Flucht aus dem goldenen Käfig - Britta Frey - E-Book

Flucht aus dem goldenen Käfig E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Etwas über sieben Jahre alt, das dunkle Haar zu einer lustigen Pfer­deschwanzfrisur gekämmt, das war Svantje Münzer. Das zierliche Mädchen kniete auf einem Stuhl, den es sich ans Fenster geschoben hatte, und beobachtete mit sehnsüchtigen Augen das bunte Treiben der spielenden Kinder draußen vor dem Haus. Svantje war sehr traurig. Nun war sie schon eine ganze Weile in der Schule, und noch immer durfte sie nicht allein hinaus zum Spielen. Alle Mädchen und Jungen aus ihrer Klasse durften das, nur sie nicht. Sie mußte immer im Haus bleiben. Überhaupt, es war gar nicht mehr schön. Seitdem der Vati und der Jörg nicht mehr da waren, war die Mutti immer so komisch. Sie lachte nicht mehr und war nie fröhlich. Manchmal weinte die Mutti auch, und sie durfte sie dann nicht stören. Als wenn sie noch ein Baby wäre, brachte die Mutti sie zur Schule und holte sie auch wieder ab. Fast ruckartig wandte sich das zierliche Mädchen um und wäre dabei beinahe vom Stuhl gerutscht. »Warum darf ich denn nicht ein bißchen zum Spielen nach draußen, Mutti? Ich will nicht immer nur hier vom Fenster aus zuschauen.« Die dunklen Augen groß aufgeschlagen, sah Svantje bittend auf die junge Frau, die hinter ihr im Zimmer an einem Tisch saß und mit einer Handarbeit beschäftigt war. Dinah Münzer, eine junge, hübsche Frau von neunundzwanzig Jahren, die Mutter der kleinen Svantje, antwortete mit ungeduldiger Stimme: »Nun sei endlich friedlich, Schatz. Ich habe dir gesagt, daß du nicht allein hinaus­gehst, und dabei bleibt es. Geh in dein Zimmer spielen. Du hast so viele schöne Spielsachen, mit denen du dir die Zeit vertreiben kannst. Heute nachmittag gehen wir dann wieder spazieren.«

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Kinderärztin Dr. Martens – 76 –

Flucht aus dem goldenen Käfig

Wenn ein Kind zu sehr behütet wird

Britta Frey

Etwas über sieben Jahre alt, das dunkle Haar zu einer lustigen Pfer­deschwanzfrisur gekämmt, das war Svantje Münzer. Das zierliche Mädchen kniete auf einem Stuhl, den es sich ans Fenster geschoben hatte, und beobachtete mit sehnsüchtigen Augen das bunte Treiben der spielenden Kinder draußen vor dem Haus.

Svantje war sehr traurig. Nun war sie schon eine ganze Weile in der Schule, und noch immer durfte sie nicht allein hinaus zum Spielen. Alle Mädchen und Jungen aus ihrer Klasse durften das, nur sie nicht. Sie mußte immer im Haus bleiben. Überhaupt, es war gar nicht mehr schön. Seitdem der Vati und der Jörg nicht mehr da waren, war die Mutti immer so komisch. Sie lachte nicht mehr und war nie fröhlich. Manchmal weinte die Mutti auch, und sie durfte sie dann nicht stören. Als wenn sie noch ein Baby wäre, brachte die Mutti sie zur Schule und holte sie auch wieder ab.

Fast ruckartig wandte sich das zierliche Mädchen um und wäre dabei beinahe vom Stuhl gerutscht.

»Warum darf ich denn nicht ein bißchen zum Spielen nach draußen, Mutti? Ich will nicht immer nur hier vom Fenster aus zuschauen.«

Die dunklen Augen groß aufgeschlagen, sah Svantje bittend auf die junge Frau, die hinter ihr im Zimmer an einem Tisch saß und mit einer Handarbeit beschäftigt war.

Dinah Münzer, eine junge, hübsche Frau von neunundzwanzig Jahren, die Mutter der kleinen Svantje, antwortete mit ungeduldiger Stimme: »Nun sei endlich friedlich, Schatz. Ich habe dir gesagt, daß du nicht allein hinaus­gehst, und dabei bleibt es. Geh in dein Zimmer spielen. Du hast so viele schöne Spielsachen, mit denen du dir die Zeit vertreiben kannst. Heute nachmittag gehen wir dann wieder spazieren.«

»Ich darf ja überhaupt nichts mehr, und ich will nicht immer nur mit dir spazierengehen. Du bist überhaupt keine liebe Mutti mehr, du hast mich ja gar nicht lieb.«

Mit diesen Worten stürmte das kleine Mädchen an seiner Mutter vorbei aus dem Zimmer.

Ein Schatten fiel über Dinah Münzers schmales Gesicht. Die kindlichen Vorwürfe ihres Töchterchens trafen sie bis ins Herz hinein, aber sie konnte nicht anders handeln. Sie mußte Svantje gegen alle Gefahren abschirmen. Svantje war doch alles, was ihr von einem schönen und großen Glück geblieben war. Allein der Gedanke, das Mädchen auch verlieren zu können, ließ in der jungen Frau Panik aufkommen. Wie immer in solchen Minuten, war die Vergangenheit so gegenwärtig in ihr, als wäre alles erst vor wenigen Tagen passiert. Das Geschehene lag aber schon über ein Jahr zurück.

Ein endloses langes Jahr war vergangen, seitdem sie zwei der liebsten Menschen verloren hatte, ihren Mann Peter und ihren kleinen Liebling, ihren fünfjährigen Sohn Jörg. Ein betrunkener Autofahrer war in eine kleine Gruppe Passanten gerast und hatte dabei auch ihr Glück zerstört. Seit dieser Zeit war Svantje ihr ein und alles, ihr ganzer Lebensinhalt geworden. Etwas Kostbares, das sie vor allem beschützen mußte, was ihr auch nur den kleinsten Schaden zufügen könnte.

Daß Dinah Münzer damit den falschen Weg eingeschlagen hatte, kam ihr nicht eine einzige Sekunde in den Sinn. Die Angst, das letzte, was ihr von ihrem Glück geblieben war, auch noch verlieren zu können, war stärker als alles andere. Was hatte sie nicht alles für Svantje in diesem Jahr getan. Da Peter sie gut versorgt zurückgelassen hatte, bekam sie alles, was sich ein Kinderherz zum Spielen wünschen konnte. Für ihre kleine Svantje war gesorgt. Es fehlte ihrem Mädchen wirklich an nichts, es durfte nur nicht allein, ohne sie, die Wohnung verlassen. Mit anderen Kindern ihres Alters kam Svantje seit einigen Wochen in der Grundschule, in der ersten Schulklasse zusammen. Sie konnte also in den Pausen unter der Aufsicht der Lehrer mit ihren Klassenkameradinnen spielen.

Die Angst um ihr kleines Mädchen ließ Dinah Münzer den Blick für die Realität verlieren. Sie übersah bewußt die sehnsüchtigen Blicke Svantjes, wenn von draußen fröhliche Kinderstimmen durch das geöffnete Fenster in die Wohnung drangen. Sie verdrängte, daß zu einem glücklichen und zufriedenen Kind auch ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit ge­hörte. Sie verdrängte, daß das schönste Zuhause, die hübscheste und teuerste Kleidung, ein Zimmer vollgestopft mit Spielsachen kein Ausgleich für kindliche Freiheit sein konnten. Dinah war so darauf fixiert, ihre kleine Tochter nicht eine Minute aus den Augen zu lassen, daß sie nicht auf den Gedanken kam, daß ihr Verhalten dem Kind gegenüber auf die Dauer nicht gut gehen konnte. Warum sollte sie auch? Sie tat ja alles für ihr Kind.

Soweit mit ihren Gedanken, raffte sich die junge Frau auf und ging hinüber ins Kinderzimmer, um zu sehen, was Svantje machte.

Als sie das Zimmer betrat, saß das kleine Mädchen wohl an seinem Spieltisch, doch es spielte nicht. Es kritzelte nur mit Buntstiften ein wirres Durcheinander auf ein Blatt Papier. Es sah nur kurz hoch, machte dann weiter.

Dinah sah sich das einen Moment an, dann sagte sie: »Warum spielst du nicht vernünftig, Schätzchen? Du hast doch so schöne Spielsachen. Sollen wir heute nachmittag in die Stadt gehen und etwas Neues kaufen?«

»Will keine Spielsachen, Mutti. Ich will nach draußen. Die Kim und die Sandra sind auch draußen. Bitte, bitte, Mutti, laß mich doch auch.«

Wie schon so oft, versuchte es das zierliche Mädchen nun mit Betteln, ihrem goldenen Käfig zu entfliehen, und legte dabei schmeichelnd ihre Arme um ihre Mutti.

»Es geht nicht, Svantje, ich habe dir schon so oft gesagt, warum. Deine Klassenkameradinnen siehst du ja morgen früh in der Schule wieder. Ich mache uns jetzt gleich etwas zum Essen, und danach gehen wir beide spazieren. Jetzt sei brav und spiel.«

Das enttäuschte Gesicht Svantjes einfach ignorierend, verließ Dinah mit raschen Schritten das Kinderzimmer. So sah sie auch nicht mehr die Tränen, die plötzlich über die Wangen des Mädchens kullerten.

*

Es war ein paar Tage später, als Katarina Laibach, die junge Klassenlehrerin, nach Beendigung des Schulunterrichtes mit fröhlicher Stimme zu ihren Schülern und Schülerinnen sagte: »Jetzt bleibt mal alle ruhig sitzen, ich habe noch eine große Überraschung für euch. Wir machen am Samstag einen Schulausflug. Wir fahren alle gemeinsam nach Soltau in den Heidepark. Ihr bekommt jetzt von mir ein Schreiben für eure Eltern mit. Sie müssen darauf unterschreiben, daß sie einverstanden sind, daß ihr an diesem Schulausflug teilnehmt. Nun, ist das eine Überraschung?«

»Toll, prima, das ist ja eine Wucht«, schwirrte es Katarina Laibach mit fröhlichen, ausgelassenen Stimmen entgegen.

Es gelang ihr nur mit Mühe, die junge Rasselbande ruhig zu bekommen, damit sie die Schreiben für die Eltern verteilen konnte. Dabei bemerkte sie aber auch, daß eines der Mädchen nicht so ausgelassen reagierte, wie die übrigen ihrer Klasse.

Es war Svantje Münzer, eine Schülerin, die für ihr Alter viel zu still war und auch immer irgendwie bedrückt und traurig wirkte.

Als sie Svantje das Schreiben reichte, fragte sie freundlich: »Freust du dich denn nicht auf unseren Schulausflug, Svantje?«

»Warum? Ich darf ja sowieso nicht mit«, kam es leise über die Lippen des kleinen Mädchens.

»Warum denn nicht, Svantje? So teuer kommt der Tag doch nicht. Sollst sehen, deine Eltern erlauben es dir ganz bestimmt auch. Du nimmst ja diesen Zettel hier mit und gibst ihn deinem Vati und deiner Mutti.«

»Mein Vati ist im Himmel, und meine Mutti läßt mich sowieso nicht allein nach draußen.«

»Du bist ja am Samstag nicht allein, Svantje. Wir sind alle zusammen. Es wird ganz bestimmt ein toller Tag. Jetzt geh mit deinen Freundinnen nach Hause. Morgen werden wir dann weitersehen.«

Nachdem die Kinder das Klassenzimmer schon längst verlassen hatten, saß die junge Lehrerin noch immer nachdenklich hinter ihrem Pult. Die Reaktion des kleinen Mädchens – da schien doch irgend etwas in der Familie nicht so ganz in Ordnung zu sein. Dabei war Svantje so ein kluges Mädchen. Der Lernstoff in der ersten Klasse fiel ihr sogar leichter als den übrigen Kindern. Daß Svantje keinen Vater mehr hatte, das war gewiß sehr traurig. Vielleicht war die Mutter aus diesem Grunde so streng mit dem kleinen Mädchen.

Katarina Laibach war jedoch sicher, daß Svantje von ihrer Mutter die Erlaubnis bekommen würde, an dem Schulausflug teilzunehmen. Es sollte doch ein Tag für die Kinder werden, an den sie noch lange zurückdenken konnten. Der Freizeitpark bei Soltau bot so vieles an Spielmöglichkeiten und Sehenswürdigkeiten für die Kinder. Sie würden einen wunderschönen Tag verleben, dafür würde sie schon sorgen.

Und falls Svantjes Mutter doch Schwierigkeiten machen sollte, würde sie sie eben persönlich aufsuchen, um auch die kleinsten Beweggründe für eine Ablehnung aus dem Weg zu räumen.

Nach einigen Dingen, die sie noch im Lehrerzimmer zu erledigen hatte, konnte auch sie die Schule für diesen Tag verlassen. Sie ahnte nicht, daß Svantje, die wie an jedem Tag von ihrer Mutter vor dem Schulgebäude abgeholt worden war, erst daheim in der Wohnung den Mut aufbrachte, ihrer Mutter das Schreiben der Schule auszuhändigen.

Nachdem sie ein paar Minuten herumgedruckst hatte, holte sie das Schreiben aus ihrem Schulranzen, legte es auf den Tisch und sagte leise: »Hier, Mutti, das soll ich dir von Frau Laibach geben. Wir machen doch am Samstag mit der ganzen Klasse einen Schulausflug. Du mußt es durchlesen und unterschreiben. Ich darf doch auch mit, nicht wahr? Du kannst ja das Geld dafür aus meiner Spardose nehmen. Bitte, bitte, Mutti, darf ich auch mitfahren?«

Dinah Münzer überflog flüchtig das Schreiben der Schule, danach schüttelte sie den Kopf und antwortete ablehnend: »Ich werde dich nicht mitlassen, Schätzchen. Diese Fahrt mit dem Bus ist viel zu gefährlich. Nicht traurig sein, wir fahren dafür mit der Eisenbahn einmal in den Heidepark. So, und nun reden wir nicht mehr davon, hörst du?«

Dinah wollte ihre kleine Tochter in die Arme nehmen, doch Svantje wich zurück, starrte ihre Mutter trotzig an. Dann brach es mit schriller Stimme aus ihr heraus: »Geh weg, ich hasse dich, du…«

Ehe sich Dinah versah, stürzte das Mädchen aus der Küche hinaus, rannte ins Kinderzimmer und schlug mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zu.

Ein paar Sekunden sah Dinah fassungslos hinter Svantje her. War das noch ihr kleines, immer so nachgiebiges Mädchen? Zum zweiten Mal in kurzer Zeit ein derartig unkontrollierter Ausbruch? Sie machte doch nichts falsch, nur weil sie ihre kleine Tochter beschützen wollte? Nein, es ist richtig, denn ich würde es nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren, dachte sie. Sie mußte diese kindlichen Ausbrüche in Kauf nehmen, wenn sie ihr auch noch so weh taten. Sie konnte nun einmal nicht aus ihrer Haut heraus. Svantje würde sich schon wieder beruhigen. Sie war sieben Jahre alt und mußte doch erkennen, daß sie als Mutter nur das Beste wollte.

Aber dieses Mal war alles anders. Svantje führte wohl wie an jedem Tag sauber ihre Hausarbeiten durch, ansonsten aber blieb sie den ganzen Tag über blockig und verstockt. Es machte Dinah traurig, aber sie tat vor Svantje so, als würde ihr das überhaupt nichts ausmachen, und ließ die Tochter einfach gewähren.

Als Svantje jedoch auch am nächsten Morgen ihre liebevolle Fürsorge trotzig zurückwies, war Dinah doch stärker betroffen, als sie es vor sich selbst zugeben wollte. Sie ahnte nicht, daß diese Trotzreaktion nur ein äußerliches Zeichen war. In Wahrheit ging ein sehr verstörtes kleines Mädchen mit gesenktem Kopf neben ihr her zur Schule, tapfer gegen die Tränen an­kämpfend, die ihm immer wieder in die Augen treten wollten.

Katarina Laibach sah sofort, daß mit Svantje an diesem Morgen etwas nicht stimmte. Aber zuerst sammelte sie die von den Eltern der Kinder ausgefüllten und unterzeichneten Schreiben wieder ein.

Als sie zu Svantje kam und ihr das Mädchen den Bogen reichte, wußte sie, ohne eine Frage stellen zu müssen, was Svantje zu schaffen machte. Dinah Münzer hatte unterschrieben und nur hinzugefügt: Svantje nimmt nicht an dem Schulausflug teil. Nur dieser eine Satz, ohne dabei einen Grund anzugeben.

Das gibt es doch nicht, einem kleinen Mädchen diese harmlose Freude nicht zu gönnen, dachte die junge Lehrerin und fühlte Zorn in sich hochsteigen. Sie glaubte, daß es vielleicht wegen der Summe war, die die Eltern der Kinder bezahlen sollten. Dabei war es ein Betrag, der durchaus für alle Eltern erschwinglich war: Es war vielleicht ganz gut, wenn sie die Mutter des Mädchens einmal persönlich aufsuchen würde. Aus diesen Gedanken heraus fuhr sie dem kleinen Mädchen mit den traurigen Augen sanft über das Haar und sagte zuversichtlich: »Mußt nicht traurig sein, Svantje. Ich werde deine Mutti besuchen und mit ihr sprechen. Sollst sehen, du darfst dann ganz bestimmt auch mitfahren. Jetzt setz dich, wir beginnen gleich mit dem Unterricht.«

*

Es war am Abend, gegen einundzwanzig Uhr. Svantje, die erneut den ganzen Nachmittag über trotzig und einsilbig gewesen war, lag schon im Bett und schlief.

Dinah Münzer saß mit sorgenvollem Gesicht im Wohnzimmer. Es machte ihr doch sehr zu schaffen, daß ihr kleines Mädchen eine solche Reaktion auf ihr Verbot an den Tag legte.

Als plötzlich die Türglocke anschlug, zuckte Dinah nervös zusammen und warf einen Blick auf die Uhr. Um diese Zeit, wer mochte da noch etwas von ihr wollen? Hastig erhob sie sich, um die Wohnungstür zu öffnen.

Einen Moment später sah sie überrascht auf die junge Frau, die vor ihr stand: »Frau Laibach?«

»Ja, ich, Frau Münzer. Ich hätte Sie gern persönlich und allein gesprochen. Aus diesem Grund habe ich diese Zeit gewählt.«

»Bitte, treten Sie doch ein, Frau Laibach. Hat meine Tochter etwa in der Schule etwas angestellt?«

Katarina Laibach, Svantjes Klassenlehrerin, schüttelte den Kopf und entgegnete lächelnd: »Nein, sie hat nichts angestellt. Svantje ist ein liebes Mädchen und außerdem eine sehr fleißige Schülerin. Es geht um eine andere Sache.«

Dinah bot der späten Besucherin einen Platz an, und um noch etwas Zeit zu gewinnen, fragte sie höflich: »Kann ich Ihnen vielleicht eine kleine Erfrischung anbieten, Frau Laibach?«

Dinah glaubte auf einmal zu wissen, warum Svantjes Lehrerin sie persönlich aufsuchte.

»Wenn Sie ein Glas Mineralwasser hätten, wäre ich Ihnen sehr dankbar, Frau Münzer.«

»Ich hole es sofort, einen Moment, bitte.«

Erst als Dinah Münzer für Katarina Laibach und für sich das Mineralwasser aus der Küche geholt hatte, nahm auch sie Platz und sah ihre Besucherin abwartend an.

Katarina Laibach gab sich einen inneren Ruck, sah Svantjes Mutter offen an und sagte: »Vielleicht können Sie sich denken, aus welchem Grund ich Sie aufsuche. Es geht um den Ausflug, den ich am Samstag mit der ganzen Klasse machen möchte. Um ehrlich zu sein, kann ich nicht verstehen, warum Sie Svantje nicht an dem Schulausflug teilnehmen lassen wollen. Es soll doch für die ganze Klasse ein schöner Tag werden.«

»Ich kann Svantje nicht mitfahren lassen, Frau Laibach. Ich habe erst vor einem Jahr meinen Mann und meinen jüngsten Sohn durch einen Unfall verloren. Ein betrunkener Autofahrer war schuld, der in eine Passantengruppe gerast war, in der sich mein Mann und mein Sohn befanden.

Svantje ist alles, was mir geblieben ist. Das Kind auf der Straße zu wissen, bereitet mir Angst und Schrecken. Ich lasse sie nicht eine Minute aus den Augen. Und jetzt kommen Sie mit dieser Klassenfahrt. Ich kann nun einmal nicht aus meiner Haut heraus. Sie haben jeden Tag mit Kindern zu tun, Sie müßten mich doch eigentlich verstehen.«

»Das mit Ihrer Familie tut mir leid, Frau Münzer. Aber wenn ich Sie auch auf eine Art verstehen kann, so muß ich Ihnen doch sagen, daß Sie den falschen Weg eingeschlagen haben. Gerade weil ich sehr viel mit Kindern zu tun habe, kann ich manchmal in ihren Seelen lesen wie in einem offenen Buch. Sie glauben jetzt noch, Ihre Tochter vor Unheil zu beschützen, aber Sie erreichen damit auf die Dauer genau das Gegenteil. Svantje wird auf diese Weise immer abhängiger von Ihnen. Es bleibt so nicht aus, daß sie damit auch unsicherer wird. Wenn Sie von diesem Aspekt ausgehen, werden Sie vielleicht von ganz allein darauf kommen, daß das auf die Dauer nicht gutgehen kann. Es kann doch nicht die Zukunft eines Kindes sein, in einem goldenen Käfig gefangen zu sein. Ein Kind in Svantjes Alter braucht ein gewisses Maß an Freiheit, um sich zu einer Persönlichkeit entfalten zu können. Es muß selbst lernen, kleine Gefahren zu erkennen, wenn es damit konfrontiert wird. Sie dürfen Ihr Mädel nicht ohne Ausnahme von allen Dingen fernhalten und abschirmen. Svantjes Augen haben immer einen traurigen Ausdruck, und nur ganz selten kann man auf ihrem hübschen Gesicht ein Lächeln entdecken. Wenn das auch hier zu Hause der Fall sein sollte, muß Ihnen das doch zu denken geben.«

»Meiner Tochter fehlt nichts. Sie hat alles, was sich ein kleines Mädchen in ihrem Alter nur wünschen kann«, kam es herb von Dinahs Lippen, aber ihre Augen wichen dem offenen Blick der jungen Lehrerin unruhig aus.

»Hat Svantje wirklich alles, Frau Münzer? Wie Sie es eben noch schilderten, fehlt dem Mädchen das Allerwichtigste, die Freiheit. Geben Sie sich einen Ruck, und lassen Sie Ihr Mädel an diesem harmlosen Schulausflug teilnehmen. Im Heidepark kann dem Mädel nichts passieren. Die Kinder sollen am Samstag nur viel Spaß haben und einen schönen Tag verleben.«

»Aber Sie fahren alle mit dem Bus, dabei kann soviel passieren.«