ab. »Ich hab eine verstopfte Nase. Wollte nur mal hören, ob es euch gutgeht. Aber dem fröhlichen Schwimmbad-Geschrei nach zu urteilen, habt ihr viel Spaß?«

»Den haben wir. Soll ich dir Bilder schicken?«

»Nein, nein, die schau ich mir an, wenn ihr zurück seid. Ist das Essen gut?«

Sie klang seltsam, so abgehackt. »Ist wirklich nichts los?«, fragte er.

»Mach dir keine Sorgen. Ich erhole mich schon«, versicherte sie. Und dann die Frage: »Christoph – liebst du mich?«

Er sah sich um und legte die Hand über den Hörer. Gefühlsäußerungen in der Öffentlichkeit waren nicht sein Ding. »Natürlich liebe ich dich«, flüsterte er.

»Egal, was auch passiert?«

»Hör mal. Jetzt aber raus mit der Sprache.«

»Ich vermisse euch schrecklich!«

Christoph verdrehte die Augen. »Die Mädels haben viel Spaß, sie waren gestern den ganzen Tag draußen; gerade sind wir Schwimmen – es ist alles bestens. Und wenn du uns mal ein bisschen vermisst, freust du dich ja umso mehr, wenn du uns wieder hast. So lange ruhst du dich bitte aus oder machst, was dir Spaß macht!«

Als sie nicht antwortete, fragte er: »Katrin?«

»Ich ruh mich aus, versprochen. Grüß die Mädels ganz lieb von mir. Und viel Spaß im Schwimmbad! Kuss!«

Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Christoph auf die schlafende Lotta. Bei seiner Frau blickte man manchmal wirklich nicht durch. Sie hatte sich doch so sehr auf diese freien Tage gefreut? Ihre Stimme hatte ihm gar nicht gefallen.

Die nächsten beiden Tage verbrachte Katrin vor dem Fernseher, schaute eine Staffel Friends nach der anderen und futterte abwechselnd Chips und Süßigkeiten auf dem Sofa. Neben ihr lag das Ultraschallbild. Immer wieder griff sie danach und betrachtete das kleine Fröschchen. Zum vierten Mal schon hielt sie ein solches Bild in Händen. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte dieses Kind nicht. Und wie sollte sie Christoph das nur beibringen?

Lediglich zum Schlafen und für den Gang zur Toilette verließ sie ihren Platz auf dem Sofa, und einmal, als Herrmann Schreiber, ihr siebzigjähriger Nachbar, der sich auch um den Garten kümmerte, klingelte und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er bekäme sie ja gar nicht zu Gesicht. Sie trank manchmal einen Kaffee mit ihm auf ihrem Balkon. Vermutlich hatte er erwartet, dass sie sich auch mal bei den Beeten blicken ließ, während der Rest der Familie weg war.

»Mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen. Ich hab’s nur ein bisschen mit dem Kreislauf.«

Er lachte kopfschüttelnd. »Kaum ist die Bande aus dem Haus, kriegst du’s mit dem Kreislauf. Brauchst du irgendwas?«

»Ich habe alles.«

Er wandte sich zum Gehen. »Wann kommt Christoph wieder?«, fragte er noch.

»Heute Nachmittag«, antwortete sie. Gott sei Dank.

Und als sie zwei Stunden später hörte, wie ihr Mann draußen vorfuhr, konnte sie nicht anders, als ihm entgegen zu laufen. Noch im Hof fiel sie ihm um den Hals.

»Hui«, grinste er und küsste sie, »ich sollte öfters wegfahren.«

»Ich muss mit dir reden«, unterbrach sie ihn, während sie auch ihre Mädchen umarmte, die eben zum Hoftor reinkamen. »Am besten gleich.«

»Warum bist du denn noch im Schlafanzug?«, fragte Sophie, als sie alle zusammen ins Haus gingen. »Bist du krank?« Auch Josefine musterte sie neugierig, während sie ihre Zimmertür öffnete und mit Schwung ihren Rucksack hineinwarf.

Katrin versuchte sich an einem Lächeln. »Ich mach eben auch mal einen Schlafanzugtag.«

»Darf ich gleich noch ein bisschen raus?«, fragte Josefine und hopste vor Katrin auf und ab.

»Klar«, sagte Christoph und trug Lotta nach oben. Katrin folgte ihm. Ihre Kleine stürzte sich im Wohnzimmer auf ihre Spielzeugkiste und räumte sie aus.

Katrin winkte Christoph zu sich aufs Sofa und lehnte sich an ihn.

»Na?«, fragte er. »Hat die ganze Ruhe gar nichts gebracht?«

Katrin atmete tief durch. Ihr Herz klopfte wie wild. »Ich war beim Arzt.«

Er betrachtete sie interessiert. »Und? Hast du Eisenmangel?«

»Nein, beim Frauenarzt. Du weißt doch, dass ich in letzter Zeit so merkwürdige Blutungen hatte. Immer mal mehr, mal weniger.«

»Ja.«

»Er hat mich ... untersucht ...«

Christoph hörte aufmerksam zu.

»Tja, und da hat er festgestellt ...« Wieder atmete sie tief durch und blickte ihn aus tränenverschleierten Augen an.

Krebs, durchfuhr es ihn plötzlich, und sein Herz sank. Deshalb hatte sie ihn gefragt, ob er sie liebte, egal was passierte. Als Katrin vom Ultraschall und einem weißen Punkt berichtete, schlug er kopfschüttelnd die Hände vors Gesicht; sie sollte seine aufkommenden Tränen nicht sehen. Was stand ihnen alles bevor?

»Ist das nicht schrecklich, Christoph?«

Er nickte, ohne sie anzusehen.

»Was machen wir denn jetzt nur?«

Ratlos schüttelte er den Kopf und starrte auf das Teppichmuster zu seinen Füßen, bis es verschwamm. Chemotherapie. Bestrahlung. Die Worte schwirrten in seinem Kopf. Seine Frau war doch noch so jung! Er schluckte und versuchte, sich zusammenzureißen. »Katrin – egal was passiert, ich bin an deiner Seite«, versicherte er, gegen die Tränen ankämpfend. »Wir schaffen das schon.«

Sie nickte und griff nach seinen Händen.

Er suchte nach Worten: »Was meint denn der Arzt, in welchem Stadium ... also ich meine ... welche Größe –?« Er konnte kaum klar denken.

»Etwa vier Zentimeter.«

»Oh Gott. Das ist groß«, flüsterte er niedergeschlagen.

»Dr. Gödden meinte, ein Restrisiko gäbe es immer bei der Pille. Das weiß man ja auch – aber man denkt halt nicht, dass es einen selbst treffen könnte.«

Christoph konnte es nicht fassen. Lotta sah auf, als er vom Sofa aufstand und anfing, im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. »Ich glaub‘s ja wohl nicht, davon hab ich noch nie was gehört! Dann hätten wir doch auch so verhüten können, mit Kondomen! Risiko!«

Als Katrin zu weinen begann, setzte er sich wieder zu ihr und legte den Arm um sie. »Sorry Schatz, mich haut das völlig um. Wie geht es dir? Hast du außer den Blutungen Beschwerden? Was sind denn jetzt die nächsten Schritte, und ... wie kann man es stoppen?«

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Er hat mir geraten, erst mal mit dir zu reden.« Sie schluckte. »Du möchtest also, dass ich es wegmachen lasse?«, flüsterte sie.

Christoph tippte sich an die Stirn. »Auf jeden Fall! Und zwar so schnell wie möglich!«

Katrin weinte. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet – auch wenn sie das Baby selbst nicht wollte. »Ich werd mich drum kümmern«, flüsterte sie. »Bei diesem Stadium muss es schnell gehen.«

»Muss es? Machen die vorher keine Biopsie? Vielleicht ist es ja gar nicht ...«

Katrins Kinnlade fiel. »Bei einem Abort? Da macht man vorher keine Biopsie. Da geht man hin, und es wird rausgeholt.«

Christoph starrte wieder auf den Teppich – so langsam kapierte er gar nichts mehr. Abort? Was sollte das denn? Plötzlich traf ihn die Erkenntnis: »Du bist schwanger?«, rief er.

»Was denn sonst?«

Er warf sich die Hände auf den Mund. »Oh mein Gott! Gott sei Dank! Und ich dachte …«, er suchte nach Worten, »… du bist krank!«

Sie sah ihn mit großen Augen an. »Krank? Nein. Schwanger. Und das ... findest du nicht schlimm? Ich soll es nicht wegmachen?«

Er zog sie an sich und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Wegmachen? Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben wunderbare Kinder. Stell dir vor, wir hätten eins von ihnen weggemacht.«

Katrin schluckte. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffen werde«, flüsterte sie. »Es ist doch alles gut, so wie es ist.« Sie wollte ihm wirklich nicht seine spontane Freude nehmen, aber so weit, wie die Schwangerschaft war, konnte sie dieses Gespräch nicht aufschieben.

Christoph schüttelte den Kopf. »Du würdest es wirklich abtreiben? Vier Zentimeter mit unserer DNA? Ein Baby, Katrin. Es hat sich ... in unser Leben geschlichen. Trotz Pille. Und wir setzen dem einfach ein Ende?«

Sie sah an seinem Gesichtsausdruck, wie abwegig er den Gedanken an einen Abbruch fand, und fühlte sich auf einmal so mit Liebe für ihn erfüllt, wie damals, vor sechzehn Jahren, als er sie ähnlich entgeistert angesehen hatte, als sie ihn fragte, ob sie das Baby abtreiben sollte. Er hatte recht. Es war völlig undenkbar.

»Was wohl Oma Rosi dazu sagen wird?«, flüsterte sie und musste plötzlich kichern. »Wenn ich an die anderen Male denke, als du ihr erzählt hast, dass sie Großmutter wird ...«

Christoph schnaubte. »Was meine Mutter dazu sagt, interessiert mich am allerwenigsten. Sie wird sich genauso wenig um dieses Kind kümmern wie um die anderen drei.«

Rosalinde hatte sich nie für die Mädchen interessiert, was eigentlich erstaunlich war. Sie lebte allein am Bodensee und hatte jede Menge Zeit. Aber selbst um ihren eigenen Sohn hatte sie sich wenig geschert. Als er siebzehn war, starb sein Vater, und Rosalinde gab Christoph zu verstehen, dass es jetzt an der Zeit wäre, auf eigenen Füßen zu stehen. Vielleicht hatte er sich deshalb schon früh eine eigene Familie gewünscht.

Katrin nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn. Es würde alles gut werden. Sie schafften das. Ihre Liebe war stark genug. Es fand sich bestimmt eine Lösung für alles.

»Ist gut«, hauchte sie und blinzelte die Tränen fort. »Na dann: herzlichen Glückwunsch zum vierten Baby, Papa.«

Als Christoph sie fest in die Arme nahm und küsste, hielt Katrin plötzlich inne. Was wurde denn da plötzlich so warm zwischen ihren Beinen? So als ob …

3

DONNERSTAG, 17. SEPTEMBER

Papa!«

Christoph schrak hoch. Sophie stand vor seinem Bett und starrte ihn böse an. »Du hast uns nicht geweckt, Papa! Hast du eine Ahnung, wie viel Uhr es ist?«

Von Ferne hörte er ein Schreien. Oh Gott, Lotta, dachte er. Wie lange schrie die Kleine schon?

»Es ist zehn nach acht!«, beschwerte Sophie sich weiter. »Ich bin von Lottas Geschrei aufgewacht, und du hörst gar nix! Ich schreib in der zweiten Stunde Mathe, das schaff ich unmöglich rechtzeitig! Josefine schläft auch noch, und hier oben sieht es aus – wie soll ich denn hier frühstücken??«

Christoph sprang aus den Federn. »Dann räum doch mal ein bisschen auf, du bist doch kein Baby mehr! Warum ist denn der verdammte Wecker nicht angegangen, gestern ging er doch noch!« Ärgerlich nahm er das Gerät und starrte auf das Display. Der Alarm war aus. Vermutlich hatte er ihn einfach nicht eingeschaltet. Er war mit einem Einkaufszettel für die Kinderfrau beschäftigt gewesen – der lag genau neben dem Wecker. »Jetzt muss ich erst mal Lotta holen!«, rief er und eilte die Treppe zum Dachgeschoss hinauf.

Die Kleine stand mit verrotzter Nase in ihrem Bettchen, das blonde Haar klebte feucht an ihrer Stirn. Mit beiden Händen klammerte sie sich an die Gitterstäbe und warf den Kopf zurück. Christoph löste ihre Finger und nahm sie auf den Arm. Lotta schrie nach Leibeskräften.

»Ja, ich weiß, du willst die Mama«, flüsterte er.

Seine Tochter schmierte den Rotz an seiner Schulter ab und schniefte.

Während er nach ihrem Stoffhund griff, rief er nach unten: »Sag mal, Sophie, warum ist denn Frau Jeckel noch nicht da?« Er hatte die Kinderfrau doch bestellt. Die letzten drei Wochen hatte er sich freigenommen, immer in der Hoffnung, dass Katrin bald wieder aus der Klinik nach Hause kam, in die er sie gefahren hatte, nachdem sie so stark geblutet hatte, dass sie schon dachten, sie hätte einen Abgang. Dem war dann doch nicht so gewesen. Und seit gestern hatten sie es amtlich: fünf Monate absolute Bettruhe. Der Muttermund hielt sonst nicht.

»Woher soll denn ich das wissen? Du hast sie doch bestellt!«, unterbrach Sophies Ruf jäh seine Gedanken.

Christoph eilte mit Lotta die Treppe hinunter. Er war sich sicher, dass er mit Frau Jeckel verabredet hatte, sie solle ab heute täglich um halb acht kommen, außer am Wochenende. Er musste endlich wieder zur Arbeit – im Büro spielten nicht nur die Finanzmärkte verrückt.

»Kannst du bitte Josefine wecken, Sophie?«, rief er seiner Ältesten zu. »Ich muss mal telefonieren!«

Während sich Sophie murrend auf den Weg machte, griff Christoph zum Telefon und suchte im Telefonspeicher nach Frau Jeckels Nummer.

Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Gut, dass Sie anrufen«, sagte sie. »Ich hab’s mit dem Ischias. Ich kann nicht kommen.«

Christoph war sprachlos. Und sie sagte nicht einmal ab? Diese Frau war sowieso unmöglich; er wusste gar nicht, warum Katrin sie eigentlich beschäftigte. »Was denken Sie denn, ab wann Sie wieder –?«, fragte er.

»Oh, das kann dauern«, sagte Frau Jeckel.

Christoph knallte den Hörer auf. Lotta auf seinem Arm schmuste mit ihrem Stoffhund, sie hatte zu weinen aufgehört. Den Rotz war sie zwischenzeitlich an seinem Schlafanzug losgeworden. Nachdenklich betrachtete er die Schneckenspur auf seinem Ärmel. Er konnte es noch bei Frau Szalaty, der Putzfrau, versuchen, die hatte er sowieso anrufen wollen. Und sie mochte Kinder. Seufzend drückte er auf die eingespeicherte Nummer.

Josefine kam nach oben, ignorierte das Telefon an seinem Ohr und rief: »Ich hab nix mehr anzuziehen!« Schmollend setzte sie sich in Unterhosen an den Tisch, die braunen Haare flossen über ihre Schultern und Arme. Erwartungsvoll sah sie ihn an und machte eine Handbewegung, die zu sagen schien: »Wird’s bald?!«

Christoph schüttelte den Kopf und zeigte ihr mit dem Telefonhörer einen Vogel. »Zieh das von gestern an«, raunte er.

»Nö«, sagte sie, »und außerdem hab ich Hunger.«

»Mach dir was!«, zischte er. »Flakes, Nutellatoast, alles, was du sonst nicht darfst. Aber mach!«

Sie zog einen Flunsch und tappte zum Schrank. Von unten hörte er Sophie rufen. »Ich fahr jetzt los! Hab mir Geld von dir genommen und kauf mir unterwegs schnell Frühstück, okay? Tschühüß!«

Mit dem Hörer am Ohr sah er zu ihr hinunter und winkte, bis sie aus der Tür war.

Als Frau Szalaty endlich abnahm, klang sie, als ob sie völlig aus der Puste wäre. »Entschuldigung, war ich schon aus der Tür, als ich habe gehört Telefon. Was gibt‘s?«

»Ich habe einen Notfall. Meine Frau ist doch im Krankenhaus, und daher wollte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht ... ich meine ... könnten Sie sich vorstellen, in den nächsten vierzehn Tagen auf Lotta aufzupassen? Unsere Kinderfrau ist abgesprungen.«

»Abgesprungen? Gottes Willen. Wo?«

»Nein, also nicht so. Sie hat’s mit dem Rücken. Und jetzt habe ich niemanden, und da dachte ich an Sie. Sie mögen doch die Kinder.«

»Ja, mag ich schon. Aber habe ich richtige Stelle. Das bei Ihnen mache ich dazu. Kann ich gar nicht wegbleiben so lange von meine Job.«

Christoph ließ die Schultern hängen. Sie war seine letzte Hoffnung gewesen. Dass Katrin sich aber auch nie um einen Krippenplatz gekümmert hatte! Sie meinte, es hätte sowieso keinen Sinn, sich dafür zu bewerben – die Wartelisten waren so lang wie die Liste der DAX-notierten Unternehmen im Handelsblatt. Deswegen bei der Stadtverwaltung anzurufen, konnte er sich sparen. Frustriert legte er das Telefon beiseite und sah auf die Uhr. Damit blieben nur noch die Schwiegereltern. Vielleicht hatten Anneliese und Max ja Zeit. Sie sprangen schon mal ab und zu ein, wenn Frau Jeckel nicht konnte. Er musste schnellstens ins Büro, um zehn Uhr hatten sie das erste Krisenmeeting und er war noch im Schlafanzug. Lotta deutete auf Josefine, die sich eben ein Schälchen Flakes mit Milch füllte. Christoph riss ihr die Milchtüte aus der Hand, bevor es eine Überschwemmung gab. »Das wird auch gegessen, Frollein!«

Sie blickte ihn böse an. »Mama ist morgens viel netter «, sagte sie.

Christoph ignorierte seine mittlere Tochter und setzte Lotta ins Stühlchen. Dann kippte er ihr eine Ladung Flakes auf den Tisch und griff wieder zum Telefon, während seine Tochter sich mit beiden Händen Frosties in den Mund schob.

»Es geht aber nur heute«, sagte Anneliese, nachdem er ihr die Situation geschildert hatte. »Max und ich haben morgen schon was vor. Freitag ist unser Putztag. Und wir kaufen ein. Und nächste Woche ist es auch schlecht. Du weißt ja, dass Daniel uns die Zwillinge bringt.« Daniel war Katrins Bruder, seine Frau studierte noch.

»Okay, und wie lange könntet ihr heute?«, fragte er.

»Bis um sechs. Donnerstagabends habe ich Gymnastik.«

Christoph verdrehte die Augen. Gymnastik! Was gab es Wichtigeres? Ihm musste dringend etwas einfallen, soviel stand fest. Er sah an sich hinab und betrachtete seinen Schlafanzug. Dann blickte er auf Lotta, deren Vorderseite mit Flakeskrümeln übersät war. Zu Anneliese sagte er: »Wäre super, wenn ihr sofort kommen könntet.«

»Machen wir, bis gleich«, erwiderte sie und legte auf.

Christoph machte Lottas Fläschchen fertig, nahm die Kleine aus dem Stuhl und setzte sich mit ihr an den Tisch. Zu Josefine, die gerade die dritte Schale Flakes in sich hineinmampfte, sagte er: »Musst du nicht mal langsam los?«

Sie sah auf die Wanduhr. Dann hob sie die Schultern. »Wenn ihr mich so spät weckt.«

Christoph seufzte. Dieses eigenwillige Ding machte, was es wollte. Andere würden zu zittern anfangen, dass die Lehrerin schimpfen könnte, aber Josefine strotzte vor Selbstbewusstsein. Wenigstens kam ihr das jetzt zugute – andere Kinder steckten es nicht so leicht weg, wenn die Mutter längere Zeit fehlte.

Nachdem Lotta fertig getrunken hatte, stellte er sie in ihr Ställchen, schickte Josefine ins Bad und trabte die Treppe hinunter, um ihre Klamotten zu holen. Verblüfft blickte er in den Kleiderschrank im Kinderzimmer. In den Regalen langen massenhaft Klamotten.

»Josefine!«, rief er.

Die Tür zum Bad ging auf: »Was?!«

»Dein Kleiderschrank ist voll! Und du hast behauptet, du hättest nichts anzuziehen!«

»Das zieh ich alles nicht mehr an! Das ist Babykram!«

Ungeduldig blickte Christoph in die Ecke neben Josefines Kleiderschrank, in der ein Sack für Dreckwäsche stand. Er quoll über. Wie viele Klamotten hatte das Kind eigentlich? Ungehalten kramte er eine Jeans und einen leichten Pullover für sie heraus, ebenso ein paar brauchbare Strumpfhosen. Schnell eilte er wieder nach oben.

»Das zieh ich auch nicht an, das ist von gestern!«, sagte Josefine.

Er nahm sie bei den Schultern und unterdrückte den Impuls, sie zu schütteln. Dann beugte er sich zu ihr hinunter. »Du ziehst das jetzt an«, zischte er, »verstanden?«

Sie nickte stumm. Tränen der Wut blitzten in ihren Augen.

Als er aus dem Bad kam, war es Viertel vor neun und er hatte nur noch wenige Minuten Zeit. Josefine war inzwischen gegangen, ohne Tschüss zu sagen. Sollte sie doch beleidigt sein! Glücklicherweise konnte er mit dem Wagen zur S-Bahn-Station fahren, das sparte ihm ein paar Minuten. Wenn Katrin das Auto hatte, nahm er den Bus. Schließlich fiel ihm der Einkaufszettel auf seinem Nachttisch wieder ein. Er kramte Geld aus seinem Portemonnaie und legte den Zettel zusammen mit fünfzig Euro auf den Küchentisch. Dann nahm er einen weiteren Zettel, schrieb bitte Wäsche waschen darauf und legte ihn dazu. Während er in seine Jacke schlüpfte, schlürfte er die restlichen Tropfen Milch aus Josefines Müslischale. Für einen Kaffee reichte die Zeit nicht mehr. Mit dem Fuß schob er die Flakeskrümel auf dem Boden hin und her und trommelte mit den Fingern auf den Milchkarton. Lotta schaute von ihrem Tierbüchlein auf und rief: »Wauwau!«. Christoph winkte.

Als der Wagen der Schwiegereltern vorfuhr, lief er nach draußen, zog die Frankfurter Allgemeine aus dem Zeitungsrohr und begrüßte Anneliese und Max, setzte sich ins Auto und fuhr los.

Eine halbe Stunde später eilte er am Japantower vorbei, überquerte die große Gallusstraße und schob sich durch die Drehtür ins Gebäude des Bankhauses von Stamms. Er war Gruppenleiter des Geld- und Aktienhandels, sein Job gefiel ihm. Er hatte meist den richtigen Riecher, was gute Anlagen betraf, und seine Kollegen schätzten ihn. Was nichts an der Tatsache änderte, dass sie alle – er eingeschlossen – um ihre Jobs bangten. Die Zeitungen waren wieder mal voll davon, dass es in der Investmentbranche kriselte.

Alle aus seiner Abteilung waren schon um den Konferenztisch versammelt; manche tuschelten, andere scrollten auf ihren Smartphones, als Bereichsleiter Tauber eintrat. Er nickte kurz in die Runde – zwanzig Leute, die möglicherweise bald ihren Job loswurden. Allerdings hatten die Wenigsten drei Kinder und eine Frau, die gerade mit dem vierten Kind schwanger war und mit seinem Laptop im Krankenhaus lag. Er hatte es ihr überlassen, damit sie Filme schauen konnte. Alle anderen Sitzungsteilnehmer hatten ihren aufgeklappt vor sich stehen. Man musste beschäftigt tun, besonders in Zeiten wie diesen.

Christoph sah aus dem Fenster, hinüber zur Frankfurter Sparkasse, und lauschte Taubers Ausführungen. Seine Gedanken schweiften zu Katrin, die ihm vertraute und auf ihn baute. »Mein Fels in der Brandung«, sagte sie oft zu ihm, wenn sie selbst ausgebrannt war von der Büffelei mit Sophie oder Lottas nächtlichen Schreiattacken. Momentan fühlte er sich allerdings nicht wie ein Fels. Eher wie Wackelpudding. Er hatte keine Ahnung, wen er für die Kinderbetreuung aus dem Hut zaubern sollte. Andererseits – möglicherweise brauchte er bald keine mehr. Vielleicht würde er ja demnächst ganz zu Hause sein.

Christoph wandte sich vom Fenster ab und zwang sich, seine Aufmerksamkeit Tauber zuzuwenden. Dieser schloss mit den Worten, die Handelsabteilung hätte nichts zu befürchten. Natürlich habe man Verluste eingefahren, aber die gab es auch in guten Zeiten. »Kein Grund zur Panik«, sagte er, »die Presse übertreibt.«

»Hat schon mal jemand von einer Investmentbank ohne Handelsabteilung gehört?«, scherzte Gerrit Müller, den Christoph verabscheute.

Nur wenige lachten, einer davon war Tauber. Doch auf Christoph wirkte er alles andere als gelassen. Er strich sich allzu häufig über die Glatze, wenn einer etwas fragte, und verbrachte die übrige Zeit damit, sich seinen Kinnbart zu kraulen.

Zurück in seinem Büro schloss Christoph die Tür hinter sich und sah aus dem Flurfenster. Er hatte die Jalousie heruntergelassen, da er es nicht mochte, auf dem Präsentierteller zu sitzen – aber durch die Ritzen konnte er hinausschauen. Von seinem Platz aus überblickte er die Aufzüge. Eben eilte Jochen Klein vorbei und drückte auf einen der Aufzugknöpfe. Christoph hob den Kopf. Der Kollege sah fertig aus, sein Blick flog direkt zu Christoph. Dieser sah schnell auf den Bildschirm, obwohl Klein ihn sicher gar nicht sehen konnte. Als er wieder aufsah, war Klein in einem der Aufzüge verschwunden.

Ein kurzes Klopfen unterbrach seine Gedanken. Gerrit Müller steckte den Kopf zur Tür herein. »Na, alles klar?«, erkundigte er sich betont kumpelhaft und trat grinsend ein.

Christoph runzelte die Stirn. Der Typ war ihm schon immer zuwider gewesen. Nicht besonders groß, schob er einen beachtlichen Bauch vor sich her. Nacken und Rücken gingen nahtlos ineinander über, die Hände waren ständig feucht. Mit seinen tiefliegenden Augen und dem rotblonden kurzen Haar erinnerte er an ein Schweinchen. Ein Eindruck, den die rote Gesichtsfarbe noch verstärkte. Zwar war er erst knapp über dreißig, litt aber dermaßen unter Bluthochdruck, dass ihm ständig der Schweiß auf der Stirn stand. Scheinheilig stellte Müller sich mit dem Rücken zur Tür. »Was meinst du?«, fragte er, »werden Köpfe rollen?«

Christoph hob die Schultern. »Falls du glaubst, Internas von mir erfahren zu können – ich hab keine.«

Gerrit lachte glucksend. »Das glaub ich dir keine Sekunde.« Zufrieden klopfte er sich auf den dicken Bauch. »Mir kann jedenfalls nichts passieren. Auf einen wie mich werden die nicht verzichten.« Dann trat er näher, legte seine dicken Finger auf Christophs Schreibtisch und beugte sich konspirativ nach vorn: »Im Gegensatz zu Jochen. Der hat gewaltiges Muffensausen.« Beifall heischend sah er Christoph an; dieser blickte jedoch mit unbeteiligter Miene zurück. Musste man verstehen, was dieser Kerl da faselte?

Gerrit fuhr fort: »Ehrlich jetzt, von dem, was er hatte, ist nichts mehr übrig.«

»So?«

Müller tat mitfühlend und lehnte sich noch weiter nach vorn. »Ich rede von seinen Privatgeschäften. Der hat in der Vergangenheit zu viel in Griechenland und Zypern investiert. Da hatte er wohl die falsche Strategie.«

Endlich nahm er die dicke Hand von Christophs Schreibtisch; sie hinterließ einen feuchten Abdruck. Achselzuckend begab Gerrit sich zurück zur Tür. Kurz bevor er die Klinke ergriff, drehte er sich noch einmal um. »Ich hab noch was gehört, Christoph, aber das muss unter uns bleiben. Ich meine, du weißt ja, wir machen hier alle so unsere Erfahrungen auf der einen oder anderen Afterworkparty. Aber der Jochen, der scheint den Absprung nicht rechtzeitig geschafft zu haben.«

Christoph glotzte ihn irritiert an. Der Mann sprach in Rätseln. Er war noch nie auf einer Afterworkparty gewesen. »Was meinst du?«, fragte er.

»Mensch Christoph, wo lebst du denn? Fun, Party, Feiern! Ein bisschen Koks und Ecstasy gehört dazu – für einige jedenfalls, du würdest dich wundern! Aber du musst es ja nicht glauben. Man sieht sich!«

Dann war er endlich draußen.

Christoph fuhr kopfschüttelnd den Computer hoch. Gerrit hatte eine Profilneurose; ständig kreuzte er auf, schwärmte von sich selbst und stellte sich in den Mittelpunkt. Christoph öffnete den Browser und ging auf die Seite der Frankfurter Neuen Presse. Er hatte wirklich andere Sorgen als Afterworkpartys. Grübelnd formulierte er den Text für eine Anzeige.

Aus Krankheitsgründen suchen wir kurzfristig für unsere drei Mädchen (15, 7 und 1) eine liebevolle Betreuung an 5 Tagen in der Woche für jeweils 10 Stunden. NR bevorzugt.

Stirnrunzelnd betrachtete er das Geschriebene und dachte: Da meldet sich kein Mensch. Wer würde freiwillig einen 50-Stunden-Job schieben? Und mal angenommen, er würde nur 6 Euro pro Stunde zahlen – so viel hatte Frau Jeckel bekommen – dann kostete ihn das 1.200 Euro im Monat. Niemand würde für dieses Gehalt Vollzeit arbeiten. Er konnte sicher auch die Krankenkasse fragen, ob die einen Teil übernahmen. Sicher hatte man Anspruch auf Hilfe? Aber jemand ganz Fremdes im Haus zu haben – der Gedanke behagte ihm einfach ganz und gar nicht.

Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Wenn Lotta nicht wäre! Für die anderen beiden hatte er ja eine Betreuung über die Schule, aber für Lotta – niemanden. Nachdenklich blickte er aus dem Fenster und verfolgte in der Ferne die Bahn eines Flugzeugs.

Kannte er denn keine alleinstehende Frau mittleren Alters, die sich langweilte? Gedanklich ging er die Nachbarschaft durch, aber da gab es niemanden. Mütter aus Kindergarten und Schule kamen auch nicht in Frage; die waren alle froh, vormittags für ein paar Stunden ihre Ruhe zu haben.

Zwangsläufig fiel ihm seine eigene Mutter ein – doch diesen Gedanken schob er gleich wieder beiseite. Katrin würde ausflippen, wenn Oma Rosi ins Haus käme. Sie hatten sich noch nie verstanden – Katrin und Rosalinde waren so gegensätzlich wie eine Promenadenmischung und ein Dobermann. Noch dazu war seine Mutter gegen die Heirat gewesen, und seither bekam Katrin einen roten Kopf, wenn sie Rosalinde nur zu Gesicht bekam. Und auch er selbst hatte seine Probleme mit ihr. Sie war nie die Mutter gewesen, die man sich wünschte. Hauptsache, Kinder machten keine Arbeit und keinen Krach. Meist war es ihr wichtiger gewesen, seine Fingernägel nach schwarzen Rändern abzusuchen, als ihn in den Arm zu nehmen. Wie oft hatte er sich ein Geschwister gewünscht, um sich nicht mehr so allein zu fühlen, und nachdem sein Vater gestorben war, schien sie jegliches Interesse an ihm verloren zu haben. Da zog er zu seinem Freund Achim. Dessen Eltern waren froh, dass noch ein wenig Leben in die Bude kam, da Achims ältere Geschwister eigene Wohnungen hatten. Christophs Mutter hatte Achims Eltern monatlich fünfhundert Mark bezahlt und ihm fünfundzwanzigtausend in einem Umschlag in die Hand gedrückt. Dies sei sein Erbe, das er für sein Studium »oder sonst was« verwenden könne. Kurz danach hatte sie das Haus verkauft und einen Bungalow am Bodensee erworben. Womit sie ihre Tage verbrachte, wusste er nicht, außer dass sie gelegentlich Golf spielte. Christoph seufzte. Eigentlich kannte er sie kaum. Und dass sie so wenig um seinen Vater getrauert hatte, verstand er überhaupt nicht. Christoph sah sie förmlich vor sich: mit versteinerter Miene am Grab, ihr Blick abwesend in die Ferne gerichtet, der dünne Mund zu einem Strich zusammengepresst, die Statur kerzengerade. Für ihr Alter sah sie noch passabel aus, war gepflegt und schlank, trug am liebsten Twinsets in gedeckten Farben. Eine kleine Veränderung in ihrem trüben Alltag würde ihr sicherlich ganz guttun. Vielleicht war es einen Versuch wert? Zögernd griff er zum Telefon und wählte ihre Nummer. Es klingelte eine ganze Weile ins Leere.

»Bender«, meldete sie sich schließlich. Sie klang verschlafen.

»Hallo Mutter, ich bin‘s, Christoph.«

»Christoph?« In ihrer Stimme lag Überraschung.

»Wie geht es dir?«, fragte er. Man konnte ja nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen.

»Ist was passiert?«

»Nein. Oder ... mehr oder weniger«, stotterte er. »Ich … habe ein Problem, und ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen. Es geht um Katrin.«

Er spürte förmlich, wie sie sich versteifte, und hätte am liebsten sofort wieder aufgelegt. »Pass auf«, fuhr er trotzdem fort, »es ist Folgendes: Katrin liegt im Krankenhaus, und zwar für länger. Ich hatte eine Kinderfrau – die ist aber kurzfristig abgesprungen. Heute sind Max und Anneliese da – ab morgen hab ich niemanden mehr. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Ich hab jetzt schon drei Wochen Urlaub genommen, und daher wollte ich dich fragen, ob du vielleicht mal einspringen könntest. Nur so als Zwischenlösung, bis ich jemanden für die Kinder gefunden habe. Bitte Mutter.«

Sie schwieg lange.

»Bist du noch dran?«, fragte er schließlich.

»Was hat sie denn?«

Er seufzte. Wenn er ihr das jetzt erklärte, konnte er es gleich vergessen. »Mutter, das mag sich jetzt komisch für dich anhören, und ich kann auch nur sagen, dass es absolut nicht geplant war, aber Katrin ist wieder schwanger und muss liegen, damit dem Baby nichts passiert. Und zwar für unbestimmte Zeit. Wenn wir Pech haben, bis zum Ende der Schwangerschaft.«

»Im wievielten Monat ist sie denn?»

»Im vierten, also noch ganz früh.«

»Wenn ihr kein Kind mehr wollt, warum kommt sie dann nicht heim?«

Christoph schloss die Augen. »Mutter – das geht doch nicht. Weißt du, ich würde dich nicht fragen, wenn ich eine andere Lösung wüsste.«

Ihr Schweigen schien eine Ewigkeit anzudauern.

»Du kannst auch nein sagen, dann haben wir es hinter uns«, sagte Christoph.

»Ich sage ja gar nicht nein. Aber du wirst mir wohl zugestehen, dass ich ein paar Minuten darüber nachdenken muss. Es ist keine Kleinigkeit, um die du mich hier bittest.«

Christoph atmete vernehmlich aus.

Plötzlich sagte sie: »Also gut, ich komme.«

»Wirklich?«

»Ja. Vierzehn Tage. Bis dahin muss es eine andere Lösung geben. Hat nicht jedes Kind Anspruch auf einen Krippenplatz?«

Christoph schnaubte und starrte auf seinen Bildschirm. Eine E-Mail von von Stamms. Meeting ASAP in seinem Büro.

»Man kann keinen Anspruch auf Krippenplätze erheben, die es nicht gibt. Aber so lange wird es sicher nicht dauern, bis ich einen Ersatz gefunden habe«, sagte er. »Wann kannst du kommen?«

»Ich muss hier erst ein paar Dinge organisieren. Heute kann ich noch nicht weg. Wenn ich morgen früh losfahre, bin ich um die Mittagszeit bei euch.«

Christoph atmete auf, und es gelang ihm, sich ehrlich erfreut bei ihr zu bedanken, bevor er sich verabschiedete. Perplex starrte er auf den Tisch. Er konnte kaum fassen, dass er seine Mutter um diesen Gefallen gebeten hatte. Und sie hatte ja gesagt! Immerhin gab ihm ihr Kommen ein paar Tage Luft. Katrin musste ja gar nichts davon wissen.

Schnell änderte er die Anzeige.

Aus Krankheitsgründen suchen wir kurzfristig für unsere drei Mädchen (14, 7 und 1) eine liebevolle Betreuung an 1 bis 2 Tagen pro Woche für jeweils 10 Stunden. Größere Kinder erst nachmittags anwesend. NR bevorzugt. Anrufbeantworter.

Bis seine Mutter wieder abfuhr, sollte sich dieses Problem gelöst haben. Er würde einfach mehrere Damen einstellen. Mit einem Knopfdruck schickte er die Anzeige ab, dann ging er in Richtung Fahrstuhl.

Währenddessen stand Christophs Kollege Jochen Klein im Kassenraum der Frankfurter Volksbank und zog mit bebenden Fingern die EC-Karte aus seinem Portemonnaie. Er schob sie in den Schlitz des Geldautomaten und wartete darauf, die Geheimnummer einzugeben. Hinter ihm stand ein Mann mit Hund und lächelte ihm freundlich zu. Jochen rückte noch näher an den Automaten heran und verstaute das Bündel Scheine zusammen mit der Karte in seiner Brieftasche. Dann verließ er schnellen Schrittes die Bank. Nach einem hastigen Blick überquerte er die Hauptverkehrsstraße und betrat nach wenigen Metern das Gebäude der Deutschen Börse. Abwartend stellte er sich in die Halle, bis er die Person erspähte, die er suchte. Nach einem kurzen Blickkontakt suchte er die Herrentoilette auf und begab sich in die mittlere Kabine. Als ein Papierbriefchen unter der Tür durchgeschoben wurde, nahm er es entgegen und reichte im Gegenzug 700 Euro.

Wenige Minuten später verließ er das Gebäude. Er fühlte sich deutlich besser.

Dass eine Person auf dem Börsenplatz saß und ihr Gesicht hinter einer Zeitung verbarg, bemerkte er nicht.

Nachdem Rosalinde Bender den Hörer aufgelegt hatte, blieb sie noch einen Moment regungslos in ihrem Flur stehen. Nachdenklich strich sie über das Holzfurnier des Flurschränkchens und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel an der Wand. Sich selbst zunickend, straffte sie die Schultern, ehe sie durch die Diele in ihr Wohnzimmer hinüberging. Sie liebte diesen Blick in ihre Zimmer hinein. Die Ordnung und Sauberkeit der Räumlichkeiten waren ein Genuss fürs Auge. Die Sonne schien auf das dunkle Holz ihres Esstischs, und ein paar wenige Staubkörnchen tanzten im Licht der Sonnenstrahlen über die Tischplatte. Freitags war ihr Putztag, das hatte sie bei ihrer Zusage an Christoph vollkommen übersehen. Es war ihr eigentlich zuwider, das Haus so Hals über Kopf zu verlassen. Grundsätzlich bereitete sie ihre Reisen gründlich vor, damit im Eifer nichts vergessen ging. Nachdenklich schritt sie zur Balkontür, trat hinaus auf die Terrasse mit den Blumenkübeln, die in Reih und Glied auf den Terracottafliesen standen. Zwei Wochen mochte sie wohl hinter sich bringen. Zwar wehrte sich etwas in ihr gegen diese Vorstellung, aber Christoph hatte sich seit etlichen Jahren nicht mehr mit einer Bitte an sie gewandt. Sie kam um diesen Gefallen wohl nicht herum. Wieder lief sie in den Flur zurück und holte Zettel und Stift aus ihrem Schränkchen, um sich alle Personen zu notieren, die sie über ihren kurzfristigen Urlaub informieren sollte. Viele waren es nicht. Ihre Nachbarin vielleicht, aber eigentlich sah sie die viel zu selten. Post bekam sie auch nur alle Jubeljahre. Werbung und kostenlose Zeitungen verbot ein Schild. Und was war mit ihrem Bekannten, Konrad Mattes? Eigentlich war sie ihm keinen Anruf schuldig, im Gegenteil: Er hatte sich noch nie bei ihr abgemeldet, und er verreiste des Öfteren. Ihm ging es ohnehin nur um die gelegentlichen Besuche auf dem Golfplatz, ansonsten konnte er gut ohne sie auskommen. Dennoch gab sie sich einen Ruck und rief ihn an. Er durfte ruhig wissen, dass ihr Sohn sie für vierzehn Tage zu sich eingeladen hatte. Immerhin hatte er sich schon oft darüber gewundert, dass sie so wenig Kontakt zu ihrer Familie pflegte. Geradezu neidisch hatte er gelauscht, wenn sie von ihren drei Enkelinnen erzählte – und viel war es nun wirklich nicht gewesen, was es zu berichten gab. In Wahrheit hatte sie nämlich regelrecht Angst vor diesen Zusammentreffen – und das lag nur zu einem geringen Teil an Katrin. Doch darüber konnte sie nun wirklich mit keiner Menschenseele sprechen. Nicht einmal mit sich selbst.

Nachdem sie aufgelegt hatte, ging sie ins Schlafzimmer und setzte sich auf die geblümte Tagesdecke. In Gedanken versunken fuhr sie mit dem Zeigefinger das Blumenmuster nach. Sie musste sich überlegen, wie sie den Kindern begegnen sollte, sie hatte ja seit Ewigkeiten nichts mit ihnen zu tun gehabt! Bei den seltenen Besuchen in Frankfurt hatte sich kaum einmal die Gelegenheit ergeben, sich näher mit ihnen zu befassen. Ihre Schwiegertochter beobachtete Rosalinde immer mit Argusaugen. Und dann ihre Schwiegerleute. Katrins Eltern waren einfach gestrickt. Sie hoffte, dass sie in den kommenden Tagen nicht allzu oft mit ihnen zusammentreffen würde. Sie hatte ihnen schlichtweg nichts zu sagen. Während sie unschlüssig zu ihrem Kleiderschrank blickte, versuchte sie, sich in Erinnerung zu rufen, wie alt die Kinder inzwischen sein mochten. Lotta war vor etwa einem Jahr zur Welt gekommen. Oder doch schon im Juli? Sicher zeichnete es eine Großmutter nicht gerade aus, wenn sie das Alter ihrer Enkelkinder nicht kannte. Aber sie wollte dieser Rolle ohnehin nie gerecht werden! Langsam erhob sie sich vom Bett, strich es wieder glatt und ging zum Kleiderschrank, in dem sie ihre beiden Koffer aufbewahrte. Den Reisekoffer hatte sie schon eine Weile nicht benutzt. Darin lag eine Liste der Dinge, die sie für einen Urlaub einzupacken pflegte. Auch den anderen Koffer holte sie aus dem Schrank und öffnete ihn. Sie starrte hinein und überlegte. Schließlich nahm sie mehr, als sie eigentlich benötigte, verschloss ihn wieder und stellte ihn zurück in den Schrank.

Nachdem sie fertig gepackt hatte, entschloss sie sich für einen Spaziergang in die Ortschaft, um ihr Bahnticket zu kaufen. Christoph hätte es auch für sie buchen können. Er hatte sie jedoch nicht danach gefragt.

Es war schon halb sieben, als Christoph die Bank verließ. Die Begeisterung über sein Zuspätkommen hatte sich bei seinen Schwiegereltern bei seinem Anruf vor einer Stunde in Grenzen gehalten, aber sie würden sich auch wieder beruhigen. Er hatte etliche Sitzungen hinter sich, Monatsberichte gelesen, mit von Stamms über die Möglichkeiten von Kosteneinsparungen diskutiert und einem externen Berater Rede und Antwort gestanden, was die Abteilungsstruktur betraf. In der S-Bahn wählte er Katrins Nummer. Sie nahm sofort ab.

»Ich denke ununterbrochen darüber nach, wie du die nächsten fünf Monate managen sollst«, sagte seine Frau nach einer kurzen Begrüßung. »Ich meine, du findest nicht mal Zeit, mit mir zu telefonieren – und das soll überhaupt kein Vorwurf sein! –, aber wie willst du das denn alles zu Hause auf die Reihe kriegen? Frau Jeckel kann ja nicht rund um die Uhr da sein. Gestern am Telefon jedenfalls ...«

»Warum mischst du dich eigentlich ständig in alles ein?«, fiel Christoph ihr ins Wort. »Traust du mir gar nichts zu? Ich muss mit der Situation klarkommen, ich werde es auch managen. Es hilft mir nicht, wenn du mir dann auch noch in den Ohren liegst!«

Katrin verschlug es die Sprache. Worüber regte er sich denn so auf? Sie starrte den Hörer an und überlegte, was sie ihm antworten sollte. Doch er redete schon weiter – ruhiger diesmal: »Sorry, Schatz, aber du musst mir einfach vertrauen. Ruh dich aus – ich kümmere mich um den Rest. Ich könnte nicht damit leben, wenn was mit dem Baby passiert, weil du dich überanstrengst, verstanden? Es kommen auch wieder bessere Zeiten.«

Katrin wagte nicht, ihm zu widersprechen, und kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Sie sprachen noch über die Mädchen und dass Sophie sich lieber um die Schule kümmern solle, statt allzu häufig bei Katrin im Krankenhaus vorbeizukommen.

Christoph verschwieg ihr, dass Frau Jeckel abgesagt hatte und stattdessen ihre Eltern die Kinder hüteten. Das Gespräch wäre sonst mit Sicherheit auf die nächste provisorische Lösung gekommen: seine Mutter. Spätestens dann hätte Katrin geahnt, dass die Sache ganz und gar nicht so lief, wie er sich das vorstellte. Auch von der Krise im Bankhaus erwähnte er nichts, schon gar nicht von den drohenden Entlassungen. Er schob diesen Gedanken beiseite. Unmöglich konnte er sich um alle Dinge gleichzeitig kümmern. Natürlich hätte er sie bitten können, das momentane Debakel zu organisieren. Zeit dazu hatte sie, aber auch sie hätte niemanden aus dem Hut zaubern können. Sie würde sich vermutlich sofort nach Hause verlegen lassen – das wollte er unter keinen Umständen. Und so plante er die Dinge ohne ihr Wissen und ging davon aus, dass sich die Situation zu Hause ohnehin bald entspannen würde. Sobald seine Mutter wieder weg war und sich die Sache mit den zwei oder drei Kinderfrauen eingespielt hatte, konnte er sie immer noch informieren. In zwei bis drei Wochen sah die Welt schon ganz anders aus.

4

FREITAG, 18. SEPTEMBER

Am Freitagmorgen saß Rosi um 7:30 Uhr im Zug. Sie stieg dreimal um, traf am Mittag in Frankfurt ein und nahm ein Taxi nach Erlenbach.

Als sie um halb eins ankam, wurde sie schon von Christoph erwartet. Ihr Sohn gefiel ihr gar nicht. Seit wann hatte er Ringe unter den Augen? Und warum tat er so aufgesetzt fröhlich? Er hielt die kleine Lotta wie einen Schutzschild vor sich, dann drückte er ihr das Kind in den Arm. Ungelenk nahm sie das Kind entgegen. Lotta betrachtete sie neugierig. Rosi hatte die Kleine zuletzt als Säugling gesehen. Sie sah aus wie eine Miniaturausgabe ihrer großen Schwester Sophie, und damit Katrin wie aus dem Gesicht geschnitten. Blondgelockt, blauäugig.

Lotta sah quengelnd hinter Christoph her, der Rosis Koffer nach oben trug. Sie folgte ihm ins obere Stockwerk, wo er ihr Lotta wieder abnahm und ihr das Gästezimmer zeigte. Eigentlich war es Katrins Arbeitszimmer, mit Aktenordnern in den hohen weißen Regalen und einem alten Schreibtisch am Fenster. Es stand auch ein Schlafsofa darin, das Christoph hergerichtet hatte – oder Anneliese – sie wusste es nicht. Besonders gemütlich war es nicht, und einen Schrank für ihre Kleider gab es auch nicht, aber für vierzehn Tage sollte es gehen.

Anschließend setzten sie sich an den Esstisch in der Küche, die für Rosis Geschmack viel zu farbenfroh eingerichtet war. Die Wand hinter den weißen Küchenmöbeln dunkelrot, die am Esstisch hellgrün. Geschmacksverirrung. Zusätzlich hingen überall an den Wänden und Schränken Gemälde der Kinder. Und von der Decke baumelte eine Korblampe, die diffuses Licht spendete. Bei einem unauffälligen Blick ins Wohnzimmer stellte sie erleichtert fest, dass das Haus trotz aller Geschmacklosigkeiten wenigstens aufgeräumt war. Vielleicht sah Christoph deshalb so fertig aus.

»Wenn du was suchst«, sagte er eben, »dann mach einfach die Schränke auf. Oder ruf mich an.« Er deutete auf einen Familienplaner an der Wand: »Da findest du alle Termine. Am besten, du schaust dir den nachher mal genau an, damit nichts vergessen geht.«

Oha, dachte Rosi, als sie die vielen Einträge sah. Erwartete er von ihr, dass sie die alle abarbeitete? Wohl kaum. Sie würde sich ums Essen und die Beaufsichtigung der Kinder kümmern. Nicht mehr und nicht weniger.

»Vergiss bitte nicht, dass ich über keinerlei Routine in der Kinderbetreuung verfüge«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Ich werde wohl genug damit zu tun haben, die Kinder in Schach zu halten.«

Christoph atmete tief durch. »So viele Termine sind es nun auch wieder nicht, aber die paar sind wirklich wichtig. Sophie muss zum Kieferorthopäden, und Josefine hat zweimal in der Woche Ballett. Alles andere kann ich versuchen abzusagen, in Ordnung?«

Hatte er denn nicht verstanden? Wieder schüttelte sie den Kopf: »Wirklich nicht. Ich habe dir meine Unterstützung zugesagt, ja, aber ich kann kein Mutterersatz für die Kinder sein. Und ich möchte es auch gar nicht. Deine Kinder werden sich wohl für einen gewissen Zeitraum damit abfinden können, nicht von vorne bis hinten bedient zu werden. Auch der Kieferorthopäde wird Verständnis haben, wenn aufgrund einer Krankheit der Mutter ein Termin abgesagt wird.«

Damit stand sie auf und rauschte ab ins Wohnzimmer. Christoph schaute ihr hinterher und fragte sich, wie er nur auf die bescheuerte Idee gekommen war, seine Mutter für diesen Job zu engagieren. Sie scheiterte ja schon an den allergeringsten Anforderungen.

---ENDE DER LESEPROBE---