Sehnsucht nach dem Vati - Britta Frey - E-Book

Sehnsucht nach dem Vati E-Book

Britta Frey

5,0

Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Still und zurückgezogen lebte Roxanne Runge seit ein paar Wochen mit ihrer achtjährigen Tochter Jennifer in ihrem Elternhaus und führte ihrem Vater den Haushalt. Kaum einmal verließ sie das Haus, weil sie die mitleidigen Blicke der Menschen, die sie von klein auf kannte, einfach nicht ertragen konnte. Es war nicht immer so gewesen. Bis vor vier Monaten war sie eine glückliche und zufriedene Frau gewesen. Ein Mann, der sie und den sie liebte, dazu Jennifer, die achtjährige Tochter, eine heile, schöne Welt, die nichts je hätte trüben können, das war ihr Leben. So hatte sie jedenfalls geglaubt. Wie hatte sie eigentlich begonnen? Wie schon oft zuvor gingen Roxannes Gedanken auch an diesem milden Frühlingsabend in die Vergangenheit zurück, und wie ein Film liefen die Ereignisse vor ihrem inneren Auge vorbei. Roxanne Runge stand am Fenster der im dritten Stock gelegenen Wohnung und schaute ungeduldig hinunter auf die Straße. Es war nun schon das dritte Mal in dieser Woche, daß ihr Mann nicht pünktlich von seinem Dienst nach Hause kam. Rüdiger wußte doch, daß sie mit dem Essen auf ihn wartete. An diesem Tag brutzelte das Essen schon wieder seit über einer Stunde auf dem Herd, denn es war inzwischen fünfzehn Uhr vorbei. Es war eigentlich überhaupt nicht Rüdigers Art, wenn er schon mal Überstunden machen mußte, nicht Bescheid zu geben. Und nun in einer Woche gleich dreimal. Um achtzehn Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Als Roxanne öffnete, wirbelte ein zierliches Mädchen mit dunklem, naturkrausem Haar in die Wohnung. Es war Jennifer, die achtjährige Tochter Roxannes. »Schau nur, Mutti, was ich heute bei der Inka gemacht habe. Gefällt es dir?« Mit glänzenden Augen hielt sie ein kleines Bastkörbchen hoch.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 143

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kinderärztin Dr. Martens – 65 –

Sehnsucht nach dem Vati

Hat er seine Jennifer vergessen

Britta Frey

Still und zurückgezogen lebte Roxanne Runge seit ein paar Wochen mit ihrer achtjährigen Tochter Jennifer in ihrem Elternhaus und führte ihrem Vater den Haushalt. Kaum einmal verließ sie das Haus, weil sie die mitleidigen Blicke der Menschen, die sie von klein auf kannte, einfach nicht ertragen konnte. Es war nicht immer so gewesen. Bis vor vier Monaten war sie eine glückliche und zufriedene Frau gewesen. Ein Mann, der sie und den sie liebte, dazu Jennifer, die achtjährige Tochter, eine heile, schöne Welt, die nichts je hätte trüben können, das war ihr Leben. So hatte sie jedenfalls geglaubt.

Wie hatte sie eigentlich begonnen? Wie schon oft zuvor gingen Roxannes Gedanken auch an diesem milden Frühlingsabend in die Vergangenheit zurück, und wie ein Film liefen die Ereignisse vor ihrem inneren Auge vorbei.

Roxanne Runge stand am Fenster der im dritten Stock gelegenen Wohnung und schaute ungeduldig hinunter auf die Straße. Es war nun schon das dritte Mal in dieser Woche, daß ihr Mann nicht pünktlich von seinem Dienst nach Hause kam. Rüdiger wußte doch, daß sie mit dem Essen auf ihn wartete. An diesem Tag brutzelte das Essen schon wieder seit über einer Stunde auf dem Herd, denn es war inzwischen fünfzehn Uhr vorbei. Es war eigentlich überhaupt nicht Rüdigers Art, wenn er schon mal Überstunden machen mußte, nicht Bescheid zu geben. Und nun in einer Woche gleich dreimal.

Um achtzehn Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Als Roxanne öffnete, wirbelte ein zierliches Mädchen mit dunklem, naturkrausem Haar in die Wohnung. Es war Jennifer, die achtjährige Tochter Roxannes.

»Schau nur, Mutti, was ich heute bei der Inka gemacht habe. Gefällt es dir?« Mit glänzenden Augen hielt sie ein kleines Bastkörbchen hoch. »Habe ich ganz allein gemacht.«

»Das hast du aber wirklich sehr hübsch gemacht. Bist auch mein liebes Mädchen.«

»Wo ist Vati? Ich muß ihm das Körbchen doch auch sofort zeigen.«

»Vati ist noch nicht daheim, Schatz. Er muß heute wieder länger arbeiten. Du kannst es ihm ja später zeigen.«

»Schon wieder muß er länger arbeiten, Mutti? Warum muß Vati das jetzt immer? Vati brauchte doch sonst auch nie so oft länger zu bleiben.«

»Warum das so ist, da müssen wir den Vati fragen. Er wird bestimmt bald kommen. Bis zum Abendbrot ist es noch eine Stunde Zeit. Geh noch ein wenig in dein Zimmer und spiele. Ich rufe dich, wenn Vati inzwischen nach Hause kommt.«

Es wurde neunzehn, es wurde zwanzig Uhr und für Jennifer Zeit fürs Bett. Rüdiger aber war immer noch nicht da.

Eine innere Scheu hielt Roxanne davon ab, einmal in Rüdigers Firma anzurufen. Sie wollte bei ihm auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie würde ihn kontrollieren wollen. Dabei begann sie inzwischen, sich Sorgen zu machen. Ihm würde doch wohl nichts passiert sein? Aber in einem solchen Fall wäre sie bestimmt benachrichtigt worden.

Es ging schon auf zweiundzwanzig Uhr zu, als sich endlich von außen der Wohnungsschlüssel im Schloß drehte, und wenig später Rüdiger das Wohnzimmer betrat.

»Guten Abend, Roxi.«

»Guten Abend, Rüdiger. Heute ist es ja wirklich reichlich spät geworden. Habt ihr so viel zu tun?« Fragend sah Roxanne den großen blonden Mann an, der irgendwie verlegen zu sein schien.

»Muß ja wohl, sonst wäre ich ja früher gekommen«, antwortete er kurz und streifte ihre Wange mit einem flüchtigen Kuß.

Darüber wunderte sich Roxanne noch mehr, denn normalerweise begrüßte er sie immer sehr zärtlich. Hatte sie ihn etwa verärgert?

»Was ist, habe ich was Falsches gesagt, Rüdiger? Du bist auf einmal so anders.«

»Unsinn, das bildest du dir nur ein. Ich bin heute nur ziemlich geschafft. Es war für mich ein anstrengender Tag. Entschuldige, aber ich werde mich sofort hinlegen. Wecke mich bitte morgen früh wie immer.«

»Und dein Essen, Rüdiger?« fragte sie betroffen.

»Ich habe keinen Appetit. Ich lege mich jetzt hin. Gute Nacht, Roxanne.«

Ein paar nüchterne Worte, ohne die weiche Zärtlichkeit, die die junge Frau sonst von ihrem Mann gewohnt war.

Ratlos und hilflos sah Roxanne auf die Tür, die sich hinter Rüdiger schloß. Sie fühlte sich verletzt. Erst viel später suchte sie das Schlafzimmer auf und ging zu Bett. In ihrem Herzen hoffte sie, daß am nächsten Tag alles wieder wie immer sein würde. Vielleicht war Rüdiger wirklich nur überarbeitet.

Roxannes Wunsch erfüllte sich nicht. Der erste, noch feine Riß in ihrer heilen Welt war da, denn von nun an kam Rüdiger jeden Tag später. Nur am Samstag und am Sonntag blieb er daheim, aber er ging ihr aus dem Weg und beschäftigte sich nur mit Jennifer. Am Sonntagabend, Jennifer schlief schon, faßte sich Roxanne endlich ein Herz.

»Können wir miteinander reden, Rüdiger? So geht es nicht weiter. Was habe ich bloß falsch gemacht, was ist nur auf einmal mit dir los?«

»Kannst du mich nicht wenigstens den Film zu Ende sehen lassen?«

»Nein, ich will jetzt mit dir reden. Ich will endlich wissen, was los ist. Wenn es an mir liegt, daß du dich so seltsam verhältst, habe ich ein Recht, es zu erfahren.«

»Gut, reden wir, Roxanne.« Rüdiger erhob sich und schaltete den Fernseher aus. »Es liegt nicht an dir, es liegt nur an mir. Ich wollte dir nicht weh tun, und ich habe es nie für möglich gehalten, daß mir so etwas passiert. Aber es ist geschehen, und ich kann mich nicht dagegen wehren. Es tut mir leid.«

»Ich verstehe dich nicht. Was soll das alles, Rüdiger? Kannst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken? Was tut dir leid? Was versuchst du, mir zu sagen?«

»Ich werde dich verlassen, Ro­xanne. Ich liebe eine andere Frau. Ich kann ohne sie nicht mehr leben. Bitte, verzeih mir, aber ich kann nicht anders.«

Roxanne starrte ihn mit verständnisvollen Blicken an. Aus ihrem Gesicht wich jeder Tropfen Blut. Mit zitternden Lippen stammelte sie dann: »Sag, daß es nicht wahr ist, daß das alles nur ein Scherz ist.«

»Es ist kein Scherz, es ist die Wahrheit. Du wolltest ja unbedingt wissen, was mit mir los ist. Jetzt kennst du die Wahrheit.«

»Bitte geh, laß mich allein«, kam es tonlos über Roxannes Lippen. Sie fühlte sich auf einmal leer und ausgehöhlt. Ihre schöne heile Welt war plötzlich nur noch ein Scherbenhaufen. Hastig wandte sie sich ab, denn sie fühlte die Tränen in sich hochsteigen. Sie biß die Zähne so heftig aufeinander, daß es leise knirschte. Nein und nochmals nein, er sollte ihre Tränen nicht sehen.

Hinter Roxanne klappte leise eine Tür zu. Rüdiger war gegangen. Erst jetzt verlor sie ihre Fassung und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Acht lange Jahre und noch etwas mehr, und mit einem Schlag war alles vorbei.

In dieser Nacht gab es für Roxanne keinen Schlaf. Irgendwann hörte sie die Wohnungstür zuklappen. Es konnte nur bedeuten, daß Rüdiger die Wohnung verlassen hatte. So eilig hatte er es auf einmal, daß er noch nicht einmal bis zum Morgen warten konnte, um sich von seinem Kind zu verabschieden. Der Gedanke an Jennifer, die völlig ahnungslos oben in ihrem Zimmer schlief, ließ die junge Frau erneut verzweifelt die Hände vor das Gesicht pressen.

Jennifer. Wie sollte sie nur ihrem kleinen Mädchen beibringen, was geschehen war? Wie würde das Kind, das in abgöttischer Liebe an ihrem Vater hing, auf alles reagieren?

Erst als das erste Licht des beginnenden Tages seinen Weg durch das Fenster ins Haus suchte, ging sie mit müden und schleppenden Schritten nach oben ins Schlafzimmer. Sie sah den weißen Bogen Papier sofort, der auf ihrem Nachttisch lag. Es waren nur ein paar hastig aufgeschriebene Worte, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, als sie las:

Verzeih, Roxanne, aber es ist wohl besser, ich gehe sofort. Um die finanzielle Seite braucht ihr Euch keine Sorgen zu machen. Geld für Euren Lebensunterhalt überweise ich auf unser Konto, das Dir wie bisher zur Verfügung steht.

Rüdiger.

Das war also das Ende all ihrer Träume. Was blieb, war ein Scherbenhaufen.

In der folgenden Zeit durchlebte Roxanne die Hölle der Verzweiflung. Sie fand sich nicht mehr in ihrem Leben zurecht. Sie zog sich wie ein weidwundes Tier in sich zurück. Dazu kamen die immer drängender werdenden Fragen Jennifers, die sie nach einiger Zeit nicht mehr mit der Ausrede, der Vati mußte einige Zeit in einer anderen Stadt arbeiten, vertrösten konnte. Roxanne begann, ihren Liebling Jennifer zu vernachlässigen. Sie überließ das Mädchen meistens sich selbst, ohne daß es ihr richtig bewußt wurde. Und was genauso schlimm war, sie vernachlässigte sich selbst, war bald nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wenn das Telefon klingelte, nahm sie einfach nicht ab und untersagte auch Jennifer, den Hörer abzunehmen. Für die junge Frau war der harte Schlag, der ihr Glück zerstört hatte, offenbar nicht abzufangen.

*

In Wismor, einem kleinen Ort in der Nähe von Celle, lebte Alfred Konrads, Roxanne Runges Vater. Seit Jahren Witwer, lebte der achtundfünfzigjährige große, hagere Mann allein in seinem kleinen Häuschen. Einmal in der Woche kam für ein paar Stunden eine Nachbarin, die ihm gegen ein Entgelt seine Putzarbeiten erledigte, ansonsten versorgte er sich selbst.

Alfred Konrads war es gewohnt, daß seine Tochter Roxanne alle vierzehn Tage mit ihrem Mann und Jennifer für ein paar Stunden zu Besuch kam. Wenn einmal etwas dazwischen kam, rief sie an und sagte dann Bescheid.

Aber plötzlich war das anders. Er wartete vergeblich auf ihren Besuch, und es kam auch kein Anruf, daß sie verhindert sei. Als er daraufhin versuchte, seine Tochter telefonisch zu erreichen, meldete sich niemand. So ging das eine ganze Woche lang. Nun begann er jedoch, sich Sorgen zu machen. Da der vorletzte Besuch schon ausgefallen war, weil der Schwiegersohn hatte arbeiten müssen, waren inzwischen fünf Wochen vergangen, in denen er nichts von Roxanne gehört hatte. Er ließ das Wochenende verstreichen, und als er auch dann noch keinen telefonischen Kontakt herstellen konnte, beschloß er, persönlich nach Celle zu fahren, um einmal nachzuhören, warum sich die Tochter nicht bei ihm meldete. Er konnte sich nämlich nicht entsinnen, vielleicht etwas gesagt zu haben, was sie verärgert haben könnte. Das Verhältnis zwischen ihm und Roxanne war auch nach dem Tod der Mutter immer sehr herzlich gewesen.

Es war ein milder Dienstagmorgen, als er sich in seinen Golf setzte und in die gut eine Stunde entfernte Stadt fuhr. Er parkte seinen Wagen auf dem Parkplatz, der neben dem vierstöckigen Mietshaus lag, in dem der Schwiegersohn mit seiner kleinen Familie eine hübsch eingerichtete, geräumige Wohnung bewohnte.

Als er zu den Fenstern der Wohnung hinaufsah, entdeckte er, daß bei einem der Fenster ein Flügel offen stand. Für den großen, hageren Mann war das ein Zeichen, daß auf jeden Fall jemand daheim sein mußte.

Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bevor auf sein andauerndes Klingeln oben jemand auf den Türöffner drückte. Oben vor der Wohnungstür erwartete ihn wieder das gleiche Spielchen. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich von innen Schritte der Tür näherten.

»Wer ist denn da?« hörte er Ro­xanne mit fremd klingender Stimme fragen.

»Ich bin es, dein Vater. Willst du mich nicht hereinlassen?«

Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, eine Türkette wurde entfernt, und langsam ging die Tür auf.

»Du, Vater? Was führt dich denn hierher?«

»Du stellst vielleicht Fragen, Mädel! Laß mich aber zuerst einmal in die Wohnung. Du willst mich doch wohl nicht hier vor der Tür stehen lassen, oder?«

»Natürlich nicht, Vater.« Roxanne trat einen Schritt zur Seite und ließ ihren Vater an sich vorbei in die Wohnung, um dann die Tür sofort wieder abzuschließen.

Alfred Konrads erschrak, als Ro­xanne sich ihm zuwandte.

»Um Gottes willen, Mädel, was ist denn mit dir passiert? Wie schaust du denn aus? Ist etwas mit Rüdiger oder mit der Kleinen?«

Mit der Fassung der jungen Frau war es plötzlich vorbei. Die ganze aufgestaute Not und Verzweiflung brach sich mit einem Tränensturz Bahn.

»Hilf mir, Vater, ich weiß nicht mehr weiter. Es ist alles aus und vorbei.« Aufschluchzend warf sich die junge Frau in die Arme des großen Mannes.

»Na, na, na, ganz ruhig, Mädel. Jetzt setzen wir uns erst einmal hin, und du beruhigst dich. Dann erzählst du mir, warum du so verzweifelt bist. Wo ist Jennifer?«

»Ich glaube, in der Schule.«

»Du glaubst, Roxi? Du mußt das doch wissen!« Betroffen sah Alfred Konrads in das vom vielen Weinen verquollene Gesicht. Er führte seine Tochter ins Wohnzimmer und zog sie neben sich auf die Couch.

»So, nun hör auf zu weinen, und sag deinem alten Vater endlich, was passiert ist. Wenn ich dir helfen soll, mußt du es mir schon sagen. Oder hast du kein Vertrauen mehr zu mir?«

»Doch, Vater, aber es ist… es ist…«

»Hast du dich mit Rüdiger gestritten? Dein Aussehen, nein alles an dir ist verändert. Du schaust ja zum Gotterbarmen aus.«

»Es ist alles aus, Vater. Rüdiger hat mich und Jennifer verlassen. Es ist schon über fünf Wochen her«, kam es da tonlos über Roxannes Lippen.

»Er hat was? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ihr wart doch bei eurem letzten Besuchen noch so glücklich. Warum hat er euch verlassen? Es muß einen plausiblen Grund dafür geben, oder?«

»Rüdiger liebt eine andere Frau, Vater.« Roxanne senkte den Kopf, und glitzernde Tränen rollten über ihre Wangen.

»Das kann doch nicht möglich sein. Rüdiger liebt doch dich.« Bestürzt blickte Alfred Konrads auf den gesenkten Kopf seiner Tochter.

»Das habe ich auch geglaubt. Jetzt weiß ich es besser«, kam es tonlos über Roxannes Lippen.

Alfred Konrads schwieg einen Augenblick. Was hätte er sagen können, um seine Tochter zu trösten? Was er bisher gehört hatte, kam ihm wie ein Alptraum vor. Als er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, galt seine nächste Frage der Enkelin. Eindringlich fragte er: »Und was ist jetzt mit Jennifer? Ist sie nun in der Schule oder nicht? Du mußt es doch wissen.«

»Als ich wach wurde, war Jennifer schon fort. Ich habe die ganze Nacht über nicht geschlafen, bin erst gegen Morgen eingedämmert und habe den Wecker nicht gehört.«

»Das hört sich allerdings nicht gut an. Was ich bis jetzt hier gesehen habe, gefällt mir nicht So kann und darf es nicht weitergehen. Du vernachlässigst dich, und was noch schlimmer ist, deine Tochter. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Willst du, daß dir Rüdiger am Ende noch das Mädel fortnimmt?«

»Niemals gebe ich ihm Jennifer, niemals. Es reicht, daß er mein Leben zerstört hat«, brach es leidenschaftlich aus Roxanne heraus.

»Genau das denke ich auch, Roxi. Ich möchte, daß ihr beide, du und Jennifer, zu mir nach Wismor kommt. Mehr noch, ich nehme euch heute noch mit. Es wird für euch beide das Beste sein. Hier in der Wohnung erinnert dich alles an eine glückliche Zeit, und du wirst nie zur Ruhe kommen. Komm mit mir nach Hause, wenigstens für einige Zeit. Jennifer kann auch in Wismor zur Schule gehen.«

»Ich weiß nicht, Vater. Ich soll einfach alles hier aufgeben? Das kann ich nicht.«

»Du brauchst nichts aufzugeben. Du verschließt nur deine Wohnung und kommst mit deinem Kind für einige Zeit zu mir in dein Elternhaus zurück. Wach endlich auf, besinne dich, wer du bist, Roxanne. Einen Einwand lasse ich nicht zu. Ich sehe nicht ein, daß du dich für deinen untreuen Ehemann kaputt machst. Ich helfe dir beim Packen, und wenn Jennifer kommt, fahren wir sofort nach Wismor.«

*

Roxanne war so durcheinander, daß Alfred resolut das Packen der Koffer in die Hand nahm. Das galt für ihre sowie für Jennifers Kleidung. Als die Koffer fertig gepackt in der Diele standen, hörte der hagere Mann, daß sich von außen ein Schlüssel in der Wohnungstür drehte, und einen Moment später trat ein zierliches Mädchen in die Wohnung.

»Grüß dich, Jennifer. Kommst du jetzt aus der Schule?«

Mit einem Ruck fuhr die Kleine herum. Erst jetzt erkannte sie ihren Opa.

»Opa, Opa, du bist hier! Wie schön, da freue ich mich aber.«

Die Achtjährige ließ ihre Schultasche fallen, und im nächsten Moment hing sie am Hals ihres Opas.

»Ich freue mich auch, mein Schatz. Weißt du, ich habe eine Überraschung für dich.«

»Eine Überraschung, Opa? Ist der Vati endlich wiedergekommen?« Erwartungsvoll sahen Jennifers dunkle, große Augen ihn an.

»Nein, dein Vati ist noch nicht da. Meine Überraschung für dich ist, daß wir drei gleich zu mir nach Hause fahren. Eure Koffer sind schon gepackt. Sieh, da stehen sie. Wir fahren auch sofort los. Du wirst mit der Mutti einige Zeit bei mir bleiben.«

»Das geht doch nicht, Opa. Ich muß doch zur Schule gehen. Ich will auch nicht von Zuhause weg. Ich muß doch hier sein, wenn Vati wieder zurückkommt.«

»Du kannst auch in Wismor zur Schule gehen, mein Schatz. Ich werde dich gleich zu Beginn der nächsten Woche anmelden. Und dein Vati, er hat ja ein Auto. Wenn er kommt, wird er schon wissen, wo ihr seid. Ich brauche die Mutti einige Zeit. Du weißt doch, daß ich ganz allein bin. Dir hat es bei mir ja immer gut gefallen, oder?«

»Schon, Opa.«

»Na, siehst du, dann ist ja alles klar.«

»Ist die Mutti dann auch nicht mehr so traurig und weint nicht mehr so viel?«

»Weint sie denn wirklich so viel?«

»Ja, Opa, jeden Tag. Bei uns ist es überhaupt nicht mehr schön, seit Vati fort ist.«

»Wenn ihr erst bei mir seid, wird die Mutti bestimmt nicht mehr jeden Tag weinen. Gehen wir jetzt zu ihr?«