Lebensretter mit langen Ohren - Patrick Barrett - E-Book

Lebensretter mit langen Ohren E-Book

Patrick Barrett

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Beschreibung

Die bemerkenswert wahre Geschichte von Patrick Barrett, der mit Gottes Hilfe und durch eine Herde Langohren wieder zurück ins Leben fand. "Jahrzehntelang rettete meine Familie vernachlässigte und ausgesetzte Esel. Ich ahnte nicht, dass die Esel eines Tages auch mich retten würden." Patrick Barrett wuchs auf dem Rücken von Eseln auf. In einem irischen Dorf half der Junge seiner Familie, einen Zufluchtsort für Langohren in Not zu betreiben. Patrick, der in der Schule Schwierigkeiten hatte, fühlte sich nur in der Gegenwart dieser knuddeligen Tiere wirklich angenommen. Er wurde zu einem wahren Eselflüsterer. Als Patrick volljährig war, musste er als irischer Soldat in den Krieg im Libanon und im Kosovo. Er kehrte als gebrochener Mann nach Hause zurück und ertränkte die traumatischen Erlebnisse in Alkohol. Er glaubte, nichts könne ihn mehr retten. Aber da hatte er nicht mit den Eseln gerechnet Eine bewegende Lebensgeschichte wider alle Verzweiflung. Sie ist ein Aufruf zur Hoffnung und offenbart die Schönheit Irlands auf ganz besondere Weise.

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Patrick Barrett

Susy Flory

LEBENSRETTER

mit langen Ohren

Als alles verloren schien,schickte Gott mir einen Esel

Aus dem Englischen von Heide Müller

Über die Autoren

PATRICK BARRETT wuchs in Liscarroll auf, einem kleinen irischen Dorf in der Grafschaft Cork in Irland, wo seine Eltern The Donkey Sanctuary Ireland gründeten. Als Teenager schloss sich Patrick den irischen Streitkräften an und diente von 1998 bis 2003 im Kosovo und im Libanon. Anschließend arbeitete er fast zehn Jahre auf dem Eselhof. Während dieser Zeit veränderte sich sein Leben nachhaltig und der Hof wurde für ihn zu einem Zufluchtsort, wo er wieder zurückfand zur Natur, seinem Land, seiner Familie, zu Gott und der Weisheit der Esel. Seit 2016 arbeitet er als Psychotherapeut und nutzt das, was er bei seiner Arbeit auf dem Eselhof gelernt hat, um Menschen mit PTBS oder Suchterkrankungen zu helfen. 2015 heiratete er seine Jugendfreundin Eileen. Zusammen haben sie fünf Kinder.

SUSY FLORY ist New-York-Times Bestsellerautorin und Co-Autorin von sechzehn Büchern, darunter Held auf vier Pfoten. Susy ist Leiterin der West Coast Christian Writers, einer gemeinnützigen Organisation, die Autorenkonferenzen veranstaltet, und absolviert derzeit einen Master-Studiengang für Neues Testament am Northern Seminary. Mit ihrem Ehemann Robert hat sie zwei erwachsene Kinder und lebt in den Bergen von Kalifornien.

Originally published in English in the U.S.A. under the title:

Sanctuary, by Patrick Barrett and Susy Flory

Copyright © 2022 by Patrick Barrett and Susy Flory

German edition © 2023 by Brunnen Verlag GmbH with permission of Tyndale Publishers. All rights reserved.

Titel der US-amerikanischen Originalausgabe: Sanctuary

© 2022 Patrick Barrett und Susy Flory

Veröffentlicht mit Einverständnis von Tyndale House Publishers, Inc.

Die Bibelzitate sind folgenden Bibelübersetzungen entnommen:

1. Mose 16,12; Jakobus 2,26; Psalm 104,10; Markus 8,22-25: Neue Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft; Genesis u. Exodus © 2020 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, und Brunnen Verlag GmbH, Gießen.

Hiob 39,5: Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

© der deutschen Ausgabe: 2023 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlagfoto: © Adrian O’Neill, staywildimages.com

Fotos im Innenteil: © Patrick Barrett privat; Foto von Patrick Barrett und Susy Flory, Foto Esel (solo) © Marci Seither

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul, Brunnen Verlag

Satz: Brunnen Verlag

ISBN Buch 978-3-7655-3640-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7672-0

www.brunnen-verlag.de

Ich widme dieses Buch dem charakterstärksten undfürsorglichsten Menschen, den ich kenne – meiner Mutter.Ich liebe dich von ganzem Herzen.

Und meiner Seelenfreundin Eileen.Du bist das hellste Licht in meinem Leben, für michder Inbegriff der Liebe. Mit dir ist kein Tag langweilig. Ich liebe dich.

Inhalt

PrologVon Eseln großgezogen

Kapitel einsTräumen mit Jacksie

Kapitel zweiAran, der Ausreißer

Kapitel dreiMams Bein

Kapitel vierTimmy und Tee mit Travellern

Kapitel fünfMein erster Kuss

Kapitel sechsEin Mann wie ein wilder Esel

Kapitel siebenValentinstag

Kapitel achtPenelope und Peanut

Kapitel neunDer Mann im Fenster

Kapitel zehnMam und Dad

Kapitel elfGuinness der Esel

Kapitel zwölfZufluchtsort

Kapitel dreizehnWenn Esel reden

Kapitel vierzehnTiny Tinsel

Kapitel fünfzehnNeue Augen und Nollaig

Kapitel sechzehnDas Mädchen am Fuße des Hügels

Kapitel siebzehnJacksies Lied

Kapitel achtzehnO komm nach Hause

Nachwort

Dank

Über „The Donkey Sanctuary“

Über PTBS

Anmerkungen

PROLOG

Von Eseln großgezogen

Wer hat dem Wildesel die Freiheit gegeben, wer hat seine Fesseln gelöst?

Ich gab ihm die Steppe als Lebensraum, die Salzwüste als sein Gebiet.

HIOB 39,5

Ich bin auf dem Rücken eines Esels aufgewachsen. Als ruheloser Tagträumer, der ich war, liebte ich es, das Land zu durchstreifen – ein Land, das ich erst im Rückblick als Paradies erkennen würde. Wirklich schätzen lernte ich Irland erst, nachdem ich es als Heimat beinahe verloren hatte.

Ich lebe in dem alten Dorf Liscarroll in der Grafschaft Cork ganz im Süden der Grünen Insel. Hier gehöre ich hin. Ich weiß, wer in welchem Haus wohnt und wer früher darin gelebt hat. So geht es allen hier. Unsere jahrtausendealte Geschichte, unsere Legenden und Lieder liegen uns im Blut. Wir sind ein Land von Träumern, die ihre Geschichten bewahren und weitererzählen.

Früher war Munster eines der Königreiche des gälischen Irlands, das von einem rí ruirech – König der Könige – regiert wurde. Mein Namensvetter, der heilige Patrick, brachte das Christentum nach Irland und wirkte mehrere Jahre auch in unserer Gegend. Später kamen erst die Wikinger, dann die Engländer. Jedes Mal wurde viel Blut für die Sache der Freiheit vergossen. Wir Iren sind bekannt für unseren erbitterten Widerstand gegen Unterdrückung jeder Art und wir sind Kämpfer, wenn wir auch nicht jeden Kampf gewonnen haben. Außerdem lieben wir unsere alten Sportarten, unseren Whiskey, unser Erbe, unsere Dörfer und unsere Familien.

Liscarroll war für mich als Kind ein magischer Ort, mit seinem heiligen Brunnen, Tobar Mhuire, der gälische Name für Marienbrunnen. Dorthin brachten die Menschen Zettel, auf die sie ihre Nöte geschrieben hatten, und hofften auf Besserung.

Tief beeindruckt war ich auch von der steinernen Kirchenruine, dem alten Friedhof, in dem unzählige Ahnen begraben liegen, und unserer großen Burg Liscarroll Castle. Sie thront mit ihren vier massiven Rundtürmen am Dorfrand.

Als Junge war die Burgruine mein Abenteuerspielplatz. Hier wurde ich zum Krieger, der siegreich gegen Schurken kämpfte. Ich weiß noch, wie ein Junge aus dem Dorf einmal auf der Burgmauer entlangrannte, hinabstürzte und sich dabei den Knöchel brach. Aber das konnte mich nicht aufhalten, dort weiter herumzutoben. Ich hatte Schlachten zu schlagen!

Zwischen den hügeligen grünen Wiesen rund um das Dorf standen seltsame Baumgruppen, die wir „Feenringe“ nannten. Eichen, Eschen, Haseln, Birken und Weiden waren exakt im Kreis angeordnet. Kein Bauer hätte es gewagt, diese Bäume zu fällen oder die geheimnisvollen Orte irgendwie anzurühren – aus Angst, dass zornige Feen Unheil über ihn bringen könnten.

Dank meiner Mutter erlebte ich eine regelrechte Bilderbuch-Kindheit. Wir lebten auf einem herrlichen Hof inmitten von grünen Hügeln. Moosbewachsene, mit Brombeeren überwucherte Steinmauern durchzogen die Felder. Unser Familienbetrieb mit dem Namen Donkey Sanctuary (Zufluchtsort für Esel) wurde im Laufe der Zeit zu einem Heim für unzählige Langohren. Wann immer mein Vater einen Esel sah, der Hilfe brauchte, brachte er ihn nach Hause zu meiner Mutter.

Ohne meine Mutter Eileen gäbe es keinen Eselhof, darin waren sich alle einig. Sie unterstützte meinen Vater dabei, seinen Traum zu verwirklichen: Eseln in Not einen Zufluchtsort zu bieten. Aber damals war sie für mich schlicht und einfach Mam, eine typisch irische Mutter, stark, unerschrocken und zweifellos das Rückgrat unseres Zuhauses. Bei ihr ging Liebe durch den Magen. Besonders deutlich wurde mir das, wenn es für mich und meine drei älteren Schwestern Debbie, Helen und Eileen ofenfrische Scones gab.

Mam und Dad hatten den Eselhof deshalb eröffnet, weil wir Iren unsere Esel nicht immer so lieben, wie wir sollten. Jahrhundertelang dienten diese originellen Vierbeiner unserem Volk gut und willig. Die Menschen wussten ihre Arbeit zu schätzen: frische Milch zum Milchhof schaffen, Algen vom Strand abtransportieren, Gemüse zum Markt bringen, Heuballen von den Feldern und Torf aus dem Moor holen, Menschen auf ihrem Rücken tragen oder ihre Wagen ziehen. So mancher Esel hatte seinen Besitzer schon sicher nach Hause gebracht, wenn der zu tief ins Glas geschaut hatte und ungeachtet der holprigen Wege seelenruhig im Wagen schlief.

Doch kaum hatte der Traktor in Irland Einzug gehalten, blieb für die Esel nicht mehr viel zu tun. Mit zunehmender Mechanisierung in der Landwirtschaft wurden Tausende von Eseln in ganz Irland nicht mehr gebraucht. Manchmal waren die Leute auch einfach zu alt, sich um sie zu kümmern, oder sie setzten ihre kranken Esel zum Sterben an der Straße aus.

Aber einige dieser Kreaturen hatten das Glück, gefunden und gerettet zu werden, wie mein erster und bester langohriger Freund Aran. Ihm und den anderen Eseln – Timmy, Jerusalem, Penelope und Peanut, Guinness, Tinsel, Nollaig und Jacksie – verdanke ich so viel. Jeder von ihnen zeigte mir etwas über mich selbst und über das Leben.

Jetzt, wo ich älter bin, habe ich erkannt, wie viel ich mit Eseln gemeinsam habe: Auch ich will nicht immer das tun, was man mir sagt. Es ist nicht leicht, einem Esel seinen Willen aufzuzwingen, was wohl der Grund ist, warum sie manchmal misshandelt werden. Sie haben ihren eigenen Kopf und ihre eigene Sicht der Dinge. Zuweilen weigern sie sich zu gehorchen.

Esel sind viel mehr als demütige Lasttiere; sie sind klüger als Pferde, willensstark und ausgesprochen intuitiv. Wenn sie gut versorgt werden, können sie fünfzig oder sechzig Jahre alt werden. Es sind kräftige, widerstandsfähige, loyale Tiere, die hart arbeiten können. Sie leben in großen Herden, bleiben zusammen und sorgen füreinander wie große irische Familien.

Obwohl auch ich meine Herde hatte – eine Familie, die immer für mich da war, und Eltern, die bei meiner Erziehung ihr Bestes gaben –, kam eine Zeit, in der ich meine Familie, die Esel und dieses kleine Eckchen Paradies verließ und vom Weg abkam. Doch mein Herz gehörte dem Eselhof und meine Seele blieb mit dem Felsen ganz oben auf dem Hügel hinter unserem Haus verbunden. Für mich ist das der liebste Ort auf der Welt. Selbst in meinen dunkelsten Tagen trug ich ein Bild des Dorfes mit der Burg und den sanften grünen Hügeln von Liscarroll in meiner Tasche.

Auf unserem Hof fühlte ich mich als Kind zwar irgendwie immer ein wenig im Schatten der Esel; trotzdem weiß ich, dass ich ohne diese schönen, sturen Wesen heute nicht hier wäre. Die Esel waren immer für mich da, sie liebten mich, akzeptierten mich und glaubten an mich, als alle Welt mich schon fast aufgegeben hatte. Ich lernte mit ihnen zu reden und – was noch wichtiger ist – auf sie zu hören.

Ich bin in meinem Leben durch manche Prüfung gegangen. Einige davon habe ich mir ausgesucht und bestanden, andere nicht. Aber ich bin gesegnet, weil meine Mam und mein Dad verlorenen Eseln einen Zufluchtsort boten, ohne zu ahnen, dass dieser Ort auch mich eines Tages retten würde. Die Esel führten mich nach Hause, zurück zu dem zerfallenen steinernen Wachtturm oben auf dem Hügel. Und eines Nachts, als alles verloren schien, begegnete mir dort auf dem Felsen Gott.

KAPITEL EINS

Träumen mit Jacksie

Märchen sind mehr als nur wahr – nicht deshalb, weil sie uns sagen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns sagen, dass man Drachen besiegen kann.

G. K. CHESTERTON

Jacksie ist ein struppiger braun, silber und weiß gescheckter irischer Esel mit einer lauten Stimme und einem breiten, schiefen Grinsen. Seine Mutter wollte ihn nicht, also lebte er fast von seinem ersten Tag an bei meiner Familie und hält sich inzwischen wohl selbst für einen Menschen.

Als Jacksie als winziges, hungriges Fohlen zu uns kam, brauchte er rund um die Uhr alle drei Stunden eine große Flasche Milch. Immer wenn ich mit der Nachtschicht dran war, baute ich um uns herum ein gemütliches Nest aus Stroh und wartete, bis Jacksie seine winzige weiße Samtnase an meiner Hand rieb.

„Na, hast du Hunger? Es ist gleich so weit, Jacksie.“

Ich strecke die Hand aus und streiche ihm über den Widerrist, zeige ihm die Flasche und schüttle sie sanft. Jacksie legt den Kopf schief, sodass sein flauschiger Haarschopf beinahe seine leuchtenden schwarzen Augen bedeckt. Seine Ohren sind fast so groß wie sein Kopf, innen flaumig weiß und an der Spitze so braun, als seien sie in Schokolade getaucht worden. Seine Schnauze ist reinweiß und unter seinen blassroten Lippen sprießt ein Büschel weicher, lockiger Baby-Tasthaare hervor.

Sobald ich mit der Flasche auf ihn deute, legt er die Ohren zurück und stürzt darauf zu, um den Sauger zu fassen und die warme Milch zu schlürfen. Dabei blickt er mir in die Augen. Ich spüre tief in meinem Inneren ein leichtes Kribbeln. So geht es mir bei Jacksie immer.

Er sieht mich als Bruder an. Immer wenn er tagsüber meine Stimme von jenseits des Zauns hört, beginnt er in seiner quiekenden Fohlenstimme zu schreien – das typische I-Aah gelingt ihm noch nicht und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Wenn ich das Gatter aufmache, versucht er, seinen Hals um mich zu schlingen, als wolle er mich umarmen, oder knabbert mit seinem Zahnfleisch an meinem Arm. Er möchte einfach zu meiner Herde gehören.

Wenn die Flasche halb leer ist, machen wir eine Pause und lauschen den anderen Eseln auf unserem Hof. Hunderte von ihnen pflegen in den Scheunen ihre nächtlichen Rituale. Manche stehen die ganze Nacht im Stroh und kauen abwechselnd ein wenig Heu oder ein paar Körner, bevor sie im Stehen das nächste Nickerchen halten. Andere legen sich hin und schlafen fest ein, zucken ab und zu mit den Beinen und träumen vermutlich davon, an Sonnentagen über sattgrüne Wiesen zu galoppieren. Wieder andere sind eher ruhelos und immer irgendwie in Bewegung, horchen und beobachten, stehen Wache und rufen warnend I-Aah, wenn sie auf den Feldern das heisere Bellen eines Fuchses hören.

Jacksies Ohren heben sich ein wenig und zucken, während er den Herden lauscht. Eines Tages wird er dazugehören.

Als Jacksies Magen sich allmählich füllt und er nur noch langsam schluckt, sinken seine weichen grauen Lider. Seine Augen sind schwarz umrandet und an beiden Enden ausgestellt, als hätte ihn ein ägyptischer Maskenbildner mit Kajal bemalt. Ein schmaler Streifen weißen Fells und dünne, silbrige Wimpern säumen die schwarze Linie.

Die Wärmelampe über mir wirft einen rosigen Schein. Ich ziehe meine Jacke aus und lege mich zurück ins warme Stroh. Jacksie geht auf die Knie und kauert sich zusammen, den Rücken an meine rechte Seite geschmiegt. Als seine Nase wieder auftaucht, lege ich den Arm um seinen Kopf und halte die Flasche genau im richtigen Winkel, dass er die letzten paar Tropfen heraussaugen kann.

Auch meine Augen werden schwer. Während ich auf die Flasche schaue, streift mein Blick die leicht erhabene Narbe, die sich in Form eines Halbkreises über meinen rechten Unterarm zieht. Dann schlafe ich mit Jacksie ein. Als die Flasche aus meiner Hand ins Stroh rollt, fange ich an, von einem dunkelhaarigen Jungen zu träumen. Ich weiß, dass ich es selbst bin, aber es kommt mir trotzdem so vor, als würde ich einen Film schauen, und ein Junge bin ich schon lange nicht mehr.

Ich stehe auf einem Felsblock, dem höchsten Punkt eines grünen Hügels, und spüre, wie mir der Wind durchs Haar weht. Der Felsen weist zum Himmel und die kleine ebene Fläche oben ist mein Lieblingsplatz auf dieser Erde. Meine Großmutter, die im Bruchsteinhaus am Fuße des Hügels wohnt, sagt, der Felsen sei der Überrest eines steinernen Wachtturms, der vor langer Zeit zerstört wurde. Nun bin ich also auf Beobachtungsposten und schaue hinunter auf die Straße, die mitten durchs Dorf verläuft.

An einem Ende sehe ich die mächtige Burgruine – ein großes graues Rechteck mit einem massiven Turm in jeder Ecke, erbaut aus Kalkstein vom alten Steinbruch, der zum Hof meiner Großmutter gehört. Ich stelle mir Scharen irischer Krieger in dunkelgrüner Tunika und dunklen Lederstiefeln vor, in der einen Hand einen Schild aus Eichenholz, in der anderen ein blitzendes Schwert, womit sie die Dorfbevölkerung gegen Eindringlinge verteidigen. Eines Tages möchte ich einmal genauso mutig und stark sein.

Aber im Moment ist mein tapferes Ross kein starkes Kriegspferd. Nein, es ist ein kleiner Esel mit tonnenförmigem Rumpf, grauen und weißen Flecken im Fell, wuscheligen Ohren und gedrungenen Beinen. Er heißt Aran und lebte früher bei einem alten Mann, der sich nicht mehr um ihn kümmern konnte. So landete er schließlich auf unserem Hof.

In meinem Traum trabt Aran auf den Felsen zu. Ich springe herunter, falle ihm um den Hals und schwinge mich auf seinen Rücken. „Los, Aran!“ Er galoppiert ein bisschen, dann bleibt er stehen und schnappt sich ein paar Grashalme. Ich beuge mich über seinen Hals und lege die Arme um ihn. Er ist der allererste Esel, mit dem ich mich angefreundet habe. Wenn ich einsam bin, kommt er zu mir. Wenn ich Angst habe, tröstet er mich. Wenn ich das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden, sieht Aran mich. Wir sind seelenverwandt.

Ich gleite von seinem Rücken und gemeinsam gehen wir Seite an Seite den Hügel hinunter. Es wird allmählich dunkel. Mam wird sich schon Sorgen machen. Sie erwartet uns bereits am Tor, führt Aran in den Stall und nimmt mich zum Abendessen mit ins Haus. Mam hat einfach ein Händchen für Esel. Das sagt jeder. Sie spricht ihre Sprache und bringt sie dazu, ihr zu gehorchen.

Zurück in der Wirklichkeit, schrecke ich vom Schreien eines Esels in einer der anderen Scheunen auf. Jacksie rührt sich neben mir, raschelt im Stroh, schmiegt sich ein wenig näher an mich und wärmt meine Seite. Sein Atem wird langsamer und er schläft wieder ein.

Diesmal bleibe ich wach, falle dann aber in eine Art Halbschlaf und jetzt habe ich keinen schönen Traum.

Ich bin in einer Großstadt, rings um mich Betonbauten und gepflasterte Straßen, auf denen Autos vorbeibrausen. Die Luft ist staubig und stickig, es weht kein Lüftchen und es duftet nicht nach Gras. Menschen gehen an mir vorüber, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Als sei ich unsichtbar. Ich gehe weiter, aber überall sieht es gleich aus. Weit und breit nichts als heruntergekommene alte Gebäude.

Ich bleibe stehen und betrachte in einem Schaufenster mein Spiegelbild.

Wer bist du?

Wo ist der sorglose Junge vom Felsen geblieben? An seiner Stelle schaut mich ein Mann aus glanzlos schwarzen Augen an.

Was ist nur los mit dir?! Warum ist alles so verkorkst?

Ich schüttle den Kopf und fahre mir mit der Hand übers Gesicht, dann schaue ich wieder mein Spiegelbild an. Ein tiefer Schmerz ergreift mich.

Warum bekommst du dein Leben nicht in den Griff?

Ich möchte laut schreien, aber ich weiß: Wenn ich einmal angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Ich erkenne kaum noch das Gesicht im Fenster. Was ich einst war, habe ich verloren; in mir ist Finsternis, um mich herum nichts als dunkle Schatten.

Was für ein unerträglicher Anblick! Ich balle meine rechte Hand zur Faust, hole aus und schlage mit aller Kraft auf das große Fenster ein. Das Glas springt und das Spiegelbild des Mannes mit den trüben Augen zerbricht.

Wieder rührt sich neben mir das Eselfohlen Jacksie, wälzt sich und reibt seine Stirn an meinem Arm. Ich streichle ihm über Hals und Ohren. Nun bin ich ganz wach, bereit, wieder ins Haus zu gehen und in mein eigenes Bett zu kriechen.

Ich decke seine langen, schlaksigen Beine mit Stroh zu und lasse ihn friedlich schnarchend in seinem warmen Nest liegen. Sicher träumt er davon, mit der Herde über grüne Weiden zu toben. Ich mache mich auf den Weg zurück zu meiner eigenen Herde.

KAPITEL ZWEI

Aran, der Ausreißer

Ein guter Freund ist wie ein vierblättriges Kleeblatt; schwer zu finden, doch welch ein Glück, ihn zu haben.

IRISCHES SPRICHWORT

Als ich mit Dad aufbrach, um Aran abzuholen, wusste ich noch nicht, dass ich gleich meinen ersten und gleichzeitig besten Freund kennenlernen würde. Ich war damals sieben Jahre alt und begleitete meinen Vater nicht nur gern bei seiner Arbeit. Für mich war es allein schon ein Abenteuer, mit ihm zusammen in unserem grünen Jeep mit Rolls-Royce-Anhänger – einer Spende an den Eselhof – über die Straßen zu holpern.

Irlands Straßen sind von alten Bruchsteinmauern gesäumt, an denen Weinreben, Margeriten, Wildrosen, Fingerhut und Glockenblumen wachsen. Dahinter erstrecken sich grüne Wiesen mit sonnengelben Kreuzkrautbüscheln. An manchen Stellen reichen dichte Wälder bis an die Mauern, links und rechts. Die Baumkronen sind oft über die Straße hinweg ineinandergewachsen, sodass es im Auto dunkel wird, wenn man in einen solchen Blättertunnel fährt. An anderen Stellen wuchert leuchtendes Moos und manchmal sogar dichtes Gras direkt auf der Fahrbahn und man rollt über einen saftig grünen Teppich.

Jeder Autofahrer fährt so schnell wie möglich und ist es gewohnt, Hindernissen geschickt auszuweichen. Seien es wuchtige, knatternde Traktoren mit riesigen Rädern, qualmende Lastwagen, gigantische fahrende Heckenschneider mit langem Schwert, Menschen mit Kindern und Hunden, manchmal auch Pferde mit Reitern oder Schafe. In den Dörfern heißt es dann vom Gas gehen und auf ältere Leute und auf noch mehr Hunde achtgeben. Zudem sind die Straßenschilder nicht immer gut zu entziffern (und oft in Alt-Irisch, auch Gälisch genannt).

Aber das macht nichts. Wer in Irland aufwächst, der hat die Straßen im Kopf. Jeder weiß, wer diesen Laden oder jenes Pub betreibt, weil sie und ihre Familien schon seit Jahrhunderten dort leben (und man selbst sogar mit manchen verwandt ist). Jeder kennt die alten Bruchsteinscheunen, die Cottages, die Ruinen von Türmen, Klöstern und Burgen. Sie alle gehören zur Landschaft wie die Bäume.

Die Menschen, die im Laufe der Jahrtausende in Irland lebten, haben ein Stück von sich selbst und ihrer Geschichte zurückgelassen. Für mich war das ganz normal. So normal, wie mit meinem Dad auf Rettungsmission zu gehen, wenn wieder einmal ein Esel unsere Hilfe brauchte. Das gefiel mir besonders gut – viel besser, als in der Schule zu sitzen, dem Lehrer zuzuhören, dabei aus dem Fenster zu schauen und mich zu unseren Eseln auf die Felder zu träumen.

Nach einer kurzen Fährfahrt bei unruhiger See – der ersten meines Lebens – erblickte ich einen einsamen Esel. Er lebte ganz allein auf einem Feld auf Inishmore, einer der zerklüfteten Aran-Inseln im Atlantik vor der Westküste Irlands an der Mündung der Galwaybucht. Inishmore ist die größte der Aran-Inseln und bekannt für ihre antiken Stätten, wie das auf einer Klippe gelegene prähistorische Fort Dun Aonghasa und das Worm Hole, ein rechteckiges natürliches Becken im Felsen. Auf den Inseln gibt es zahlreiche heilige Stätten – Steinkreuze und Altäre, verfallene Kirchen und Klöster. Auf einem Feld befindet sich ein Brunnen namens St. Ciarain’s Well. Der Überlieferung nach tauchte dort einmal ein riesiger Lachs auf, von dem auf wundersame Weise 150 Mönche satt wurden.

Auf Inishmore lebten mehrere Hundert Menschen meist auf Höfen, die durch flechten- und moosbewachsene Bruchsteinmauern eingegrenzt waren. Als wir an unserem Ziel angekommen waren, führte uns der alte Farmer zu seinem Esel aufs Feld. Ich betrachtete ihn genauer und sah an manchen Stellen seines grau-weiß gefleckten Fells raue, rote Haut hindurchschimmern. Bestimmt hatte er Schmerzen. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als spürte ich seinen Schmerz am eigenen Leib. Beim Anblick der großen offenen Wunde auf seinem Widerrist erschauderte ich.

„Ach, ich weiß gar nicht, woher der Esel stammt“, sagte der Farmer. „Eines Tages ist er einfach hier aufgekreuzt.“ Der ältere Mann in Latzhose und Gummistiefeln sah abgearbeitet aus. Unter seiner Mütze schaute ein eingefallenes, faltiges Gesicht hervor.

Dad sah mich an und ich verstand sofort: Dieser Mann wollte den Esel nur loswerden und nicht an seinem erbärmlichen Zustand schuld sein. Dad wusste, was zu tun war: jeden Streit vermeiden, den Esel so schnell wie möglich in den Anhänger verladen und zu uns auf den Eselhof bringen, bevor der Farmer noch seine Meinung änderte. Die Sicherheit und das Wohlergehen des Esels standen an erster Stelle.

Während Dad mit dem Mann sprach, erkundete ich die Felder auf der Suche nach den Resten einer Burg oder eines Forts, fand aber nur Steine. Als ich zurückkam, untersuchte mein Vater gerade den Esel.

„Was hat er denn, Dad?“ Ich wollte meine Hand nach ihm ausstrecken, ihn berühren und seine Wunden versorgen, ihm aber nicht noch mehr wehtun. Nicht nur seine Haut war übel mitgenommen, er war auch abgemagert und seine Rippen und Hüftknochen standen hervor.

„Ein schlimmes Regenekzem“, flüsterte Dad.

Mein Dad hieß Paddy, ein landläufiger Spitzname für Patrick. Nach ihm bin ich benannt und ich bewunderte ihn. Er konnte unglaublich gut mit Menschen umgehen und wurde anscheinend mit jeder Situation fertig. Ich sah in sein von blondem Haar umrahmtes, rundes Gesicht mit den gütigen grünen Augen, die unter seiner Wollmütze hervorschauten, und vernahm den Schmerz, der aus seiner Stimme sprach.

„Wir müssen sehen, dass wir ihn in den Stall bekommen, damit seine Haut heilen kann.“

Regenekzem ist bei Eseln eine häufige Krankheit. In der rauen Umgebung mit kalten Meereswinden und Regen hatte Arans Fell nie richtig trocknen können und mit den Jahren stark gelitten. Esel stammen aus heißen, trockenen Regionen dieser Erde. Deshalb vertragen ihre Haut und ihr Fell Kälte und Regen nicht so gut. Sie brauchen einen Unterstand. Nur an einem sicheren, trockenen Ort würde dieser Esel wieder gesund werden. Gut, dass wir ihm einen solchen Ort bieten konnten.

„Bist du einverstanden, wenn wir ihn Aran nennen?“

Dad lächelte und nickte.

„Hallo Aran“, sagte ich, um zu hören, wie der Name klang. Wir waren ungefähr gleich groß, und als ich über seinen Hautzustand hinwegsehen konnte, blickte ich in seine dunklen, von seidig silbernem Fell umrandeten Augen. Irgendetwas an ihm und seinen Augen regte meine Fantasie an.

Was bist du denn für einer?, fragte ich mich. Was wohl in dir vorgeht?

Als Aran meinen Blick erwiderte, spürte ich etwas, was ich noch nie zuvor gespürt hatte – ein fast unmerkliches Kribbeln im Herzen, wie winzige elektrische Schläge. Wir waren beide neugierig aufeinander, hatten aber auch ein wenig Angst.

Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, auf ungeahnt tiefe Weise mit Aran verbunden zu sein. Durch seine großen Ohren hörte ich, wie die Wellen an die felsigen Strände der Insel klatschten, und in seiner geschundenen Haut spürte ich die Kälte, die Nässe, die Einsamkeit und das Elend seines Lebens und seiner Tage. Als sähe ich plötzlich die Welt mit seinen Augen. Ich konnte gleichsam in ihn hineinschauen und mich in ihn einfühlen.

Aran war ganz allein gewesen, vergessen von den Menschen, die sich eigentlich um ihn hätten kümmern sollen. Allmählich wusste er schon gar nicht mehr, wie es war, mit Menschen, anderen Eseln oder Tieren zusammen zu sein, abgesehen von den Möwen, die hoch über ihm schwebten. Aran hatte keine Herde.

Das machte mich traurig, da ich wusste, wie wichtig es für Esel ist, Gesellschaft zu haben.

Ich konnte es gar nicht erwarten, Aran besser kennenzulernen und herauszufinden, was es mit diesem struppigen Wesen auf sich hatte. Es gab eine Verbindung zwischen uns und aus dem Kribbeln in meinem Herzen wurde bald ein Gefühl purer Freude.

Der Farmer wirkte erleichtert bei der Aussicht, ihn loszuwerden. Obwohl Aran sich anfangs wehrte, weil er es nicht gewöhnt war, angefasst zu werden, gelang es meinem Vater, ihm ein Halfter anzulegen. Dad hatte immer Karotten, Pfefferminzbonbons oder ein Stückchen Ingwer dabei – Esel mögen den Geruch von Ingwer. Ich sprang in den Anhänger und zog sanft am Führstrick, während Dad ihn von hinten etwas anschob. Aran trottete sofort hinein, als wüsste er, dass ein besserer Ort auf ihn wartete.

Auf dem Heimweg war Aran ganz still, auch als wir mit unserem Jeep samt Anhänger auf die Fähre fuhren und übers Wasser zum Festland tuckerten. Ob er wohl das Rauschen des Meeres oder den salzigen Geschmack des mageren Grases vermissen würde? Ich hoffte, er würde auf dem Hof Freunde finden.

Wir hatten damals etwa sechzig Esel, aufgeteilt auf mehrere voneinander abgetrennte Bereiche auf den Weiden. Da Esel dazu neigen, sich zu überfressen, mussten wir dafür sorgen, dass sie nicht zu viel fettes, süßes Gras bekamen, das sie krank machen würde.

Dad legte ihnen lose Plastikhalsbänder mit ihrem Namen an – den männlichen Eseln rote, den weiblichen gelbe, sodass wir sie leicht auseinanderhalten konnten. Manche hatten bereits Namen, als sie kamen; andere nicht, so wie Aran. Wir benannten ihn nach den Aran-Inseln, wo er herstammte, aber eigentlich geht sein Name auf den Aaron der Bibel zurück und bedeutet „Berg der Stärke“. Mein Aran erinnerte allerdings eher an einen zerfurchten Hügel als an einen mächtigen Berg.

Zuhause angekommen, sah ich zu, wie Dad ihm ein Halsband anfertigte und ihn in die Scheune brachte, wo er nach der Reise ausruhen konnte. Mam kam mit Salben und Sprays, um seine Haut und seine Hufe zu verarzten. Dabei redete sie ruhig mit ihm.

„Komm schon, Junge, das wird schon wieder“, sagte sie und machte ein leises, glucksendes Geräusch. „Komm her. Kopf hoch.“ Sie streichelte ihn weiter, während sie ihn untersuchte, kraulte ihn hinter den Ohren und legte ihren Arm um seinen Hals.

Ich verstand nicht alles, was sie sagte, aber es war ein sanftes, melodisches Murmeln, als singe sie ihm etwas vor. Das brachte mich zum Schmunzeln und ich meine sogar, ich hätte Aran lächeln sehen. Sicherlich gefiel es ihm, von meiner gut riechenden, schönen Mam umsorgt zu werden!

Nach kaum einer Stunde hatte Mam Aran davon überzeugt, dass er hier bei uns an einem sicheren Ort war, mit einer neuen Herde und einer mütterlichen Hofchefin, die es gut mit ihm meinte. Der vernachlässigte, ängstliche Esel, der in einem solch erbärmlichen Zustand gekommen war, fühlte sich geliebt und beschützt.

Während Mam seine Wunden behandelte, lief ich los und holte eine Möhre aus dem Futterraum. Als Mam fertig war, sagte sie: „Ich glaube, jetzt ist er bereit für ein Leckerli.“ Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie mir auf die Schulter klopfte und ins Haus ging, um das Abendessen zu richten. Ich wedelte vor Arans Nase mit der Möhre herum; bestimmt würde er mit den Lippen danach greifen, wie Esel es gewöhnlich tun. Doch er drehte sich um und nahm keine Notiz von mir.

Wer noch nie von einem Esel ignoriert wurde, weiß nicht, was Zurückweisung bedeutet. Aber wenn er einem sein Hinterteil mit dem langen, dünnen, in einem Haarbüschel endenden Schwanz zuwendet, der aussieht wie ein großer, umgedrehter Pinsel, dann weiß man Bescheid.

„Aran, magst du keine Möhre?“ Ich schwenkte wieder damit herum und war versucht, ihn mit der Möhre am Bein zu stupsen, aber dann hätte er mir womöglich einen Tritt verpasst, was ich keinesfalls riskieren wollte.

Moment mal – vielleicht kennst du keine Möhren!

Ich ließ meine Hand mit der Möhre sinken und wartete. Und wartete. Bestimmt fünf Minuten – für einen Jungen eine Ewigkeit –, dann gab ich es endlich auf, drehte mich um und beschloss, ins Haus zurückzulaufen. Und da passierte es. Ich war noch keinen Schritt gegangen, als ich hinter mir ein leises Geräusch hörte. Augenblicklich hielt ich inne.

Mam bewegte sich in der Nähe von Neuankömmlingen immer ganz vorsichtig, um ihnen Raum zu lassen. „Sie müssen sich erst an deinen Anblick und deinen Geruch gewöhnen.“ Also verharrte ich mit dem Rücken zu Aran, die Hände nach unten hängend, regungslos wie ein Felsblock. Es fiel mir richtig schwer, so still zu stehen. Dann spürte ich es – Tasthaare kitzelten mich am Handgelenk und wulstige Lippen nagten an den Fingern, in denen ich die Möhre hielt.

Langsam, ganz langsam, wandte ich mich ein Stück um und drehte meine Hand mit der Möhre in seine Richtung. Dieses Mal klappte es! Seine Lippen fassten die Möhre, zogen sie mir weg und Aran begann, darauf herumzukauen. Er brauchte einfach Zeit, wollte nicht gedrängt werden, sondern selbst das Tempo vorgeben. Ich beobachtete sein Gesicht und ich glaube, als er mit der Möhre fertig war, lächelte er mich ein bisschen an.

In den nächsten Tagen stellte ich fest, dass Aran umso mehr meine Nähe suchte, je mehr ich ihm den Rücken zuwandte. Bei jedem Versuch, ihm ein Halfter anzulegen oder ihn am Halsband herumzuführen, blieb er einfach stehen. Wenn ich am Halfter zerrte, machte er sich ganz steif und senkte Rücken und Hinterteil ab, bis er fast saß. Ich wusste nicht, dass auch er das Felsblockspiel kannte! Nur war Aran stärker als ich und konnte so lange zum Felsblock werden, wie er wollte. Zwingen konnte ich ihn nicht, ich konnte nur warten.

Es war nicht so, dass Aran nicht gewusst hätte, was ich von ihm wollte – er wollte es nur nicht tun. Er war es nicht gewohnt, von einem Menschen herumgeführt zu werden. Trotz seiner Angst hatte er seinen eigenen Kopf. Aber je mehr ich ihm Zeit und Raum gab, selbst zu entscheiden, desto wohler fühlte er sich und desto mehr begann er, mir wie ein treues Hündchen zu folgen.

In den ersten drei oder vier Wochen lebte Aran am Rand unseres Grundstücks in einer Einzelbox, mit frischem, duftendem Stroh zum Schlafen und einer waagrecht geteilten Tür, durch die er hinausschauen konnte. Dieses gemütliche neue Zuhause half ihm, sich an die ungewohnte Umgebung, an die Geräusche und Gerüche auf dem Eselhof zu gewöhnen, wo viel mehr los war als auf seinem einsamen Außenposten auf Inishmore. Außerdem konnte Mam ihn so beobachten und sichergehen, dass sie keine ansteckende Krankheit übersehen hatte. Während Arans vorübergehender Quarantäne machte ich jeden Tag vor und nach der Schule einen Abstecher zu seinem Stall und sprach von der Tür aus mit ihm.

„Na, wie geht’s dir heute, Aran?“

Mit leuchtenden Augen kam er zu mir; seine Lippen zuckten in Erwartung einer dicken Möhre. Sehr bald hatte er offenbar beschlossen, sich über meine Besuche zu freuen, schaute mir immer in die Augen und löste dieses seltsame Gefühl in mir aus. Auch wenn ich nicht bei ihm war, spürte ich beim Gedanken an ihn das Kribbeln in meinem Herzen. Aran mag mich!

Als es Aran besser ging und er tagsüber rauskam, zog es mich immer öfter zu meinem neuen Freund auf die Weide. An seinen verletzten Hautstellen war ihm wieder ein flaumiges Fell gewachsen. Gerne beobachtete ich ihn einfach und fand es witzig, wie sich seine großen, wuscheligen Ohren wie Richtfunkantennen unabhängig voneinander bewegten. Ich begann, verschiedene Esellaute auszuprobieren, um zu sehen, worauf er reagierte. Einige schienen ihm besser zu gefallen als andere. Immer wieder versuchte ich, die richtige Tonlage zu treffen.

Meine Familie fand es lustig und zog mich damit auf. Ich aber war mit Ernst bei der Sache und bemühte mich, die Laute genau nachzuahmen, um mich mit den Eseln in ihrer eigenen Sprache verständigen zu können. Bisher war mir noch niemand begegnet, der den Eselruf genau imitieren konnte, aber ich hatte jede Menge tierische Lehrer, die mir halfen, meine neue Fertigkeit zu verfeinern.

Nach einer Weile ging ich dazu über, mich nicht mehr zu zeigen, wenn ich einen Eselruf ausprobierte. Ich schlich im Dunkeln herum, spähte um eine Ecke oder beobachtete die Esel von der Sattelkammer aus durch ein Loch in der Wand. Ob ich sie wohl mit meinem besten Esellied dazu bringen konnte, mich für einen Esel zu halten? Immer wenn es klappte und ein paar von ihnen anfingen, wie verrückt im Chor zu schreien, freute ich mich wie ein Schneekönig.

Ich legte mich auch gerne ins Gras, wo Aran weidete, und betrachtete vom Boden aus sein Gesicht. Jeden Tag studierte ich stundenlang die lockigen, silbernen Tasthaare auf seiner weichen Schnauze, seine Oberlippe, die unvermittelt herumfuhr und an meiner Hand knabberte oder nach einem Apfelstück schnappte. Jedes Mal aufs Neue hatte ich wieder dieses Gefühl – als ob er mich ganz und gar durchschauen konnte und ihm gefiel, was er sah.

Aran mochte mich und hatte ein Auge auf mich. Ich merkte, wie empfindsam er auf seine Umgebung reagierte und seine Gefühle durch die Bewegung seiner Ohren mitteilte, die hin und her schwenkten oder sich nach hinten legten. Ich lernte, auf seine Nase, seine Füße und seinen Schwanz zu achten, die alle seine Stimmung widerspiegelten. Auch er beobachtete mich, und wenn es das Wetter zuließ, verbrachte ich fast den ganzen Tag bei ihm auf der Weide. In seiner Nähe fühlte ich mich so wohl und wir wurden dicke Freunde.

Ich begann, Aran ohne Sattel um den Hof und den Hügel hinauf zum Felsen zu reiten. Während ich auf seinen Rücken sprang und mich mit der linken Hand an seinem Hals festhielt, schaffte ich es, ihm mit der rechten einen sanften Klaps aufs Hinterteil zu geben. Mein Dad konnte Aran nicht reiten, weil die meisten Esel in Irland für einen Erwachsenen zu klein sind. Für meine Schwestern Debbie, Helen, Eileen und mich aber hatte er die ideale Größe. Besonders Helen ritt ihn gern. Sie war rothaarig wie mein Dad und hatte offenbar dasselbe geschickte Händchen im Umgang mit Eseln wie Mam.

Ich ritt Aran über die Felder, nur mit einem Strickhalfter oder einem Stück Schnur, das über seinen Kopf, um seinen Kiefer und über seine Nase geschlungen war. An dem restlichen Stück Seil hielt ich mich fest. Sein Rücken ragte hoch und bildete einen scharfen Grat, aber ich lernte doch, einigermaßen bequem auf ihm zu sitzen. Durch leichtes Verlagern meines Körpergewichts lenkte ich ihn, trieb ihn an und gebot ihm Einhalt. Er reagierte auf meine Hilfen – zumindest, wenn er wollte.

Das dunkle Kreuz, das Aran wie die meisten Esel am Übergang zwischen Nacken und Rücken im Fell hatte, erinnerte mich immer an die Jesusgeschichte, die mir so erzählt wurde:

Ein alter Bauer vor den Toren Jerusalems hatte einen jungen Esel. Eines Tages kamen zwei Männer vorbei, sahen den Esel, der an einen Baum angebunden war, und fragten, ob sie ihn haben dürften.

„Das Tier kann nicht viel tragen“, wandte der Bauer ein.

„Jesus von Nazareth braucht ihn“, erklärte einer der Männer.

Der Bauer reichte ihm den Strick, und als Jesus den Esel erblickte, neigte er den Kopf, lächelte und strich ihm sanft über den Hals. Dann stieg er auf das junge Tier und ritt in die Stadt, wo die Menschenmengen ihn schon mit Palmzweigen erwarteten und jubelnd willkommen hießen.

Der Esel liebte seinen gütigen Herrn, diente ihm willig und folgte ihm später nach Golgatha. Am Tag, als Jesus starb, fiel der Schatten des Holzkreuzes auf die Schultern und den Rücken des Esels und hinterließ ein bleibendes Zeichen. Bis heute tragen viele Esel den Abdruck eines Kreuzes auf ihrem Rücken.1

Mir gefiel diese Geschichte und ich war begeistert, ein Tier reiten zu dürfen, das Jesus einmal geritten hatte. Ich hatte das Gefühl, zu einer besonderen Familie zu gehören, denn wir waren dazu berufen, für das heilige Geschöpf zu sorgen, das Jesus getragen hatte. Das war natürlich lange her, aber ich fragte mich oft, was der Esel damals wohl empfunden haben mag. Gerne dachte ich darüber nach, wie treu er seinen Dienst erfüllt hatte. Das steigerte meine Liebe zu Aran noch, denn einer seiner Artgenossen hatte den Sohn Gottes auf dem Rücken getragen.

Nach einigen Monaten in seinem neuen Zuhause, wo er einen warmen, sicheren Schlafplatz hatte und von Mam gut gefüttert, gepflegt und umsorgt wurde, verblassten Arans Erinnerungen an sein kaltes und einsames Leben auf der Insel allmählich. Die anderen Esel gewöhnten sich an ihn und er fand langsam seinen Platz in der Herde.

„Er hat sich richtig gut gemacht“, stellte Mam fest. Die Freude in ihrer Stimme sprang auch auf mich über.

Dann geschah etwas Erstaunliches – Aran beschloss, sich noch einer zweiten Herde anzuschließen: unserer Familie. Obwohl er sich mit den anderen Eseln anfreundete, verwöhnte ich ihn noch immer ab und zu mit Möhren und einer Scheibe Brot. Er folgte mir überallhin in der Hoffnung auf Leckerli und Streicheleinheiten. Eines Tages kam er an unsere Hintertür, stieß sie auf und trottete ins Haus.

„Aran!“, rief Mam in der Küche. „Was machst du denn hier? Raus mit dir!“

Aran schien nicht genau zu wissen, was er in unserem Haus zu suchen hatte, aber offensichtlich gefiel es ihm bei uns. Er entpuppte sich als Ausreißer und lernte, zwei Tore zu entriegeln, um in unseren Hinterhof zu gelangen und dann die Hintertür aufzustoßen. Esel verstehen es hervorragend, ihre Lippen zu gebrauchen – sie können sie in alle Richtungen ausstrecken und wie Finger einsetzen. Er verschaffte sich also selbst Einlass, wann immer ihm nach unserer Gesellschaft war, ganz egal, ob wir gerade beim Essen oder beim Fernsehen saßen. Ich schob ihm oft Reste zu – ein Brötchen, ein Scone oder eine Scheibe Toast. Er war wie ein Staubsauger mit Hufen.