Knutschpogo - Katrin Frank - E-Book

Knutschpogo E-Book

Katrin Frank

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Beschreibung

Zwischen Punk, Liebe und Chaos: Lexis wildes Erwachsenwerden in der Nachwendezeit. Ein witziger, authentischer Roman über das Großwerden zwischen West und Ost! Schräge Blicke beim Betreten der Mädchentoilette und dreiste Nachfragen nach ihrem Geschlecht bestimmen den Alltag der androgynen Lexi. Die 14-Jährige kämpft in der Nachwendezeit mit den Tücken des Erwachsenwerdens und der Langeweile ihrer thüringischen Kleinstadt. Als sie die Punkerin Rosa und deren Clique kennenlernt, hat Lexi plötzlich ganz andere Probleme, von denen pöbelnde Nazis noch das geringste sind. Begeistert stürzt sie sich in eine ihr unbekannte Welt aus Pogotanzen, Aktivismus und Dosenbier. Dabei entdeckt sie nicht nur ihre Liebe zum Punk, sondern auch zu Rosa. Doch die ist mit Armin liiert.

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Seitenzahl: 242

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Danksagung

Über Katrin Frank

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Küsse in Amsterdam

Punk Like Me

Kapitel 1

In unserer ganzen Wohnung riecht es nach penetrantem Rasierwasser. So eine Mischung aus vergammeltem nassen Holz und der würzigen Kopfnote von Sockenschweiß. Mutters neuer Freund Rolf ist zu Besuch. Der aufdringliche Duft passt zu seiner Art zu reden. Rolf ist nämlich Polizist, aber nicht mal Bereitschaftspolizist, sondern so ein langweiliger Schreibtischbulle. Wie fast alle Polizisten trägt er einen hässlichen Schnauzbart im Gesicht und eine kleine Plauze vor sich her.

An diesem Sonntagmorgen hockt der Bulle gut gelaunt an unserem Küchentisch und mampft mit kräftigen Kaubewegungen Mutters wie immer zu weich gekochte Eier weg. »Köstlich, Gabi, was du da gezaubert hast!«, ruft Rolf begeistert.

In seiner Rotzbremse hat sich ein Rest Eigelb verfangen, den er flink mit der Zunge wegleckt. Mir wird fast schlecht bei dem Anblick.

Es sind bloß Eier!, denke ich giftig und beiße griesgrämig in meine Semmel. Die Sonntagmorgen gehören meiner Mutter und mir. Schlafen bis in die Puppen und dann ewig frühstücken, dass man bis nachmittags nichts essen mag, weil man noch so voll ist.

Sonntagvormittag klingeln auch meistens die Zeugen Jehovas bei uns: ein dürrer Mann mit Hut und verkniffenem Gesicht begleitet von einer langzöpfigen Frau mit Pferdegebiss und wadenlangem Rock. Wir lassen uns immer bereitwillig den Wachturm und andere ihrer Flugschriften in die Hand drücken, um uns beim Frühstück gegenseitig daraus vorzulesen, bis wir uns vor Lachen die Bäuche halten. Jehovas Zeugen sind noch ein Überbleibsel der Wendezeit. Obwohl die Mauer schon fünf Jahre offen ist, gehen sie immer noch fleißig bei uns Ostlern auf Seelenfang. An meiner Schule verteilen sie sogar manchmal Miniausgaben des Neuen Testaments. Auch die stecke ich regelmäßig ein. Hauptsache umsonst!

»Na, Alexa, weißt du denn schon, was du später mal werden willst?«, versucht Rolf, ein Gespräch mit mir anzufangen.

Der hat ein Gespür für die passenden Themen am Sonntagmorgen.

»Denk schon«, brumme ich.

Mit freundlichem Nicken ermuntert mich Rolf, weiterzusprechen. Mutter tritt mich unter dem Tisch. Sie hat meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet.

»Bezahlte Urlauberin!«, platze ich trotzdem mit meinem aktuellen Berufswunsch heraus. Das ist die reine Wahrheit.

Rolfs Gesicht fällt etwas in sich zusammen, aber er nimmt sofort wieder Fahrt auf. »Komm doch zu uns!«, schlägt er gutmütig vor. »Tariflohn, eine schicke Uniform, nette Kollegen, und du hast das Gefühl, etwas für dein Land zu tun. Das ist unbezahlbar.«

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, und entscheide mich, darauf besser nicht zu antworten.

Rolf deutet mein Mienenspiel als Unentschlossenheit. »Du hast ja auch noch ein bisschen Zeit, es dir zu überlegen. Als ich so jung war wie du, hatte ich auch noch Flausen im Kopf.« Mit diesen Worten beugt er sich rüber und wuschelt mir durchs Haar.

Etwas in meinem Gesicht lässt ihn sofort zurückzucken. An meine Haare lasse ich eigentlich nur meine Mutter, die sie mir auskämmt, seit ich ein Kind bin. Rolf hat die Grenze aller Grenzen überschritten, mein Haar entweiht. Diese verkackte Bullenart! Erst auf Kumpel machen, und dann die Infos, die sie aus einem rauskriegen, gnadenlos gegen einen verwenden.

»Lexi hat gerade andere Sorgen«, erklärt Mutter in einem kläglichen Versuch, die Situation zu retten. »Das Wichtigste ist das Aussehen, nicht wahr?«

Ich ziehe eine Grimasse. Was gehen den Bullen meine Sorgen an?

»Kann ich verstehen«, versucht der Rolf, sich sofort wieder anzubiedern. »Du bist ja bald auch schon eine richtige Frau!«

Am liebsten würde ich die gerade verspeiste Semmel unter zuckenden Zombiebewegungen wieder hochwürgen und mitten auf den Küchentisch kotzen. Was er mit »richtig« meint, ist mir schleierhaft. Wenn ich in den Spiegel gucke, sehe ich ein schmächtiges, vierzehnjähriges Etwas undefinierbaren Geschlechts, das sich mal wieder die Haare schneiden lassen müsste. Bisher konnte ich noch nichts Frauliches an mir feststellen, außer, dass ich meine Tage bekommen hab, und auf die hätte ich auch gut verzichten können.

Meine beste Freundin Janine hat schon einen echten Busen und Schamhaare. Dafür hat sie aber auch monatelang jeden Abend vorm Schlafengehen gebetet. Eine komplizierte Abfolge aus drei Vaterunser, gefolgt von Verbeugungen in alle vier Himmelsrichtungen und Bekreuzigungen mit dem Spruch: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.« Und als ihr dann plötzlich Brüste wuchsen und Schamhaare gleich noch dazu, da hat sie gar nicht mehr aufgehört zu beten.

»Gut«, reißt Mutter mich aus meinen Gedanken und klatscht eifrig in die Hände. »Noch kurz verdauen, und dann geh’n wir einkaufen, ja? Ist doch nicht jede Woche verkaufsoffener Sonntag! Du brauchst mal einen neuen Pulli, den ganzen Winter kannst du nicht in dem Fetzen rumlaufen.«

Ich blicke an mir herunter. Der Fetzen, das ist das Holzfällerhemd meines Vaters, eines der letzten Dinge, die mir von ihm geblieben sind. Der Kragen ist zwar schon abgewetzt und an einem Ärmel fehlt ein Knopf, aber trotzdem liebe ich es heiß und innig. Ich werfe Mutter einen tödlichen Blick zu und vertage die Klamotten-Diskussion auf später. Vor Rolf will ich nicht damit anfangen.

Die große Frühstücksshow ist zu Ende. Mutter hat den Zonk gezogen und sich mit dem Bullen ins Wohnzimmer verdrückt, von wo ich die beiden sogar durch meine Zimmertür dämlich kichern höre. Ich frage mich gerade, wie sich so ein Schnauzbart wohl beim Knutschen anfühlt, da klingelt zum Glück das Telefon. Ich brauche nur neben mein Bett greifen. Den Apparat hab ich bei mir gebunkert.

»Hi! Krz krz chps …«

»Hi, Janine!« Träge lasse ich mich ins Kissen zurücksinken. Seit sie zu den Christen übergelaufen ist, ruft Janine noch öfter an als sonst.

»Krz krz chps … Woher weißt du, dass ich es bin?«

»Weil niemand sonst auf die Idee kommt, was zu mampfen, wenn er telefonieren will.« Fast immer isst Janine was während unserer Telefonate. Krachendes Geknusper sind meistens Chips oder Nüsse, genüssliches Schmatzen und Saugen ein Schokoriegel oder saure Schnüre. Ich kann die Lebensmittel schon anhand der Geräusche unterscheiden. Vielleicht sollte ich damit zu Wetten, dass..? gehen.

»Was machst’n?«, fragt Janine wie immer eine Spur zu laut in den Hörer.

»Mutter schleppt mich gleich zum Klamottenkaufen«, stöhne ich.

»Und danach?«

»Nichts.«

»Aber heut ist heiliger Sonntag, wir müssen was Schönes machen! Komm doch später mit zum Teen…«

»Ich komme nicht mit zu deinem Teenie-Kreis!«, würge ich Janines Begeisterungsanfall direkt ab. Seit Wochen versucht sie, mich zu überreden, zu ihrem Treff junger Christen mitzukommen.

»Ach!« Jetzt klingt Janine beleidigt und schweigt eingeschnappt in den Hörer.

»Tut mir leid«, lenke ich ein und flüstere: »Der Bulle ist wieder zu Besuch, das hat mir die Laune vermiest.«

»Du Arme! Umso wichtiger, dass du ausgehst, um auf andere Gedanken zu kommen. Willst du es dir nicht doch noch mal überlegen mit Teenie-Kreis und so? Da sind nur nette Leute! Was hast du schon zu verlieren?«

Recht hat sie, ich hab nichts zu verlieren. Dieser Sonntag ist eh im Arsch. Immerhin kommt Rolf nicht mit uns einkaufen, weil er das für Frauensache hält. Außerdem schadet es nie, mal ein paar neue Leute kennenzulernen.

»Na gut, ich komm mit zu deinen Christen«, gebe ich meinen Widerstand auf. »Aber beim ersten Bekehrungsversuch mach ich die Fliege, klar?«

»Cool«, gluckst Janine, »bis später! Ich hol dich um sechs ab.«

Rolf ist wieder in seine Bullen-Singlebude zurückgekehrt, und sofort wirkt unsere Wohnung erleichtert. Nur ein Hauch seines aufdringlichen Rasierwassers hängt noch in der Luft. Ich schlurfe barfuß in Unterhose und T-Shirt in die Küche und hole mir ein Glas Saft.

»Zieh dich an, Kind, gleich geht’s los zum Einkaufen!«, trällert Mutter. Sie weiß, wie sehr ich Shoppen verabscheue. Nicht etwa, weil ich Konsum ablehne oder so etwas Idealistisches, sondern aus anderen Gründen.

Ein rauer Wind pustet vertrocknetes Laub durch die Fußgängerzone und treibt die Passanten mit hochgezogenem Kragen dazu, schneller zu gehen. Ich schlendere betont langsam mit lässig baumelnden Armen daher, ohne die Auslagen der verkaufsoffenen Läden rechts und links auch nur eines Blickes zu würdigen.

Mutter steuert zielstrebig auf das nächste Geschäft zu. Das hektische Klacken ihrer Absatzschuhe gibt den Takt vor. Sie trägt einen Ticken zu viel Parfüm, fällt mir auf. Der Bulle, die Spürnase, will wohl was zu schnüffeln haben. Bei dem Gedanken entfährt mir ein abgehacktes Lachen. Erschrocken schaue ich mich um, ob es jemand gehört hat. Bei Papa hätte es solchen Geruchsfirlefanz nicht gegeben. Schon Deo fand der zu viel. Ich weiß noch, wie er immer roch, wenn er aus seinem Betrieb kam, wo er Geräte lötete, so eine Mischung aus Schweiß und Metall.

Gedankenverloren bleibe ich immer weiter hinter Mutter zurück.

Plötzlich stoße ich fast mit ihr zusammen, weil sie stehen geblieben ist, beide Fäuste in die Hüfte gestemmt.

»Wird’s bald, Fräulein? Du schleichst ja rum wie das Leiden Christi!« Mutter klingt amüsiert, als würde ihr das Ganze hier Spaß machen.

»Ich bin das Leiden Christi«, gebe ich zurück und bewege mich keinen Millimeter vorwärts.

Der geschäftige Strom aus Einkaufswilligen an diesem verkaufsoffenen Sonntag will und will nicht abreißen. So viele Hirntote mit überquellenden Plastiktüten hab ich selten in der Fußgängerzone gesehen. Wenn das die Errungenschaften des Westens sind, dass wir nun dauernd einkaufen gehen können, hätte die DDR von mir aus ruhig noch vierzig Jahre weiterexistieren können.

Das Prinzip Kapitalismus hab ich schnell verstanden: Am ersten Tag nach der Grenzöffnung, als die schicken Westschlitten durch unsere bescheidene Kleinstadt fuhren, stellten Janine und ich uns an den Straßenrand und winkten, um die Westler willkommen zu heißen. Zu unserer großen Überraschung hielten die blitzenden BMWs und Mercedesse an. Milka-Schokolade und Haribo-Bären wurden herausgereicht, nach denen wir Neunjährigen gierig grapschten. Am anderen Tag standen wir schon frühmorgens an der Straße, diesmal ausstaffiert mit großen Plastiktüten, und winkten, was das Zeug hielt. Abends wurde verglichen, wer mehr abgesahnt hatte. Es war Janine gewesen, die mit ihren langen blonden Haaren und dem zuckersüßen Lächeln schon damals einen Schlag bei Leuten hatte. Leider hielt diese Fütterung armer DDR-Kinder nicht lange an.

»Wie kannst du das eigentlich mit deinem Gewissen vereinbaren, dass wir hier Klamotten einkaufen, während in Mosambik Kinder verhungern?«, frage ich mit gespielter Betroffenheit, nachdem wir den vierten Laden erfolglos abgegrast haben.

Mutter sieht mich prüfend an. »Na gut, noch ein Geschäft! Dafür koch ich uns nachher was Schönes!«

»Oh nee, bitte nicht wieder deinen selbstgekochten Kakao mit Semmeln aus der Kaufhalle!« Ich ziehe einen Flunsch.

»Was hast du denn? Der passt doch gut zum Herbstwetter, außerdem macht er satt.«

Kochen heißt für Mutter: Hauptsache man wird satt. Ihre Spezialität ist krachsüßer selbstgemachter Kakao, in den frische Semmeln eingetunkt werden. Nach einer Tasse ist man voll.

»Und ich muss dir eine Woche nicht beim Abwasch helfen!«

»Übertreib’s nicht!«

Ich beschleunige meine Schritte, um diesen Einkaufsbummel endlich zu Ende zu bringen.

Mutter visiert ein Modegeschäft an, das aus einem einzigen Raum besteht. Durch die riesige Glasscheibe ist eine Verkäuferin hinter der Ladentheke zu erkennen, die ein missmutiges Gesicht macht.

»Nicht da rein!« Ich hasse solche Geschäfte, wo man bei jeder Bewegung die Adleraugen des Verkaufspersonals glühend im Rücken fühlt.

Ohne auf meine Worte zu achten, stößt Mutter die Tür auf. Bing-bing, klong-klong macht die Türklingel, die völlig nutzlos ist, weil man eh sofort mitbekommt, wenn jemand den Laden betritt. Ein Farbenmeer aus kreischbunten Neonleggins, Leopardenröcken und blinkenden Schmetterlings-Pailletten beißt mir in die Augen. Ich fresse einen Besen, wenn ich hier was finde! Schon als Kind hab ich geschrien und gekratzt, wenn Mutter mich in einen Rock stecken wollte. Wenn es ihr schließlich doch gelang, sah ich immer wie verkleidet aus.

Beim Ertönen der Türglocke schnellt der Kopf der Verkäuferin wie vom Pferd getreten hoch. Bis eben blätterte sie noch gelangweilt in einem Modemagazin. Keine drei Sekunden braucht sie, um ihren massigen Körper hinter dem Tresen hervorzubewegen. Ihr Parfüm der Marke Kopfschmerzen für alle wabert durch die Luft. Ich muss mich wirklich beherrschen, mir nicht die Nase zuzuhalten.

»Kann ich Ihnen helfen?«, begrüßt sie Mutter mit kaltem geschäftsmäßigem Lächeln über den Goldrand ihrer Brille hinweg.

»Danke, wir schau’n uns erst mal um.«

Die Verkäuferin steht weiterhin mit erwartungsfroher Miene da, als hätte sie nicht verstanden. »Und was darf’s für Sie sein?«, wendet sie sich überfreundlich an mich, in dem Versuch, Mutter und mich zu entzweien. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen, junger Mann?«

Bei der Ansprache krampfen sich meine Eingeweide zusammen, und ich merke an der sich in meinem Gesicht ausbreitenden Hitze, dass ich puterrot angelaufen sein muss.

»Meine Tochter«, betont Mutter künstlich und macht eine bedeutungsvolle Pause danach, »sucht einen Pullover!«

»Oh!«, entfährt es der Angestellten, die sich sofort wortreich für ihren Irrtum zu entschuldigen beginnt.

Ich knibbele vor Verlegenheit an einem Paillettenpulli herum, den ich auch unter Folterandrohung niemals tragen würde.

Mit einem prüfenden Blick auf meinen spärlich knospenden Busen schiebt die Verkäuferin hinterher: »Ich meinte natürlich junge Frau. Das sieht man ja!«

Mir ist zu schlecht, um Mutter mit Blicken zu töten, wie sie es eigentlich verdient hätte. Ich stelle mir vor, wie der spiegelblanke Boden dieser Boutique sich plötzlich rauchend und dampfend einen Spalt auftut und Mutter und diese ahnungslose Verkäuferin im Fegefeuer aus Paillettenjeans und Neonleggins schmoren. Zu gut erinnere ich mich noch an den Vorfall mit dem Osterhasen. Da war ich elf.

Ich war mit Mutter ein paar Tage vor Ostern in ein Möbelhaus im Westen gefahren, um etwas für mein Zimmer zu kaufen. Inmitten von Wohnzimmerschrankwänden aus Sperrholz und Eckcouchkombinationen campierte auf einem Oval aus grünem Kunstrasen ein Mann in einem billigen dünnpfiffbraunen Osterhasenkostüm. Seine Schlappohren hingen fast bis auf seine Schultern. Vor sich hatte er einen braunen Jutesack, prall gefüllt mit Schokoosterhasen. In weiser Voraussicht wollte ich schnell an der Erscheinung vorbeihuschen. Doch zu spät. Als er mich registrierte, rief er weithin für alle anderen Kunden hörbar:

»Na, hat denn der Kleine auch schon einen Hasen?«

Mit seiner Pranke packte er mich an der Schulter und nötigte mir einen in Plastikfolie verpackten Schokohasen auf. Eine Mitarbeiterin des Möbelhauses schoss ein Polaroid zur Erinnerung, das nach sofortiger Entwicklung Mutter in die Hand gedrückt wurde. Darauf hab ich den Mund zu einem bitteren Lächeln verzogen und mache einen Ausfallschritt nach vorne, während der Osterhase unter seinem braunen Schnurri hervorgrinst und zwei Reihen nikotingelber Zähne entblößt. Der Schnappschuss wanderte in Mutters Sammlung und wurde an jedem Familiengeburtstag hervorgeholt, um dann allen unter schrillen Lachsalven die Geschichte zu erzählen.

Jetzt zupfe ich Mutter am Ärmel ihrer parfümierten Jacke. »Ich warte draußen auf dich.«

Mutter mustert mich mit stillem Vorwurf im Blick, dass mein Aufzug es nicht hergibt, diesen Laden zu verlassen, ohne nicht wenigstens halbherzig nach tragbaren Alternativen gesucht zu haben. »Ich brauch hier noch ein bisschen«, gibt sie schnippisch zurück und wendet sich betont geschäftig einer überquellenden Kleiderstange zu.

Heimlich will ich mich rausschleichen, aber die aufdringliche Türklingel macht mir einen Strich durch die Rechnung.

»Auf Wiedersehen, junge Frau!«, flötet die Verkäuferin mir nach.

Ich sage nichts und lasse mich seufzend vor dem Laden auf eine kleine Bank sinken, die so aussieht, als sei sie extra für Einkaufsmüde wie mich aufgestellt worden. Jetzt kann es sich nur noch um Stunden handeln.

Kapitel 2

Die Oktobersonne ist rausgekommen und taucht den Marktplatz in fahles Licht. Seine glatte graue Fläche wirkt noch größer, seit die alte Kaufhalle in seinem Zentrum dicht gemacht hat. In dem unansehnlichen Flachdachbau eröffnete direkt nach der Wende ein Reisebüro, das vor allem Reisen nach Mallorca und Italien anbot. Ich kenne allein drei Elternpaare von Schulkameraden, die schon auf Mallorca waren und dafür lieber auf ein West-Auto verzichtet haben. Aber das Reisebüro hat auch schon wieder zu, weil keiner mehr Geld zum Verreisen hat. Jetzt ist da eine Versicherung. Versicherungen gehen gut, sagt Mutter manchmal. Erst hatten die Leute nichts und die, die jetzt was haben, befürchten nun, es zu verlieren.

Vom stillgelegten Brunnen in der Mitte des Marktes dröhnt lautes Gerumpel herüber. Dort hocken wieder die Punks, wie fast jeden Sonntag um diese Zeit. Eigentlich wie fast jeden Wochentag. Ich sehe fast immer welche von denen, wenn ich durch die Innenstadt laufe. Okay, eigentlich halte ich immer nur Ausschau nach dem einzigen Mädel, das bei den Punks rumhängt. Die hat grüne Stachelhaare und geht in meine Parallelklasse. Aber ich glaube, dass sie sitzengeblieben ist, weil sie älter aussieht als vierzehn. Vielleicht macht das aber auch ihr Lebenswandel. Fast immer sehe ich sie nämlich mit Bier oder Kippe am Hals. Ihre heisere Lache schallt quer über den Platz, bis rüber zu der Bank, auf der ich sitze. Neben ihr hockt ein Kleiner mit zerfleddertem rotem Iro und Schnurrbart und ein großer Schlaksiger, der sich in Wildwestmanier ein schwarz-rotes Dreieckstuch um den Hals gebunden hat.

Ich werfe einen schnellen Blick in den Modeladen, wo Mutter mit einem Berg Klamotten auf dem Arm zwischen Kleiderständern rumhantiert und dabei mit der Verkäuferin diskutiert. Verräterin! Am liebsten wäre ich jetzt allein in der Stadt unterwegs. Dann würde ich zwar auch nicht groß was anderes machen als rumzuhocken und Leute zu beobachten, aber es ist schon ein gigantischer Unterschied, ob man rumhockt, weil man auf seine Mutter wartet oder einfach nur so abhängt.

Die Punks warten definitiv nicht auf ihre Mütter. Sie strahlen Unabhängigkeit aus, wie sie da am Brunnen sitzen, misstrauisch beäugt von den Einkaufszombies. Weil dieser Oktober schon recht kühl ist, tragen sie schwarze Lederjacken mit klimperndem Zeugs dran. Aber offen, damit man die T-Shirts mit Aufschriften darunter sehen kann. Auch das Mädchen mit den Stachelhaaren trägt eine Lederjacke, von der einem förmlich das rote A im Kreis darauf ins Auge springt. Ich hab das schon ein paarmal bei Punks gesehen, aber keinen Schimmer, was es bedeuten soll. Ich vermute, asozial, weil Punks gegen die soziale Gesellschaft sind.

Die weinroten Springerstiefel der Punkerin baumeln lässig vom Brunnenrand. Jetzt zündet sie sich eine Kippe an. Es sieht geübt aus. Als hätte sie nie etwas anderes getan. Erst als die Punkerin zu mir rüberschaut, wird mir bewusst, dass ich sie direkt angestarrt hab. Erschrocken senke ich den Blick sofort auf meine Turnschuhe. Rechts wird mein großer Zeh bald durch das spröde Leder brechen.

Keine Sekunde später hebe ich wie zufällig wieder den Kopf. Das Mädchen guckt noch immer. Guckt, grinst, trinkt einen Schluck Dosenbier. Mich durchfährt es heiß. Wieso grinst die denn so? Sofort scanne ich meine Klamotten ab, ob irgendwas Auffälliges daran ist: Westjeans, das Holzfällerhemd meines Vaters, offen, über ausgebleichtem Bon-Jovi-T-Shirt, darüber meine Westjeansjacke, die ich mal von einem Westcousin geerbt hab. Alles wie immer.

Wenn ich länger angestarrt werde, dann meistens nur, um rauszufinden, ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin. Das ist mir schon oft passiert, dass wildfremde Leute auf der Straße ankommen und fragen: »Entschuldigung, bist du jetzt ein Junge oder ein Mädchen?« Manche sind richtig böse geworden, wenn ich mich weigerte, aufzuklären, was ich denn nun sei. Was die wohl davon haben? Vielleicht so eine Art Wettstreit – »Glückwunsch, das hast du gut erkannt!«.

Plötzlich höre ich eine ätzende Männerstimme sagen: »Guck mal, hat der sich Make-up ins Gesicht geschmiert?«

Ich drehe den Kopf und sehe mich zwei bis zum Hals tätowierten Naziglatzen gegenüber, die mich mit geringschätzigem Interesse beäugen, als wäre ich ein besonders hässlicher Käfer.

»Was haben wir denn da? Nen kleinen Schwuli!«, feixt der Bulligere von beiden, der einen Boxer an der Leine hält.

Mir ist schlecht. Das Make-up hab ich eigentlich nur aufgelegt, um die gröbsten Pickel zu verdecken. Es ist ein altes von Mutter, das nicht ganz meinen etwas helleren Hautton trifft und deshalb landkartenmäßige Flecken in meinem Gesicht hinterlässt. Ich versuche, meine Stimme wiederzufinden, die sich vor Schreck tief in meinen Hals verkrochen hat. Aber was bringt es, denen zu sagen, dass ich ein Mädchen bin? Die suchen jemand zum Rumpöbeln, und ich wirke anscheinend wie das perfekte Opfer.

»Nee, wat süß, der macht sich ja ein vor Schiss!«, sagt der drahtige Kumpel von dem mit dem Boxer und lässt seine Fingerknöchel knacken.

Ich hebe die Augenbrauen.

»Ui, ich glaub, der steht auf dich!«, grient der bullige Nazi und starrt mir dabei die ganze Zeit in die Augen. »Hab ich recht oder hab ich recht?«

Das wird mir langsam echt zu blöd hier! Ich rutsche unruhig auf der Bank hin und her und traue mich kaum zu atmen. Was macht Mutter auch so lange in dem verdammten Laden? Ein Kaffeekränzchen mit der Verkäuferin halten?

Ich versuche, die Glatzen so gut es geht zu ignorieren. Vielleicht verlieren sie ja dann die Lust, wie bei einem nach Aufmerksamkeit heischenden Kind, dem man keine Beachtung schenkt. Gleichzeitig halte ich unauffällig nach einem Fluchtweg Ausschau. Es ist immer gut, einen Plan B zu haben. Da sehe ich aus dem Augenwinkel, dass die Punks vom Markt sich in Bewegung gesetzt haben und in unsere Richtung laufen.

»Na, lange nicht geseh’n!« Das Mädchen mit den Stachelhaaren zwinkert mir zu und schiebt sich kurzerhand neben mich auf die Bank. Die beiden anderen Punks lehnen sich links und rechts von mir gegen die Hauswand und verschränken die Arme. Aus ihrem Ghettoblaster rumpelt laute Punkmusik.

»Guck an, die rote Zora und ihre Zeckenbande!«, plärrt der bullige Nazi. »Nicht mal am Sonntag hat man seine Ruhe!«

»Tja, unverhofft kommt oft!«, gibt die Punkerin grinsend zur Antwort und legt mir ihren Arm um die Schulter. Ihre Stachelhaare verströmen den männlich-markanten Geruch von Rasiercreme. Bei ihr mag ich es.

»Dann ist das doch kein Schwuli, sondern ne Zecke«, stellt der andere Nazi fest.

Ich strahle, als hätte man mir soeben eine Auszeichnung verliehen.

»Der Markt ist jetzt national befreite Zone! Ihr Zecken habt da nix mehr verloren«, erklärt der Bullige großspurig.

Der Kleine mit dem zerfledderten Iro und dem Schnauzbart gähnt übertrieben. »Erzähl mal was Neues, Ronny! Ich glaub, dein Kopf ist hirnbefreite Zone.«

Die Punks grölen, und auch ich muss kichern, halte mir aber sofort die Hand vor den Mund. Der mit Ronny Angesprochene macht eine finstere Miene. Anscheinend hat er begriffen, dass er und sein Kumpel in der Unterzahl sind.

Behäbig schüttelt er den Kopf, dass seine teigigen Wangen hin und her schloddern. »Strauch, Strauch, Strauch! Jetzt wo de bei den Zecken bist, machste einen auf dicke Hose. Aber wart nur, bis ich dir mal nachts allein in ner dunklen Gasse begegne …«

»Kann’s kaum erwarten«, kommt es von dem zurück, der offensichtlich Strauch heißt.

Ronny glotzt ihm mitten in die Augen. Seine tätowierte Faust mit der Hundeleine bebt. Alle halten den Atem an. Ich starre auf die Hand, die so groß ist wie ein Kinderkopf, und bin mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob die zwei Punks und das Mädchen etwas gegen diesen Koloss ausrichten könnten.

Die bebende Hand zerrt an der Leine. »Abflug, Rommel!«, bellt Ronny.

Der Boxer setzt sich tippelnd und keuchend hinter den Springerstiefeln seines Herrchens in Bewegung.

»Wir seh’n uns!«, unkt sein Kumpel mit zusammengekniffenen Augen und trottet lässig hinterher.

Alles ging so schnell, dass ich noch von Schockstarre befallen bin, als Mutter tütenbepackt aus dem Geschäft gestiefelt kommt und mich umringt sieht von den Punks.

»Was ist denn hier los?«, ruft sie überrascht, und es ist ihr deutlich anzumerken, dass sie alles andere als erfreut ist über meine neuen Freunde.

»Tachchen!«, wird sie grinsend von der Punkerin begrüßt.

Mutter würdigt sie keines Blickes. »Komm, Alexa, wir sind hier fertig!«, bestimmt sie und hakt mich fest unter.

Ich hab kaum Zeit, ein »Danke!« zu murmeln, da hat Mutter mich schon mit weggeschleift. Im Gehen drehe ich meinen rot angelaufenen Kopf und sehe, dass das Mädchen mit den Stachelhaaren mir fröhlich nachwinkt. Scheiße, die hält mich jetzt bestimmt für die letzte Spießerin!

»Was wollten die denn von dir?«, will Mutter sofort wissen, als wir außer Hörweite sind. »Haben die dich angeschnorrt?«

»Nee, die wollten gar nichts. Die haben mir geholfen, da waren zwei N…«

»Geholfen, klar! Denen würd ich gern mal helfen«, zetert sie los. »Ich seh die immer nur rumlungern am Markt mit ner Pulle am Schlund. Und jetzt belästigen sie auch noch arglose Jugendliche!«

Ich rolle mit den Augen. »Jetzt hör mir doch mal zu: Eben haben zwei Nazis mich doof angemacht, und die Punks haben mir geholfen.«

»Was hast du denn plötzlich mit Nazis zu tun?«

»Die dachten, ich wär’n Junge«, gebe ich kleinlaut zu.

»Kein Wunder, du hörst ja auch nicht auf mich!«, nörgelt Mutter bestätigt. »Wenn du dich nur ein bisschen fraulicher anziehen würdest, dann würde dir das nicht dauernd passieren. Es sei denn natürlich, du willst für einen Jungen gehalten werden.« Sie beäugt mich misstrauisch von der Seite.

»Ach, jetzt isses meine Schuld, oder wie? Verstehst du nicht, das waren einfach Arschlöcher, Junge hin oder her! Wären die Punks nicht gekommen, wer weiß, was die mit mir gemacht hätten!«

»Die Punks, die Punks … Das geht doch schon seit Wochen so, dass die Halbstarken sich gegenseitig die Köpfe einhauen«, unterbricht Mutter mich ungehalten. »Seit klar ist, dass die Rechten ihr Tätowierstudio beim Markt eröffnen wollen. Das hat der Rolf mir neulich erzählt. Das passt den Bunthaarigen nicht. Lass dich da bloß nicht reinzieh’n! Ich bin ja auch nicht gerade begeistert von den Rechten, aber im Gegensatz zu den Punkern arbeiten die wenigstens was.«

»Genau«, poltere ich los und sage mit rollendem R: »Hitler war ja auch nicht nur schlecht. Der hat ja immerhin die Autobahn gebaut, das darf man nicht vergessen. Sieg Heil!«

Mutter zieht mich am Ärmel und zischt: »Spinnst du, so in der Stadt zu reden?«

»Du hast angefangen!«, schieße ich zurück.

»Und du musst natürlich gleich wieder übertreiben, genau wie dein Vater immer!«

»Lass bloß Papa aus dem Spiel!«

Kapitel 3

Mit einer Tasse selbstgekochtem Kakao und einer aufquellenden Semmel im Bauch liege ich auf meinem Sofabett und warte darauf, dass Janine mich zum Teenie-Kreis abholt. Obwohl ich gerade wenig Bock auf gutmütig lächelnde Gottesanbeter hab. Aber schlimmer als die Nazis von vorhin können die auch nicht sein. Immerhin hat der Vorfall auch was Gutes: Die Punkerin hat mich wahrgenommen! Und nicht nur das, die Punks haben mich in ihre Mitte genommen, als wär ich eine von ihnen. Dieses Gefühl, als der Nazi »Zecke« zu mir sagte, war unbeschreiblich. Als würde ich plötzlich wo hingehören. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer hab, was das bedeuten soll. Punks sind Zecken, so viel hab ich schon mitbekommen.

Zu gerne würde ich die Punkerin kennenlernen. Hätte Mutter nicht dazwischengefunkt, dann wären die vielleicht noch bei mir sitzengeblieben, und ich hätte mich mit denen unterhalten. Ich fantasiere schon, wie ich nach der Schule mit der Punkerin und ihren Kumpels auf dem Marktplatz abhänge. Aus dem Ghettoblaster läuft laut Punkmusik, Bierdosen kreisen, und die Spießer und Nazis hassen uns für unsere bloße Existenz. Janines Klingeln reißt mich aus meinen Träumereien.

Keine halbe Stunde später finde ich mich im örtlichen Jugendkeller inmitten eines Sitzkreises wieder, ohne Musik und ohne Bier. Ich halte die Hand von Janine zu meiner Rechten und einem Jungen namens Leo zu meiner Linken. Leo hängen die Haare ins Gesicht, und seine Hand ist ein bisschen feucht, aber er lächelt mir freundlich zu wie die anderen Christen auch. Genau wie Janine trägt er so ein gelbes Bändchen ums Handgelenk. Das steht für keinen Sex vor der Ehe. Janine hat vorhin stolz verkündet, dass sie sich für den Richtigen aufheben will. Oder für Jesus, so genau hab ich nicht zugehört.

Janine und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten. Wir haben alles zusammen entdeckt, in der Grundschule gemeinsam unsere ersten Liebesbriefe formuliert, zusammen zum ersten Mal im Freien übernachtet und bis wir dreizehn waren, begeistert mit Janines Riesenlöwen »erstes Date« gespielt. Mal war der Plüschlöwe mein Verehrer und holte mich zur Disco ab, mal lag er auf Janine beim Petting, die unter seinem Gewicht leise stöhnte. Da hat sie auch beim ersten Date direkt rumgemacht, aber jetzt so heilig tun!

Der Jugendwart der freikirchlichen Gemeinde, ein gutmütiger Hippie mit Vollbart, stimmt mit dröhnender Bassstimme ein Lied an. Alle außer mir singen mit. Für einen kurzen Moment komme ich mir doof vor, dass ich den Text nicht kann, irgendwas mit Segen und Gnade. Janine hat die Augen geschlossen, ein paar andere auch. Verstohlen schaue ich mich um, wo der Alkohol versteckt sein könnte. Immerhin soll das hier doch eine Party sein. Ich hätte nicht schlecht Lust, ausgerechnet heute meinen ersten Rausch zu erleben, das Gesinge macht mich ganz gaga. Aber zu meinem Leidwesen kann ich keine Flaschen entdecken. Nach zwei Stunden Singen und Beten ist der Treff jedenfalls vorbei, ohne dass etwas getrunken wurde.

Mit Janine und einem Christenmädchen im Schlepptau trete ich den Heimweg an. Janine scheint ihre innere Mitte gefunden zu haben, denn sie quasselt unaufhörlich von Gott und dem Sinn, den er ihrem Leben gegeben hat.

»Bis vor Kurzem wollte ich mich noch schminken, rauchen und mit Jungs rummachen«, erklärt sie ungefragt. »Heute weiß ich, dass ich das alles nicht brauche.«

»Wieso?«, frage ich trotzig.

»Weil Gott mich so nimmt, wie ich bin!«

Das andere Mädchen nickt zustimmend. »Gottes Liebe haut mich echt um!«