Kult war nicht geplant - Peter Illmann - E-Book
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Kult war nicht geplant E-Book

Peter Illmann

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Beschreibung

Peter Illmann prägte als Moderator der bis heute unvergessenen Sendungen »P. I. T.«, »Peters Pop Show« und vor allem der legendären Musiksendung »Formel Eins« eine ganze Generation. Illmann war neben Gottschalk DIE Stimme der 1980er Jahre und stellte mit Sprüchen wie »Ich bin für alles bereit, aber zu nichts zu gebrauchen« eine unvergleichlich sympathische Nähe zu seinem Publikum her. In diesem Buch verarbeitet Peter Illmann nicht nur Autobiographisches, sondern präsentiert auch bis dato unbekannte Geschichten aus der Medienwelt – inklusive Anekdoten aus der Prominentenszene. Er setzt sich mit gesellschaftlichen, sozialen, politischen und technischen Entwicklungen der damaligen Zeit auseinander und stellt sie späteren Entwicklungen gegenüber, nimmt sie kritisch unter die Lupe und bewertet sie in seinem ihm ureigenen Tonfall.

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Seitenzahl: 394

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Peter Illmann

Kult war nicht geplant

Sehnsucht 80er: Lebensgefühl, Popmusik, Videoclips – Ein Blick hinter die Kulissen ­gestern und heute

Biografie

Contents

Der Junge aus dem Pott

Winnetou, Edgar Wallace und Marschmusik

Eigentlich weiß ich, was ich will – aber irgendwie auch wieder nicht

Der kleine Rebell

Ganz neue Erfahrungen

Ich bin dann mal weg – und das möglichst oft!

Statt Bundeswehr ins Kloster

Berlin – statt Studium ins Studio

Wieder in München – wer nichts wagt, gewinnt auch nichts

Bayern 3: Gottschalk ist auch nur ein Mensch, aber was für einer!

Plötzlich Radiomoderator

Fernsehen – von der »schwebenden Jungfrau« auf den Schrottplatz

»Formel Eins« – in den Startlöchern

»Formel Eins« – los geht’s!

»Formel Eins« – Kommerz und Avantgarde

Plötzlich prominent – aber nicht bei allen

Bekannt zu sein ist schön, aber manchmal auch nicht!

»Formel Eins« – manchmal brannte die Hütte

Der »nette Junge« konnte auch böse sein

Ein Auto wird zerlegt – die kuriosen Preise bei »Formel Eins«

Eine Misere wird zum Glücksfall – Madonna und andere Stars bei »Formel Eins«

Wo ist Peter?

Gay in the 80s – gar nicht so einfach

Spaß im Studio und die erste Live-Moderation

Telefonzelle statt Smartphone

Veränderungen

Manfred Schmidt – der große Zampano

Primetime im ZDF

»P.I.T. – Peter Illmann Treff«

Alles anders, alles besser?

Die ganz große Bühne in Dortmund:»Peters Pop Show«

»Peters Pop Show« – jede Menge Weltstars!

Musik und Zeitgeist

Werner Veigel – ein Nachrichtensprecher wird Popstar

Viele Menschen, Schlamm und Musik – Rocksommer in Deutschland

Begegnung mit einer Legende: Willy Brandt

»P.I.T.« on Tour – aus dem Studio in die Disco

»P.I.T.« international – ich entdecke die Welt

Brasilien – ein Traumland wurde zum Alptraum

Welcome to Miami!

Israel, Land der Gegensätze – Soldaten können sehr nett sein

Reisen bildet – das sagte schon Goethe und er hatte recht

Die frühen 1990er – es geht nicht wirklich weiter

»Espresso« weckt die Lebensgeister

Die 2000er – im Osten viel Neues: Arbeit beim MDR

Der ungeahnt schwierige Weg zur Samstag-Abend-Show

Freizeit, Reisen und Besuche bei den Gottschalks

Back to the roots – zurück zur »Formel Eins« bei Kabel Eins

Schauspielerei – ich hab es mal versucht

Mein Coming-out – BamS sei Dank?!

Wichtige Leute – und solche, die sich dafür halten

»Formel Eins« lässt mich nicht los – gut so!

Zurück in die Gegenwart

Ein etwas längerer Epilog

Danksagung

Der Autor

Landmarks

Cover

Illmann, Peter: Kult war nicht geplant. Sehnsucht 80er: Lebensgefühl, Popmusik, Videoclips – Ein Blick hinter die Kulissen ­gestern und ­heute. Biografie mit Klaus Marschall. Hamburg, Charles Verlag 2021

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-948486-53-2

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ISBN: 978-3-948486-51-8

Lektorat: Kristina Frenzel,Berlin

Korrektorat: Sabrina Hirsch, Ober-Ramstadt

Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: © Harry Stahl, HarryStahlFotografie.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Charles Verlag ist ein Imprint der Bedey und Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

© Charles Verlag, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

www.charlesverlag.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie werden sich fragen, was Sie in diesem Buch erwartet. Dieselbe Frage habe ich mir vor dem Schreiben auch gestellt. Ich habe einfach mal angefangen. Mein Leben und meine Karriere waren eine Art Leitfaden. Ich möchte Ihnen ein wenig von meinen Höhen und Tiefen erzählen, die Sie in anderer Form vielleicht auch erlebt haben.

Wie war es hinter den Kulissen von »Formel Eins«, dieser inzwischen kultigen Musiksendung? Wie waren die vielen Stars wirklich, die in meiner ZDF-Sendung »Peters Pop Show« auftraten? Wie gaben sich die Prominenten, wenn ich sie während der Sendung »P.I.T.« traf?

Das sind einige Themen des Buches. Ich möchte aber auch die Zeit der 1980er ein wenig porträtieren. Warum sind viele Menschen so begeistert, wenn sie Musik aus diesem Jahrzehnt hören? Waren wir früher wirklich glücklicher und immer gut drauf?

Das Buch soll keine Verklärung der alten Zeiten sein, eher eine Art Hommage und eine Beschreibung des Lebensgefühls aus meiner Sicht. Dem möchte ich die heutige Zeit gegenüberstellen, die für einige meiner Generation anscheinend zu schnell und zu kompliziert geworden ist.

Ich wünsche Ihnen schöne und interessante Stunden beim Lesen!

Ihr

Peter Illmann

Der Junge aus dem Pott

In Dortmund, am Rand des Ruhrgebietes, bin ich geboren und aufgewachsen. Die Bilder, die ich als Kind und Jugendlicher der 1960er- und 1970er-Jahre mit meinem Geburtsort in Verbindung bringe, sind: eine typische Ruhrpott-Stadt mit Zechen und Hochöfen. Da rauchten noch die Schlote und Schimanski – der »Tatort«-Kultkommissar der späteren 1980er-Jahre – hätte sich sehr wohlgefühlt.

Ich wohnte mit meinen Eltern und Opa in einer großen Eck-Wohnung nahe der Innenstadt, nicht weit von der Borussia-Dortmund-Hochburg Borsigplatz entfernt. Mein Vater arbeitete als Elektriker beim alles beherrschenden Eisen- und Stahlkonzern Hoesch. Dieser erwirtschaftete Mitte der 1960er-Jahre milliardenschwere Umsätze und beschäftigte mit knapp 50.000 Menschen zu der Zeit ein Fünftel der in Dortmund erwerbstätigen Bevölkerung.

Der »Shareholder Value«, also der Unternehmenswert, war in den 1960er- und 1970er-Jahren zugunsten der sozialen Verantwortung eines Konzerns noch nicht so wichtig. Hoesch mietete zum Beispiel zur Weihnachtszeit die gesamten Westfalenhallen für die Belegschaft, schmückte sie aufwendig und veranstaltete Kinderfeste, an die ich mich noch lebhaft und begeistert erinnere. Alles war dekoriert mit künstlichem Schnee, der Nikolaus erschien in opulenter Montur und jedes Kind erhielt einen Riesenkasten mit Lebkuchen und allerlei weiteren Naschereien. Wohlgemerkt: Die Angestellten und Arbeiter von Hoesch zahlten dafür NICHTS! Darüber hinaus wurden für die Arbeiter, Angestellten und Direktoren der unteren bis mittleren Rangstufen Wohnungen und Häuser gebaut, verbilligt vermietet und auch bewirtschaftet. Die meisten befanden sich in der Nähe der Firma, so auch unsere Wohnung.

1991 kaufte der Krupp-Konzern (heute thyssenkrupp) im Prozess einer feindlichen Übernahme Hoesch auf. Heute steht thyssen­krupp selbst kurz vor der Pleite – vielleicht die späte Rache der »Hoeschianer«?

Damals jedenfalls prägte die Firma Hoesch Dortmund, aber das Wesentliche, an das ich mich erinnere, ist der zeitweilige Gestank durch die Abgase der Kokerei. Darüber machte sich aber keiner groß Gedanken, denn das waren die Begleiterscheinungen der Industrie und damals ganz normal. Heute würde wohl sofort der Katastrophenschutz angerufen, denn gesund waren diese Emissionen mit Sicherheit nicht. Auch die völlig ungefilterten Autoabgase bekümmerten niemanden. Das Wort »Umwelt­bewusstsein« gab es noch gar nicht und damit auch keinerlei Reglementierungen. Es war eben die »gute alte Zeit«, nach der sich heute viele zurücksehnen, obwohl sie gar nicht so gut war. Und doch ist diese Nostalgie manchmal durchaus nachvollziehbar.

In meiner Kindheit war unser Wohnviertel sozial sehr durchmischt: Vom Hoesch-Direktor in der Villa bis zum einfachen Arbeiter in der Zwei-Zimmer-Wohnung waren alle vertreten. Es existierten mehrere Metzgereien, Bäckereien, Lebensmittel­läden, sogar ein Fischgeschäft, Schreibwaren und Elektroartikel gab es auch. Dort kauften dann alle ein und so stand der leitende Angestellte neben der Frau des Eisengießers im Laden.

Ganz besonders erinnere ich mich an unseren Milchladen um die Ecke: Er wurde von zwei schrulligen älteren Schwestern (zumindest nahm man das an) geführt, Sophie und Katrin, wobei sie sich »Soffie« mit Betonung auf dem O und »Kattrin« mit Betonung auf dem A aussprachen. Aus heutiger Sicht überlege ich: Eigentlich waren die beiden ihrer Zeit weit voraus, waren vielleicht gar keine Schwestern, sondern öko-orientierte Lesben. Wer weiß? Sie verkauften Käse und Milch ohne Verpackung. Jeder Kunde musste mit seiner eigenen Kanne vorbeikommen und die Milch aus einer Zapfanlage abfüllen lassen. In den 1970ern erschien das rückständig, denn Milch wurde zunächst in Plastik­schläuchen (bei denen beim Aufschneiden schon mal etwas auf dem Hemd landete) und dann in Tetra Paks verkauft. Doch nach der Devise »Vorwärts in die Vergangenheit« gibt es heute wieder Bio-Märkte, in denen Milch und auch vieles andere ohne ­Verpackung verkauft wird, soweit die strengen EU-Gesundheitsgesetze dem nicht Einhalt gebieten. Damals ging es darum, Kosten für die Verpackung zu sparen, heute geht es um die Umwelt, aber das Ergebnis ist das gleiche.

In unserem Elektro-Geschäft konnte man damals noch vieles reparieren lassen. Auch das ist heute wieder sehr gefragt, verschiedene Initiativen möchten so der Wegwerfgesellschaft entgegenwirken.

Dortmund war zu meiner Kindheit vielfältiger, als es heute ist: Fünf Groß-Kaufhäuser in der Innenstadt zeugten von der hohen Wirtschaftskraft. Dortmund stand in der Tradition einer Hansestadt und war »die Stadt der weltberühmten Biere«. Von München war auch in dieser Hinsicht noch keine Rede. Borussia Dortmund war nur eines von vielen Themen in der Stadt. Heute dagegen geht ohne Fußball in Dortmund gar nichts mehr: Ich habe das Gefühl, alles ist schwarz-gelb. Borussia ist die neue Identität meiner Heimatstadt. Überall sehe ich Fanshops, Restaurants bieten »Borussenteller« an. Mich wundert, dass der Bahnhofsvorplatz noch nicht in »Jürgen-Klopp-Platz« umbenannt worden ist. Ich habe nun wirklich nichts gegen Fußball, aber wenn sich eine Stadt nur noch darauf fixiert, ist mir das ein wenig viel des runden Leders.

Wie sieht es heute in der Wohngegend meiner Kindheit aus? Fast alle Geschäfte und Läden sind verschwunden. Ich war tatsächlich entsetzt und ein wenig traurig, als ich 2020 das letzte Mal in Dortmund war: Die Häuser in meiner Straße wecken Assoziationen zu Endzeitfilmen wie »Mad Max«: ramponierte Eingangs­türen, abgebrochener Putz und windschiefe Blend­läden an den Fenstern, die mit teilweise zerbrochenem Glas in den morschen Rahmen hängen.

Ein Dönerimbiss, ein heruntergekommener Supermarkt, viel mehr ist da nicht mehr. Die Situation der Ghettobildung in der Nordstadt ist für viele Dortmunder frustrierend und bildet den Nährboden für die rechte Szene, die im Vorort Dorstfeld aktiv ist. Die gutgemeinte Idee des »Multikulti« ist manchmal leider fehlgeschlagen.

© Privat

hier bin ich aufgewachsen, so sieht es heute aus

Die Missstände treffen nun – Gott sei Dank! – nicht auf ganz Dortmund zu. Auf dem Gebiet des ehemaligen Stahlwerks in Hörde ist der Phoenix-See entstanden, ein Wohn- und Naherholungsgebiet für die Städter, eine kleine Dortmunder Côte d’Azur mit Booten und Uferrestaurants. Allerdings sollte man sich beim Segelsetzen auf den Jollen beeilen, sonst ist man bereits am anderen Ufer des Sees angekommen.

Winnetou, Edgar Wallace und Marschmusik

Mich zog es schon als Junge mehr ins Kino und vor den Fernseher. Oft ging ich in die »Kronenlichtspiele«, ein Kleinkino direkt bei uns um die Ecke. Dort liefen alle angesagten Filme. So wurde Pierre Brice als Winnetou für mich der Held meiner Kindheit und ist es bis heute ein Stück geblieben. Immer wenn ich Martin Böttchers Filmmusik höre, schließe ich die Augen, denke an endlose Steppen, Edelmut und Gerechtigkeit – und an die ­unbequemen Holzsitze in meinem Eckkino. Meine ersten Alpträume hatten auch hier ihren Ursprung: Da man in kleinen Kinos damals schon froh um jeden Besucher war, sah man großzügig über das Mindestalter bei Filmen hinweg. So konnte ich als Zehnjähriger »Im Banne des Unheimlichen« schauen und mich vor der roten Kutte im Film »Der Mönch mit der Peitsche« gruseln. Ich habe alle Edgar-Wallace-Filme gesehen und als ich viele Jahre später Joachim Fuchsberger kennenlernte, war er für mich immer noch der mutige Inspektor Higgins von Scotland Yard.

Mit Kino kannte ich mich also ganz gut aus, aber beim Fernsehen war das zunächst etwas anderes: Meine Eltern fanden die Anschaffung eines Fernsehgerätes bis in die 1970er-Jahre hinein unnötig und so musste ich mich auf rein akustische Medien beschränken. Schon damals hatte es mir die Musik angetan und ich konnte, bevor ich lesen lernte, die Schallplatten meiner Eltern durch Art des Etiketts und der Schriftform auseinanderhalten. Allerdings war die Musik auf diesen Platten nicht so mein Geschmack: Klassik und Märsche, vom Badenweiler bis zum Radetzky-­Marsch. Abends lauschten meine Schwester und ich als Kinder andächtig dem »Sandmännchen« im Radio, gleich nach dem Bad und vor dem Zubettgehen.

Für einen Sechsjährigen war das ja okay, aber später in der Schule war das fehlende Fernsehgerät dann doch ­problematisch. Ich konnte als Einziger nicht viel mitreden, was am letzten Abend »Wichtiges« im Fernsehen gesendet worden war. Doch es gab ja noch Frau Hein, unsere Nachbarin: Da konnte ich dann wenigstens »Flipper« und »Die kleinen Strolche« sehen. Irgendwann erbarmte sich mein Opa und schenkte uns einen Fernseh­apparat. Aber ein Gerät für drei Generationen – da waren Schwierigkeiten vorprogrammiert: Meine Eltern schauten gerne Shows, meine Schwester Gisela Tierfilme, ich am liebsten Krimis wie »Mit Schirm, Charme und Melone«.

Diana Rigg als Emma Peel, karatekämpfend im engen sexy Leder­dress, galt damals nicht unbedingt als kindgerecht. So konnte ich Mrs. Peel und John Steed nur heimlich sehen, wenn meine Eltern außer Haus waren – leider viel zu selten! Bis 2017 spielte Diana Rigg die schrullig-witzige Lady Redwyne in »Game of Thrones«. Als ich sie dort als 74-Jährige sah, dachte ich noch oft an das Mädchen in Lederkluft aus meiner alten Fernsehzeit zurück. Mit dem Budget einer Folge »Game of Thrones« hätte man die damaligen Serien wohl noch 20 Jahre lang produzieren können. Im September 2020 starb Diana Rigg und ich trauerte ihr und meiner Fernsehzeit mit dieser großartigen Schauspielerin hinterher.

In meiner Kindheit war vor allem der Samstagabend dem Fernsehen im Familienkreis vorbehalten, doch der spannendste Film, die beste Show hatten um viertel vor zehn ihr Ende – oder zumindest eine Unterbrechung. Dann kam mein Opa ins Zimmer und wollte die Ziehung der Lottozahlen sehen. Jedweder Protest half nichts, er hatte uns den Fernseher geschenkt und fühlte sich im Recht. Gewonnen haben wir beim Lotto allerdings nie.

Da meine Eltern es eher vorzogen, abends zu Hause zu bleiben, haben wir meistens zusammen ferngesehen. Längst nicht alles hat mir da gefallen. Aber »Einer wird gewinnen« mochte ich gerne, vor allem den Anfang der Show: »Kuli« (Hans-­Joachim Kulenkampff) plauderte ironisch-witzig-sarkastisch über alles, was in letzter Zeit passiert war. Damit war er seiner Zeit als eine Art »Stand-up-Comedian« weit voraus und überzog seine Sende­zeit immer um mindestens 30 Minuten.

Eigentlich weiß ich, was ich will – aber irgendwie auch wieder nicht

Mich selber zog es nie sonderlich ins Rampenlicht, mit Ausnahme meiner Geburtstage, die ich für meine Gäste zu Quiz- und Ratespiel-Nachmittagen umfunktionierte. Ich selbst war der Moderator! In akribischer Kleinarbeit erstellte ich einen Laufplan – mit Lösungen für mich, ohne Lösungen für die Gäste –, tippte ihn anschließend auf der Schreibmaschine und es entstand ein Unterhaltungsprogramm wie in einer Fernsehshow, bei dem ich mich prächtig amüsierte (bei meinen Gästen war ich mir da nicht immer so sicher). Sendungen wie »Dalli Dalli« dienten entfernt als Orien­tierung. Allerdings dachte ich bei meinen Kinder­geburtstagen nie auch nur im Geringsten daran, dass ich später einmal Showmaster oder Moderator im Fernsehen sein würde. Das lag so weit im Unmöglichen, dass ich nicht einmal davon träumte.

Auch ein selbst geschriebenes Hörspiel zählte zu meinen Ausgeburten schöpferischer Tätigkeiten. Mein ganzer Stolz war ein Tonbandgerät mit drei Bandgeschwindigkeiten im Vertikal­betrieb! Damit nahm ich nicht nur die aktuellen Hits aus dem Radio auf, sondern produzierte besagtes Hörspiel. »Die Formel« hieß es und war ein Krimi um eine ominöse Geheimformel. Freunde, Verwandte, alle mussten eine oder mehrere Rollen sprechen. Das Problem war: Keiner genügte meinen hohen Ansprüchen. Besonders die falsche Betonung nervte mich furchtbar. Ich weiß noch genau, wie ich in gefühlter Endlosschleife der Schwester eines guten Freundes erklärte, dass es nicht »Ich bin auf die Terrasse geGAngen« heißt, sondern »Ich bin auf die TerRAsse gegangen«.

Falsche Betonung macht mich auch heute noch rasend. Überhaupt Sprache: Da bin ich etwas empfindlich. Warum wird so vieles in Relativsätzen gesagt: »Klimapolitik, die ist heute wichtig« – warum nicht einfach: »Klimapolitik ist heute wichtig«? Und wieso werden Namen inzwischen fast immer mit Artikel versehen: der Peter, die Claudia? Aber ehe ich hier zum altklugen Lehrer mutiere, komme ich zurück auf die Hörspielproduktion meiner Kindheit.

Mein Tonbandgerät war für damalige Verhältnisse durchaus aufwendig, hatte sogar bescheidene Trick- und Mischtechnik. So arrangierte ich in mühevoller Kleinarbeit die Texte meiner Hörspiel-­Protagonisten mit Musik, Geräuschen, die ich von speziellen »Effekt-Platten« übernahm, und Außenatmosphären, die ich gesondert aufzeichnete. Das Ganze wirkt heute natürlich ziemlich dilettantisch, aber ich bin trotzdem stolz darauf und hüte das Werk als verborgenen Schatz auf einer Kassette, ganz weit hinten im Schrank.

Als Junge zog es mich also schon zu Arbeiten im Medien­bereich, ohne dass ich das benennen konnte. Ich habe versucht, Leute zu unterhalten. Aber anders als Hape Kerkeling wollte ich nicht unmittelbar im Mittelpunkt stehen, auf Familienfeiern den Clown geben, das war nicht meine Sache. Im Gegenteil, in der Schule zeichnete ich mich eher durch Schüchternheit und Zurückhaltung aus. Ich meldete mich wenig, was mir die Lehrer als Faulheit auslegten. Vielleicht stimmte das sogar, aber Phlegma klingt weniger gut als Scheu. Die Ausnahme bildete nur der Deutschunterricht, als in späteren Schuljahren Theaterstücke oder Romane interpretiert wurden. Das weckte im Gegensatz zu den anderen in der Klasse meine Aufmerksamkeit und lockte mich aus der Reserve. Nicht selten bestand die Stunde dann aus einem bloßen Zwiegespräch zwischen dem Lehrer und mir.

Bis heute bin ich im privaten Bereich keineswegs derjenige, der im Mittelpunkt stehen will. Das wundert vielleicht einige, wenn man bedenkt, mit welch großem Selbstvertrauen ich den Zivildienst in einer mir völlig fremden Stadt antreten und mit welcher Chuzpe ich mir Eintritt in die ehrwürdigen Flure und Zimmer meines zukünftigen Arbeitgebers verschaffen sollte. Dieses unter­schiedliche Auftreten hat so manche Fernseh­redakteure zweifeln lassen, ob ich auf der Bühne oder vor der Kamera bestehen könnte, wenn sie mich rein privat kennenlernten.

Ich werde immer erst dann aktiv, wenn ich etwas unbedingt will oder wirklich etwas zu sagen habe. Vor der Kamera ist es mein Job, den ich gerne mache. Im Privaten sind es oft politische Diskussionen, die mich zum wortgewaltigen Verfechter einer Sache werden lassen. Das kann dann schon mal heftig werden; meine Freunde wissen, wovon ich rede.

Alle Arten von Selbstdarstellung sind mir ziemlich zuwider, was in meinem Job manchmal zu Schwierigkeiten führt. Der Gang über den roten Teppich oder Posing für die Fotografen ist für mich ein notwendiges Übel, das zum Job gehört. Auf der Bühne oder im Studio fühle ich mich wohl, aber danach muss ich nicht unbedingt zur Aftershow-Party, da gehe ich lieber essen im kleinen Kreis oder lege die Füße im Hotelzimmer hoch.

Vielleicht tue ich mich auch deshalb ein wenig schwer mit Social Media. Nachdem heute im TV- und Filmbereich danach besetzt wird, wie viele Follower bei Instagram der- oder diejenige hat, kann man als »Person des öffentlichen Lebens« kaum noch ohne Posts auskommen. Manchmal macht es ja auch Spaß, etwas mitzuteilen: Als ich nach 30 Jahren Tina Turner wieder getroffen habe, als Schnee auf Mallorca gefallen war – das habe ich dann gerne bei Instagram gezeigt. Aber 80 Prozent der Posts, die ich so lese, sind völlig überflüssig. Auch bei guten Freunden interessiert mich herzlich wenig, ob sie gerade Sushi essen oder am Strand liegen. Ich bin da noch sehr konservativ, ich rede lieber mit den Leuten und lasse mir berichten, was sie erlebt haben. Deshalb poste ich selber relativ wenig, was aber bei vielen auf Unverständnis stößt. Noch weniger interessiert mich bei Facebook & Co, wie relativ fremde Menschen ihren Tag verbringen, und deshalb ist mir auch der Berufsstand des Influencers ein Rätsel. Na ja, ich gebe zu, da bin ich auch nicht die Zielgruppe.

Der kleine Rebell

Statt Geltungsbedürfnis war meine Lebenseinstellung schon immer eine andere: ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und der Drang, gegen den Strom zu schwimmen und mich nicht anpassen zu müssen. Manchmal hatte das durchaus seltsame Auswüchse: Auf meinem Gymnasium und in meinem gesamten Umfeld gab es politisch eigentlich nur die SPD. »Willy wählen« war 1972 auf jedem Sticker, jedem Button zu lesen. Willy Brandt war das politische Idol schlechthin! Und was tat ich? Ich besuchte die ­Junge Union und nähte mir ein CDU-Emblem auf die Jacke – nicht aus politischer Überzeugung, sondern nur aus Oppositionsgeist. Die daraus folgenden Diskussionen und Anfeindungen habe ich durchaus genossen, es ging mir nur darum, zu provozieren und die einheitliche Meinung in meinem Umfeld durch Argumente infrage zu stellen. Eine Karriere bei der Jungen Union habe ich dann aber doch ausgeschlagen und politisch war ich schon kurz darauf anders orientiert.

Diese rebellische Aufmüpfigkeit hatte, so glaube ich, ihren Ursprung schon in meiner Kindheit. Ich habe eine ziemlich grauenvolle Erinnerung, die mich nachhaltig an jeder Art von Autorität zweifeln und dagegen aufbegehren ließ: Weil ich ein Lungen­leiden hatte, schickten mich meine Eltern auf ärztliche Anweisung im Alter von sechs Jahren für mehrere Wochen in das Ludgeri-Stift, ein Kindererholungsheim auf Norderney, das von Nonnen geleitet wurde. Schlagen gehörte zwar nicht zum Repertoire, jedoch zahlreiche andere unmenschliche, erniedrigende Maßnahmen. Die sogenannten »Liegekuren« verlangten zum Beispiel, eine gefühlte Ewigkeit regungslos auf dem Bett zu liegen. Wehe, man rührte ein Glied! Oder die Essensvorschriften: Jedes Kind hatte seinen Teller vollständig zu leeren. Bis wirklich alles aufgegessen war, musste man am Tisch sitzen bleiben, manchmal mehrere Stunden. Das traf mich öfter und die ­Abneigung gegen Milchreis mit Zimt und Zucker sowie Spinat ist mir von damals geblieben. Die Nonnen wollten uns Kinder demütigen, um uns zu brechen. Dabei waren die Schwestern doch im Namen der Nächstenliebe und Barmherzigkeit unterwegs! Bleibt nur das Urteil: Glauben verfehlt! Das einzig Positive war: Meine Lungen hatten sich durch die gesunde Nordseeluft erholt.

Ein weiteres Überbleibsel jenes Horroraufenthaltes auf Norderney ist meine stark ausgebildete Aversion gegen alles Anstaltsartige. Ob nun Krankenhaus, Kinderheim, Jugendherberge – überall, wo sich viele Menschen den Regeln institutionalisierten Lebens unterordnen müssen: Das weckt in mir traumatische Vorstellungen. Auch ein Kuraufenthalt würde für mich einer Katastrophe gleichkommen. Zum Glück bin ich dem bis jetzt entkommen.

Meine sehr liberale und offene Einstellung zum Leben wurde sicherlich durch das Gymnasium geprägt. Bildungschancen für alle Gesellschaftsschichten, das war die Devise meiner Schule. Im Einstein-Gymnasium setzte sich die Schülerschaft zu 90 Prozent aus Kindern und Jugendlichen zusammen, die aus einem Haushalt nichtakademischen Ursprungs stammten. Sprich: Das System war sehr durchlässig. Auch die Lehrer waren progressiv, vielfach eher politisch links, was ich damals aber nicht wirklich registrierte. Sie achteten sehr stark darauf, dass den Kindern aus Arbeiterfamilien die gleichen Bildungschancen eingeräumt wurden wie jenen aus wohlhabenderen Verhältnissen. Leider ist die Tendenz der gesellschaftlichen, sozialen Gerechtigkeit im Bildungssektor heute wieder stark rückläufig (Stichwort Privatschulen). Ja, ein paar Dinge liefen früher tatsächlich besser!

Ganz neue Erfahrungen

Was Sexualität und sexuelle Orientierung betrifft, war ich im Vergleich zu meinen Freunden ziemlich spät dran. Die sexuelle Freizügigkeit war in den 1970ern noch nicht so weit ­fortgeschritten wie in den 1980ern. Als 15-jähriger Junge hatte noch nicht jeder eine Freundin, geschweige denn Sex. Aber Interesse war natürlich schon da, nur nicht bei mir! Ich blätterte in der »Bravo«, las Dr. Sommers Sexualberatung und schaute mir Fotos von Jungs an. Dass ich das tat, weil ich sie attraktiv fand, kam mir aber überhaupt nicht in den Sinn. »So einen Waschbrettbauch hätte ich auch gerne« oder »So eine Frisur würde mir auch stehen« waren meine Gedanken beim Anschauen der Bilder. Homo­sexualität existierte nicht in meiner Welt, ich konnte sie nicht ablehnen oder annehmen, ich kannte sie schlicht und ergreifend nicht. Erst mit etwa 15 Jahren bemerkte ich bei meinen besten Freunden, dass sie Interessen hatten, die mir bis dahin verborgen waren. Irgendwann haben wir uns dann sehr lange unterhalten und mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Ja, ich bin auch schwul!

Damit fing für mich ein ganz anderes Leben an. Wir zogen gemeinsam durch einschlägige Bars in Dortmund und Umgebung, in denen wir die Altersbeschränkung nur knapp überschritten: die »Rote Marlene«, das »Sidi« und später als Höhepunkt alle paar Monate das »Pimpernel« in Köln am Rudolfplatz, seit 1972 eine der ersten Großdiskotheken für Schwule. Köln war für mich die große Welt! In dieser Zeit sah ich zum ersten Mal Travestieshows: Auf winzigen Bühnen traten »Damen« mit grellem Make-up und Paillettenkleidern auf. Sie hießen »Gaby Lurex« oder »Coco La Fontaine« und stellten Zarah Leander, Shirley Bassey oder Caterina Valente dar. Die »Damen« agierten ­völlig übertrieben und ihre Nylonstrümpfe waren mitunter schon etwas löchrig, aber ich war total fasziniert. Seitdem verstehe ich, warum viele Schwule von den glamourösen Diven auf Bühne und Leinwand begeistert sind, auch wenn ich nie den Drang verspürte, selber eine solche darzustellen.

Ich war damals ungeheuer beeindruckt von dieser neuen Welt, die für mich kurz zuvor noch im Dunkeln gelegen hatte. Es war wie das Aufwachen aus einem Dämmerzustand. Ich nahm auch das tägliche Leben mit ganz anderen Augen wahr: Die Lehrerin unserer Schauspiel-AG lebte zusammen mit ihrer Freundin, der »Star-Schauspieler« unserer Theateraufführung war nicht nur sehr hübsch und extrovertiert, er war – schwul! Und jeder wusste das oder ahnte es zumindest. Probleme oder Anfeindungen gab es deswegen überhaupt nicht, was ich aus heutiger Sicht durchaus bemerkenswert finde.

Inzwischen ist Homosexualität in vielen Gesellschaftsbereichen kein großes Thema mehr, aber die Diskriminierung, vor allem in »Brennpunkt«-Schulen, hat eher zugenommen. Durch Religion und Konservatismus geprägte Elternhäuser, nicht nur der Zuwanderer, färben auf die Kinder ab. Wenn ich höre, dass an einigen amerikanischen Schulen Darwins Evolutions­theorie geleugnet wird und fundamentale Christen, Moslems und Kreationisten Schulbücher umschreiben lassen, bekomme ich Angst. In diesen Lehren ist jegliche sexuelle Abweichung von der althergebrachten Norm Teufelswerk und wird als Krankheit geahndet. Insofern bin ich sehr froh über den Gesetzesentwurf von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gegen Konversions­therapien, der die »Heilung« homosexueller Kinder unter Strafe stellt.

Der sehr links-liberale Geist unseres Gymnasiums machte sich in den 1970ern auch durch große Toleranz bemerkbar. Allerdings gingen die meisten von uns »Andersorientierten« auch nicht gerade mit dem Thema unserer sexuellen Ausrichtung hausieren, nicht etwa aus Angst, aber die Offenheit war in dieser Zeit noch nicht so groß.

Die Freunde aus meiner Schulzeit sind auch heute noch meine besten Freunde, in einen habe ich mich damals zum ersten Mal verliebt – und er ist heute mein Ehemann. Da ich ihn möglichst oft sah, blieb es nicht aus, dass sich auch unsere Eltern kennenlernten. Sie verstanden sich gut und fuhren sogar gemeinsam in den Urlaub. Keiner im Familienkreis kam auf die Idee, zu hinterfragen, ob die Freundschaft der Söhne das »normale« Maß überstieg. Mein Vater wollte zwar ab und an wissen, wie das denn nun sei mit einer Freundin, aber meine Mutter erwiderte dann meistens: »Ach, Wolfgang, nun lass doch den Jungen, er hat doch noch Zeit!« Im Nachhinein denke ich, meine Mutter wusste über mich Bescheid, aber geredet wurde darüber nie, was für mich in Ordnung war. Alles lief sehr entspannt ab, doch Sexualität war nie ein Thema. Selbst die erste »Aufklärung« bekam ich als Junge von meiner älteren Schwester. In den 1970er-Jahren gab es eben in vielen Familien Tabuthemen, und Sexualität gehörte auf jeden Fall dazu. Auch heute wird sicher nicht in jeder Familie völlig freizügig über Sex geredet, aber zumindest Aufklärung ist oft nicht mehr nötig. Das erledigen die Medien und meist wissen die Kinder über Sex besser Bescheid als ihre Eltern.

Ich bin dann mal weg – und das möglichst oft!

In den letzten Jahren auf dem Gymnasium verbrachte ich möglichst viel Zeit mit meinem Freund, aber richtig glücklich und frei waren wir in den Ferien. Schon damals teilten wir die Sehnsucht nach fernen Ländern, anderen Kulturen. Der erste Urlaub in England, ein Sprachaufenthalt in Gastfamilien, war eher nicht exotisch, aber dann sah ich in einem Reiseprospekt von Neckermann eine Traumreise: Malindi, ein Küstenort am Indischen Ozean in Kenia, damals ein kleines Fischerdorf mit ein paar wenigen Hotels, 14 Tage Vollpension für 1.000 Mark! Das war sehr viel Geld und wirklich wohlhabend waren unsere Eltern nicht. Also hieß es: arbeiten für den Traumurlaub!

In einer Dosenfabrik in Dortmund haben mein Freund und ich drei Wochen lang Bleche gestanzt, zusammengeschnürt und fertige Dosen verpackt. Das war harte Arbeit, auch wenn der uns vorgesetzte Meister uns das Leben etwas erleichterte. »Macht euch nicht kaputt für das bisschen Geld, Jungs!« war sein Tipp. Er empfahl uns auch, möglichst früh um 6 Uhr die Stechuhr zu drücken und sich dann, bis die Vorgesetzten gegen halb 8 kamen, noch ein wenig auf einem alten Sofa in der Umkleide auszu­ruhen. Wenn es ging, haben wir uns daran gehalten.

Im Jahr unseres Abiturs begann dann unsere erste Fernreise nach Afrika, das damals, Ende der 1970er-Jahre, noch völlig unberührt vom großen Tourismusboom war. Nach zwei Zwischenlandungen in Athen und Dschidda kamen wir in Kenias Küstenstadt Mombasa an, wo es nur einen kleinen Flughafen mit Holzbaracken und sehr kurzer Landebahn gab. Dann ging es mit einem kleinen klapprigen Reisebus weiter die Küste entlang. Die Anreise an sich war schon ein Abenteuer: holprige Landstraßen, Flussüberquerungen auf Holzfähren und endlich das Traumhotel am Meer, das Eden Roc in Malindi. Schneeweißer Strand, Open-air-Restaurant, livrierte Kellner – für uns gerade 18-Jährige in den 1970ern war das der ultimative Luxus. Wir waren mit Abstand die jüngsten Gäste, denn welcher Jugendliche gab schon sein ganzes Geld für einen Urlaub aus? Wir konnten uns sogar noch eine dreitägige Safari in den Tsavo-Nationalpark leisten. So sahen wir zum ersten Mal Elefanten, Nashörner und Löwen in freier Wildbahn. Die wohlhabenden älteren Europäer in unserer Reise­gruppe hielten uns wohl für Söhne reicher Eltern und ahnten nicht, dass wir uns den Aufenthalt quasi vom Munde abgespart hatten.

Das Interesse an fernen Ländern und anderen Kulturen ist bei mir und meinem Freund bis heute geblieben. Wenn möglich brechen wir alle zwei Jahre zu einer mehrwöchigen Reise auf. Kuba, Sri Lanka, Bali, Thailand oder Australien, die Liste ist lang. Allerdings bin ich nicht so sehr der Naturbursche, der mit Zelt und Schlafsack durch die Wildnis zieht. Land und Leute möchte ich kennenlernen, aber danach ein schönes Hotel mit Wellness ist schon wichtig, ich gebe es zu. Mein Freund und ich haben ein besonderes »Hobby«, was kaum jemand nachvollziehen kann: Wir schauen uns überall Hotels an, auch die, in denen wir nicht wohnen. So sind wir richtige Experten geworden und ich kann inzwischen so manchem Hotelmanager Tipps geben, wie er ohne viel Geld einiges in seinem Haus verbessern könnte.

Statt Bundeswehr ins Kloster

Nach dem Ende der Schulzeit hatte ich ganz andere Probleme: Es drohte die Einberufung zur Bundeswehr. Für mich war klar, Dienst an der Waffe kam nicht infrage, ich musste den Wehrdienst verweigern. Das war Ende der 1970er-Jahre noch eher die Ausnahme und bedeutete einen regelrechten Spießrutenlauf, um die diversen Gewissensprüfungen zu bestehen. Möglicher­weise verdankte ich meine Entschlossenheit einfach der Unerschrockenheit der Jugend, aber vor allem den abstoßenden ­Geschichten, die mir von den autoritären, hierarchischen Strukturen der Bundeswehr berichtet wurden: Vorgesetzte, die ­sinnlose Befehle gaben, nur um Untergebene zu demütigen, Ordnung und Disziplin um ihrer selbst willen. Für mich wäre das die Hölle gewesen, auch wenn ich weiß, dass Armeen leider immer noch notwendig sind.

Mein Vater hätte meinen Dienst in Uniform durchaus gerne gesehen. Das war nicht einer Faszination für das Militär, sondern der Überzeugung geschuldet, dass einem jungen Mann die Vermittlung von Disziplin und Ordnung gut zu Gesichte stünde, was rückblickend – selbstkritisch betrachtet – möglicherweise nicht falsch gewesen wäre. Allerdings verstand er meinen Standpunkt und machte sich daran, die seinerzeit erforderliche schriftliche Stellungnahme seitens der Eltern zu verfassen, in der er meinen Antrag auf Wehrdienstverweigerung argumentativ unterstützte. Das fiel ihm sicherlich schwer, aber er hat es gemacht.

Die an ein Kreuzverhör erinnernde Gewissensüberprüfung absolvierte ich ohne Angst. Selbst die gebräuchliche ­provokante Frage »Was würden Sie tun, wenn jemand vor Ihren Augen Ihre Mutter tödlich bedroht?« beantwortete ich souverän mit: »Wissen Sie, das kann ich mir so wenig vorstellen, dass ich das theoretisch nicht beantworten kann. Wenn ich in der Situation bin, werde ich mich entscheiden. Aber zum jetzigen Zeitpunkt kann ich es Ihnen nicht sagen.« »Ja, aber Sie müssen doch …!«, begann die Gegenseite zu insistieren, was ich mit »Nein, kann ich nicht« konterte. Was nun auch immer den Ausschlag gab, weiß ich nicht, aber ich wurde vom Wehrdienst befreit.

Die »Gewissensprüfung« zur Vermeidung der Bundeswehr hatte ich also erfolgreich bestanden, nun war die Frage: Wo mache ich meinen Zivildienst? Eigentlich fühlte ich mich ganz wohl in Dortmund, aber das war die Chance auf etwas mehr Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Freiheit. Eine andere Stadt, eigenes Zimmer, weg von den Eltern!

»Geh doch nach Köln oder Düsseldorf, da ist mehr los als im Ruhrgebiet«, meinten einige Freunde. Aber mich zog es weiter weg. Warum es nun München sein musste, weiß ich auch nicht ganz genau. Vielleicht war es das Image als »heimliche Hauptstadt« mit Charme und Boheme, Optimismus und Lebens­freude. In München lebten viele Künstler, vom Schlagerstar Jürgen Marcus über bekannte Schauspieler wie Senta Berger bis hin zu meinem Regie-Idol Rainer Werner Fassbinder. Fast alle großen Filme wurden durch die Bavaria Film GmbH produziert (Babelsberg war damals noch in den Händen der DEFA in der DDR) und selbst die Krimiserien im deutschen Fernsehen spielten meist in München (»Der Kommissar«, »Derrick« etc.).

Vor allem aber gab es das Oktoberfest! Nicht, dass ich auf das Bier aus war, was ja für die meisten das Wichtigste auf der Wiesn ist. Das lernte ich erst später zu schätzen. Schon als kleiner Junge hatten mich die Fahrgeschäfte fasziniert, die Atmosphäre des Rummels. Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen zählten die Besuche auf der Cranger Kirmes in Wanne-Eickel, auch heute noch eine Institution. Mein Traum war schon damals, Sprecher bei der »Raupe« zu sein: »Zusteigen, Anteil nehmen, die nächste Fahrt rückwärts!« Das habe ich nie geschafft, aber Fernseh­moderator geht ja ein wenig in die Richtung: Ich spreche in ein Mikrofon, die Leute hören zu und haben hoffentlich Spaß.

Wenn eine Stadt das größte Volksfest der Welt auf die Beine stellt, kann dort zu leben ja auch nicht ganz schlecht sein. Klingt aus heutiger Sicht etwas naiv, aber so war mein Gefühl und manchmal sollte man Gefühlen einfach vertrauen. Also ließ ich mir vom Zivildienstamt Adressen für mögliche Stellen in München schicken. Von dieser Liste wollte ich mir zwei genauer ansehen, und das hieß: Auf nach München!

Dort musste ich erst mal ein günstiges Zimmer zum Übernachten bekommen. Im Internet nachschauen, Zimmer in City­lage, möglichst günstig, das ging damals leider noch nicht. Manchmal frage ich mich, wie ich vor den Zeiten des Internets überhaupt Hotels und Urlaube gebucht habe. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit: Ich griff zum Telefon.

»Grüß Gott, Fremdenverkehrsamt München! Wie kann ich Ihnen helfen?« Die freundliche Dame mit leicht bayerischem Akzent weiß wohl bis heute nicht, dass sie mich in meinem Entschluss für München sehr bestärkt hat. Das war doch etwas anderes als ein eher ruppiges »Verkehrsamt Bottrop, was gibts?«. Nicht falsch verstehen, ich weiß als Dortmunder die nüchterne, direkte Sprechweise in NRW durchaus zu schätzen. Und dass sie nicht immer unfreundlich gemeint ist, versteht sich auch. Aber beim Münchener Akzent ging für mich irgendwie verbal die Sonne auf, in einigen anderen Teilen Deutschlands versteckt sie sich dagegen eher in Nebelschwaden und man muss sie erst suchen.

Der Zivildienst war dazu gedacht, der Gesellschaft etwas zu geben. Aber irgendetwas sollte mir das auch bringen, dachte ich. Somit hatte ich mir als Erstes das Haus International ausgesucht. Dieses Jugendhostel gibt es auch heute noch in der Elisabethstraße in München. Mit Jugendlichen aus der ganzen Welt zu tun zu haben, das erschien mir interessant. Meine Arbeit sollte allerdings mehr eine Art Hausmeisterstelle sein und mit meinen zwei linken Händen wäre das nicht so ideal gewesen. Außerdem strahlte mein Ansprechpartner dort das Gegenteil von Münchener Leichtigkeit aus, er wirkte einfach nur bräsig und unfreundlich. Wieder einmal hörte ich auf mein Bauchgefühl und sagte Nein.

Die zweite Adresse war die Abtei St. Bonifaz in der ­Karlstraße, mitten in der Stadt. Diese Wahl ist vielleicht erstaunlich nach meinen schlechten Erfahrungen mit einem von Nonnen geführten Kinderheim auf Norderney. Ich bin zwar katholisch getauft, aber sehr viel hatte ich mit der Kirche eigentlich nicht am Hut. Die Benediktinerabtei gehörte zum bekannten Kloster Andechs am Ammersee (ja, das mit dem wunderbaren Bier aus einer der wenigen unabhängigen echten Klosterbrauereien). Das ­deutete auf eine gewisse Weltläufigkeit hin, aber auch hier war nicht das Bier der Grund meiner Entscheidung. Es war vor allem der damalige Abt Odilo Lechner, der mich mit seiner ruhigen, intellektuellen und auch einfühlsamen Art begeisterte. ­»Dilatato Corde – mit weitem Herzen« war sein Wahlspruch aus der Benediktinerregel, den er wirklich beherzigte und lebte. Odilo Lechner hielt Vorträge, schrieb Bücher zu religiösen, spirituellen und esoterischen Themen und wurde zu einem der bekanntesten und angesehensten Theologen Bayerns. Er war aber auch verantwortlich für den Wirtschaftsbetrieb Andechs mit besagter Brauerei, die ihre Spezialitäten in alle Welt verkaufte. Abt Odilo hatte einen Dienstwagen mit Chauffeur und eine Sekretärin, die ich in einem Klosterbetrieb eher nicht vermutet hätte.

Neben der Abtei und der Basilika war ein Veranstaltungs­zentrum gebaut worden. Hier finden bis heute kirchliche und kulturelle Veranstaltungen statt: Vorträge, Diskussionen, Film- und Lichtbilderabende. Das sollte meine Wirkungsstätte als Zivildienst­leistender sein: Gäste begrüßen, Events organisieren, Saal und Räume für den jeweiligen Zweck herrichten. Hörte sich interessant an, das war das Richtige!

Die Stelle und auch eines der Zimmer im Studentenheim der Abtei waren allerdings noch für zwei Monate von meinem Vorgänger besetzt und so wollte man für mich übergangsweise eine andere Lösung finden. Die sah dann folgendermaßen aus: Ich sollte Pater Benedikt, dem Leiter der umfangreichen Kloster­bibliothek, zur Hand gehen. Hätte auch interessant sein können, war es aber nicht. Ich musste jedes einzelne Buch aus dem Regal nehmen, mit einem Staubsauger vom Staub der Jahrzehnte befreien, abwischen und wieder zurückstellen. Bei der enormen Größe der Bibliothek sah ich mich schon monatelang diese doch sehr gleichförmige Arbeit verrichten und eine etwas schlechte Stimmung machte sich bei mir breit. Diese wurde durch meine Unterbringung in einem Klosterzimmer noch verstärkt: ein schmaler, hoher, weiß gestrichener Raum, schon etwas vergilbt, in dem sich ein Bett, ein alter Schrank und an der Wand ein Holzkreuz befanden – nicht gerade gemütlich.

Mittags nahm ich zunächst am Essen der Glaubensbrüder teil. Abgesehen von Gebeten wurde geschwiegen. Immerhin waren die Speisen ziemlich gut. Am schlimmsten war es abends in der Abtei: Ab etwa 20 Uhr herrschte Totenstille und ich ging durch hohe, kalte Gänge, vorbei an Heiligenbildern und Kreuzen, in mein Zimmer. Gruselfilme, die in alten Klöstern spielten, waren ständig in meinem Kopf und hinter jeder Ecke vermutete ich den von Pfeilen durchbohrten Heiligen Sebastian oder andere grausam zugerichtete Märtyrer. Der Film »Der Name der Rose«, den ich Jahre später sah, drückt genau diese Stimmung aus.

Um wenigstens mein Zimmer etwas wohnlicher zu gestalten, hatte ich eine grandiose Idee: Ich zog eine Art Zwischendecke aus rosa Krepppapier ein. »Das sieht doch eh keiner«, dachte ich mir. Falsch gedacht: Als ich vom Weihnachtsaufenthalt bei meinen Eltern zurück nach München kam, hatte man mein Zimmer neu gestrichen. Die Krepppapierdekoration war verschwunden, dafür bemerkte ich ein mitleidig-wissendes Lächeln bei ­einigen der Klosterbrüder. Angesprochen hat mich aber nie jemand darauf.

Eigentlich wollte ich Silvester mit Freunden zusammen feiern, aber da machte mir der Abt einen Strich durch die Rechnung: Über die Feiertage weilten alle Klosterbrüder aus St. Bonifaz im Kloster Andechs. Dort, am Fuße des »Heiligen Berges«, wurde meditiert, gebetet, aber auch gefeiert. Der dunkle Andechser Doppelbock wurde auch von seinen Machern durchaus geschätzt, wie ich später erfuhr. Ich war also »allein zu Haus’« oder vielmehr in der Abtei. Morgens gab ich Suppe an Bedürftige aus, hatte Telefondienst, besetzte die Klosterpforte oder wanderte allein durch die völlig verlassene Abtei. Man hatte also durchaus Vertrauen in mich gesetzt und das habe ich auch nicht enttäuscht. Aber es waren etwas gespenstische Abende, mitten in der Stadt und doch völlig einsam, denn verlassen sollte ich das Haus nicht. Immerhin hatte ich ein Fernsehgerät zur Verfügung.

Zum Glück endete diese Phase und alles wurde, wie versprochen, besser. Mein Freund kam zu Besuch, ich zog in ein Zimmer im Studentenwohnheim, hatte sogar ein eigenes Bad und meine Tätigkeit wurde so, wie ich sie mir vorgestellt hatte: Ich bereitete Veranstaltungen für (Dia-)Vorträge vor, bei denen Forschungsreisende von fernen Ländern berichteten, es gab (Klavier-)Konzerte mit jungen Künstlern oder Diskussionen um kirchen­politische Themen.

Beim Neujahrsempfang, der erst Mitte Januar stattfand, lernte ich auch den neuen Erzbischof von München und Freising kennen: Joseph Kardinal Ratzinger. Niemals hätte ich gedacht, dass dieser sehr ruhige, schüchterne Mann ohne große Ausstrahlung und mit etwas schlaffem Händedruck später Papst Benedikt XVI. werden würde.

Alles in allem war der Zivildienst im Kloster St. Bonifaz für mich eine schöne Zeit, in der ich auch einiges gelernt habe. Die Klosterbrüder setzten sich aus den intellektuellen Patres und den eher von geistiger Schlichtheit geprägten Fratres zusammen. Es gab auch in dieser Gemeinschaft Streitigkeiten und Skurrilitäten, über die ich vom Ministranten Georg immer bestens und in amüsanter Weise informiert wurde. Trotzdem war es insgesamt ein harmonisches Zusammenleben, eigentlich das, was heute von vielen, die dieser hektischen Zeit zu entkommen versuchen, ersehnt wird. Statt buddhistische Erkenntnisse in Asien zu suchen, wäre es vielleicht gar nicht so schlecht, für ein paar Tage Einkehr in einem hiesigen Kloster zu halten, ganz unabhängig von der Glaubensfrage.

Das hat sogar Campino von den »Toten Hosen« für sich entdeckt und verbringt des Öfteren eine Auszeit in der Abtei Königs­münster in Meschede. »Ich brauchte einen Ort, an dem ich mich auf die wichtigsten Dinge konzentrieren konnte«, sagte Campino. Inzwischen ist er mit dem Abt sogar befreundet. Als ich die »Toten Hosen« kennenlernte, hätte ich eine Beziehung zur Kirche eher nicht vermutet. Aber wie war das mit der Weisheit des Alters?

Der Zivildienst damals und ein »freiwilliges Jahr« heute, welches immer wieder im Gespräch ist, werden ja nicht nur als Dienst an der Gesellschaft verstanden. Diese Zeit soll auch dazu dienen, dass man sich überlegt, wohin denn der (berufliche) Weg im Leben führen soll. Was diese Entscheidung betrifft, hat mir die Zeit relativ wenig genutzt: Das Ende des Zivildienstes war in Sicht und was aus mir werden sollte, war mir nicht wirklich klar.

Berlin – statt Studium ins Studio

Psychologie fand ich recht interessant und hatte mich deshalb auf die Warteliste für dieses Studienfach setzen lassen, denn auch hier herrschte eine Numerus-Clausus-Hürde, die ich knapp unterschritt. Im Nachrückverfahren bekam ich tatsächlich einen Platz — in Berlin! Der Vorteil der Jugend ist, dass mein gesamtes Hab und Gut in einen normalen PKW passte. Wenn ich heute so meine in Jahrzehnten angesammelten Habseligkeiten sehe, wünsche ich mir das manchmal zurück und weiß, warum Marie Kondo so viel Erfolg hat. Die Bestsellerautorin und Beraterin hat das Aufräumen und Entsorgen von Dingen zu ihrem Lebensmotto gemacht und verspricht sich und ihren Fans damit einen Ausgangspunkt für innere Ordnung. Danach suche ich bis jetzt noch vergeblich.

Eine Wohnung in Berlin zu bekommen war damals nicht so schwierig wie heute. In der Courbièrestraße in Schöneberg wurde ich fündig. Um es kurz zu machen: Glücklich bin ich in Berlin nicht geworden. Der Studiengang Psychologie war im naturwissenschaftlichen Bereich angesiedelt, nicht im geisteswissenschaftlichen. Er hatte mit dem menschlichen Geist, wie ich mir das vorstellte, wenig zu tun. Es ging mehr um Tierversuche und Tierverhalten.

Also fuhr ich immer seltener zu den Vorlesungen. Meine »freie Zeit« brachte mich allerdings zum ersten Mal mit dem Medium Fernsehen in Kontakt. In einer Bar namens BiBaBo lernte ich Stefan kennen. Mein erster »Kontakt« in Berlin! Und Stefan »machte« die große Eröffnungsshow der Funk­ausstellung mit dem Stargast Liza Minnelli. Wenn ich einen Nebenjob suche, könne er mich da jederzeit unterbringen, verkündete Stefan. Für mich die erste Lektion in Sachen Fernsehen: Alle sind immer »die Größten, die Tollsten und die Besten«, zumindest verbal. Mein Freund Stefan war eigentlich nur Aufnahmeleiter und ­wollte mich, wie das so oft im Fernsehgeschäft passiert, vor allem beeindrucken. (Nicht böse sein, Stefan! Ich weiß, du hast mir damals sehr geholfen.) Liza Minnelli habe ich nicht kennengelernt, aber immerhin durfte ich als Kabelhilfe bei einer der damals beliebtesten Shows im deutschen Fernsehen arbeiten: »Zum Blauen Bock«. Die IFA-Sondersendung kam live aus dem Internationalen Congress Centrum Berlin.

Früher bin ich immer aus dem Wohnzimmer geflüchtet, wenn diese Sendung lief, aber live dabei zu sein war etwas ganz anderes. Vor allem der Moderator Heinz Schenk hat mich beeindruckt: Er war längst nicht so spießig, viel offener, als er im Fernsehen wirkte. Schenk war auch ohne Kamera sehr witzig. Ein ausgewachsener Elefant spielte in der Sendung mit und Schenk meinte im breitesten Hessisch: »Das Tier scheißt mir die ganze Bühne voll. Ich trinke erst mal einen Äbbelwoi. Den Dreck von der Bühne könnt ihr dem Produzenten, der sich den Unsinn ausgedacht hat, vor die Tür stellen!« Wer musste wohl mithelfen, die Bühne zu säubern? Wir Kabelhilfen! Als Kabelhilfe ist man ganz nah bei den Stars, direkt neben der Kamera – und doch ganz weit weg, denn wir bildeten die unterste Stufe in der Hierarchie der Studios. Wir mussten nur aufpassen, dass die (damals noch monströsen und schweren) Kameras nicht über ihre eigenen Kabel fuhren.

Bei der Funkausstellung in Berlin sah ich das erste Mal, dass Fernsehen und Wirklichkeit zwei unterschiedliche Dinge sind: Ein Gast beim »Blauen Bock« war Nachrichtensprecher Werner Veigel. In der Tagesschau war er stets der seriöse Herr in Sakko und Krawatte, doch in Berlin erlebte ich ihn ganz anders. Er begrüßte hinter der Bühne seine Freunde, junge Männer ganz in Leder. Dass Werner Veigel schwul war, hatte ich geahnt, jetzt wusste ich es. Und sympathisch war er auch noch. Das habe ich aber erst später bemerkt, als ich ihn besser kennenlernte.

Auch Heinz Schenk, Profi durch und durch, fügte sich in die lockere Stimmung ein. Schenk war einer der wenigen Fernsehstars, die von ihrem Beruf loslassen konnten. Als der »Blaue Bock« vorbei war, machte er das, was er immer schon geliebt hatte und was ich sehr gut nachvollziehen kann: Er bereiste die ganze Welt. Nichts mit »Äbbelwoi«-Gemütlichkeit, das gab es bei ihm nur vor der Kamera.

Meine »Karriere« als Kabelhilfe ging auch nach der Funk­ausstellung weiter: bei den Berliner Union-Film-Studios. Von hier wurde »Der große Preis« mit Wim Thoelke gesendet, und so sah ich das erste Mal ein richtiges Fernsehstudio. Die große Illusion, die ich von der Fernsehwelt hatte, bröckelte aber weiter. Die Sendungen liefen immer in der gleichen langweiligen Routine ab: Wim Thoelke kam mit Basecap zu den Proben, die Moderationen bestanden immer aus den gleichen Phrasen, selbst die Positionen der Kameras waren immer dieselben, sodass die Kameraleute meist während der Proben Zeitung lasen. Beim »Großen Preis« gab es kaum Kamerafahrten, und so stand ich meistens ziemlich sinnlos und gelangweilt herum. Aber ich wurde ja dafür bezahlt. Beachtet hat uns Kabelhilfen eigentlich niemand, außer Thoelkes Assistentin Beate Hopf. Sie war immer besonders freundlich zu uns. Vielleicht hatte sie auch mal ganz unten angefangen? Später wurde sie immerhin Unterhaltungschefin des SFB. In ihrem Wikipedia-Eintrag ist als Beruf allerdings immer noch »Fernsehassistentin« angegeben.

Ich hatte einen Ausweis für das Studiogelände, und den wusste ich zu nutzen. Nebenan wurde die »ZDF-Hitparade« mit Dieter Thomas Heck produziert. Nicht, dass ich mit Heck oder deutschen Schlagern besonders viel anfangen konnte, aber die Atmosphäre dort war doch schon sehr aufregend: Jürgen Marcus, Roland Kaiser oder Mireille Mathieu wurden von unzähligen Fans belagert, bevor sie ins Studio kamen. Und es ging etwas lebhafter zu als beim »Großen Preis«.

Das waren meine Highlights in Berlin, aber die Stadt, genauer gesagt West-Berlin, hatte noch nichts vom jetzigen Hauptstadt-Feeling. Es herrschte schläfrige Subventionsmentalität, der Aufbruch fand damals bestimmt nicht hier statt. Das konnte auch vom sehr regen und freien Nachtleben ohne Sperrstunde und dem großzügigen Kulturangebot nicht aufgewogen werden. Die Insellage der Stadt deprimierte mich: aggressive, unfreundliche DDR-Grenzer, wann immer man Berlin verlassen wollte, die Geisterbahnhöfe der U-Bahn in Mitte, schummrig beleuchtete Bahnsteige, durch die West-U-Bahnen im Schritttempo fuhren, beäugt von DDR-Soldaten mit Maschinengewehren. Daran muss ich auch heute noch denken, wenn ich am Gendarmenmarkt aus dem U-Bahnhof komme. Wer die Teilung damals nicht erlebt hat, kann sich die furchtbare Situation kaum wirklich vorstellen. Eine freie Stadt umgeben von Unfreiheit, die jederzeit spürbar war, wenn man in die Nähe der Mauer kam. Ich fühlte mich unwohl, dazu kam meine emotionale Bindung an München, denn alle meine Freunde lebten dort.