Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität - Rainer M. Holm-Hadulla - E-Book

Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität E-Book

Rainer M. Holm-Hadulla

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Beschreibung

Goethe war nicht nur ein begabtes Kind, ein vielgeliebter Dichter und bedeutender Politiker, sondern hat während seines gesamten Lebens gesucht, geirrt und gelitten. Er verfügte jedoch über die besondere Fähigkeit, seelische Erschütterungen anzunehmen und für die Entwicklung seiner Kreativität zu nutzen. Die Psychologie hat seit der Zeit Goethes große Fortschritte gemacht und die Neurobiologie revolutionäre Erkenntnisse über den menschlichen Geist ermöglicht. Dennoch existieren bislang keine Dokumente, die so eingehend die Entwicklung der Kreativität beschreiben wie Goethes Briefe und Werke sowie die detaillierten Beschreibungen seitens seiner Familienangehörigen, Freundinnen und Freunde. Sein Weg zur Kreativität ist auch heute noch höchst inspirierend und regt dazu an, die eigenen schöpferischen Seiten zu entwickeln. Die Beschäftigung mit Goethes Weg zur Kreativität ist damit nicht nur ein intellektuelles Vergnügen, sondern hat auch lebenspraktischen Nutzen. Das Buch ist auch in englischer, spanischer, italienischer und persischer Übersetzung erschienen.

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Rainer M. Holm-Hadulla

Leidenschaft: GoethesWeg zur Kreativität

Eine Psychobiographie

3., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Johann Wolfgang von Goethe, eine Silhouette vonCharlotte von Stein betrachtend. Gemälde von Georg Melchior Kraus (1777).

Stiftungen Weimarer Klassik und Kunstsammlungen.

Picture-alliance, © MP/Leemage.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99907-4

Inhalt

Goethes Weg zum schöpferischen Leben

Teil 1: Leben und Werk

Kindheit und Jugend: Frankfurt 1749–1765 (Catharina Elisabeth Goethe)

Leipziger Studentenkrise 1765–1768 (Käthchen Schönkopf)

Rückkehr ins Elternhaus 1768–1770 (Cornelia Goethe)

Flucht vor der Liebe: Straßburg 1770–1771 (Friederike Brion)

Frankfurter Refugium 1771–1772 (Cornelia Goethe)

Leidenschaft und Entsagung: Wetzlar 1772 (Charlotte Buff)

Frankfurter Geniezeit 1772–1775 (Lili Schönemann)

Goethes psychische Konflikte im Spiegel seiner frühen Dramen

Zeit der Reife: Weimar 1775–1786 (Charlotte von Stein)

Neugeburt in Italien 1786–1788 (Faustina)

Die große Liebe: Weimar 1788–1805 (Christiane Vulpius)

Exkurs: Goethe als Naturforscher und Wissenschaftler

Politische Veränderungen und neue Leidenschaften 1806–1821 (Wilhelmine Herzlieb, Silvie von Ziegesar, Marianne von Willemer)

Späte Liebe, Alter und Abschied 1821–1832 (Ulrike von Levetzow)

Teil 2: Kreativität, Lebenskunst und Krankheit

Leben als kreative Selbstverwirklichung: »Wilhelm Meister«

Goethes Kreativität aus Sicht der modernen Forschung

Goethes Lebenskunst und Selbstbehandlung

Goethes »gesunde Krankheit«

Teil 3: Kreativität im Alter

Goethes Gedicht »Vermächtnis«

Die letzten Briefe

Goethes »inneres Märchen«: Die psychologischen Botschaften des »Faust II«

Dank

Literatur

Personenverzeichnis

Goethes Weg zum schöpferischen Leben

»Alles gaben Götter, die unendlichen,Ihren Lieblingen ganz,Alle Freuden, die unendlichen,Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.«(HA 1, S. 142)

Goethes Weg zum schöpferischen Leben war steinig und von vielfältigen Krisen erschüttert. Schon seine Geburt war dermaßen kompliziert, dass man glaubte, das Kind sei tot. Noch im hohen Alter von 74 Jahren verliebte sich Goethe so unglücklich, dass er mit ähnlichen Suizidgedanken spielte wie als 20-Jähriger. In seiner langen Lebenszeit war er oft bitteren Enttäuschungen ausgesetzt und heftigen Stimmungsschwankungen unterworfen. Goethe war nicht nur ein begabtes Kind, ein vielgeliebter Dichter und ein einflussreicher Politiker, sondern hat während seines gesamten Lebens gesucht, geirrt und gelitten. Dabei verfügte er über eine besondere Fähigkeit, seelische Leiden auszuhalten und zu kreativer Entwicklung zu nutzen. Seine Art und Weise, aus seinen Leidenschaften schöpferische Impulse zu gewinnen, ist auch für den modernen Leser höchst inspirierend. Menschen des 21. Jahrhunderts können in Goethes Leben und Werk wichtige Anhaltspunkte für ihre eigene kreative Entwicklung und Lebenskunst finden.

Die psychologische Beschäftigung mit Goethes Leben und Werk ist deswegen so lehrreich, weil er seine persönliche Entwicklung und seine Krisen in einzigartiger Weise beschreiben konnte. Zudem entwickelte er wirksame Bewältigungsstrategien von allgemeinen psychischen Konflikten, weswegen die Beschäftigung mit Goethes Leidenschaften für jeden Leser von lebenspraktischer Bedeutung ist.

Goethes Werke beschreiben eine Vielzahl von persönlichen und sozialen Erfahrungen und in seinen Briefen, Tagebüchern und Gesprächen finden sich Zeugnisse einer lebenslangen Selbstreflexion. Diese beständige Beschäftigung mit sich selbst, die manchem unsympathisch erscheint, hat für den heutigen Leser einen großen Vorzug: Wir wissen von der frühesten Kindheit bis zu seinem letzten Atemzug fast alles aus seinem Leben. Die Selbstzeugnisse sind zudem so differenziert, wie dies heute kaum noch erreichbar scheint: Zur alltäglichen Verständigung genügen heute ungefähr 500 Wörter, während in anspruchsvolleren Medien etwa 5000 Wörter verwendet werden. Goethe benutzte demgegenüber 80.000 bis 90.000 Wörter zur Beschreibung seiner Erfahrungen.

Darüber hinaus haben auch seine Mitmenschen – angefangen bei Mutter, Vater und Schwester bis zu Geliebten, Freunden und Kollegen – detailliert über Goethes Entwicklung berichtet. Dies konnte geschehen, weil er in einer Zeit und Gesellschaft lebte, in der die Aufzeichnung von Empfindungen, Ideen und inneren Erlebnissen geübt wurde wie niemals vorher und niemals nachher.

Die eindrücklichsten Zeugnisse seiner persönlichen Entwicklung sind aber seine Werke. In ihnen hat Goethe immer auch von sich selbst gesprochen und seine Hoffnungen und Sehnsüchte, Enttäuschungen und Kränkungen beschrieben. Dabei entdeckte er menschliche Wahrheiten, die sowohl dem alltäglichen Verstehen als auch dem wissenschaftlichen Denken auf anderen Wegen nicht zugänglich sind. Weil er zwar immer auch von sich selbst, aber niemals nur von sich selbst gesprochen hat, sind seine Werke bedeutsam und allgemeingültig.

Goethes Fähigkeit, trotz schwerwiegender emotionaler Turbulenzen lebenszugewandt und kreativ zu bleiben, ist psychologisch besonders interessant. Seine häufig selbstquälerische Beschäftigung mit Erinnerungen und Phantasien hat ihn stabilisiert und das kreative Schreiben wurde sein wichtigstes therapeutisches Prinzip. Auf seine erste Liebesenttäuschung und die Verwirrungen zu Beginn seines Studiums zurückblickend, spricht Goethe in seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit« von dem »chaotischen Zustande […], in welchem sich mein armes Gehirn befand« (HA 9, S. 282). Er greift in seinen »eigenen Busen« und verarbeitet seine verwirrenden Erfahrungen: »So begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immer fort aus einem Extreme in das andere warf« (HA 9, S. 283).

Das literarische Gestalten diente Goethe, seine Konflikte wahrzunehmen, auszuhalten und zu überwinden. Dabei schöpfte er immer aus seinem eigenen Erleben, was er in »Dichtung und Wahrheit« folgendermaßen beschreibt: »Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist« (HA 9, S. 3). Während er mit seinen eigenen Leidenschaften, Ängsten und Verwirrungen beschäftigt ist, findet er allgemeingültige Strategien, um individuelle und soziale Konflikte zu lösen. Wie seine Werke lösen sich diese vom autobiographischen Hintergrund und entfalten ihre eigene Wirkung.

Bei der kreativen Bewältigung psychischer Krisen haben ihn viele Personen, Mutter, Vater und Schwester sowie eine Vielzahl von Freundinnen und Freunden, unterstützt. Schon in seiner Kindheit und Jugend ist sein starkes Bedürfnis, gesehen, beantwortet und bestätigt zu werden, aufgefallen und er fand sich in der glücklichen Lage, dass diesem Bedürfnis auch entsprochen wurde. Später gelang es ihm, seine Suche nach sich selbst in verwickelten Liebesbeziehungen zu inszenieren und daraus schöpferische Impulse zu gewinnen. Deswegen sind auch die psychobiographischen Kapitel dieses Buchs mit den Namen bedeutsamer Frauengestalten verbunden. Dass Goethe bei seiner Selbstfindung in Liebesbeziehungen auch rücksichtslos sein konnte, blieb ihm selbst, wie die entsprechenden Kapitel zeigen werden, nicht verborgen.

Die Psychologie hat zwar seit der Zeit Goethes große Fortschritte gemacht und die Neurobiologie gewährt uns vielfältige Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns. Mit bildgebenden Verfahren und neurochemischen Methoden kann man heute darstellen, welche biologischen Prozesse das menschliche Verhalten, seine Empfindungen und Gedanken begleiten. Dennoch sind auch führende Neurowissenschaftler der Auffassung, dass man komplexe psychische Erlebensweisen nur mit ihnen entsprechenden sprachlichen Methoden erfassen kann (Andreasen, 2005). Warum eine Mozartsonate bei einem Menschen die Erinnerung an das Lächeln der Geliebten und bei dem anderen die Langeweile eines Sonntagnachmittags hervorruft, kann man nur durch Sprache und nicht durch Untersuchungen des Gehirns erfahren.

Daraus folgt, dass es auch heute noch von großem Wert ist, sich in Erzähltes und Gedichtetes zu vertiefen und es psychologisch zu verstehen. Dabei greife ich, wie jeder Leser, jede Leserin, auf ein Vorverständnis zurück, das von meiner eigenen Lebenserfahrung geprägt ist. Einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts, der Philosoph Hans-Georg Gadamer, hat besonders in seinen 1960 und 1986 erschienenen Büchern überzeugend herausgearbeitet, wie wichtig es ist, dieses Vorverständnis bewusst zu nutzen, um einen Zugang zu schriftlichen Dokumenten zu finden. Gadamer hat auch darauf hingewiesen, dass Verstehen eine natürliche Fähigkeit des Menschen ist, die allerdings beständiger Übung bedarf. Wir erfahren uns und die uns umgebende Welt im Akt des Verstehens. Nur durch das Verstehen finden wir einen Halt in einer chaotischen Welt von Eindrücken und Erlebnissen. Aus der verständnisvollen Begegnung mit der natürlichen und kulturellen Umwelt entsteht etwas Neues, das den Horizont erweitert und Orientierung verleiht. Verstehen ist dabei mehr als die rein gedankliche Strukturierung von Erfahrungen. Es ist eine umfassende Bewegung, die sinnliche und praktische Erlebnisse umgreift und in der wir erst zu dem werden, was wir wirklich sind oder sein können. Auf eine solche Reise möchte ich die Leserinnen und Leser mitnehmen.

Im ersten Teil des Buchs werden allgemein bedeutsame Einsichten aus Goethes Leben und Werk entwickelt. Dabei liegt das Augenmerk auf seinem leidenschaftlichem Streben nach einem schöpferischen Leben. Wenn Goethes Weg unter psychologischen Gesichtspunkten betrachtet wird, so geht es nicht nicht um eine detektivische Suche nach Problemen und Störungen, sondern um die Erforschung der Umstände, die zu einem produktiven und kreativen Leben führen.

Der zweite Teil des Buchs beginnt mit der Darstellung von Goethes Auffassung des Lebens als schöpferische Selbstverwirklichung. Danach werden sein Leben und Werk unter den Gesichtspunkten der modernen Kreativitätsforschung betrachtet. Im Anschluss an die Beschreibung von Goethes Lebenskunst wird die Frage geklärt, ob Goethe – wie immer wieder behauptet wird – psychisch krank oder gestört gewesen ist.

Der dritte Teil verdichtet die gewonnenen Erkenntnisse durch lebenspraktische Interpretationen von Goethes Gedicht »Vermächtnis«, seinen letzten Briefen und von »Faust II«. Auch hier wird uns sein leidenschaftliches Ringen mit den Freuden und Leiden des Lebens beispielhaft sein. Und nicht zuletzt hoffe ich, die Schönheit von Goethes Dichtungen neu zu beleben.

Anmerkungen zur 2. Auflage

Die Resonanz des Publikums und der Rezensenten auf »Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität – Eine Psychobiographie« war so erfreulich, dass eine zweite Auflage sechs Monate nach der ersten erscheint. Hierin habe ich die Kapitel »Neugeburt in Italien«, »Die große Liebe« und »Politische Veränderungen und neue Leidenschaften« erheblich um psychobiographische Aspekte erweitert. Wie schon in der ersten Auflage diente mir neben der Primärliteratur die anschauliche Goethe-Biographie von Anja Höfer (1999) als Wegweiser.

Anmerkungen zur 3. Auflage

Die weiterhin positive Resonanz auf »Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität« hat mich ermuntert, eine aktualisierte, vollständig überarbeitete und mit neuen Kapiteln versehene dritte Auflage zu erstellen. Besonders die Kommentare jüngerer Leserinnen und Leser, dass sie Goethe und seine Bedeutung für ihr eigenes Leben entdecken konnten, haben mich erfreut. Erfahrene Goethe-Freunde haben mich zu einer Neuauflage bewegt, weil man sich durch das Buch in die menschlichen Seiten des Dichterfürsten einfühlen und sie miterleben kann.

Teil 1

Leben und Werk

Kindheit und Jugend: Frankfurt 1749–1765 (Catharina Elisabeth Goethe)

»Ich saug’ an meiner NabelschnurNun Nahrung aus der Welt.Und herrlich rings ist die Natur,Die mich am Busen hält.«(HA 1, S. 102)

Johann Wolfgang kam am 28. August 1749 gegen Mittag als erstgeborener Sohn von Catharina Elisabeth und Johann Caspar Goethe zur Welt. Die Bedingungen für seinen Lebensbeginn schienen günstig und in seinen Lebenserinnerungen »Dichtung und Wahrheit« hielt Goethe verklärend fest: »Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sich freundlich an« (HA 9, S. 10). Doch die Geburt war äußerst schwierig, der Neugeborene schien zunächst tot zu sein. Die Todesbedrohung durch die Geburt wird an vielen Stellen in Goethes Leben und Werk nachklingen.

Goethes Mutter, Catharina Elisabeth, stammte aus einer wohlhabenden Gelehrten- und Juristenfamilie. Ihr Vater, der Kaiserliche Rat Johann Wolfgang Textor, war seit 1747 Schultheiß der Stadt Frankfurt und bekleidete damit das höchste Amt im Magistrat. Sie war die Älteste von vier Geschwistern und wurde relativ frei erzogen. Rückblickend schrieb sie über ihre Kindheit, dass sie Gott danke, »daß meine Seele von Jugend auf keine Schnürbrust angekriegt hat, sondern daß sie nach Hertzens lust hat wachsen und gedeihen, Ihre Äste weit ausbreiten können u. s. w. und nicht wie die Bäume in den langweiligen Zier Gärten zum Sonnenfächer ist verschnitten und verstümmelt worden« (Köster, 1923, S. 80).

Ihre Bildung war spärlich, sie verfügte jedoch, wie dies ihren Briefen an Herzogin Anna Amalia zu entnehmen ist, über eine beachtliche Lebensklugheit. Bei Goethes Geburt war sie gerade 18 Jahre alt und »fast selbst noch ein Kind«, wie Goethe in »Dichtung und Wahrheit« festhielt. Sie war gesund und hatte eine problemlose Schwangerschaft. Auch der Vater schien relativ sorglos und konnte sich mit seiner Frau ungetrübt auf den Sprössling freuen. Er war durch den kaufmännischen Erfolg seines eigenen Vaters finanziell so gut abgesichert, dass er sich als Privatgelehrter den Dingen widmen konnte, die ihn interessierten.

Die Geburt Johann Wolfgangs war, wie gesagt, sehr kompliziert, die Geburtswehen dauerten drei Tage. Man erinnerte sich an die ersten drei Kinder der Großmutter väterlicherseits, die alle tot geboren worden waren. Erst nach vielfältigen Bemühungen konnte die Großmutter ihrer Schwiegertochter zurufen: »Er lebt!« (von Arnim, 1835, S. 373).

Aus der modernen Neurobiologie und Psychologie wissen wir, dass Geburtskomplikationen unbewusste Gedächtnisspuren hinterlassen (Janus, 2007). Schon bei unkomplizierten Geburten ist das Kind – wie seine Mutter – einer viele Stunden dauernden Stresssituation ausgesetzt. Neugeborene erleben eine überwältigende Angst und ein Vernichtungsgefühl, das unbewusst gespeichert wird. Die Lebensenergie befreit den Säugling jedoch von Todesangst und die Ängste und Schmerzen der Mutter werden von Glücksgefühlen übertönt.

Goethe verleiht dem Geburtserlebnis in »Dichtung und Wahrheit« große Bedeutung und wird sich zeitlebens mit dem Thema des Geborenwerdens und persönlichen Wachstums unter Schmerz und Todesbedrohung beschäftigen. Seine Persönlichkeitsentwicklung fasste er als kontinuierliches »Stirb und Werde« auf. In diesem Sinne kann man auch das Motto seines schöpferischen Lebens verstehen, dass ihm alles gegeben wurde, »alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen, ganz«. Wie bei der Abfassung dieser Zeilen, als Goethe in besten Verhältnissen lebte und die schmerzliche Nachricht vom Tod seiner Schwester erhielt, lagen Glück und Verzweiflung oft nahe beieinander.

Seine Kreativität half Goethe, in menschlichen Beziehungen und der Naturbegeisterung Trost für seine Leiden zu finden. Nach einer vernichtenden Liebesenttäuschung verfasste er das zu Beginn dieses Kapitels zitierte Gedicht, in dem er »Nahrung aus der Welt« saugt, sich von der Natur »am Busen« gehalten fühlt und als neu geboren erlebt.

Durch seine Werke gelang es Goethe immer wieder, Krisen zu bewältigen und sich selbst neu zu erschaffen. Vom »Werther« bis zum »Faust« wissen wir aber auch, dass diese schöpferische Selbst-Erzeugung mit Ängsten, Verzagtheit und quälenden Minderwertigkeitsgefühlen einherging. Im »Faust I« heißt es:

»Ach! Unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden,

sie hemmen unsres Lebens Gang […]

Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle,

Erstarren in dem irdischen Gewühle […]

Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,

dort wirket sie geheime Schmerzen […]

Den Göttern gleich’ ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;

Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt […]«.

(Verse 632–653)

Die letzten Verse ähneln den Worten, mit denen der 17-jährige Goethe in einem Brief an seine Schwester seine Versagensängste beschrieb. Das beständige Ringen um die Lebendigkeit des eigenen Selbst sollte ein Leitmotiv seines gesamten Lebens werden. Aber auch im allgemeinen Sinne fasste er die Individuation des Menschen als Werden und Vergehen auf. Selbstwerdung und schöpferisches Leben können nicht ohne Schmerzen und Bedrohungen geschehen. In diesem Sinne wählte Goethe für den ersten Teil von »Dichtung und Wahrheit« das Motto: »Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen« (HA 9, S. 641).

Auch nach der schwierigen Geburt bangte man um das Leben des kleinen Johann Wolfgang. Er selbst schien mit intensiven Affekten und lebhaften innerpsychischen Bewältigungsversuchen auf die Bedrohungen der ersten Lebenswochen reagiert zu haben. Seine Mutter berichtete Bettina von Arnim, »wie er schon mit neun Wochen ängstliche Träume gehabt, wie Großmutter und Großvater, Mutter und Vater und die Amme um seine Wiege gestanden und lauschten, welche heftige Bewegungen sich in seinen Mienen zeigten, und wenn er erwachte, in ein sehr betrübtes Weinen verfallen, oft auch sehr heftig geschrien hat, so daß ihm der Atem entging und die Eltern für sein Leben besorgt waren; sie schafften eine Klingel an; wenn sie merkten, daß er im Schlaf unruhig ward, klingelten und rasselten sie heftig, damit er bei dem Aufwachen gleich den Traum vergessen möge« (von Arnim, 1835, S. 377).

Bettina von Arnims Schilderungen sind in ihren Einzelheiten nicht zuverlässig, doch können wir glauben, dass der kleine Johann Wolfgang von heftigsten Ängsten geplagt war und, wie jedes andere Kind, durch intensive psychische Aktivität versuchte, diese Ängste zu bewältigen. In »Das Geheimnis der ersten neun Monate« beschreiben Hüther und Krens (2007) aus Sicht der Neurobiologie, wie Babys schon in den ersten Lebensmonaten aktiv innere und äußere Reize verarbeiten.

Goethes Beziehung zur Mutter blieb auch nach der schweren Geburt und den ersten Monaten nicht ohne Versagungen und Bedrohungen. Catharina Elisabeth wurde sechs Monate nach seiner Geburt erneut schwanger und wandte sich nach fünfzehn Monaten der neugeborenen Schwester Cornelia zu. Wahrscheinlich haben Vater und Großmutter den kleinen Johann unterstützt, die Trennung von der nicht mehr ganz verfügbaren Mutter zu bewältigen. Dennoch hinterließ dieser Verlust Spuren in Form von Trennungsängsten und kreativen Bewältigungsversuchen. Möglicherweise war die frühe und moderate Trennung von der Mutter gleichzeitig schmerzlich und phantasiefördernd.

Johann Wolfgang war auch in seiner weiteren Entwicklung störanfällig. Bettina von Arnim hält fest, dass er leicht reizbar war und häufig zornig reagierte. Wenn etwas beschädigt wurde oder vom Gewohnten abwich, antwortete er mit Wutausbrüchen. Bis ins hohe Alter konnte er es schwer ertragen, wenn etwas nicht seinen Ordnungsvorstellungen gemäß verlief, beispielsweise wenn jemand in seiner Umgebung krank wurde. Mehr noch: Goethe hütete sich während seines gesamten Lebens, Kranke oder gar Tote von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Er ging weder zum Begräbnis seiner engsten Freunde Schiller und Herzog Carl August noch konnte er seiner Frau Christiane im Todeskampf beistehen. Dabei beschäftigte er sich literarisch ständig mit Beschädigungen, Krankheit und Tod. Es wurde zu seinem Lösungsweg, das im Leben schwer Erträgliche in literarischen Werken zu bewältigen.

Schon als Kind beantwortete er unangenehme Erlebnisse nicht nur mit Wutausbrüchen, sondern versuchte, sein emotionales Chaos zu verstehen und phantasievoll zu ordnen. Dabei kam ihm seine Fähigkeit zu Hilfe, ungute Erfahrungen in eine für ihn akzeptable Realität umzudeuten. Seine Mutter beschrieb sein Verhalten beim Märchenvorlesen folgendermaßen: »Da saß ich, und da verschlang er mich bald mit seinen großen schwarzen Augen, und wenn das Schicksal irgend eines Lieblings nicht recht nach seinem Sinn ging, da sah ich, wie die Zornader an der Stirn schwoll, und wie er die Tränen verbiß. Manchmal griff er ein und sagte, noch eh ich meine Wendung genommen hatte: ›Nicht wahr, Mutter, die Prinzessin heiratet nicht den verdammten Schneider, wenn er auch den Riesen totschlägt‹; wenn ich nun haltmachte und die Katastrophe auf den nächsten Abend verschob, so konnte ich sicher sein, dass er bis dahin alles zurechtgerückt hatte, und so ward mir denn meine Einbildungskraft, wo sie nicht mehr zureichte, häufig durch die seine ersetzt« (von Arnim, 1835, S. 379 f.).

Die Mutter

Catharina Elisabeth liebte ihren Sohn zärtlich und war ihm innig zugetan. Dennoch bestand zwischen der Mutter und ihrem Sohn eine bemerkenswerte Distanz. Goethe hält auf einem Manuskriptblatt zu »Dichtung und Wahrheit« Folgendes fest: »In dem Verhältniß der Kinder zu den Ältern entwickelt sich der sittliche Charakter der ersten eigentlich gar nicht. Der Abstand ist zu groß; Dankbarkeit, Neigung, Liebe, Ehrfurcht halten die jüngeren und bedürftigen Wesen zurück, sich nach ihrer Weise zu äußern. Jeder thätige Widerstand ist ein Verbrechen. Entbehrungen und Strafen lehren das Kind schnell auf sich zurückzugehen, und da seine Wünsche sehr nahe liegen, wird es sehr bald klug und verstellt« (HA 9, S. 844).

Catharina überlebte ihren Mann, der im Jahr 1782 starb, um 26 Jahre und verfolgte die Entwicklung ihres Sohnes mit lebhaftem Interesse. Sie schien kaum darunter gelitten zu haben, dass Goethe sie seit seinem Umzug nach Weimar im Jahre 1775 nur noch viermal besuchte. Selten beklagte sie sich über seine ausbleibenden Besuche und hält im November 1786 in einem Brief an ihren Sohn fest: »Mein Leben fließt still dahin wie ein klahrer Bach. – Unruhe und Getümmel war von jeher meine Sache nicht […] Tausend würde so ein Leben zu einförmig vorkommen mir nicht, so ruhig mein Cörpper ist; so thätig ist das was in mir denckt – da kan ich so einen gantzen geschlagenen Tag gantz alleine zubringen, erstaune daß es Abend ist, und bin vergnügt wie eine Göttin – und mehr als vergnügt und zufrieden seyn, braucht mann doch wohl in dieser Welt nicht« (Köster, 1923, S. 157 f.).

Eine innere Beziehung zwischen Mutter und Sohn blieb zeitlebens erhalten. Die 76-jährige Catharina Elisabeth schreibt an Bettina von Arnim: »an den Wolfgang muß ich stundenlang denken, immer wie er ein klein Kind war und mir unter den Füßen spielte, und dann wie er mit seinem Bruder Jakob so schön gespielt hat und hat ihm Geschichten gemacht« (von Arnim, 1835, S. 379 f.).

Goethe selbst fand zwar seit seiner Weimarer Zeit wenig Gelegenheit, sich um seine Mutter zu kümmern, aber in seinen Werken blieb er mit ihr verbunden. Als erwachsener Mann war er erleichtert, wenn andere Personen nahe Beziehungen mit seiner Mutter unterhielten. Bettina von Arnim schrieb an die alte Frau Rat Goethe: »Er hat gesagt, ich soll ihn vertreten bei Ihr und soll Ihr alles Liebe tun, was er nicht kann, und soll sein gegen Sie, als ob mir all die Liebe von Ihr angetan wär, die er immer vergisst. – Wie ich bei ihm war, da war ich so dumm und fragte, ob er sie lieb habe, da nahm er mich in seinen Arm und drückte mich ans Herz und sagte: ›Berühr’ eine Saite, und sie klingt, und wenn sie auch in langer Zeit keinen Ton gegeben hätte‹« (Amelung, 1914, S. 44 f.).

Goethe lud seine Mutter niemals ernsthaft nach Weimar ein, doch unterhielten beide einen lebhaften Briefverkehr. Er betrachtete Weimar als seine Welt und Catharina Elisabeth akzeptierte das unvermeidbare Schicksal der Eltern, von ihren Kindern verlassen zu werden. Die tieferen Dimensionen der Beziehung zu seiner Mutter lassen sich nur durch eine Analyse seiner Werke und seiner Einstellung zur Mutter-Kind-Beziehung erschließen.

Zeitlebens setzte sich Goethe mit der Beziehung von Müttern zu ihren Kindern auseinander und bearbeitete dieses Thema in seinen Werken. Dabei stand die Tragik von Kindsmörderinnen ganz im Vordergrund. In seiner Leipziger Studentenzeit beschäftigte ihn die Geschichte von Catharina Maria Flindt, die wegen der Ermordung ihres unehelichen Kindes zum Tode verurteilt worden war. Sie wurde von ihrem Liebhaber aus dem Gefängnis befreit, doch kehrte sie aus freiem Willen dahin zurück, weil sie von ihrem schlechten Gewissen überwältigt worden war. Noch stärker erschütterte Goethe das Schicksal der Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt, von dem er während seiner Straßburger Studentenzeit 1770 Kenntnis erhielt. Susanna Margaretha war eine unbescholtene junge Frau, die in Frankfurt lebte. Sie wurde verführt, schwanger, brachte heimlich ihr Kind zur Welt und tötete es aus Angst und Verzweiflung. Nach Frankfurt zurückgekehrt, verfolgte Goethe den Prozess bis zu ihrer Hinrichtung. Dieses Ereignis ließ ihn nicht mehr los und führte zur Dichtung der Gretchen-Tragödie im »Faust«.

In der Gretchen-Tragödie setzt er sich mit den vernichtenden Aspekten der Beziehung von Mutter und Kind auseinander. Nach der Geburt ihres Kindes tötet Gretchen diese Frucht ihrer Liebe zu Faust und wird selbst wie Catharina Maria Flindt und Susanna Margaretha Brandt hingerichtet. Ein Leitmotiv dieser Tragödien ist, dass Mutter und Kind sich gegenseitig zerstören. An vielen Stellen findet sich dieses Motiv in Goethes Werken. Aus Mutter Natur saugt man immer wieder »frische Nahrung, neues Blut« (HA 1, S. 102). Sie ist aber nicht nur lebensspendend, sondern auch vernichtend. In »Die Leiden des jungen Werthers« vereinigt sich der Protagonist durch seinen Freitod mit der »Allmutter Natur«, nachdem er sie vorher als »ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer« (HA 6, S. 53) erlebt hat. In der ersten, im Herbst 1771 geschriebenen Fassung des »Götz von Berlichingen« sagt Weislingen zu Adelheid: »Das ist Weibergunst. Erst brütet sie mit Mutterwärme unsere liebsten Hoffnungen an; dann, gleich einer unbeständigen Henne, verläßt sie das Nest und übergibt ihre schon keimende Nachkommenschaft dem Tod und der Verwesung« (HA 4, S. 537).

Wir sehen also, dass Goethe die Mütter nicht nur idealisierte, sondern durchaus die Ambivalenz zwischen deren lebensspendenden und gefährlichen Aspekten wahrnahm. In dem Roman »Die Wahlverwandtschaften« gibt Charlotte das eigene Kind ihrer Nichte Ottilie zur Pflege, weil sie keinen Platz für das Kind in ihrem Leben hat. Ottilie, selbst noch ein Kind, lässt dieses Kind aus scheinbarer Unachtsamkeit ertrinken. Auch hier holt sich »Mutter Natur«, symbolisiert durch das Wasser, ihr Kind wieder zurück.

Den dichtesten Ausdruck seiner Scheu vor den Müttern Frauen findet Goethe in der »Finsteren Galerie« des »Faust II«: Faust hat das von ihm verführte Gretchen bedenkenlos verlassen und die große Welt durchwandert. Jetzt befindet er sich in der »Finsteren Galerie«, einem Ort, in dem Paris und Helena neu erschaffen werden sollen. Diese Szene stellt eine Allegorie für das Schöpferische schlechthin dar. Mephisto will ihm an diesen Ort nicht folgen:

»Mephistopheles. Was ziehst du mich in diese düstern Gänge?

Ist nicht da drinnen Lust genug,

Im dichten, bunten Hofgedränge

Gelegenheit zu Spaß und Trug?«

(Verse 6173–6176)

Faust muss aber in das unergründliche Reich der Schöpfung hinabsteigen, um sein Versprechen zu erfüllen, für den Kaiser das ideale Paar, Paris und Helena, zum Leben zu erwecken. Mephisto sträubt sich gegen Fausts Plan, das Reich der Mütter und der weiblichen Fruchtbarkeit zu betreten:

»Mephistopheles. Ungern entdeck’ ich höheres Geheimnis.

Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,

Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;

Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.

Die Mütter sind es!

Faust, aufgeschreckt. Mütter!

Mephistopheles. Schaudert’s dich?

Faust. Die Mütter! Mütter! – s’ klingt so wunderlich!«

(Verse 6212–6217)

Mephisto möchte den Umgang mit den Müttern vermeiden und auch Faust ist erfüllt von heiliger Scheu. Dennoch müssen sie mit ihnen verkehren, um wirkliche Menschen zu zeugen. Und auch der schöpferische Dichter muss sich in seinem Schaffensprozess der dunklen Welt unbewusster mütterlicher Phantasmen annähern. Die Welt der Mütter ist jedoch eine Tabuzone:

»Mephistopheles. Kein Weg! Ins Unbetretene,

Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,

Nicht zu Erbittende. Bist du bereit?«

(Verse 6223–6224)

Es ist aber nicht nur ein gesellschaftliches Tabu, das den Weg zu den Müttern versperrt. Die Begegnung mit ihnen kann nur in unbeschreiblicher Einsamkeit stattfinden:

» Mephistopheles. […]

Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,

Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.

Hast du Begriff von Öd’ und Einsamkeit?«

(Verse 6225–6227)

Mephisto spricht eine andere Welt an, die Faust nicht kennt und nicht kennen kann. Faust wehrt sich dagegen, dass diese Welt ihm unzugänglich sein sollte:

»Faust. Du spartest, dächt ich solche Sprüche;

Hier wittert’s nach der Hexenküche,

Nach einer längst vergangnen Zeit.

Mußt’ ich nicht mit der Welt verkehren?

Das Leere lernen, Leeres lehren?«

(Verse 6228–6233)

Faust hofft durch praktische Welterfahrung und philosophische Beschäftigung mit dem Leeren »nicht zu Betretenden« alles Menschenmögliche getan zu haben, doch Mephisto bedeutet ihm:

»Mephistopheles. Und hättest du den Ozean durchschwommen,

Das Grenzenlose dort geschaut,

So sähst du dort doch Well’ auf Welle kommen,

Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.

Du sähst doch etwas.«

(Verse 6238–6243)

Im Reich der Mütter ist es anders:

»Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,

Den Schritt nicht hören, den du tust,

Nichts Festes finden, wo du ruhst.«

(Verse 6246–6248)

Mephisto beschreibt eine unbewusste Erfahrung, die nicht erinnert und begriffen werden kann. Und dennoch ist sie existent. Dies lässt an sensomotorische Erlebnisse der vorgeburtlichen Zeit und ersten Lebensmonate des Menschen denken. Neurobiologische und psychologische Befunde legen nahe, dass intrauterine Eindrücke wie Temperatur-, Bewegungs- und Geräuschempfindungen neuronal gespeichert werden, ohne dass sie je bewusst erinnert werden können. Auch Gefühle von Unruhe, Erregung und Schmerz hinterlassen unbewusste Erinnerungsspuren. Möglicherweise wird in der »Finsteren Galerie« diese Dimension der menschlichen Erfahrung – neben vielen anderen, zum Beispiel der künstlerischen – angesprochen. Wie kann man sich dieser unbewussten Erfahrung nähern?

Faust, der keine Grenzen akzeptieren mag, will auch diese unbewusste, zeit- und raumlose Dimension des Lebens erfahren und verspricht sich davon eine umfassende Erkenntnis der Welt:

»Faust. […]

Nur immer zu! Wir wollen es ergründen,

In deinem Nichts hoff’ ich das All zu finden.«

(Verse 3256–3257)

Die von Faust beanspruchte Erkenntnis ist jedoch mit irdischen Mitteln nicht zu erreichen. Er benötigt einen magischen Schlüssel, der ihm von Mephisto überreicht wird.

» Mephistopheles. […]

Hier diesen Schlüssel nimm.

Faust. Das kleine Ding!

Mephistopheles. Erst faß ihn an und schätz ihn nicht gering.

Faust. Er wächst in meiner Hand! Er leuchtet, blitzt!«

(Verse 6258–6261)

Was ist das für ein Schlüssel zur Erkenntnis, der in Fausts Hand wächst? Man könnte an einen alchimistischen Zauberstab denken. Angesichts des Kontextes von Sexualität, Mutterschaft und Schöpfertum scheint es naheliegend – als eine Bedeutungsdimension unter anderen –, an das männliche Genital zu denken. Sexualität und Kreativität werden an dieser Stelle als zwei Seiten der gleichen Medaille aufgefasst. In Bezug auf die Mütter rührt diese Vorstellung jedoch an ein existenzielles Tabu:

»Mephistopheles. Merkst du nun bald, was man an ihm besitzt?

Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,

Folg ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.«

(Verse 6262–6264)

Hier trifft das faustische Streben auf eine eherne Grenze und er erschrickt:

»Faust (schaudernd). Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag!

Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?«

(Verse 6265–6266)

Jetzt geschieht etwas Besonderes, das Faust wie den Dichter Goethe auszeichnet. Sein Erschrecken führt nicht zur Erstarrung, wie der Blick nach Sodom und Gomorrha, sondern zu einer kreativen Suche:

»Faust. Doch im Erstarren such’ ich nicht mein Heil,

Das Schaudern ist der Menschheit bester Teil;

Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,

Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.«

(Verse 6271–6274)

Das Werk des Dichters ist der Schlüssel, mit dem man den Schrecken und die Erstarrung vor den Müttern bannen kann:

»Mephistopheles. Versinke denn! Ich könnt’ auch sagen: steige!

’s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen

In der Gebilde losgebundne Reiche!

Ergetze dich am längst nicht mehr Vorhandnen;

Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe,

den Schlüssel schwinge, halte sie vom Leibe!

Faust begeistert. Wohl! Fest ihn fassend fühl’ ich neue Stärke,

die Brust erweitert, hin zum großen Werke.«

(Verse 6275–6282)

Diese Stelle zeigt, dass die Bewältigung der heiligen Scheu vor der weiblichen Fruchtbarkeit ein Motiv des faustischen Schöpfertums ist. Goethe selbst trennte sich durch seine Werke von seiner Mutter, so wie er in ihnen gleichzeitig eine besondere Nähe realisierte. Die Kunst war Goethes Weg, mit den Müttern in Kontakt zu sein und gleichzeitig den nötigen Abstand zu halten.

Im Alltag haben Menschen in der Regel nicht das Bedürfnis, so weit in die Rätsel erotischer Verhältnisse vorzudringen. Deswegen ist ihre Sexualität auch nicht von so mächtigen Chimären befrachtet, oft einfacher und auch befriedigender als diejenige Goethes. Dennoch kommen die meisten Menschen auch mit Abgründen in Berührung, wenn sie sich auf intensive sexuelle Begegnungen einlassen und in die Nähe des »Unbetretenen, nicht zu Betretenden« geraten. Ihre kreative Aufgabe besteht darin, diese Abgründe in einer lebendigen Partnerschaft zu gestalten.

Schöpferische Werke ermöglichen es Faust und in diesem Fall auch Goethe, Unaussprechliches zu berühren:

»Mephistopheles. Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund,

Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.

Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn,

Die einen sitzen, andre stehn und gehn,

Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,

Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.

Umschwebt von Bildern aller Kreatur;

Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.

Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß,

Und gehe grad’ auf jenen Dreifuß los,

Berühr ihn mit dem Schlüssel!

Faust macht eine entschieden gebietende Attitüde mit dem Schlüssel.

Mephistopheles ihn betrachtend. So ist’s recht!

Er schließt sich an, er folgt als treuer Knecht;

Gelassen steigst du, dich erhebt das Glück,

Und eh’ sie’s merken bist mit ihm zurück.

Und hast du ihn einmal hierher gebracht,

So rufst du Held und Heldin aus der Nacht,

Der Erste, der sich jener Tat erdreistet;

Sie ist getan, und du hast es geleistet […]«.

(Verse 6283–6300)

Hier wird der schöpferische Prozess beschrieben, der die Tiefen der menschlichen Existenz anrührt. Der Dreifuß wird zum Gefäß, in dem der Dichter wie die Mütter menschliche Gestalten schafft. Die Kunst ist für Goethe das magische Mittel, um sich der weiblichen Schöpferkraft anzunähern und gleichzeitig die Bedrohung durch das Reich der Mütter zu bewältigen.

Goethes wirkliche Mutter hat seine kreativen Möglichkeiten, zum großen Teil unbewusst, gefördert. Aus Sicht der Bindungspsychologie (Bowlby, 2006), die die frühe Interaktion von Mutter und Kind erforscht hat, kann man Folgendes festhalten: Goethe war an seine Mutter hinreichend sicher gebunden. Kinder, die sicher gebunden sind, können eher schöpferische Neugier entwickeln und erkunden ihre Umwelt angstfreier als unsicher gebundene. Dabei blieb Goethes Beziehung zu seiner Mutter nicht ohne Ambivalenz. Versagende und gefährliche Aspekte der Bindung konnte er aber aushalten und kreativ gestalten. Er hatte soviel Vertrauen und Bindungssicherheit, dass er sich mit den destruktiven Aspekten der Mutter-Kind-Beziehung auseinandersetzen konnte. Er musste die Mütter nicht in ein idealisiertes und unnahbares Bild verwandeln, sondern näherte sich den Gefährdungen, denen jede Mutter-Kind-Beziehung ausgesetzt ist, mit einer für Männer, insbesondere seiner Zeit, ungewöhnlichen Einfühlung an. Liest man unter diesem Aspekt die Gretchen-Tragödie, so ist man beeindruckt von dem tiefen Verständnis, das Goethe für die Schmerzen der Mutterschaft entwickeln konnte.

Die Sensibilität für den Mater-dolorosa-Aspekt der Mutter-Kind-Beziehung könnte man psychoanalytisch im Sinne von Melanie Klein (1957) und Hanna Segal (1991) folgendermaßen begründen: Ein hinreichend psychisch gesundes Kind nimmt schon im ersten Lebensjahr wahr, dass die Mutter nicht nur Bedürfnisse befriedigt und Versagungen auferlegt. Es spürt, dass es selbst aggressive Regungen entwickelt und der Mutter Schmerzen bereitet. Aus diesem Gefühl geht das Bedürfnis hervor, das durch destruktive Impulse beschädigte Mutterbild zu »reparieren«. Dieser Wunsch nach Wiedergutmachung geht mit der Entwicklung schöpferischer Fähigkeiten einher. Findet das Kind eine ausreichende Aufnahme seiner aggressiven Regungen, dann ist es ihm leichter möglich, diese Energien für konstruktive Betätigungen zu nutzen. So gelingt es Goethe zum Beispiel im »Faust«, mit dem er sich über weite Strecken identifiziert, abstoßende, widerwärtige und furchtbare Seiten seiner selbst zur Darstellung zu bringen. Goethe sagt auch mit Blick auf sich selbst, dass die Menschen aus »Himmel und Hölle« zusammengesetzt sind.

Nach Jacques Lacan (1949), der biologische und psychoanalytische Erkenntinsse mit kulturellen Erfahrungen verbindet, ist jedes Kind einem »manque primordial« ausgesetzt. Dieser primäre Mangel führt zu der lebenslangen Suchbewegung, eine phantasierte Einheit und Vollkommenheit herzustellen. Dies gelingt den Menschen besonders in der Kunst und der erotischen Liebe, stets aber auch nur für mehr oder weniger lange Zeit. Wichtig für den werdenden Künstler ist zudem die narzisstische Dimension, das heißt, dass er ausreichend gespiegelt, beantwortet und geschätzt wird. Diese narzisstische Bestätigung hat Goethe von seiner Mutter wahrscheinlich schon in frühester Kindheit erhalten. Den von Heinz Kohut (1976) als kreativitätsfördernd angesehenen »Glanz im Mutterauge« hat er sicherlich verspürt. Auch Sigmund Freud leitete aus der Mutterliebe Goethes Selbstbewusstsein ab: »Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, so behält man fürs Leben jenes Eroberungsgefühl, jene Zuversicht des Erfolges, welche nicht selten den Erfolg nach sich zieht« (1917, S. 26).

Dennoch war auch die Liebe seitens der Mutter mit Enttäuschungen und Versagungen verbunden. Ein kleines Kind kann die Trennung von der Mutter, zum Beispiel durch deren Beschäftigung mit einer rasch eintretenden neuen Schwangerschaft und den Tod nachfolgender Geschwister wie im Falle von Goethes Mutter, als schwerwiegenden Einbruch, ja als psychische Vernichtung erleben. Wir werden später sehen, dass sich Goethe häufiger in seinem Leben dem Gefühl der existenziellen Bedrohung ausgesetzt sah.

Die Vernichtungsgefühle der Geburt und die Ängste der ersten Lebensjahre klingen im Leben Goethes bis ins hohe Alter nach. Er gestaltet sie als Motive in seinen Werken beständig neu und bewältigt seine Ängste mit seiner Kreativität. Das bedeutet nicht, dass die künstlerischen Gestaltungen kausal durch Geburtstrauma und frühkindliche Entwicklung bedingt wären. Frühe Lebenserfahrungen schlagen sich jedoch in Stimmungen und Phantasien nieder, sie werden Themen, die im Erwachsenleben nachklingen, die immer wieder neu erlebt und gestaltet werden: »Solche Untersuchungen sollen nicht das Genie des Dichters erklären, aber sie zeigen, welche Motive es geweckt haben und welcher Stoff ihm vom Schicksal aufgetragen wurde« (Freud, 1933, S. 276).

In diesem Sinne kann man auch das Ende der »Faust«-Tragödie unter dem Gesichtspunkt der Beziehung Goethes zu seiner Mutter und den Frauen betrachten: In den »Bergschluchten«, der letzten Szene des »Faust«, die Goethe kurz vor seinem Tode, wahrscheinlich 1830, verfasste, behandelt er das menschliche Geschick zwischen ewigem Werden und Vergehen. Es erscheinen die Seligen Knaben, die unmittelbar nach der Geburt gestorben sind, Gretchen und die schmerzensreiche Mutter. Faust, der so viel Unheil anrichtete und so viel Schmerzen verursachte, wird erlöst:

»Gerettet ist das edle Glied

Der Geisterwelt vom Bösen,

Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.«

(Verse 11934–11937)

In dieser Hinsicht war auch die Beziehung Goethes zu seiner Mutter schmerzensreich und erlösend. In seinen Werken konnte Goethe sich mit den liebevollen wie bedrohlichen Aspekten seiner Mutter auseinandersetzen und letztlich ein gutes inneres Bild dieser inneren Bindung erschaffen, das auch mit dem Schicksal des Sterbenmüssens versöhnt. Dies ist ein wesentlicher Aspekt des Schlusschors des »Faust«:

»Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche

Hier wird’s Ereignis;

Das Unbeschreibliche,

Hier ist’s getan;

Das Ewig-Weibliche

Zieht uns hinan.«

(Verse 12104–12111)

Der Vater

Goethes Vater, Johann Caspar, wurde 1710 als Sohn eines erfolgreichen Schneiders geboren, der ihm ein großes, durch Heirat beträchtlich gesteigertes Vermögen hinterließ. Nach seinem Jurastudium an den Universitäten Gießen und Leipzig ging er mit 25 Jahren an das Reichskammergericht in Wetzlar und promovierte drei Jahre später. Die anschließende dreijährige Bildungsreise nach Italien und Frankreich prägte ihn für sein Leben. Nach Frankfurt zurückgekehrt, beschäftigten ihn die dort stattfindenden Kaiserkrönungen. Vom bayrischen Kaiser Karl VII. erwarb er für 313 Gulden den Titel eines »Wirklichen Kaiserlichen Rates«. Dieser Titel war jedoch für Johann Caspar eher schädlich, nachdem sich das Blatt gewendet hatte und der Habsburger Franz I. 1745 zum deutschen Kaiser gewählt wurde. Selbst sein Angebot, sich für ein Amt ohne Bezahlung zur Verfügung zu stellen, wurde abgelehnt. So zog er sich mit 32 Jahren ins Privatleben zurück und betätigte sich als Kunstliebhaber, Sammler und Mäzen. Seinem fortbestehenden Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung entsprach, dass sich der 38-Jährige eine Gattin aus besten Kreisen wählte: die 17 Jahre alte Tochter des einflussreichen und vermögenden Schultheißen der Stadt Frankfurt.

Seine eigene berufliche Randstellung kompensierte Johann Caspar Goethe mit pädagogischem Eifer. So hielt er seine Frau zu regelmäßigem Schreiben, Klavierspielen und Singen an und sie musste Italienisch lernen. Nachdem die Kinder geboren waren, blieb Catharina Elisabeth jedoch von den Bemühungen ihres Ehemanns verschont, weil er jetzt seine erzieherische Leidenschaft auf seine Kinder richten konnte. Er unterrichtete seine Kinder Johann Wolfgang und Cornelia zunächst selbst. Nur während eines aufwändigen Hausumbaus wurden die Kinder in eine öffentliche Schule geschickt, in der Johann Wolfgang als Fünfjähriger Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen erhielt. Hier traf er auf einen raueren Umgangston als zu Hause und sein großes, vielleicht auch an Arroganz grenzendes Selbstbewusstsein führte zu manchem Streit. Der kleine Goethe hatte zu seinen Altersgenossen ein schwieriges Verhältnis. Von Bettina von Arnim wissen wir, dass er oft altklug wirkte. Er protzte mit seinem Großvater Textor, der dem Frankfurter Magistrat vorstand, und wurde wegen seines gravitätischen Benehmens von seinen Spielkameraden gehänselt.

Nach der kurzen Zeit in einer öffentlichen Schule übernahm der Vater wieder den Unterricht und führte die Geschwister in das Lateinische und Italienische ein. Daneben gab er den Kindern verschiedenste Anregungen, wie es seine eigene Bildung, die große Bibliothek und die Bildersammlung erlaubten. Später unterrichteten mehrere Hauslehrer Johann Wolfgang in den alten Sprachen Griechisch, Latein und Hebräisch. Sein Vater machte ihn mit Englisch, Französisch und Naturwissenschaften vertraut und die vielfältigen Anregungen fielen bei dem lebhaften und interessierten Jungen auf fruchtbaren Boden. Goethe schreibt rückblickend: »Es ist ein frommer Wunsch aller Väter, das, was ihnen selbst abgegangen, an den Söhnen realisiert zu sehen, so ohngefähr, als wenn man zum zweitenmal lebte und die Erfahrungen des ersten Lebenslaufes nun erst recht nutzen wollte […] Meinem Vater war sein Lebensgang bis dahin ziemlich nach Wunsch gelungen; ich sollte denselben Weg gehen, aber bequemer und weiter […] Die Sprachformen und Wendungen fasste ich leicht; so auch entwickelte ich mir schnell, was in dem Begriff einer Sache lag […] Solche Aufsätze waren es jedoch, die meinem Vater besondre Freude machten, und wegen deren er mich mit manchen für einen Knaben bedeutenden Geldgeschenken belohnte« (HA 9, S. 31 ff.).

Wir sehen, dass Johann Caspar im Sohn Erwartungen erfüllt sehen wollte, die er in seinem eigenen Leben nicht realisieren konnte. Er förderte seinen Sprössling nach Kräften und war sich auch nicht zu schade, seinem Sohn nach dessen Studienabschluss juristische Alltagsarbeit abzunehmen, damit dieser seinen literarischen Neigungen nachgehen konnte. Das Verhältnis des jungen Goethe zu seinem Vater war von Gehorsam und Unterordnung geprägt. Besonders zärtlich und innig schien es nicht gewesen zu sein, obwohl er offenbar nicht unter der Strenge des Vaters litt. Er konnte die Strukturen, die der Vater ihm vorgab, für seine emotionale und intellektuelle Entfaltung gut nutzen. Demgegenüber meinte er, dass des Vaters Strenge und Unnahbarkeit die Entwicklung der Schwester beeinträchtigte.

Offene Konflikte mit dem Vater gab es erst, nachdem Goethe als 19-jähriger Student aus Leipzig in das Elternhaus zurückkehrte, ohne sein Studium abgeschlossen zu haben. Der Vater wurde ärgerlich und wollte, dass der »Kränkling« nicht zu Hause gepflegt, sondern in ein Sanatorium verbracht werde. Nach seiner Genesung wurde auch Goethe selbst das Leben im Vaterhause zu eng. Er schrieb rückblickend auf das Jahr 1770: »Im Frühjahr fühlte ich meine Gesundheit, noch mehr aber meinen jugendlichen Mut wieder hergestellt, und sehnte mich abermals aus meinem väterlichen Hause, obgleich aus ganz andern Ursachen als das erstemal: denn es waren mir diese hübschen Zimmer und Räume, wo ich so viel gelitten hatte, unerfreulich geworden, und mit dem Vater selbst konnte sich kein angenehmes Verhältnis anknüpfen; ich konnte ihm nicht ganz verzeihen, daß er, bei den Rezidiven meiner Krankheit und bei dem langsamen Genesen, mehr Ungeduld als billig sehen lassen, ja daß er, anstatt durch Nachsicht mich zu trösten, sich oft auf eine grausame Weise über das, was in keines Menschen Hand lag, geäußert, als wenn es nur vom Willen abhinge. Aber auch er ward auf mancherlei Weise durch mich verletzt und beleidigt« (HA 9, S. 355).

Man mag diese Beschreibungen einerseits als Ausdruck einer beiderseitigen Enttäuschung auffassen, andererseits jedoch auch als Ausdruck einer natürlichen Abstoßung zwischen Vater und Sohn. Später wurde das Verhältnis zwar wieder freundlicher, blieb aber sachlich und nüchtern. Dementsprechend finden sich in Goethes Werken nur wenige Stellen, die die Vaterthematik berühren. Im Vergleich mit seinem Freund Friedrich Schiller, der zum Beispiel in seinen großen Dramen »Kabale und Liebe«, »Die Räuber« und »Don Carlos« Konflikte zwischen Vätern und Söhnen ins Zentrum stellt, bleiben die Väter in Goethes Werken blass und stehen im Hintergrund. Die Vater-Sohn-Thematik wird zum Beispiel im »Götz von Berlichingen« erwähnt, aber kaum problematisiert. Im »Faust« erscheint der Vater nur am Rande als »dunkler Ehrenmann«. Als Vater des Euphorion erscheint Faust selbst stolz, aber ohne innere Beziehung.

Möglicherweise fand die weitgehend konfliktfreie, aber emotional nicht zu enge Beziehung zum Vater ihre Resonanz in Freundschaften zu älteren Männern. Die Freundschaft mit dem elf Jahre älteren Hofmeister Ernst Wolfgang Behrisch gab Goethe in seiner von psychischen Krisen erschütterten Studentenzeit in Leipzig Halt und ermunterte ihn zu ersten eigenen Dichtungen. Er konnte sich seinem Freund ohne Neid und Rivalität anvertrauen und seine Ratschläge annehmen. In Straßburg akzeptierte er Johann Gottfried Herder als Vorbild und Mentor und nutzte später die Zuwendung seines acht Jahre älteren Freundes und Gönners Johann Heinrich Merck in einer höchst bedeutsamen Schaffensphase in den Jahren 1773 und 1774. Goethe ließ sich von Merck, der wie Behrisch und Herder beruflich und gesellschaftlich bereits gefestigt war, als väterlichem Mentor beraten, unterstützen und führen. Dies war Goethes persönlicher und künstlerischer Entwicklung höchst förderlich. In »Dichtung und Wahrheit« schreibt er anerkennend, dass Freunde wie Merck »auf mein Leben den größten Einfluß« hatten (HA 9, S. 505).

Goethe besaß die Fähigkeit, von älteren Männern zu lernen, ohne sich in Autoritätskonflikte zu verstricken. Vielleicht trug hierzu die Beziehung zu seinem Vater bei, in der die Positionen schon seit der Kindheit bestimmt waren: Der Vater unterstützte im Sohn die Verwirklichung eigener Wünsche an das Leben und der Sohn fühlte sich getragen und positiv gespiegelt, ohne dass sich beide zu nah und ähnlich wurden. Am Vater kann man anerkennen, dass er das Talent des Sohnes früh erkannte, neidlos förderte und ihm die besten Entwicklungsmöglichkeiten bot. Insofern ist es nicht übertrieben, wenn der alte Goethe aphoristisch verkürzt zusammenfasst:

»Vom Vater hab’ ich die Statur,

Des Lebens ernstes Führen,

Von Mütterchen die Frohnatur

Und Lust zu fabulieren.«

(HA 1, S. 320)

Die hinter diesen leicht hingeworfenen Zeilen stehenden Konflikte des »ganzen Wicht«, wie sich Goethe wenige Verse später nennt, werden wir noch kennenlernen.

Die Schwester

Mit seiner fünfzehn Monate jüngeren Schwester Cornelia verband Goethe von früher Kindheit an ein inniges Verhältnis. Das Geschwisterpaar war seit frühster Kindheit unzertrennlich. Bettina von Arnim berichtet Folgendes: »Zu der kleinen Schwester hatte er, da sie noch in der Wiege lag, schon die zärtlichste Zuneigung, er trug ihr alles zu und wollte sie allein nähren und pflegen und war eifersüchtig, wenn man sie aus der Wiege nahm, in der er sie beherrschte« (1835, S. 378).

Bei aller Vorsicht, die bei Bettinas Schilderungen angebracht ist, wird hier ein Zug deutlich, der auch andere Beziehungen charakterisieren sollte: Unbekümmert, je nach Wertung auch unverschämt, bemächtigte er sich der Personen in seiner Umgebung, ob sie nun Cornelia oder später Friederike Brion, Charlotte Buff und Charlotte von Stein hießen. Goethe selbst beschreibt in einer Skizze, die er später aus seiner Autobiographie strich, seine frühe Beziehung zu Cornelia folgendermaßen: »[…] die kleine Schwester liebte er schon zärtlich, als sie noch in der Wiege lag, und er pflegte heimlich Brod in der Tasche zu tragen, das er dem Kinde in den Mund stopfte, wenn es schrie; wollte man es nehmen, so ward er zornig, so wie er überhaupt mehr zum Zürnen als zum Weinen zu bringen war« (WA, Bd. I, 29, S. 234).

So schien Goethe ein kleiner Besserwisser gewesen zu sein, der mit Wut reagierte, wenn man ihm seine Grenzen zeigte. Kurt Robert Eissler (1963) erklärt das sorgende und altruistische Verhalten des kleinen Goethe als in sein Gegenteil verkehrten Neid auf die Schwester. Des Weiteren erlebe er in seiner Selbsterhöhung zum Versorger des Kindes eine Kompensation für die narzisstische Verletzung, nicht mehr der einzige Liebling seiner Mutter zu sein. Wie später beim Tod seines Bruders Hermann Jakob identifiziere er sich mit den Erwachsenen und setze sich durch seine Aktivitäten über seine Ohnmacht hinweg. Er verhalte sich offensichtlich so, als sei Cornelia sein eigenes Kind.

Goethe entwickelte von früher Kindheit an eine besitzergreifende Einstellung zu seiner gesamten Umgebung. Nicht nur die Schwester betrachtete er als sein Eigentum, auch viele seiner späteren Freundinnen eignete er sich rückhaltlos in seiner Phantasie an. Goethe erschien in dieser Hinsicht oft dreist und aufdringlich. Auf der anderen Seite war sein bedenkenloses Zugehen auf Personen eine besondere Fähigkeit, die ihm über viele Krisen hinweghalf. Ähnlich freizügig ergriff er mit seiner Phantasie die unbelebte Natur, betrachtete sie als sein Eigentum und seine Trösterin. Dies war eine wichtige Bedingung seines Schöpfertums.

Goethe erlebte Cornelia als Magneten, der während seiner gesamten Kindheit auf ihn wirkte, und auch in der Jugend blieb sie seine wichtigste Vertrauensperson: »Sie, nur ein Jahr jünger als ich, hatte mein ganzes bewusstes Leben mit mir herangelebt und sich dadurch mit mir aufs innigste verbunden. Zu diesen natürlichen Anlässen gesellte sich noch ein aus unsrer häuslichen Lage hervorgehender Drang; ein zwar liebevoller und wohlgesinnter, aber ernster Vater […]; dagegen die Mutter fast noch ein Kind, welche erst mit und in ihren beiden Ältesten zum Bewusstsein heranwuchs […] Unter diesen Umständen war es natürlich, dass Bruder und Schwester sich fest aneinander schlossen […] Da aber die Stunden der Eingezogenheit und Mühe sehr lang und weit waren gegen die Augenblicke der Erholung und des Vergnügens, besonders für meine Schwester, die das Haus niemals auf so lange Zeit als ich verlassen konnte, so ward ihr Bedürfnis, sich mit mir zu unterhalten, noch durch die Sehnsucht geschärft, mit der sie mich in die Ferne begleitete« (HA 9, S. 228).

Goethes Beschreibung Cornelias, die er mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod verfasste, ist von einer tiefen Zuneigung geprägt, der den Blick für ihre Nachteile aber nicht trüben konnte: »Die Züge ihres Gesichts, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen, das weder mit sich einig war, noch werden könnte. Ihre Augen waren nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete, und, wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen Glanz hatten ohnegleichen« (HA 9, S. 229).

Die erotische Beziehung Goethes zu seiner Schwester Cornelia wurde von Eissler (1963) eingehend analysiert. Geheimnisvoll ist in dieser Hinsicht folgende Stelle aus Goethes Autobiographie: »Wie sie nun die allgemeine Duldung des Guten, Menschlichen, mit allen Wunderlichkeiten, wenn es nur nicht ins Verkehrte ging, mit mir gemein hatte, so brauchte nichts Eigentümliches, wodurch irgend ein Naturell ausgezeichnet war, sich vor ihr zu verbergen, oder sich vor ihr zu genieren; weswegen unsere Geselligkeiten, wie wir schon früher gesehn, immer mannigfaltig, frei, artig, wenn auch gleich manchmal ans Kühne heran, sich bewegen mochten. Die Gewohnheit, mit jungen Frauenzimmern anständig und verbindlich umzugehn, ohne dass sogleich eine entscheidende Beschränkung und Aneignung erfolgt wäre, hatte ich nur ihr zu danken« (HA 10, S. 132 f.).

An einer anderen Stelle spricht Goethe von »jenem Erstaunen beim Erwachen sinnlicher Triebe, die sich in geistige Formen, geistige Bedürfnisse, die sich in sinnliche Gestalten einkleiden […] Betrachtungen darüber, die uns eher verdüstern als aufklären […] Irrungen und Wirrungen, die daraus entspringen« und das alles »teilten und bestanden die Geschwister Hand in Hand, und wurden über die seltsamen Zustände um desto weniger aufgeklärt, als die heilige Scheu der nahen Verwandtschaft sie, indem sie sich einander mehr nähern, ins Klare treten wollten, nur immer gewaltiger auseinander hielt« (HA 9, S. 228).

Die Auffassung, dass Goethe an diesen Stellen mit der sexuellen Anziehung durch Cornelia rang, kann man weder bestätigen noch widerlegen. Aber der Begriff des Inzests, den Eissler für die Beziehung zwischen Cornelia und Johann Wolfgang wählt, erscheint überzogen. Natürlich schwingen in Goethes Empfindungen wie in vielen Geschwisterbeziehungen erotische Komponenten mit. Wesentlich bedeutsamer als das erotische Moment war jedoch die tiefe geschwisterliche Bindung an Cornelia, die ihn über viele Jahre hinweg emotional stabilisierte und künstlerisch inspirierte. Die Beziehung zu Cornelia blieb selbst dann noch eng, nachdem er sich von der Familie getrennt hatte, um in Leipzig zu studieren. Seine Briefe enthüllen, dass Cornelia auch in dieser Zeit seine wichtigste Vertrauens- und Bezugsperson blieb und er schrieb ihr mitunter täglich. Seine Wortwahl enthüllt eine außerordentlich große Verbundenheit: »Liebes Schwestergen. Es wäre unbillig, wenn ich nicht auch an dich dencken wollte. Id est es wäre die größte Ungerechtigkeit, die jemals ein Student, seit der Zeit, da Adams Kinder auf die Universität gehen, begangen hätte; wenn ich an dich zu schreiben unterließe […] Sei überzeugt, mein Engel, dass es mir hier so gut geht, wie ich es mir nicht besser wünschen könnte« (FA 28, S. 15 ff.).

Cornelia schien ihrerseits Goethe alles anzuvertrauen und fühlte sich ihm weiterhin eng verbunden. Er wurde zwar zu ihrem brieflichen Lehrmeister, doch dies konnte ihre emotionale Nähe kaum stören. Er antwortet auf einen Brief Cornelias im Mai 1777 Folgendes: »Ich bin ganz überwältigt von Deinem Brief, Deinen Schriften, Deiner Art zu denken […] Glaube nicht, daß ich schmeicheln will; der enthusiastische Ton, den ich anstimmen musste, nachdem ich diese Unterhaltung in Form eines Briefes gelesen hatte, entspringt wahrhaften Gefühlen meines Herzens, das seit langer Zeit nicht so viel wahre Freude gefühlt hat, als durch den Anblick seiner Schwester, die sich so sehr vervollkommnet hat […] Ich danke Gott, meine Schwester, Leipzig kann mir kein einziges Mädchen bieten, das mit dir auch nur verglichen werden könnte« (FA 28, S. 639).

Cornelia wurde jedoch, im Gegensatz zu ihrer Mutter, in der Adoleszenz und als junge Erwachsene zunehmend scheu und verschlossen. Goethe machte die restriktive Erziehung seitens des Vaters mit verantwortlich für diese Entwicklung. Ungewöhnlich für seine Zeit bedauerte er, dass der Vater seiner Schwester zu wenig Freiraum gab, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Nach seiner Rückkehr aus der fast dreijährigen Leipziger Studienzeit im Jahre 1768 war er über die Entwicklung seiner Schwester bedrückt: »Meine Schwester war und blieb ein indefinibles Wesen, das sonderbarste Gemisch von Strenge und Weichheit, von Eigensinn und Nachgiebigkeit […] So hatte sie auf eine Weise, die mir fürchterlich erschien, ihre Härte gegen den Vater gewendet, dem sie nicht verzieh, daß er ihr diese drei Jahre lang so manche unschuldige Freude verhindert oder vergällt, und von dessen guten und trefflichen Eigenschaften sie auch ganz und gar keine anerkennen wollte. Sie tat alles, was er befahl oder anordnete, aber auf die unliebsamste Weise von der Welt. Sie tat es in der hergebrachten Ordnung, aber auch nichts drüber und nichts drunter. Aus Liebe und Gefälligkeit bequemte sie sich zu nichts, so daß dies eins der ersten Dinge war, über die sich meine Mutter im geheimen Gespräch mit mir beklagte. Da nun aber meine Schwester so liebebedürftig war, als irgend ein menschliches Wesen; so wendete sie nun ihre Neigung ganz auf mich« (HA 9, S. 337 f.).

Die Härte in Cornelias Wesen schrieb Goethe also der väterlichen Strenge zu. Ihre Schwierigkeit, dem Verlobten und späteren Ehemann mit unbefangener Zuneigung und Erotik zu begegnen, mag aber auch mit der engen geschwisterlichen Bindung zusammenhängen: »[…] in ihrem Wesen lag nicht die mindeste Sinnlichkeit. Sie war neben mir heraufgewachsen und wünschte ihr Leben in dieser geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen und zuzubringen« (HA 10, S. 132).

Räumliche Umgebung

Für Goethes persönliche Entwicklung war auch seine räumliche Umgebung bedeutsam. Das verwinkelte Haus bot ihm einerseits Schutz und andererseits Nahrung für seine Phantasie. Es lag am Rande der Frankfurter Altstadt. Eine turmartige Treppe führte zu den Zimmern. Der weitläufige Hausflur, durch ein hölzernes Gitter von der Straße getrennt, war ihm der liebste Aufenthaltsraum. Hier saßen in der warmen Jahreszeit die Frauen bei ihrer Arbeit und besprachen sich miteinander. An diesem Ort kam der kleine Johann Wolfgang mit den Nachbarskindern in Berührung. Eine besondere Bedeutung verlieh Goethe später der folgenden Kindheitserinnerung: Er spielte am Nachmittag im Hausflur mit Geschirr, und als es ihm zu langweilig wurde, warf er einen Topf auf die Straße. Die drei gegenüber wohnenden Brüder von Ochsenstein erfreuten sich an diesem Spiel und ermunterten ihn, weiteres zerbrechliches Geschirr auf die Straße zu werfen. Unter ihren Anfeuerungsrufen: »Noch mehr, noch mehr!« schleuderte er auch das Alltagsgeschirr der Familie auf das Pflaster. Freud (1917) deutet diese Kindheitsszene als Ausdruck einer Auseinandersetzung mit der Geburt des drei Jahre jüngeren Bruders Hermann Jakob. Die Erbitterung des Kindes über die Ankunft eines Konkurrenten habe sich durch das Werfen von Gegenständen und andere Wutreaktionen Luft gemacht. Goethe habe um seine Position als unbestrittener Liebling der Mutter gebangt. Eine alternative Sichtweise wäre, dass er sich theatralischer Inszenierungen bediente, um seinen emotionalen Aufruhr zu bewältigen. Wir werden darauf zurückkommen.

Die Hinterseite des Hauses bescherte eine angenehme Aussicht über die Nachbargärten. Der Heranwachsende hielt sich gern im Gartenzimmer auf. Man blickte über eine fruchtbare Ebene und Goethe konnte sich an den Sonnenuntergängen nicht satt sehen. Dieser Ort, von dem aus er die Nachbarn in ihren Gärten und die Kinder spielen sah, erregte frühzeitig in ihm ein Gefühl von Einsamkeit und Sehnsucht. Das Haus selbst erschien ihm düster. Die Kinder wurden früh daran gewöhnt, allein zu schlafen, und wenn sie nachts ihr Zimmer verließen, um zu den Eltern oder Bediensteten zu schleichen, wurden sie vom Vater erschreckt und in ihre Zimmer verwiesen. Die Mutter war einfühlsamer und versprach eine morgendliche Belohnung, wenn die Kinder ihre nächtliche Furcht selbständig überwanden.

Die Stiche römischer Ansichten, zum Beispiel der Piazza del Popolo oder des Petersdoms, die der Vater im Hause angebracht hatte, fesselten die Aufmerksamkeit des kleinen Goethe. Die Vorliebe des Vaters für die italienische Sprache und das gesamte Land hinterließ tiefe Spuren. Er lernte beispielsweise aus eigenem Antrieb italienische Lieder auswendig, die der heitere italienische Sprachmeister Giovinazzi, von der Mutter am Klavier begleitet, im Hause Goethe zum Besten gab.

Die Großmutter Cornelia Goethe, die mit den Erinnerungen an das Haus am Hirschgraben eng verbunden war, hatte für Goethes Sicherheits- und Bindungsgefühl eine große Bedeutung. Sie hatte das Haus nach dem Tod ihres Mannes erworben und lebte hier mit der Familie bis zu ihrem Tod im Jahre 1754. Die Kinder pflegten bei ihr zu spielen und Goethe erinnerte sie als sanfte, freundliche und wohlwollende Frau. Einen bleibenden Eindruck hinterließ ein