Filmstar mit großem Herzen - Britta Frey - E-Book

Filmstar mit großem Herzen E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! »Ich weiß wirklich nicht, ob ich da mitmachen soll!« Hanna Martens sagte es in so aggressivem Ton, daß ihr Bruder, der an seinem Schreibtisch saß und die Post sichtete, sie erstaunt ansah und dann zu ihr emporlachte. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Hanna? So kenne ich dich ja gar nicht. Und bei was willst du nicht mitmachen? Bist du etwa eingeladen worden, bei einem Fußballspiel den Torwart zu machen?« »Sei nicht albern, großer Bruder. Ich würde sogar den Torwart bei einem Fußballspiel machen, wenn ich wüßte, daß das alles einem guten Zweck dienen würde. Jetzt aber habe ich den Verdacht, daß ich bei einem billigen Reklamegag mitmachen soll. Und das widerstrebt mir.« Kay Martens legte den Brieföffner, mit dem er gerade eben den nächsten Brief aufschlitzen wollte, beiseite. Dann sagte er aufmerksam: »Hallo, das klingt wirklich ärgerlich. Komm, Hanna, setz dich zu mir und erzähl mir ganz genau, was los ist.« »Ach, du kennst doch sicher Gaby Terlany, diese große amerikanische Filmdiva, oder?« »Ja, aber leider nicht persönlich. Nur einige ihrer Filme aus dem Fernsehen. Wieso willst du das wissen?« »Weil Sie ihren Besuch angesagt hat.« »Was denn? Die Terlany will zu uns kommen?

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Kinderärztin Dr. Martens – 78 –

Filmstar mit großem Herzen

Tief im Inneren ist Gaby traurig

Britta Frey

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich da mitmachen soll!«

Hanna Martens sagte es in so aggressivem Ton, daß ihr Bruder, der an seinem Schreibtisch saß und die Post sichtete, sie erstaunt ansah und dann zu ihr emporlachte.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Hanna? So kenne ich dich ja gar nicht. Und bei was willst du nicht mitmachen? Bist du etwa eingeladen worden, bei einem Fußballspiel den Torwart zu machen?«

»Sei nicht albern, großer Bruder. Ich würde sogar den Torwart bei einem Fußballspiel machen, wenn ich wüßte, daß das alles einem guten Zweck dienen würde. Jetzt aber habe ich den Verdacht, daß ich bei einem billigen Reklamegag mitmachen soll. Und das widerstrebt mir.«

Kay Martens legte den Brieföffner, mit dem er gerade eben den nächsten Brief aufschlitzen wollte, beiseite.

Dann sagte er aufmerksam: »Hallo, das klingt wirklich ärgerlich. Komm, Hanna, setz dich zu mir und erzähl mir ganz genau, was los ist.«

»Ach, du kennst doch sicher Gaby Terlany, diese große amerikanische Filmdiva, oder?«

»Ja, aber leider nicht persönlich. Nur einige ihrer Filme aus dem Fernsehen. Wieso willst du das wissen?«

»Weil Sie ihren Besuch angesagt hat.«

»Was denn? Die Terlany will zu uns kommen? Wir sind eine Kinderklinik, Hanna.«

»Sie hat ein neues Kind adoptiert, das sie bei uns behandeln lassen will.«

»Du sagst das in so abfälligem Ton! Da ist doch noch ein Haken!«

»Und ob da ein Haken dabei ist!« schimpfte Hanna und warf ihrem Bruder einen geradezu kriegerischen Blick zu.

»Na also«, gab er zufrieden zurück und lehnte sich nach hinten in seinen Schreibtischstuhl. »Und welcher Haken ist es?«

»Weiß ich nicht. Das ist es ja gerade. Man kann ihn nicht ausmachen.«

Nun neigte sich Kay Martens wieder nach vorn und sah seine Schwester durchdringend an.

»Sag mal – was ist denn nun eigentlich mit der Terlany? Ich habe dir eben gesagt, daß ich sie nur aus ihren Filmen kenne – und da ist sie, meiner Ansicht nach, eine der schönsten und besten Schauspielerinnen, die es gibt. Sie hat ungeheures Talent.«

»Talent, Reklame für sich zu machen. Da stimme ich dir zu. Etwas anderes ist es doch nicht, wenn sie da wieder ein Kind adoptiert hat und es ausgerechnet bei uns untersuchen lassen möchte. Ich – ich weigere mich einfach, sie mit ihrem gesamten Troß zu empfangen. Die Kinderklinik Birkenhain ist schließlich kein Filmgelände, auf dem rührselige Reklamespots gedreht werden.«

»Aber – wie kommst du auf die Idee, daß sie das vorhat? Sagtest du nicht gerade eben, daß sie ein soeben adoptiertes Kind hier untersuchen lassen will?«

»Jedenfalls hat sie mir das am Telefon gesagt.«

»Sie hat angerufen? Wann?« Kay war sehr interessiert.

»Na, vor zwanzig Minuten etwa. Ich habe zwar ja gesagt, aber ich hätte nein sagen sollen.«

»Was hat denn das alles mit billigen Reklametricks zu tun? Ich finde es richtig, daß sie ein soeben adoptiertes Kind untersuchen lassen will. Und ich finde es großartig, daß sie eines adoptiert hat.«

»Eines? Lieber Bruder, da muß ich dir sagen, daß das bereits das vierte Kind ist, das sie adoptiert hat.«

Kay rieb sich nachdenklich das Kinn.

Das fand er schon ein bißchen absonderlich. Gleich vier adoptierte Kinder? Ob Hanna mit ihrer Reklame-Idee vielleicht doch recht hatte? Aber dann schüttelte er den Kopf und machte ein entschlossenes Gesicht.

»Hör zu, kleine Schwester: wenn jemand einen Termin haben will, um ein Kind untersuchen zu lassen, dann bekommt er ihn auch. Egal, um wen es sich handelt. Presserummel brauchen wir hier nicht zu dulden, denn so etwas tut einer Klinik und – vor allen Dingen – den Patienten niemals gut. Wir untersuchen das Kind und schicken die Terlany dann wieder fort. Das ist doch ganz einfach. Darüber brauchen wir uns nicht aufzuregen.«

»Das sagst du. Aber an die armen Kinder denkt keiner. Stell dir nur vor – vier adoptierte Kinder. Das hat sie nur gemacht, damit man sie nicht nur wegen ihrer schauspielerischen Talente, sondern auch menschlich bewundert. Das wird sie auch nötig haben, denn höchstwahrscheinlich ist sie nichts weiter als eine schrecklich eingebildete Ziege, die glaubt, alle Welt müsse sie hofieren. Da ist sie bei mir aber an der richtigen Adresse, das kann ich dir sagen.«

»Na, dann ist doch alles in wunderbarster Ordnung, Hanna. Sieh dir das Kind an, untersuche es und schicke sie dann samt ihrem neuen Kind wieder fort. Aber urteile nicht zu hart über sie. Jeder Mensch hat irgendwo eine sehr verletzliche Stelle, weißt du? Auch die berühmte und beneidete Gaby Terlany aus Hollywood macht da keine Ausnahme. Jeder hat seine eigene Achillesferse, denk daran.«

»Du benimmst dich wie ein typischer Mann!« sagte Hanna empört.

»Ja, wie sollte ich mich denn deiner Meinung nach benehmen? Wie eine Frau etwa? Ich glaube kaum, daß mir das gelingen würde. Und stehen würde es mir schon gar nicht!«

»Du nimmst das alles viel zu leicht. Aber du wirst schon sehen – mit der Terlany werden wir noch unser blaues Wunder erleben.«

Hanna stand auf. Sie war zutiefst enttäuscht, daß Kay ihre Skepsis nicht teilte. Nicht nur das – er begriff sie noch nicht einmal. Typisch Mann, dachte Hanna zornig, wirklich, ganz typisch für einen Mann, seine Reaktion.

»Du wirst dieses Kind gemeinsam mit mir untersuchen, Kay. Und dann wirst du sie auch persönlich kennenlernen. Ich kann für dich nur hoffen, daß sie dich nicht enttäuscht. Meistens sind diese Stars in natura doch recht häßlich, und man erkennt sie nur auf dem Bildschirm oder der Leinwand, weil sie dann so richtig aufgemotzt sind.«

»Na, nun beruhige dich mal. Es wird schon nicht so schlimm werden, wie du jetzt noch befürchtest. Ich bin schließlich auch noch da. Daß ich hier keinen Rummel dulde, weiß du doch. Das muß ich nicht extra betonen, oder? Nur – daß ich neugierig auf die große Terlany bin, das darf ich dir gegenüber sicher bemerken. Erstens bin ich das wirklich, und zweitens wird jeder zugeben müssen, daß sie tatsächlich eine der besten Schauspielerinnen ist, die wir auf der Welt haben.«

»Hoffentlich flippst du nicht gleich aus, wenn du sie siehst«, war alles, was Hanna noch von sich gab, bevor sie das Sprechzimmer ihres Bruders verließ, um ihr eigenes aufzusuchen.

*

Etwa um dieselbe Zeit schmiegte sich ein reizendes, etwa acht Jahre altes Mädelchen an die schöne, schlanke Frau, die neben ihr im Wagen saß.

»Ich habe so oft gebetet, daß eine gute Fee kommt, die mich mitnimmt. Aber ich habe nie daran glauben können, daß es auch einmal wahr wird. Auf einmal bist du dagewesen, und du hast mir gesagt, daß ich Mami zu dir sagen darf.«

Die schöne, dunkelhaarige, rassige Frau lachte leise auf. Ihre Stimme klang dunkel und warm. Man mußte sie auf Anhieb sympathisch finden. Nichts deutete darauf hin, daß es sich bei ihr um Gaby Terlany handelte, die Berühmte, die Unvergleichliche, die Göttliche, was man bislang nur von der Garbo behauptet hatte. Gaby Terlany war eine außergewöhnlich schöne Frau mit einer gewissen Ausstrahlung, aber sie war absolut nicht das, was man sich unter einer weltberühmten Diva vorstellte. Sie war dezent geschminkt, unauffällig elegant gekleidet und wirkte völlig natürlich, wie ein Mensch, der innerlich ausgeglichen und völlig zufrieden ist. Und genau das war Gaby Terlany in diesem Augenblick auch, denn sie wußte, daß sie mit der Adoption der kleinen Lucie ein Leben in Armut und Vernachlässigung erspart hatte.

Lucie war mit einem Hüftschaden zur Welt gekommen, und das war für ihre Eltern schon an sich ein Unglück. Sie waren arme, fleißige Bergbauern in einem verlassenen Schwarzwaldnest. Und sie waren auf Hilfe jedweder Art angewiesen. Lucies Geschwister mußten alle schon schwer mitarbeiten. Lucie selbst hatte, da sie ja nicht richtig laufen konnte, nur dagesessen und sich unnütz gefühlt. Sie hatte viel Zeit gehabt, sich ihren Tagträumen zu überlassen. Und das hatte sie ausgiebig getan, denn dann sah sie das verhärmte und verbitterte Gesicht ihrer Mutter nicht und auch nicht das unzufriedene ihres Vaters. Sie hatte sich immer vorgestellt, daß eine Fee hereinkommen, sie bei der Hand nehmen und mit sich fortnehmen würde. Aber immer hatte sie laufen können, ganz natürlich und ohne Krücken oder Stöcke. Die schöne Fee war gekommen und hatte sich einfach neben sie gekniet, sie an sich gezogen und mit ihrer wunderschönen Stimme gefragt, ob sie nicht mit ihr kommen wollte.

Lucie hatte noch nicht einmal eine einzige Sekunde überlegen müssen. Bisher hatte sie in ihrem achtjährigen Leben noch nicht viel Zärtlichkeit bekommen. Im Gegenteil – man hatte ihr – wenn nicht mit Worten, so aber doch unmißverständlich – zu verstehen gegeben, wie nutzlos sie im Grunde genommen doch war. Keine vollwertige Arbeitskraft wie ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, der die Schafherde ganz allein beaufsichtigte und dem Vater kräftig im Stall helfen konnte. Ach, was hätte Lucie nicht alles darum gegeben, wenn sie auch hätte mithelfen können. Und so war ihr Selbstbewußtsein ganz allmählich zerbröckelt, bis auch rein gar nichts mehr davon vorhanden war. Das Kind hatte resigniert und sich in seine Phantasiewelt geflüchtet. Vielleicht hatte die kleine Lucie ihr armseliges Leben nur wegen dieser Phantasiewelt ertragen können. Aber das war jetzt nicht mehr so wichtig. Jetzt war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen. Die Fee war erschienen und nicht wieder verschwunden, ohne sie mitzunehmen. Sie durfte sie liebhaben und sich an sie schmiegen. Das war ein Glücksgefühl, das sie in ihrem jungen Leben noch nie kennengelernt hatte.

Vor diesem Glück jedoch war etwas geschehen, was die anderen Leute als Heimsuchung bezeichneten, was Lucie aber nie so recht begriffen hatte. Und das war so gewesen:

Wie immer war auch in jenem Jahr, das Lucies Schicksalsjahr sein sollte, Kirmes gewesen, Kirmes in Hinterzarten, wo alle, die sich eben freimachen konnten, hingingen, sich amüsierten, mit den bunten Karussells fuhren, Eis schleckten oder sich irgendeine Sensation ansehen konnten, wie den kleinsten Mann der Welt oder einen Feuerschlucker oder sonst irgend etwas Aufregendes.

Zur Kirmes in Hinterzarten fuhr man mit einem eigens eingesetzten Bus, der alle Bergdörfer, auch die kleinen und die winzigen, abfuhr und die Leute einsammelte, die mitfahren wollten. Und wie jedes Jahr war Lucies kleines Herz schrecklich unglücklich gewesen, weil sie nicht mitgedurft hatte. Eigentlich wußte sie auch nicht so recht, was eine richtige Kirmes war, aber nach dem, wie sich die anderen darüber unterhielten, mußte es etwas unvorstellbar Schönes und Unvergeßliches bedeuten.

Lucie hatte so gehofft, daß man sie mitnehmen würde. Aber auch in diesem Jahr hatte das nicht geklappt.

»Wie sollen wir das machen, Lucie?« hatte der Vater gefragt und sie halb mitleidig und halb ablehnend angeschaut. Oh, Lucie kannte diesen Blick, und sie hatte ihn hassen gelernt. Dabei war er sicher nicht einmal böse gemeint. Aber Lucie war in dieser Beziehung recht empfindlich, und das war ja auch eigentlich kein Wunder, denn wer läßt sich schon bei jeder Gelegenheit gern an ein Gebrechen erinnern, das er selbst als schrecklich empfindet, und der wer weiß etwas darum geben würde, wenn er es nicht zu tragen hätte?

Nun, an diesem Tag hatte Lucie es als ganz besonders schlimm empfunden, als alle anderen lachend und unternehmungslustig in den Bus stiegen und ihr noch zuwinkten, als der Bus den Hof verlassen hatte. Niemand hatte doch ahnen können, daß man sich nie wiedersehen würde!

Am späten Nachmittag war ein Auto auf den Hof gekommen. Eine nette, freundliche Frau war ausgestiegen und ins Haus gekommen, wo Lucie still am Tisch saß und sich mit der Baumwolle abmühte, aus der sie für die Mutter ein Paar neue Topflappen häkeln wollte, weil die alten doch schon gar zu angebrannt waren.

Nun, diese Frau – Lucie hatte ihren Namen schon längst vergessen – hatte sich zu ihr an den großen, groben Tisch gesetzt, ihr eine – kleine Weile zugeschaut und dann gesagt: »Eigentlich bin ich ja gekommen, mein Kind, um dich abzuholen!«

Lucie hatte sie angestrahlt, denn sie war sicher gewesen, daß diese Frau von ihren Eltern geschickt worden war, damit sie doch noch zur Kirmes gehen konnte. Aber dann hatte die nette, freundliche Dame ihr zu erklären versucht, daß der Bus, mit dem alle gefahren waren, in eine Schlucht gestürzt war. Natürlich hatte man sofort eine Rettungsmannschaft abgeschickt, Hubschrauber waren eingesetzt worden. Aber es gab keine Überlebenden. Alle waren sozusagen lachend in den Tod hineingefahren, denn niemand hatte etwas davon bemerkt, daß er gekommen war.

Lucie hatte beinahe bewegungslos vor Schreck am Tisch gesessen und zugeschaut, wie die freundliche Frau einen Koffer für sie packte. Und dann hatte sie schüchtern gefragt: »Aber – wo soll ich denn jetzt hin?«

Da hatte sich die freundliche Dame an den Küchentisch gesetzt und Lucie angesehen.

»Ich bringe dich jetzt in ein Heim, in dem mehrere Kinder leben, die ihre Eltern auf so tragische Weise verloren haben wie du. Es sind auch manche dabei, die krank sind und nicht laufen können. Aber du wirst dich mit ihnen anfreunden und dich sicherlich in dem Heim mit den netten jungen Damen, die die Kinder betreuen, wohl fühlen.«

Lucie hatte sich wirklich alle erdenkliche Mühe gegeben, sich wohl zu fühlen. Es war ihr nicht gelungen. Sie hatte ja nicht ein einziges Plätzchen, das ihr allein gehörte, an dem sie sich verstecken konnte, wenn ihr danach zumute war. Es hatte sie auch schreckliche Überwindung gekostet, in einem Schlafsaal mit mehreren Mädchen zu leben.

Der Abschied vom Heim und ihren neuen Kameradinnen war ihr nicht schwergefallen. Und den anderen wohl auch nicht, denn schließlich hatten sie sich kaum kennenlernen können.

Gaby hatte ihr als erstes einen blitzenden Stuhl gekauft, in den sie sich setzen und umherfahren lassen konnte. Und neue Kleider hatte sie auch bekommen. Sie hatte alles bekommen, was ein kleines Mädchen von acht Jahren braucht. Sogar eine wunderschöne Puppe und Bücher zum Lesen.

In den ersten Tagen hatte Lucie sehr schlecht geschlafen, denn sie hatte immer große Angst gehabt, das alles nur geträumt zu haben, gleich aufzuwachen und wieder daheim am Küchentisch zu sitzen. Aber immer, wenn sie wach geworden war, war Gaby dagewesen, hatte sie in die Arme genommen und sie wieder in den Schlaf gewiegt. Allmählich hatte Lucie sich daran gewöhnt, daß die schöne Fee Wirklichkeit war. Manchmal glaubte sie sogar, die Zeit vorher sei nur ein schlimmer Traum gewesen. Bei Lucie bewahrheitete es sich wieder einmal: an das Gute gewöhnt man sich sehr schnell…

Gaby hatte sie vor ein paar Tagen an sich gezogen und sie ernsthaft angeschaut.

»Ich möchte gern wissen, mein Liebling, ob du wirklich nie im Leben richtig laufen kannst. Möchtest du das nicht auch erfahren?«

»Aber Tante Gaby!« Lucie hatte Gaby ganz erstaunt angeschaut. »Wir wissen doch, daß ich nie richtig laufen kann. Ich bin schon so zur Welt gekommen. Es ist eine Strafe, die mir auferlegt worden ist.«

»Das ist ganz, ganz großer Unsinn, mein Liebling. Und wir werden uns an zuständiger Stelle erkundigen. Es gibt in der Lüneburger Heide eine Kinderklinik. Dorthin werden wir beide fahren. Dort wird man dich untersuchen und uns danach genau erzählen können, was eigentlich mit dir los ist.«

»Wirst du bei mir sein?« hatte Lucie nur gefragt und Gaby ganz ängstlich angesehen. Da hatte Gaby ihr ihr sonniges Lächeln geschenkt und erwidert: »Aber sicher werde ich das. Und später fliegen wir beide nach Amerika, damit du deine drei Geschwister auch kennenlernen kannst. Sie werden dich alle sehr liebhaben.«

»Aber – sie kennen mich doch gar nicht. Und dann – ich wußte nicht, daß du schon drei Kinder hast, Tante Gaby. Ich – ich habe ein bißchen Angst vor ihnen. Sie sind zu dritt, und ich bin allein. Ich – werde mich nicht gegen sie wehren können, wenn sie mir zeigen, daß sie mich nicht bei sich haben wollen.«

»Aber sie werden sich freuen, wenn ich dich mit heimbringe. Sie sind, wenn ich es recht bedenke, eigentlich alle wie kleine Erwachsene. Sie waren auch krank, als ich sie zu mir nahm. Aber jetzt sind sie gesund und haben ganz vergessen, daß sie sich einmal nicht wohl gefühlt haben. Siehst du, und ich möchte, daß es dir ebenso ergeht wie ihnen.«

Lucie konnte sich das gar nicht vorstellen. Das sagte sie auch.

»Aber – ich bin schon immer so gewesen, Tante Gaby. Daran ist nichts zu ändern. Das haben sie daheim auch alle gesagt. Es ist irgendeine Strafe, die ich tragen muß.«

»Und es ist Unsinn, so etwas zu behaupten. Es ist keine Strafe, sondern Schicksal. Und der Mensch kann sein Schicksal gottlob beeinflussen. Aber das verstehst du erst, wenn es dir gelungen ist. Ich wette, die anderen drei werden schon schrecklich neugierig auf dich sein, wenn wir daheim ankommen. Ich werde ihnen bald von dir berichten.«

»Werden sie mich auch liebhaben?« wollte Lucie mißtrauisch wissen. Lachend zog Gaby sie an sich.

»Ganz bestimmt werden sie das. Du wirst es sehen. Aber jetzt fahren wir erst einmal nach Ögela und hören, was die Ärzte sagen, einverstanden?«

»Wenn du bei mir bist, gehe ich über­allhin, wohin du möchtest!« Gaby mußte schlucken. Konnte ein Kind sein Vertrauen noch mehr beweisen? Sein Vertrauen – und seine Liebe? Manchmal wollte es ihr selbst wie ein Traum vorkommen, daß Lucie sich so schnell an sie gewöhnt hatte…

Meistens fuhr Gaby ihren Wagen selbst, aber diesmal hatte sie einen mit Chauffeur in München am Flughafen gemietet, als sie aus Rom ankam, wo sie eben einen Film abgedreht hatte. Jetzt war sie entschlossen, Urlaub zu machen. Ihre Anwälte hatten sich mit dem Kinderheim in Verbindung gesetzt, als Gaby von der kleinen Lucie und ihrem Schicksal erfahren hatte. Es war dann auch alles sehr schnell gegangen. Das Jugendamt hatte allem schnell zugestimmt, denn wer adoptiert schon ein behindertes Kind? Außerdem kannte man Gaby Terlany und wußte von den Adoptionen der anderen Kinder, die sie vor dem sicheren Tode bewahrt hatte.