Klaus Schlesinger - Astrid Köhler - E-Book

Klaus Schlesinger E-Book

Astrid Köhler

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Beschreibung

Der sanfte Rebell Klaus Schlesinger gehörte zur „Generation der Eigensinnigen“ wie Plenzdorf und Jurek Becker; er blieb - im fliegenden Wechsel zwischen den Systemen - lebenslang an seine Stadt gebunden; galt als Anarchist mit Prinzipien; verließ die DDR, ohne von ihr zu lassen; war ein Realist, der Surrealem zuneigte; als Erzähler aus-schweifend und präzis; er war umtriebig und verlässlich, herzlich und widerspenstig. Wer mit dieser materialreichen Biographie seinen Spuren folgt, durchquert gleich-zeitig sechzig Jahre deutsch-deutscher Geschichte. „Ohne meinen Lebenskreis, der einen Radius von höchstens fünf Kilometern hat, jemals für länger zu verlassen, habe ich die Nachteile dreier Gesellschaftssysteme erfahren können“, resümierte Klaus Schlesinger mit Anfang fünfzig kurz bevor er nach der Vereinigung eine vierte Variante kennenlernen sollte. Als einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren - befreundet mit Kollegen wie Stefan Heym, Franz Fühmann, Ulrich Plenzdorf - hat er in seinen Büchern ein ganz besonderes „Tableau deutscher Nachkriegsgeschichte von unten“ (Hannes Krauss) geliefert. Ein Mann von Prinzipien, der nicht zu vereinnahmen war, der die DDR verlassen hat, ohne im Westen anzukommen, der in keinem System die Auseinandersetzung scheute, nicht abließ, nach Gerechtigkeit und Schuld zu fragen und einen Projektionsraum für Utopie zu suchen. „Ich glaube, es gibt Alternativen, vor die ein Mensch nicht gestellt werden sollte.“ Klaus Schlesinger „Schlesinger, das ist der Gerechte, der nichts von sich hermacht. Er ist der Standfeste, der jedes Podest verschmäht; er ist der Versöhnliche, der sich nichts abhandeln lässt. Dieser Beständige, der dem Wandel nicht nachläuft, erfährt ihn an sich selbst und fasst ihn in Worte.“ Friedrich Dieckmann „Ein sanfter und entschiedener, heiterer und teilnehmender Mann, auf dessen Witz ebenso Verlass war wie auf etwas, das den Namen Weisheit verdiente.“ Friedrich Dieckmann

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Astrid Köhler

Klaus Schlesinger

Die Biographie

Impressum

Mit 31 Fotos

ISBN E-Pub 978-3-8412-0333-5

ISBN PDF 978-3-8412-2333-3

ISBN Printausgabe 978-3-351-02736-0

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, November 2011

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2011 bei Aufbau, einer Marke der Aufbau

Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über dasInternet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg / Anna Lena Witte

unter Verwendung eines Motivs von juergen-bauer.com

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Inhaltsübersicht

Wer war Klaus Schlesinger? Beschreibungsversuche

Geboren in was für eine Welt? 1937–1945

Suche, Spiel und Selbsterprobung 1945 –1961

Kreativität und Widerspenstigkeit 1961–1970

Wider das Nischendasein 1971–1980

Verweigerung der Bürgerlichkeit 1980–1989

Das Leben nach »Pest« und »Cholera« Oder: Jenseits der Alternativen 1990 – 2001

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

Personenverzeichnis

Zeittafel

Danksagung und Quellen

Bildnachweis

|7|Wer war Klaus Schlesinger? Beschreibungsversuche

»Mir macht nichts so viel Spaß wie die Suche nach Spuren,

die mit dem Leben eines anderen Menschen verbunden sind.«1

»Ohne meinen Lebenskreis, der einen Radius von höchstens fünf Kilometern hat, jemals für länger als vier Wochen zu verlassen, habe ich die Nachteile dreier Gesellschaftssysteme erfahren können.«2 Der das schreibt, ein Mann von Anfang fünfzig, sitzt 1990 im Berlin der offenen Mauer und weiß sich am Vorabend des Eintritts in die vierte Runde solcher Erfahrung: der deutschen Wiedervereinigung. Denn die neue Bundesrepublik wird nicht die alte sein; und die Stadt, nach der man sie bald benennt, wird in den nun kommenden Jahren Veränderungen sehen, wie sie bestenfalls mit denen der letzten Jahrhundertwende vergleichbar sind.

Geboren 1937 in Berlin, gestorben 2001 daselbst, hat Klaus Schlesinger tatsächlich eine beachtliche Spannbreite deutscher Lebenswelten des 20. Jahrhunderts erlebt: Hitlers »Reichshauptstadt« in Selbstüberhebung und Zerfall, das Berlin des Zweiten Weltkriegs (die Evakuierung hat ihm die einzige längere Abwesenheit von der Stadt beschert), gefolgt von dem der unmittelbaren Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre: Trümmerstadt, Zonenstadt, Frontstadt des beginnenden Kalten Kriegs, eingespannt zwischen politisch-ökonomischer Spaltung hie und historischer wie (noch) lebensweltlicher Zusammengehörigkeit seiner Teile da. Das wird sich durch die Mauer ändern, die ihm über Nacht die Beschränkung auf Ostberlin aufzwingt. Dort werden, bedingt durch die politische wie geographische Situation der Halbstadt, die wechselnden politischen Strategien |8|von DDR-Regierung und SED-Führung (ihre »Eiszeiten«, »Tauwetterphasen«, inneren Querelen) besonders stark erlebt. Im Osten zunehmend als rebellischer, unbestechlicher, furchtloser Autor zum Dissidenten gestempelt, zieht Schlesinger 1980 nach Westberlin. Das wird in den folgenden Jahren von einer Welle sozialer und politischer Unruhen durchzogen, die für ihn vor allem in den Aktivitäten der Hausbesetzerszene erlebbar werden. Und schließlich folgt das sich vereinigende Berlin in den neunziger Jahren – Baustelle in jeglicher Hinsicht –, in dem wiederum die sozialen, politischen, kulturellen Verwerfungen der deutsch-deutschen Vereinigung und, damit einhergehend, der Utopieverlust (nicht nur) der deutschen Linken besonders augenfällig werden.

Im fliegenden Wechsel also scheinen die Welten einander abzulösen: ihm unter den Füßen fast. Gleichwohl war er keiner, der das Leben an sich vorüberziehen ließ. Schlesingers aktive Teilnahme an den politischen und kulturellen Auseinandersetzungen seiner Zeit, sein in jeder dieser »Welten« rasch etablierter Querdenkerstatus wie auch seine vielfältigen Reflexionen über all das machen ihn zu einem zugleich schillernden und repräsentativen Protagonisten deutscher Geschichte.

Ein »geradliniger Mensch mit einem verwinkelten Lebensweg«3, so nannte ihn Manfred Jäger. Aber Erziehung und Lebensumstände in der Kindheit schienen anderes vorzusehen. Als zweites Kind (und erster Sohn) von Arbeitern, die keine mehr sein wollten, sah sich der Junge ehrgeizigen Erwartungen gegenüber; und als einem, der fast genau vier Jahre nach Hitlers Machtergreifung auf die Welt kam, waren ihm Lebensziel und -inhalt ohnehin vorgegeben. Neben dem Vater in seiner Wehrmachtsuniform hält sich der Knabe schon ziemlich stramm, nur den Händen fehlt noch die rechte Fixierung rechts und links der Hosennähte. |9|Dass es ein Glücksfall war, dass seine Aufgabe im Krieg fast ausschließlich darin bestand, die Mutter zu trösten und zu erheitern, und wie sehr der gefürchtete Zusammenbruch vom Frühjahr 1945 zur Chance seines Lebens wurde, wollte er anfangs nicht begreifen.

Bald freilich erkannte er sehr genau, dass die nun folgende Zeit des Wirrwarrs und der Widersprüche nicht nur dem scheinbar vorgeprägten Verlauf seines Lebens, sondern auch der Entwicklung seines Verständnisses von sich selbst und seiner Umwelt ganz neue Möglichkeiten eröffnet hat. Später, in intensiver Auseinandersetzung mit seiner politischen Herkunft, soll ihm Jorge Semprúns Erinnerungsbuch Die große Reise zur prägenden Lektüre werden. Und seine Hände werden sich nie rechts und links der Hosennähte straffen: eine Haltung, die auch in der neuen politischen Ordnung opportun gewesen wäre. Stattdessen wird er zu einem, der aus geradezu innerer Notwendigkeit aneckt, schon in der Schule und dann immerfort und meist, weil er genauer hinguckt als andere und weil er, was er dann sieht, auch befragt und deutlich ausspricht.

»Er war ein schlaksiger junger Mann, intensiv im Denken und im Schauen.«4 An seinen Blick, den offenen, direkten, sein Gegenüber festhaltenden, denken viele, die ihn kannten, zuallererst. Verbunden damit waren seine erstaunliche Begeisterungsfähigkeit, die Streitfähigkeit (wenn nicht -lust) und nolens volens auch seine leichte Angreifbarkeit.5

Mit Anfang zwanzig erschien er »kontaktfreudig, nervös, von schneller Auffassungsgabe, kratzbürstig, darüber hinaus manchmal fast zwanghaft auf Widerspruch fixiert, zugleich jedoch extrem dünnhäutig und verwundbar«6. Sein Denken funktionierte am besten in Widerstand, Reibung, Austausch. Auch der Eindruck des Umtriebigen, sich nicht auf einen Erlebnis- und Wirkungsbereich festlegen Wollenden, hängt damit zusammen.

|10|Und seine Schlaksigkeit, das dezidiert Nicht-Akkurate an ihm, war nicht nur Körper-, sondern Lebenshaltung. Jean Villain erinnerte sich an seine notorische Unpünktlichkeit in den frühen sechziger Jahren: »Schlesinger kam, wie von Furien gehetzt, fast immer fünf bis zehn Minuten später angekeucht, überschlank, mit fahlen, eingefallenen Wangen, das […] Haar wie vom Sturm zerzaust und zumeist mit einer Miene wie Christus am Kreuz. Stets hatte er jedoch neue, fast immer verblüffend plausibel klingende Ausreden in petto.«7

Das Haar wurde übrigens bald länger und war ebenso wie seine Kleiderordnung Ausdruck geradezu natürlicher Widerspenstigkeit. »Pommerers Aufzug erinnert an eine längst aus der Mode gekommene westliche Philosophie: Khakihemd, Armeejacke, Cordjeans, schulterlanges Haar«8, beschreibt Peter Schneider seine nach Schlesinger modellierte Figur im Mauerspringer. Ein paar kleine, aber belangvolle Veränderungen hat Schneider dabei vorgenommen, denn Militärlook war Schlesinger zuwider: Sein Hemd war meist kariert, am Kragen der klassischen Jeansjacke oder des Cordjacketts trug er gern einen kleinen roten Stern. Fritz Rudolf Fries fühlte sich bei seinem Anblick an den jungen Marx erinnert, und als im Karl-Marx-Jahr 1983 fast sämtliche Schaufenster in der DDR mit dessen Bild geschmückt waren, konstatierte Schlesinger die Ähnlichkeit selbst: Seltsam, aus jedem Laden von seinem eigenen Abbild angeschaut zu werden!

Bei aller linksdemokratischen Grundhaltung waren ihm politische und philosophische Moden suspekt. »Der Satz, man müsse wissen, wohin man gehöre, behagte Schlesinger nie. Der sanfte Rebell wusste nämlich stets, dass er nicht an dem Platz sein wollte, den andere ihm anwiesen oder sogar zuwiesen.«9 Für Kirsten Thietz verkörpert sich in ihm »der intellektuelle Habitus einer Autorengeneration, |11|die den Wert der sozialistischen Gesellschaft an den Freiräumen maß, die sie dem Individuum einräumte, sich selbst zu finden, zu bilden und auszusprechen«.10 Mit manchem aus dieser Generation der Eigensinnigen wie Ulrich Plenzdorf, Martin Stade, Kurt Bartsch, Adolf Endler oder Jurek Becker verband ihn eine jahrzehntelange enge Freundschaft. Aber nicht nur in politischer Hinsicht war ihm Doktrin unausstehlich. Einmal wurde er in einem Ostberliner Restaurant von einem Kellner zurechtgewiesen, da der meinte, er lümmele auf seinem Stuhl und solle sich also anständig hinsetzen. Schlesinger tat nichts dergleichen und verlangte stattdessen das Beschwerdebuch.11

György Dalos erinnert sich an seine erste Begegnung mit Schlesinger Mitte der siebziger Jahre, als ihn ein Westberliner Freund in die Wohnung des von ihm empfohlenen Anarchisten Schlesinger in der Brunnenstraße führte. »Was die Anarchie betraf, so zeigte sich diese unverkennbar bereits im Vorzimmer […]. Kindergeschrei, Popmusik, Westfernsehen, Chaos von Papieren und Büchern, ein unentwegt klingelndes Telefon und eine kaum verhüllte Lust der Wohnungsinhaber über die unbürgerlichen Lebensbedingungen«.12 Dabei ist das mit der Anarchie so eine Sache, denn es gibt manche, die ihn für zu radikal, und manche, die ihn für zu konventionell hielten. Hans-Georg Soldat sieht das so: »Seit einiger Zeit schiebt sich bei mir vor das Bild Klaus Schlesingers ein Foto: ein ziemlich schlechtes, aus einer unmöglichen Perspektive aufgenommen, aus Hüfthöhe nämlich und unscharf außerdem. Die Stasi hatte es mit einer verborgenen Kamera aus einer Tasche heraus aufgenommen […]. Dennoch ist das Foto sonderbar authentisch. Es spiegelt ein wenig die intellektuelle Lebhaftigkeit, die wohl alle spüren, die mit ihm im kleineren Kreis zusammenhocken. Hocken – nur diese Vokabel trifft die Lässigkeit seines persönlichen Umgangs.«13

|12|Schon als Halbwüchsiger eingeübt hatte er die Lässigkeit des Rauchens. Sie hat ihn dann freilich nicht mehr losgelassen, und Nikotin wurde zum Lebenselixier. »In Gomera relativ wenig geraucht«, notierte er Anfang der achtziger Jahre, »2 Schachteln am Tag höchstens. Jetzt wieder auf drei.«14 Bei einer Islandreise Ende der Neunziger hat die gesamte Autorengruppe fast das Flugzeug verpasst, weil ihm plötzlich eingefallen war, dass er fünf Stunden Flug ohne Nikotin nicht aushalten würde und sich unbedingt die einschlägigen Kaugummis besorgen musste.15 Und noch auf dem Krankenbett lag eine angebrochene Schachtel Roth-Händle in Reichweite, für alle Fälle, wie Hans Christoph Buch berichtete.16

Der hohe Tabakkonsum hat gewiss dazu beigetragen, dass er – zumal in jüngeren Jahren – notorisch knapp bei Kasse war. Zugleich war er die Großzügigkeit in Person: lud ein, bestand, solange er im Osten wohnte, immer darauf, für seine westdeutschen Besucher in Gaststätten zu bezahlen (Man müsse doch den »armen Brüdern und Schwestern aus dem Westen etwas Gutes tun!«17), und wunderte sich dann entsprechend heftig über die in Westberlin übliche Zahlungsmodalität des »jeder für sich allein«.

Im Übrigen kochte er gut und gerne selbst: deftige deutsche Küche, nicht eben vegetarisch, nicht unbedingt diätverträglich. Nicht von ungefähr ist er für Hans Christoph Buch »die einzige mir bekannte Person, die in einer Berliner Kneipe ein Eisbein zurückgehen ließ mit der Begründung, es sei ›nicht fett genug‹«18. Das Kochen war eine Beschäftigung, die es ihm erlaubte, Arbeit – das Schreiben im Kopf – und Fürsorge für die, mit denen er zusammenlebte, zu verbinden. In dem besetzten Haus in der Potsdamer Straße war man privilegiert, wenn man zu »seiner« Gemeinschaftsküche gehörte: Wenn er Küchendienst hatte, gab es immer Hausmannskost – gut und reichlich.

|13|»In jenem wilden Westberliner Sommer 1981, als er im K. O. B. und anderen Schöneberger Hausbesetzerkneipen auftauchte, wunderte sich niemand weiter über den Mann mit dem grauen Vollbart und den langen Haaren. Er hieß Klaus, sprach mit einem schönen Berliner Akzent und war zwanzig Jahre älter als wir. Als guter Kumpel erwies er sich, manchmal auch als väterlicher Freund.«19 Aber aufgefallen ist er da schon, zumal denen, die sich die Szene von außen ansahen: »Inmitten des Wulings wirkte er wie eine Mischung aus Schmuckeremit und Erzieher. Er erzählte begeistert von vergangenen Straßenkämpfen und offen vom Liebesleid.«20 Sein Musikgeschmack reichte mittlerweile vom seit seiner Jugend geliebten Jazz über Klassik bis zum für die Besetzerszene typischen Punkrock der achtziger Jahre.

Einmal wäre er beinahe zusammen mit den anderen Hausbesetzern im Gefängnis gelandet: An einem Abend im K. O. B. erfuhren sie von dem Luftangriff der USA auf Libyen21 und beschlossen, sofort eine Protestaktion zu starten. Schlesinger sagte dazu, er würde ja gerne, habe aber schon zu viel getrunken. Diejenigen, die bei der Aktion mitgemacht (und auch zu viel getrunken) hatten, bezahlten dafür mit einer Nacht hinter Gittern.22

Eine Fähigkeit, derer es vor allem in den Jahren der »Instandbesetzung« des gemeinsam bewohnten Hauses bedurft hätte, war das Heimwerkern. Und da er auf dieser Strecke hoffnungslos untalentiert war, musste er wenigstens für die Materialbeschaffung sorgen und den Fahrer machen.

Dabei war er doch ein passionierter Spaziergänger, recht eigentlich sogar der typische Großstadtflaneur. Hat sich Paris erlaufen, ebenso Berlin: erst das eine, dann das andere, dann die langsam wieder eins werdende Stadt. In der Erinnerung von Daniel Argelès, den er in den frühen neunziger |14|Jahren durch jenes neue Berlin führte, lief er mit einem »Schritt, der wie sein Schreiben Geschichte und Zukunft in der Gegenwart verband: einem zugleich schleppenden, etwas melancholischen, geschichtserfahrenen und einen federnden, dynamischen und unermüdlichen Schritt.«23 In dieser Zeit traf man ihn auch öfter wieder in seiner alten Gegend um Helmholtz- und Kollwitzplatz – schlendernd oder irgendwo einen Kaffee trinkend. Und auch wenn man ihn fast Jahre nicht gesehen hatte, fand man sich sofort wieder auf einer Ebene im Gespräch und konnte es fortsetzen, als sei es erst gestern unterbrochen worden.24

Seine Weigerung, jüngste Geschichte zu verleugnen oder umzudeuten, war zumindest eine Zeitlang nicht nur eine persönliche, sondern auch eine politische Qualität: Zwar hat es die DDR ihm wahrlich nicht leichtgemacht, aber für ihre Abschaffung war er nie – erst recht nicht, als das zum guten Ton gehörte. Denn immer blieb sie für ihn Projektionsraum für soziale Utopie, nach der er trotz eigensinnigen Leugnens (»Von der Utopie rede ich nur noch im Perfekt«25) natürlich weiter Ausschau hielt. Von der wachsenden Spezies der »Wendehälse« hielt er gar nichts.

Dass aber ausgerechnet ihn eine nachträgliche Stasi-Denunziation treffen sollte, das heißt die öffentliche Behauptung er, der Bespitzelte, sei selbst ein Spitzel gewesen, scheint in diesem Zusammenhang so absurd wie einleuchtend.

Bei alldem ist er eins mit seiner Herkunft und Geschichte geblieben und »trug ohne Wenn und Aber und trotz aller seiner Erfahrungen alle Kennzeichen eines Linken seiner Generation unaufdringlich, im Zweifelsfall aber klar mit sich. Nicht vor sich her, das passte nicht zu seinem Wesen.«26

»Ich höre Klaus noch sprechen«, schreibt Uwe Kolbe, »auf seine insistierende, aber immer leise Art, den Kopf |15|nicht aufrichtend, sondern immer nach vorn hinaus haltend, auf das Gegenüber zu, als wäre er gern so nahe wie möglich, um nicht laut sprechen zu müssen«.27 Übrigens hat er die aus der »alten« Ostberliner Zeit stammende Angewohnheit, einfach bei Freunden zu klingeln, statt sich zu Besuchen anzumelden, nie abgelegt. So erinnert sich Friedrich Dieckmann gern an seine überraschenden Besuche in den neunziger Jahren: »Das war eine wunderbar spontane Art, sich über die aufgewühlte Gegenwart zu verständigen.«28

Für die Unmengen an starken Zigaretten, die er in seinem Leben geraucht hat, behielt er eine erstaunlich helle und weiche Stimme, die ihm als eifrigem Gesprächspartner und begnadetem Erzähler natürlich zugutekam. Und zu erzählen – mündlich wie schriftlich – hatte er viel: mit Liebe zum Detail. Das Leichte an seinem Ton schien gespeist aus seinem unprätentiösen Wesen und der Sprache, mit der er aufgewachsen war, dem Berliner Dialekt mit seiner schnoddrigen Schlagfertigkeit. Und doch waren Klang, Rhythmus, sinnliche Qualität seiner Geschichten das Ergebnis hartnäckiger Arbeit. Ebenso wichtig wie reden und erzählen waren ihm dabei zuhören und nachfragen, Verschüttetes hochholen, das genaue Wort in den Tiefen der Erinnerung wiederfinden, von anderen erfahren oder bestätigt bekommen.

Ein Talent hatte er für Freundschaften und ihre Pflege. Und so kamen auch in seiner letzten Wohnung in der Torstraße Freunde und Kollegen zu Treffen zusammen, die Dieckmann als »harmonisch-intensiv« beschreibt und in denen freundschaftlicher Dissens und Einverständnis gepflegt wurden: »Er war eine Hauptfigur dessen, was man eine Berliner Literatur nennen kann, und durch die Mischung von Wage- und Sanftmut, die ihn auszeichnete, eine auf gelassene, ja stille Weise dominante Persönlichkeit.«29|16|Hier soll nun den Spuren dieser Persönlichkeit nachgegangen und ihre Lebensgeschichte erzählt werden. Es ist die Geschichte eines Menschen, der Kosmopolit war und lebenslang an einen Ort gebunden blieb; der einst bedauert hatte, noch zu klein für die Hitlerjugend zu sein, und sich nachher den Ruf des Anarchisten erwarb; der die DDR verlassen und doch nie von ihr gelassen hat; der sich nicht festlegen lassen wollte und doch ein Mann von Prinzipien war: mit eigenem Kopf und doch auf Austausch angewiesen, herzlich und widerspenstig, umtriebig und verlässlich, als Erzähler ausschweifend und präzis. Und da dieses Leben und diese Umstände schließlich der Stoff für seine Arbeit waren, soll er hier auch immer wieder selbst zu Wort kommen: mit Erinnerungen, essayistischen Reflexionen und literarischen Kommentaren zu seiner-unserer Geschichte.

|17|Geboren in was für eine Welt? 1937–1945

|18|Hans Schlesinger mit seinen Kindern Klaus und Liane 1941

|19|»Diese Stadt […]. Das Leben hier!Wissen Sie denn, wie das damals war?«30

»Mein Urgroßvater war Halbbauer in der Landgemeinde Staedtel in Oberschlesien und starb im Alter von 50 Jahren an Schwindsucht. Mein Großvater lernte Bäcker, ging mangels ausreichender Beschäftigung 1898 nach Berlin, war in neun Stellungen tätig und starb während der Berliner Olympiade 1936 im Alter von 55 Jahren an Herzversagen. Er hinterließ zwei Kinder. Sein Sohn Hans, mein Vater, ein Expeditionsgehilfe, der 1933 KPD gewählt hatte, trat 1937 der NSDAP bei, avancierte zum Angestellten und fiel, als wehrpflichtiger Polizist, beim Kampf um Berlin.« »Genealogie einer berliner Arbeiterfamilie« nennt Schlesinger einen unveröffentlichten Text, in dem er sich über seine eigene Herkunft klarzuwerden sucht.31 Auf Ackerhäusler, Freigärtner, Schwarzviehhändler und Arbeiter ist er bei seinen Nachforschungen gestoßen, zu Schankwirten und Gasthausbesitzern immerhin hat es ein Familienzweig der Schlesingers gebracht, der einzige im schlesischen Ort Staedtel gebliebene und begrabene. Auch die Familie der Mutter Gertrud, einer geborenen Pieper, ist aus dem Osten nach Berlin zugezogen, ihr Vater war ein pommerscher Kutscher. Beide im Nordosten Berlins aufgewachsen, lebten Klaus Schlesingers Eltern bei seiner Geburt am 9. Januar 1937 im »Gründerzeit-Proleten-Viertel«32 Prenzlauer Berg, Dunckerstraße 4.

» Ich rede nicht über eine beliebige Straße, ich rede über die Duncker. Genaugenommen rede ich über jenen Teil der Duncker, der von der |20|Haltestelle der Linie vier bis zum Helmholtzplatz führt und ›vordere Duncker‹ oder auch ›Vorderduncker‹ genannt wird. Die ›Hinterduncker‹ nennt man den Teil von der S-Bahnbrücke bis zur Weißenseer Spitze. Von der Ecke, an der die Duncker beginnt, bis zur Weißenseer Spitze sind es genau eins Komma vier Kilometer.«

Die Sache mit Randow33

Die »Vorderduncker« bestand, wie alle sie umgebenden Straßen, aus Mietshäusern, die vom Ende des 19. Jahrhunderts stammten. Ihren Namen trug sie seit 1892 (die »Hinterduncker« erst seit 1913, was die Bezeichnung allemal rechtfertigt) nach dem Stadtrat und Bürgermeister Hermann Carl Rudolf Duncker, der das explosionsartige Wachstum Berlins nach der deutschen Reichsgründung 1871 über zwei Jahrzehnte hinweg verwaltet und mit kommunalpolitischen Reformideen begleitet hatte. Infolge des damals einsetzenden enormen Industrialisierungs- und Urbanisierungsschubes hatte sich die Einwohnerzahl der Stadt auf fast zwei Millionen verdoppelt. Arbeit bietend, war Berlin zum Zuwanderungsort für Menschen vor allem aus den östlichen Provinzen geworden: Die Schlesingers wie die Piepers gehörten dazu. Ganze Stadtviertel entstanden neu; eines davon war der Prenzlauer Berg.

» Unsere ganze Gegend, hatte ich in der Schule gelernt, ist um die Jahrhundertwende gebaut worden, und auf dem alten Stadtplan, der aus dem Nachlaßmeiner Oma stammt, war die Gegend um die Duncker herum noch unbebaut. Der Stadtplan ist 1883 erschienen, dem Geburtsjahr meiner Oma.«

Die Sache mit Randow34

Weil der Bedarf so groß war, entstand, lediglich unter Einhaltung grundlegender Vorschriften (wie der Mindestgröße der Höfe, damit ein Feuerwehrwagen darin wenden konnte), eine zunehmend dichte, aus Vorder-, Seiten- und |21|Hinterhaus bestehende Blockbebauung mit oft mehreren Höfen hintereinander. Die Vorderhäuser hatten meist Läden im Erdgeschoss und größere, hellere Wohnräume als die Seitenflügel und Hinterhäuser. Trotzdem war die gängige Bezeichnung als Mietskasernen auch für sie angebracht, denn obwohl frühe Bebauungspläne eine soziale Durchmischung des Quartiers vorgesehen hatten, war es unter den Bedingungen von Wohnungsnot und Bodenspekulation doch zum Viertel der ganz kleinen Leute geworden. Uniforme, meist fünfstöckige Fassaden, vereinzelte Ladenfenster, die obligaten Wasserpumpen und spärlicher Baumbewuchs prägten das Straßenbild, und nicht zu vergessen die Kneipen: »An der Ecke Lychener sind drei Kneipen. Im Hackepeter waren früher die Nazis, in der Donau die Kommunisten und Fengler ist eine alte Sportlerkneipe.«35 Diese Umgebung und das darin vorherrschende (halb-)proletarische Milieu mit seinem Jargon und seinen Umgangsformen sollten den zwischen Helmholtzplatz, Lychener, Raumer- und Danziger Straße Aufwachsenden nachhaltig prägen.

Die Familie Schlesinger wohnte immerhin im Vorderhaus, zweite Etage, Mittelwohnung: »eine geschlossene Welt mit scharfen sozialen Markierungen: es war schon ein Unterschied, ob einer ›Parterre, Hinterhaus‹ wohnte oder ›vorn, zwei Treppen‹, auch wenn diese Wohnung aus Zimmer und Küche und Klosett eine halbe Treppe höher bestand«. Im Erdgeschoss gab es einen Tabakladen, dessen Betreiber, Herr Wolski, das einzige Telefon im Haus besaß. Die Eltern von Gertrud Schlesinger wohnten in der Dunckerstraße 84. Das erste Kind war bei der Heirat im Mai 1927 schon unterwegs, überlebte aber seine Geburt nur kurz; das zweite, die Tochter Liane, war sieben Jahre alt, als Klaus geboren wurde. »Wir haben in einem Zimmer gelebt – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich. […] Er wollte raus aus der Klasse, das wollten alle Leute. […] Sie wollten in die nächst höhere Klasse.«

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