Lindner und das Keltengrab - Jürgen Seibold - E-Book

Lindner und das Keltengrab E-Book

Jürgen Seibold

4,6

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Kommissar Stefan Lindner gilt im Landeskriminalamt als Experte für die ganz speziellen Fälle. Dabei kommt er selbst nur sehr schwer mit solchen Verbrechen zurecht - vor allem seine Fähigkeit, sich in die Umstände eines Mordes hineinzudenken, setzt ihm zu. Das ist diesmal nicht anders. In einem Wasserspeicher in Nürtingen, der oberhalb der Stadt in einem flachen Hügel untergebracht ist, wird ein Toter gefunden. Er ist auf einem hölzernen Schragen aufgebahrt, neben ihm steht sein Motorroller, dazu sind einige Kleider und Werkzeuge sowie mehrere Prachtstücke aus seiner Sammlung historischer Waffen sorgfältig auf Decken und Tüchern drapiert. Lindner wird erst nicht schlau aus der Inszenierung, aber als ihn ein Kollege darauf hinweist, dass schon die Kelten ihre toten Fürsten auf ähnliche Weise begruben, ergibt sich eine Spur - und Lindner taucht in eine fremde Welt tiefer ein, als es gut für ihn ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 301

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,6 (10 Bewertungen)
8
0
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jürgen SeiboldLindner und das Keltengrab

Jürgen Seibold

Lindner unddas Keltengrab

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane sowie die Reportagensammlung »Baden-Württemberg scharf« veröffentlicht.

1. Auflage 2014

© 2014 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © nikitje – iStockphoto.Druck: CPI books, Leck.Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1646-5E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1647-2Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1347-1

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Autor

Mittwoch, 22. Oktober

Donnerstag, 23. Oktober

Freitag, 24. Oktober

Samstag, 25. Oktober

Sonntag, 26. Oktober

Mittwoch, 22. Oktober

Sonntag, 26. Oktober

Donnerstag, 6. November

Dank

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

Mittwoch, 22. Oktober

Als gegen halb neun auch noch Fritz Aichele zu ihnen stieß, war die Runde im Gasthaus zum Hirschen in Bad Boll komplett. Das Binokeln war Stefan Lindner durch den ersten Mordfall verleidet worden, den er vor fast genau drei Jahren für das Landeskriminalamt zu lösen hatte – nun trafen sie sich einmal die Woche im Hirschen und legten einen Malefiz-Spielplan vor sich auf dem Tisch aus. Und dann hockten sie den ganzen Abend zusammen: Thomas Bruch, Lindners Hausarzt und früher sein Klassenkamerad, Fritz Aichele, der Leiter des Boller Polizeipostens, Maria Treidler, tagsüber für die Göppinger Kripo tätig und nachts oft in Lindners Jugendzimmer im elterlichen Bauernhof zu Gast, und Stefan Lindner selbst.

Es ging in der Regel lustig zu an diesen Abenden, nur Aichele wurde manchmal wütend, wenn die anderen seine Spielfiguren mit den weißen Stoppsteinen wieder einmal heillos blockierten. Aber ein spendiertes Bier später war auch er wieder besänftigt, und nicht selten würfelten sie sich durch zwei oder drei Spiele hintereinander.

Heute hatte Aichele bereits einmal gewonnen, im zweiten Durchgang sah es ebenfalls recht gut für ihn aus, und entsprechend fröhlich ging er zu Werke. Außer der munter lärmenden Runde war nur ein jüngeres Pärchen im Raum, aber die beiden sahen sich über ihre Schüsseln mit Wurstsalat so selig an, dass sie von dem Hallo am großen Tisch fast nichts mitbekamen. Chiara Aichele, die hübsche Hirschen-Wirtin, früh verwitwet und über ihren verstorbenen Mann weitläufig mit Fritz Aichele verschwägert, stellte einige frisch polierte Gläser ins Regal, kam herüber an den Malefiz-Tisch und zog sich einen freien Stuhl heran.

»Na, Leute, läuft’s?«

»Klar«, rief Aichele aufgekratzt, würfelte eine Fünf und kegelte eines von Bruchs Männchen vom Spielplan. »So, jetzt fängt der Herr Doktor mal wieder schön von vorne an, gell?«

Er lachte dröhnend, und Bruch, Maria und Lindner wechselten amüsierte Blicke.

»Den Stefan darf ich ja nicht rauswerfen«, fuhr Aichele fort. »Sonst gibt der uns heute Abend womöglich kein Geburtstagsbier mehr aus! Wird übrigens allmählich mal Zeit, Stefan!«

»Oh, stimmt ja«, erwiderte Lindner, »ich hab euch ja noch immer nicht eingeladen! Und mein Geburtstag war schon vor zwölf Tagen – peinlich … Chiara, bringst du nachher bitte jedem ein Bier auf meinen Deckel, und eine große Schüssel von deinem Spezialwurstsalat?«

Chiaras Wurstsalat Speciale war in Bad Boll und Umgebung seit Jahren berühmt und beliebt, und diese Mischung bekam man wirklich nur im Hirschen: ein schwäbischer Wurstsalat mit ordentlich Essig und Zwiebeln und mit einer einzigen Abweichung vom traditionellen Rezept – statt der Schwarzwurst waren dünne Streifen luftgetrockneter Salami untergemischt.

»Kann ich machen – oder ich richte euch eine schöne große Vesperplatte her. Meine Oma hat mir Speck und Kaminwurzen aus Südtirol geschickt, und heute habe ich Roggenbrot gebacken.«

Aichele lief schon das Wasser im Mund zusammen, und Bruch musste ihn zweimal daran erinnern, die Würfel weiterzugeben, so intensiv malte er sich das bevorstehende Vesper bereits aus. Für Speck und Wurst und Roggenbrot legten sie bald darauf eine längere Pause ein, und als Aichele, der zwei seiner Figuren schon ganz in der Nähe des Ziels platziert hatte, noch mit vollem Mund ganz eifrig zum Weiterspielen drängte, klingelte Lindners Handy.

»Ja?«, meldete er sich, dann hörte er eine Weile zu, erst genervt, dann interessiert und schließlich ungläubig. »Nürtingen?«, fragte er nach. »Hm…ja, natürlich, aber jetzt sofort?« Wieder eine längere Pause. »Gut, dann simsen Sie mir bitte die Position durch, ich …« Er sah kurz zu Maria hin, die ihn während des Gesprächs aufmerksam beobachtet hatte und nun kurz nickte. »Ich mach mich dann gleich auf den Weg.«

»Das ist jetzt nicht euer Ernst, oder?«, protestierte Aichele, als Lindner und Maria aufstanden. »Ich bin schon fast im Loch, da kneift ihr?«

»Wir geben auf, Fritz«, versetzte Lindner lachend. »Dir ist heute nicht beizukommen. Tut mir leid, die Arbeit ruft. Chiara, schreibst du das Vesper und die Runde Bier auf meinen Deckel, ich zahl beim nächsten Mal, okay?«

Der Abend war ziemlich mild, und als Maria und Lindner aus dem Hirschen traten, hockten schräg gegenüber einige Jugendliche beisammen, die bunte Flaschen kreisen ließen. Doch das Grölen und das Gelächter, das zu hören war, kam nicht von den Jugendlichen herüber – es drang durch die gekippten Fenster des Bürgertreffs, der auf der anderen Seite der Badstraße im Alten Schulhaus untergebracht war. Dort trafen sich an diesem Abend die Boller Mädle: einige ältere Damen aus Bad Boll und Umgebung, die gerne dem Likör und Ähnlichem zusprachen und die dank solcher Hilfsmittel schon recht früh am Abend laut und lustig wurden. Die Stimme von Ruth Lindner war nicht wirklich herauszuhören, aber Lindner konnte sich gut vorstellen, dass seine rüstige Mutter auch diesmal wieder eine der verlässlichsten Stimmungskanonen war.

Auf dem Fußweg hinaus zum Lindnerschen Bauernhof an der Gruibinger Straße brachte Lindner Maria aufs Laufende, und als sie mit ihrem postgelben Zweisitzer aus dem Lindner-Hof preschte, wusste sie schon, weswegen ihr Freund gerufen worden war.

Im Wasserhochbehälter Hochen bei Nürtingen war ein Toter entdeckt worden. Ein Anrufer hatte den Fund anonym der Polizei gemeldet, die zuständige Kriminalpolizei Esslingen und das Polizeirevier Nürtingen waren bereits vor Ort, und Lindners Vorgesetzter beim Landeskriminalamt, Hans-Dieter Kortz, hatte darauf bestanden, dass Lindner für das LKA zum Fundort fuhr und sich ebenfalls ein Bild von dem Fall machte.

»Er will mich wohl als Spezialisten für die ganz besonders seltsamen Mordfälle etablieren«, brummte Lindner und verzog das Gesicht.

Maria nahm die Hand vom Schaltknüppel und legte sie Lindner auf den Arm. Sie wusste, dass er häufig schlecht schlief – dass er sich zwar besonders gut in skurrile Mordfälle hineindenken konnte, in die Täter und ihre verschrobenen Gedanken, aber dass er sehr darunter litt.

»Ein Toter auf der Streuobstwiese, offenbar mit Mostäpfeln gesteinigt«, fuhr Lindner leise fort, »und vier Leichen in Kreuzigungspose und mit Bezügen zum Pietismus – ich bin gespannt, wie da der Tote im Wasserbehälter reinpasst.«

Eine Wasserleiche kam ihm in den Sinn, die er in seiner Zeit bei der Stuttgarter Kripo mal gesehen hatte, und er schüttelte sich. Das war in der Regel eine sehr eklige Angelegenheit, die man nicht so schnell vergaß – aber doch nicht so skurril wie die Toten in seinen beiden bisher spektakulärsten Fällen.

Maria hatte ordentlich Gas gegeben, und nach kaum einer halben Stunde ließ sie ihren Wagen hinter einigen Fahrzeugen ausrollen, die auf und neben einem Feldweg aus Betonfertigteilen abgestellt waren. Lindner sah sich um. Einige Streifenwagen waren vor Ort, einige Kombis in Zivil waren vermutlich die Dienstwagen der Kripokollegen, eine schwarze Limousine war ebenfalls zu sehen, und ein weißer Transporter als typisches Gefährt der Kriminaltechniker stand neben der Limousine.

Sie befanden sich auf einem topfebenen Plateau hoch über dem Neckartal, in die meisten Richtungen ging der Blick weit hinaus, nur nach Norden und Nordwesten hin endete die Aussicht bald am Waldrand. Mit Blickrichtung nach Süden war eine Holzbank aufgestellt, daneben stand ein kleines Stück Mauer, auf dem ein Ortswappen angebracht war. Etwa einen Meter daneben begann ein umzäuntes Areal, das fast vollständig von einem Erdhügel ausgefüllt wurde, dicht mit verschiedenen Büschen bewachsen. Aus der Hügelseite in Richtung Westen schob sich das Gebäude des Wasserhochbehälters hervor, ein nicht allzu großes, recht ansehnliches Haus mit schmuckem, offenbar noch recht neuem Mauerwerk und einem Pultdach, das zum Feld hin abfiel.

Die stählerne Eingangstür des Gebäudes stand offen. Davor befand sich ein gepflasterter Eingangsbereich, das Tor, das durch die Umzäunung auf den Eingangsbereich führte, war sperrangelweit geöffnet. Dort und auf dem mit grauem Kies beschütteten Vorplatz war mit rotweißem Trassierband ein Korridor markiert, der vom Feldweg bis zur Eingangstür führte.

Der uniformierte Polizist, der sich von Lindner auf der Zufahrt zum Wasserbehälter den LKA-Ausweis hatte zeigen lassen, hatte ihm den Staatsanwalt beschrieben, der ebenfalls schon vor Ort war. Und mit »ein kleiner Dicker mit buschigem Schnauzer« war Lindner gut geholfen: Im Eingangsbereich standen innerhalb der trassierten Fläche mehrere schlanke und normal große Männer beisammen – und ein kleiner Dicker.

Lindner ging auf die Gruppe zu, Maria blieb neben einem weiteren Uniformierten stehen, der den Zugang zum Wasserbehälter argwöhnisch bewachte, und begann ein Gespräch mit ihm. Lindner konnte hören, wie die Männer im Eingangsbereich sich unterhielten – offenbar gab es um irgendetwas Streit. Der größte Mann in der Runde hatte seine Stimme erhoben und sah ziemlich wütend aus.

»Wir verstehen unser Handwerk, und wir brauchen ganz sicher keinen Klugscheißer vom LKA, der uns erklärt, wie man einen Mord aufklärt!«

Neben ihm stand Hans-Dieter Kortz und ließ die Tirade seelenruhig über sich ergehen. Er bemerkte Lindner hinter dem Staatsanwalt herankommen und nickte ihm mit einem leichten Grinsen zu.

»Da kommt ihr aus eurer Hauptstadt und wollt schnell mal den Provinzlern erklären, wie ihre Arbeit geht, was? Darauf kann ich gut verzichten!«

»Wenn Stuttgart Ihr Problem ist, Kollege«, versetzte Kortz in aller Ruhe und lächelte ihn nachsichtig an, »kann Ihnen geholfen werden. Ich stamme aus Schorndorf und habe inzwischen ein Häuschen in Korb bei Waiblingen, und mein Kollege wohnt in Bad Boll.«

Er deutete auf Lindner, der nun zwischen dem Staatsanwalt und dem erregten Kripobeamten in die Runde getreten war.

»Und Sie, Herr Pfau …?«

»Esslingen, direkt in der Altstadt«, antwortete Pfau automatisch und sah dabei zu dem Neuankömmling hin. Erst wechselte seine Miene von wütend zu verblüfft, und dann legte sich zur Überraschung der Umstehenden ein breites Grinsen auf Pfaus Gesicht.

»Da brat mir doch einer einen …«

»… einen Pfau«, fiel ihm Lindner ins Wort.

Der Esslinger Kripobeamte lachte, und beide Männer begrüßten sich mit einem herzlichen Händedruck.

»Mein Name ist Stefan Lindner, ich ermittle fürs LKA, mein Vorgesetzter, Herr Kortz, hat mich hierhergebeten«, stellte sich Lindner den anderen vor. »Und Herr Pfau und ich waren bis 2010 zusammen bei der Stuttgarter Kripo.«

Pfau nickte, und dabei verdüsterte sich seine Miene für einen Moment, als riefe Lindners Bemerkung eine unangenehme Erinnerung wach.

»Und jetzt willst du mir in die Arbeit pfuschen?«, fragte Pfau, aber er klang viel weniger aggressiv als noch vor kurzem.

»Eigentlich nicht«, versetzte Lindner. »Und ich bin selbst gespannt, warum Sie mich dazugerufen haben, Herr Kortz.«

»Das werden Sie gleich verstehen, wenn wir reingehen. Und Sie, Herr Pfau, werden natürlich mit Ihren Esslinger Kollegen die Ermittlungen durchführen – Herr Lindner wird Ihnen zuarbeiten, und glauben Sie mir: Er wird Ihnen eine gute Hilfe sein.«

»Ich weiß, dass Stefan ein guter Ermittler ist, aber …«

Pfau unterbrach sich, dann zuckte er mit den Schultern.

»Was soll’s«, fuhr er fort und wandte sich an Lindner. »Lassen wir dich halt mitspielen. Auf diese Weise können wir wenigstens mal wieder zusammenarbeiten.«

Neben Lindner war ein Räuspern zu hören. Die Männer wandten sich dem kleinen Dicken zu, der es schaffte, zugleich streng und amüsiert zu Lindner und Pfau hinaufzublicken.

»Freut mich, dass sich hier alle so schön einig sind, und ich will die große Verbrüderung auch nicht weiter stören, aber die Ermittlungen leitet noch immer die Staatsanwaltschaft.«

Er gab Lindner die Hand.

»Hubert Pannemann, Staatsanwalt«, stellte er sich vor. »Und wenn Sie keine Witze über meinen Namen machen, können wir eine gute Zeit miteinander haben.«

Dabei grinste er, und zwischen den feisten Wangen und buschigen schwarzen Augenbrauen funkelten seine kleinen Augen munter hervor.

»Und nun noch die Frage an Herrn Kortz: Warum möchten Sie den Kollegen denn an den Ermittlungen beteiligt sehen? Denn so sehr mir die laute Art widerstrebt, mit der Herr Pfau sich gerade beschwert hat, so sehr muss ich ihm doch in der Sache recht geben – die Esslinger Kripo scheint mir diesem Fall durchaus auch ohne LKA-Unterstützung gewachsen.«

Kortz schilderte kurz die Fälle, in denen Lindner seit seinem Wechsel zum Landeskriminalamt ermittelt hatte, und Pannemann quittierte die Begründung mit einem anerkennenden Blick auf Lindner.

»Na, dann«, sagte er schließlich, »herzlich willkommen in meinem Team.«

Er nickte ihm zu, Lindners Gesicht wiederum wirkte wie ein einziges Fragezeichen.

»Kommen Sie am besten mit, dann werden Sie schon verstehen, was Ihr Chef sich dabei gedacht hat, Sie hierherzuzitieren.«

Pannemann watschelte auf die Eingangstür des Wasserbehälters zu, Kortz bedeutete Lindner, ihm zu folgen, und auch Pfau, der mit den anderen Männern stehen blieb, nickte ihm aufmunternd zu.

Als Lindner durch die offene Tür trat, stand er in einem Vorraum, der auf etwa sechs Metern in der Länge mit grauen Fliesen ausgelegt war. Die Breite der gefliesten Fläche betrug vorne am Eingang etwa zwei Meter und erweiterte sich weiter hinten durch eine Nische, die links Platz für einen schmalen Tisch und zwei Stühle bot. Rechter Hand ging es zu einer Treppe, die ins untere Geschoss führte. Geradeaus, gegenüber des Eingangs, waren zwei weitere Stahltüren mit eingearbeiteten Fenstern zu sehen. An den Wänden waren Schaltkästen angebracht, und zusätzlich zu einem regelmäßigen Surren erklang von Zeit zu Zeit ein weiteres Geräusch.

Kortz beugte sich zu Lindner.

»Draußen sind die beiden Wassermeister oder Wasserwärter oder wie das heißt. Die sind von den Stadtwerken und kümmern sich um die Trinkwasserbehälter. Das Surren, haben sie mir vorher erklärt, kommt von einem Luftentfeuchter, und das lautere Geräusch ist eine Druckerhöhungsanlage, die für die beiden Bauernhöfe gebraucht wird, die hier oben in der Nähe des Speichers stehen und natürlich auch von hier aus mit Leitungswasser versorgt werden.«

Lindner nickte, aber irgendwelche technischen Details dieser Anlage interessierten ihn weniger als das, was hier vermutlich nicht wirklich hingehörte. Die Kriminaltechnik hatte Scheinwerfer aufgestellt, und ihr grelles Licht inszenierte den Fundort der Leiche mit harten Schatten noch dramatischer, als er ohnehin schon aussah. Im ersten Moment war Lindner erleichtert, dass er es hier doch nicht mit einer Wasserleiche zu tun hatte, im nächsten Augenblick sah er ratlos auf die Details des skurrilen Bildes, das sich ihm bot.

In dem ursprünglich kahlen Raum war die Leiche nicht nur abgelegt, sondern aufwändig aufgebahrt und mit allerlei seltsamem Zierrat umgeben. Der Tote lag rücklings auf zwei aneinandergeschobenen schmalen Bänken, die vermutlich zu einer Biertischgarnitur gehörten. Weder das helle Holz noch die Decke, die als Unterlage auf den Bänken ausgebreitet war, wies irgendwelche Blutspuren auf, und auch der Leichnam selbst lag da, als schliefe der Mann nur tief. Friedlich sah er aus, die Beine ausgestreckt und die Arme neben dem Oberkörper auf dem Schragen abgelegt – nur die verkrampften Finger, die leicht aus den Höhlen tretenden Augen und der weit, wie zu einem verzweifelten Schrei aufgerissene Mund machten einen weniger entspannten Eindruck.

»Dieser Hut lag auf dem Gesicht des Toten«, erläuterte Pannemann und deutete auf eine Kopfbedeckung, die inzwischen in einem großen transparenten Plastikbeutel steckte. Sie ähnelte vage einem altmodischen Sommerhut, war aber nicht aus Stroh geflochten.

»Der Hut ist aus Birkenrinde gefertigt«, fügte der Staatsanwalt hinzu, als er bemerkte, wie aufmerksam Lindner die Kopfbedeckung musterte. »Sagen die Techniker jedenfalls. Ich kenn mich da nicht so gut aus.«

Lindner war deutlich anzusehen, dass er mit dieser Information herzlich wenig anfangen konnte.

»Die Hände«, fuhr Pannemann fort, »waren ursprünglich ebenfalls nicht zu sehen. Die Decke, auf der die Leiche liegt, war an den Seiten so eingeschlagen, dass die Arme etwa bis zum Ellbogen bedeckt waren.«

Lindner ließ seinen Blick über den Rest des eigenartigen Arrangements gleiten. Zu Füßen des Toten war ein wertvoll aussehendes Stück Stoff in kräftiger blauer Farbe drapiert, darauf waren auf Hochglanz polierte Gebrauchsgegenstände ausgebreitet, wie sie gut in ein Museum gepasst hätten. Am Kopfende stand eine weitere Holzbank, und darauf waren große Messer mit kunstvoll verzierten Griffen, zwei Schwerter und Hörner in unterschiedlicher Form und Größe abgelegt.

Ein kleines Stück links von der Leiche stand ein grasgrüner Motorroller, auf dessen Sitzbank eine Stoffdecke ausgebreitet war, auf ihr stapelten sich flache metallene Schüsseln, und zwei weitere Hörner waren mit Lederriemen über die Enden des Rollerlenkers gehängt.

»Na, Herr Lindner«, fragte Pannemann, der ihm einige Zeit gelassen hatte, sich alles in stillem Erstaunen anzusehen, »kann das mit Ihren anderen Fällen mithalten?«

»Sieht ganz so aus. Aber um ehrlich zu sein: Ganz schlau werde ich aus dieser seltsamen Inszenierung nicht.«

Kortz traten neben ihn, zog ein Blatt Papier aus der Jackentasche, faltete es auseinander und hielt es Lindner hin. Zu sehen war der Farbausdruck eines Fotos, das eine ähnliche Szenerie zeigte: Eine Gestalt lag rücklings auf einer schmalen Bank, gekleidet in violetten Stoff, die Füße in spitz zulaufende rote Schuhe gesteckt, Handgelenke und Hals geschmückt mit Goldreifen. Auch auf dem Bild waren Hörner und Gebrauchsgegenstände zu sehen, und auf einem vierrädrigen Karren links der Gestalt waren metallene Schüsseln aufeinandergestapelt.

»So wurde im Museum in Eberdingen-Hochdorf bei Ludwigsburg der Innenraum des keltischen Fürstengrabs nachgestellt, das man 1978 unter einem Acker entdeckt hat«, sagte Kortz. »Ich war erst vor kurzem dort, und als ich in unserem Infosystem auf die Nachricht vom Toten im Wasserhochbehälter gestoßen bin, bin ich stutzig geworden und habe mir von den Kollegen ein Foto auf den Rechner schicken lassen. Bingo!«

»Na ja, es gibt aber auch Unterschiede«, merkte Lindner an. »Statt eines vierrädrigen Karrens steht hier ein Motorroller, die beiden Bierbänke fehlen in Hochdorf natürlich, und wir haben hier leider einen echten Toten, keine Kunstfigur wie im Museum.«

»Ein solcher Karren hätte auch nicht durch die Tür gepasst«, lachte Pannemann und deutete auf den Zugang: eine normal breite Tür, durch die zwar der Roller, aber ganz sicher kein vierrädriges Fahrzeug ins Innere des Wasserbehälters bugsiert werden konnte. Pannemann schien den Fall eher unterhaltsam als erschreckend zu finden. Lindner dagegen musste schon jetzt dagegen ankämpfen, vor seinem geistigen Auge Szenen ablaufen zu sehen, wie der Mann getötet und in den Vorraum geschafft worden war.

»Und auch der Ort hier passt gut zu einem Keltengrab«, sagte Kortz. »Vielleicht ist Ihnen die Form aufgefallen, die der Wasserbehälter nach außen hin abgibt: ein Erdhügel, der ebenfalls dem Fürstengrab bei Ludwigsburg ähnelt.«

»Schön und gut, und nun? Suchen wir nach Keltenfans? Oder hat sich der Tote für einen Keltenfürsten gehalten? Wo ergeben sich da Ansätze für die Ermittlungen?«

»Das sollen Sie für uns herausfinden, Herr Lindner. Jedenfalls hab ich mir das so vorgestellt – und hoffe, dass Herr Pannemann damit einverstanden ist. In der Eile wollte ich Sie vor allem schnell vor Ort haben, damit Sie diese … Inszenierung noch im Originalzustand sehen. Fragen wollte ich hinterher – also jetzt: Herr Pannemann, was halten Sie von meiner Idee? Ich erhoffe mir davon, dass die Esslinger Kripo sich um die normale Ermittlungsarbeit kümmern kann – und dass Hauptkommissar Lindner allen denkbaren Bezügen zu dieser Keltengeschichte nachgehen kann, ohne vom Tagesgeschäft davon abgehalten zu werden.«

Pannemann nickte.

»Das können wir gerne so machen, Herr Kortz. Und da Sie, Herr Lindner, mit Hauptkommissar Pfau schon länger bekannt sind, sollte auch die Zusammenarbeit mit ihm kein Problem sein.«

Er grinste.

»Sie haben ja vorhin auch mitbekommen, dass er etwas ungemütlich werden kann, wenn er den Eindruck hat, dass die Zuständigkeiten nicht gewahrt werden.«

»Ich red gleich mit ihm, das sollte kein Problem darstellen«, gab sich Lindner zuversichtlicher, als er war. Er hatte seit seinem Weggang von der Stuttgarter Kripo keinen Kontakt mehr zu ihm, und so sehr Lindner die Geschichte um den ermordeten Kollegen damals mitgenommen hatte, so sehr konnte sie auch Pfau verändert haben.

»Sie haben sich fahren lassen«, merkte Kortz nach einer kurzen Pause an. »Können Sie denn überhaupt gleich loslegen?«

»Ja, das passt schon. Drei Bier, verteilt über den ganzen Abend – da wollte ich mich zwar nicht mehr hinters Steuer setzen, aber ich fühle mich eigentlich ganz gut.«

»Ich lass Sie hinterher von einem Streifenwagen nach Hause fahren, wenn Sie wollen«, bot Pannemann an. »Ihre Freundin muss sicher morgen früh wieder zur Arbeit.«

»Nein, sie hat gerade Urlaub. Ich frag sie gleich mal, ob sie noch so lange warten kann, bis ich mir hier von allem ein erstes Bild gemacht habe. Länger als eine Stunde werde ich wohl nicht brauchen, den Rest können wir dann sicher ab morgen früh angehen.«

Pannemann sah auf die Uhr.

»Heute früh«, korrigierte er Lindner. Er klopfte ihm auf die Schulter und ging hinaus.

Lindner ließ seinen Blick noch einmal über die seltsame Szenerie schweifen. Er hörte kaum, wie sich Kortz leise entfernte, um selbst mit Maria Treidler zu reden. Lindner war schon ganz versunken in seinen Gedanken, Maria hatte er vergessen, und stattdessen ließ er das Arrangement mit Leiche und Motorroller, mit Decken, Hörnern und Waffen, Schragen und Schüsseln auf sich wirken.

Donnerstag, 23. Oktober

Kurz vor halb acht zerriss der Wecker die Stille, und Lindner musste seinen Arm erst unter Marias warmem und weichem Körper hervorziehen, bevor er das Geplärre des Radios ausschalten konnte. Im nächsten Moment war er wieder eingeschlafen, und fünf Minuten später schnatterten die beiden Moderatoren wieder, als sei es nichts Besonderes, so früh am Morgen schon vollkommen wach und aufgedreht zu sein. Der Scherz der Moderatoren verpuffte erbärmlich, und der fiebrige Ohrwurm, der anschließend durchs Zimmer schallte, machte für Lindner das Maß voll. Er wuchtete sich hoch, schwang die Beine über die Bettkante und schlug mit der flachen Hand auf das Gerät, dass es nur so krachte.

»He!«, maulte Maria unter der Decke hervor. »Mach mein Geburtstagsgeschenk nicht kaputt!«

Lindner strich ihr sanft durch den Teil ihrer wildgelockten Mähne, der unter der Bettdecke hervorlugte, und gab ihr schließlich einen Kuss auf die linke Hand, die über der Bettkante hing. Besänftigt gurrte sie, griff nach ihm und zog ihn ins Bett zurück. Und so kamen sie erst gegen acht Uhr in die Küche, holten schlaftrunken Tassen und Teller aus den Schränken. Lindner verteilte Wurst, Butter und Brot auf dem Tisch, Maria schaltete die Kaffeemaschine ein. Dann kam sie grinsend zu ihm herübergeschlurft, einen kleinen Notizzettel in der erhobenen rechten Hand. Lindner sah kurz hin, zog eine mürrische Miene und deckte weiter den Tisch.

»Ben beim Eugen«, stand auf dem Papier, wie üblich auf Schwäbisch. »Hosch’s endlich inschtallihrt?«

Maria schenkte zwei Bechertassen mit Kaffee voll, löffelte Zucker dazu und rührte beide Tassen um, bevor sie eine zu Lindner hinschob. Der schmierte sich ein Butterbrot, und er ging dabei so heftig zu Werke, als rechnete er jeden Augenblick damit, dass sich die Brotscheibe dagegen wehren könnte.

»Jetzt sei doch nicht so!«, redete ihm Maria gut zu. »Deine Mutter ist doch süß, und du solltest froh sein, dass sie in ihrem Alter noch so modern ist!«

»Modern?«

Lindner ließ sein Messer eine Spur zu heftig auf die Tischplatte fallen, funkelte Maria böse an und biss in sein Brot.

»Modern nennst du das?«, fragte er mit vollem Mund. »Dieser Eugen Rösler nimmt meine Mutter mit zu sich nach Hause, wo sie seinen sauren Most trinken, beisammensitzen bis spät in die Nacht, und dann …«

Er schüttelte sich. Kopfkino war für seinen Beruf eine nützliche Sache, privat konnte er gut darauf verzichten. Vor allem, wenn es um seine 74-jährige Mutter ging und ihren 72-jährigen … ja: was überhaupt? Bekannten? Freund? Liebhaber?

Lindner sträubten sich die Nackenhaare, und er biss das Brot so heftig klein, dass Maria seine Zähne aufeinanderschlagen hörte.

»Macht dir das mit deiner Mutter und dem alten Rösler so sehr zu schaffen?«, fragte Maria, als er einen neuen Bissen aus seinem Brot rupfte.

»Zu schaffen … wie sich das anhört! Die sollte eigentlich alt genug sein, um selbst zu wissen, was sie macht. Aber sie kümmert sich einen Dreck darum, was man in ihrem Alter eigentlich zu machen hat. Die soll mit ihrem Schlepper durch den Flecken tuckern, soll ihre Hühner füttern und in ihrer Küche werkeln. Die soll meinetwegen mit ihren Boller Mädle einen Likör nach dem anderen kippen, zur Not hole ich sie auch im Bürgertreff ab, wenn ihr die Knie zu weich für den Heimweg sind – aber …«

»Dass sie einen Freund hat, passt dir nicht«, stellte Maria fest.

Lindner nickte, kaute weiter und schwieg, aber als er den Blick hob, sah er Maria breit grinsend am Tisch sitzen.

»Was grinst du jetzt?«

»Du bist süß, Stefan.«

»Ich bin nicht süß, ich bin stinksauer. Und ich mag mir gar nicht vorstellen, was die beiden Alten da drüben auf dem Röslerschen Hof so treiben …«

»Na ja, das wird vielleicht etwas langsamer und weniger wild sein als bei uns, aber …«

Sie lachte, und Lindner verging der Appetit. Er legte den Rest seines Brots zurück auf den Teller und schob Teller und Tasse ein Stück von sich weg.

»Bäh«, machte er und schüttelte sich erneut.

»Meine Güte, Stefan, wenn du damit sagen willst, dass bei uns schon in dreißig Jahren der Ofen aus sein wird, sollte ich mir vielleicht einen Freund suchen, der länger im Saft steht.«

Sie schob ihm die Kaffeetasse wieder hin, und Lindner nahm schlürfend einen Schluck.

»Hat der Eugen Rösler eigentlich einen Sohn oder Neffen?«, fragte sie, und nun musste Lindner doch lachen.

»Untersteh dich!«, drohte er ihr mit gespieltem Ernst. »Aber wie muss ich mir das denn vorstellen mit meiner Mutter und dem Rösler? Hat sie da jetzt ein eigenes Glas für ihr Gebiss, und Rösler gibt ihr zur Feier des Tages einen Melissengeist aus?«

»Nein, Stefan, du weißt doch: Dem kommen nur Most und Schnaps ins Glas.«

»Und Zähne«, fügte Lindner hinzu, und beide lachten schallend.

»Damit, dass deine Mutter so modern ist, hab ich übrigens nicht ihre Besuche bei Rösler gemeint, sondern das Smartphone, das sie dir zum Geburtstag geschenkt hat.«

»Und mit dem ich nicht zurechtkomme«, brummte Lindner, dem das Lachen gleich wieder verging, wenn er an den ganzen Aufwand dachte, der ihm wegen des neuen Geräts noch bevorstand. All die Telefonnummern, die er neu speichern musste. Und vor allem diese nervige Anwendung, die ihm seine Mutter schon gleich an seinem Geburtstag hatte aufdrängen wollen.

»Und was soll ich mit dieser blöden App?«, fragte Lindner und begann, den Tisch abzuräumen. »Meine Mutter schreibt mir seit Jahren diese Zettel, die sie überall im Haus für mich hinterlegt – soll sie das doch weiterhin machen, was brauch ich das auch noch auf dem Handy?«

»Na ja, mit What’s App könnten auch wir uns Nachrichten schicken. Und du könntest deine Mutter erreichen, wenn sie gerade bei ihrem Eugen ist.«

»Pah!«, machte Lindner, aber dann fing er wieder Marias amüsierten Blick auf, und er riss sich zusammen. »Meinetwegen. Ich versuch mal, das Zeug runterzuladen.«

Sina ließ es klingeln und konzentrierte sich weiterhin auf ihre Liegestützen. Als sie auch mit links die letzten zehn Einhändigen hinter sich gebracht hatte, richtete sie sich auf ihrer Gymnastikmatte auf, blieb mit geschlossenen Augen auf den Knien hocken und spürte den Schweißtropfen nach, die ihr langsam über Gesicht und Körper rannen. Als sie wieder ruhiger atmete, stand sie auf und ging zum Telefon hinüber. Hektisches Blinken zeigte zwei Anrufe von demselben Handy an. Als sie die Nummer erkannte, schnaufte sie genervt und ging in die Küche. Sie hatte die Wasserflasche fast geleert, als es wieder läutete. Langsam ging sie in den Flur zurück und nahm das Gespräch entgegen.

»Was willst du?«, schnauzte sie kurz angebunden.

Dann hörte sie schweigend zu, brummte nur ab und zu eine knappe Erwiderung und fuhr sich dabei mit den Fingerspitzen über den ausrasierten Nacken. Sanft fuhr sie die Linien ihres Tattoos nach, dann fasste sie einen Entschluss.

»Nein«, kommandierte sie, »du kommst auf keinen Fall hierher! Ich komme zu dir! Nein, wart mal … du kennst doch diesen Parkplatz bei dir in der Nähe? Ja, da wo die Container stehen. Da gehst du jetzt hin, ich bin um …«

Sie sah auf die digitale Zeitanzeige auf dem Display des Anrufbeantworters.

»… ich bin kurz nach halb da. Und pass auf, dass dich keiner sieht, ja? Keiner, verstanden?«

Sie hörte kurz zu, dann rollte sie genervt mit den Augen.

»Es wäre nicht das erste Mal, dass du’s verkackt hast! Und wenn ich höre, was du dir jetzt wieder geleistet hast … Mann, so blöd kann man doch gar nicht sein!«

Damit steckte sie den Hörer unsanft in die Mulde der Ladestation zurück und ging kopfschüttelnd zu den beiden großen Spiegeln, die vor dem Durchgang vom Flur ins Wohnzimmer links und rechts an der Wand hingen. Prüfend ließ sie ihren Blick über das Spiegelbild ihres durchtrainierten, von Schweiß glänzenden Körpers gleiten. Dann ging sie ins Bad, drehte die Dusche auf und dachte darüber nach, ob sie jemand zu ihrem Treffen mit dem Anrufer begleiten sollte oder ob sie sich um diesen Schwachkopf lieber allein kümmerte.

Maria gab sich alle Mühe, Lindner die Funktionsweise seines neuen Smartphones zu erklären, aber er stellte sich dümmer an, als sie befürchtet hatte. Immerhin hatte er den Akku am Abend zuvor aufgeladen, und da nun die SIM-Karte schon mal im Gerät steckte, ließ er sie auch drin, um das neue Telefon anstelle seines betagten Klapphandys zu benutzen. Gerade wollte ihm Maria noch ein paar Features zeigen, da ging eine Mail ein, die sie ihm schnell öffnete: Simon Pfau hatte ihm zusammengestellt, was bisher über den Toten im Wasserbehälter bekannt war.

Es handelte sich um den 64-jährigen Pensionär Dr. Thaddäus Kremp, der bis vor zwei Jahren im Landesdenkmalamt gearbeitet hatte. Er war alleinstehend und wohnte im Nürtinger Stadtteil Oberensingen. Der im Wasserbehälter gefundene Motorroller war seiner, außerdem besaß er noch einen Geländewagen, ein teures Rennrad und einen Aufsitzrasenmäher. In Nürtingen gehörten ihm zwei Mietshäuser, die ihm zusammen mit seiner Pension ein sehr gutes Auskommen ermöglichten. Neben dem Einfamilienhaus in Oberensingen, das er bewohnte, und den vermieteten Wohnungen in der Stadt hatte er genügend Vermögen, um sein Leben ohne finanzielle Sorgen zu führen – und genug, um über die Jahre eine unter Historikern viel beachtete Privatsammlung zu den Themen Römer und Kelten zusammenzutragen. Diese Sammlung füllte in Kremps Haus das gesamte Untergeschoss, und die Gegenstände, die im Wasserbehälter um seine Leiche drapiert worden waren, stammten möglicherweise aus dieser Sammlung.

Je länger Lindner den Text des Kollegen las, desto mehr Gefallen fand er auch an dem größeren Display seines Smartphones, und nach einigen drolligen Fehlversuchen hatte er auch den Bogen raus, wie man sich in der Datei mit schnellen Wischbewegungen hin und her bewegen und wie man mit auseinanderstrebenden Fingerspitzen Fotos und Textpassagen vergrößern konnte.

Schließlich steckte er das Handy ein, verabschiedete sich von Maria, die zum Shoppen nach Stuttgart wollte, und machte sich auf den Weg nach Nürtingen.

Der Streifenwagen hielt vor Kremps Haus im Oberensinger Sanddornweg. Polizeioberkommissar Reinhard Peters vom Polizeirevier Nürtingen, Anfang vierzig, groß gewachsen und schlank, stieg aus und ging auf das gegenüberliegende Haus zu. Sein Kollege Serdar Keskin, Polizeihauptmeister und vier Jahre jünger als Peters, blieb am Auto stehen und behielt die kleine Straße im Blick. Im Moment war niemand zu sehen, und der Weg, in dem das Mordopfer aus dem Wasserspeicher gewohnt hatte, war so kurz, dass nicht mit viel Verkehr zu rechnen war. Während Peters die benachbarten Wohngebäude abklapperte und mit den Nachbarn des Toten sprach, wartete Keskin auf die Kriminaltechniker, die jeden Augenblick eintreffen mussten, um Kremps Haus zu untersuchen.

Peters musste zweimal klingeln, bevor ihm die Tür des ersten Nachbarhauses geöffnet wurde, das er angesteuert hatte. Eine kleine Frau mit zerzausten grauen Haaren stand vor ihm und sah ihn blinzelnd an. Peters musterte sie schnell und routiniert: Mitte siebzig, schätzte er, ein paar Kilo zu viel um die Hüften, und die Kittelschürze mit den jugendlich wirkenden Cartoonmotiven hatte sie sich eher nicht selbst gekauft – Peters tippte auf ein Geschenk der Enkelin, falls die alte Frau eine hatte.

»Ja, bitte?«, fragte sie unterdessen, sah ihn immer noch unverwandt mit zusammengekniffenen Augen an, und Peters musste sich zur Ordnung rufen.

»Guten Tag, Frau …« Er linste kurz auf das Namensschild neben der Klingel. »… Frau Hermine Ederley?«

»Ja, die bin ich. Und wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich wollte Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Nachbarn stellen, zu Herrn Kremp.«

Er zog seinen Dienstausweis hervor, aber sie beachtete das Dokument nicht weiter, sondern sah weiterhin munter und interessiert zu Peters hinauf.

»Was wollen Sie denn wissen, Herr Wachtmeister?«

Peters musste lächeln. So, wie die alte Frau das mit ihrer dünnen Stimme sagte, klang der veraltete Dienstrang richtig heimelig.

»Wann haben Sie Herrn Kremp denn zuletzt gesehen? Können Sie sich daran noch erinnern?«

Ganz kurz huschte ein schmerzlicher Zug über ihr faltiges Gesicht, dann überstrahlte das großmütterliche Lächeln wieder alles.

»Natürlich kann ich mich erinnern, junger Mann. Ich bin ja nicht dement!«

Peters räusperte sich und murmelte eine Entschuldigung.

»Schon gut, schon gut. Also … lassen Sie mich überlegen.«

Das tat sie lange und zeitweise mit geschlossenen Augen. In Peters keimte schon der Verdacht, dass er sich vorschnell entschuldigt hatte, doch dann kam wieder Bewegung in die Frau, und ihr Lächeln wurde so breit wie zuvor.

»Das war gestern Abend. Die Uhrzeit weiß ich nicht mehr genau, am frühen Abend, würde ich sagen. Es war noch nicht richtig dunkel, aber die Sonne war längst untergegangen.«

»Und was genau haben Sie da gesehen?«

»Na, wie er …«

Sie stutzte und sah Peters nun etwas ernster an.

»Sagen Sie mal, Herr Wachtmeister: Ist denn etwas mit Herrn Kremp?«

»Er …«

Peters stockte. War er denn wirklich ausdrücklich gebrieft worden, den Nachbarn nichts über den Tod des Mannes zu sagen? Eigentlich nicht, aber es konnte nicht schaden, sie einstweilen noch im Unklaren zu lassen – vielleicht konnte er damit den Kollegen von der Kripo die Arbeit noch ein wenig erleichtern. Nachbarn, die nichts wussten, konnten auch nichts irgendwelchen Reportern verraten.

»Wir suchen nach ihm, weil wir … wir haben ein paar dringende Fragen und hoffen, dass er uns weiterhelfen kann.«

Insgeheim schalt sich Peters einen Trampel. Das musste er sich vor dem Gespräch mit den übrigen Nachbarn noch etwas besser zurechtlegen. Die alte Frau vor ihm schien jedenfalls mit seiner gestammelten Verlegenheitsantwort zufrieden zu sein.

»Ach, geht es um die Römer? Oder um die Kelten? Da ist der Herr Kremp ja wirklich ein Ass, das sage ich Ihnen! Immer bestens informiert, und seine Sammlung an keltischen Fundstücken sollten Sie mal sehen! Er hat mich vor ein paar Wochen mal rumgeführt, sehr eindrucksvoll, wirklich sehr eindrucksvoll!«

Sie nickte dazu bekräftigend mit dem Kopf, und die wirr abstehenden Spitzen ihrer grauen Haare wippten noch etwas nach.

»Ja, genau, wir brauchen ihn als Experten.« Peters nahm den Steilpass gerne auf.

Hermine Ederley nickte weiter und lächelte dazu.

»Was genau haben Sie also gestern Abend gesehen, Frau Ederley?«

»Da ist er mit seinem Wagen aus der Garage gefahren, und dann war er auch schon weg.«

»Und die Garage blieb offen?«

»Nein. Herr Kremp hat dafür eine Fernbedienung. Er also raus mit seinem schwarzen Geländewagen, und gleich danach ist das Garagentor langsam zugegangen. Ich hab mich noch gefragt, warum er den Motorroller hinten drauf montiert hatte. Na ja, wahrscheinlich war das Knatterding kaputt, und er hat es zur Werkstatt gebracht.«

»Abends?«

»Stimmt, Herr Wachtmeister, Sie haben recht: Da hat ja gar keine Werkstatt mehr offen!«

Sie klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und lachte.

»Dann bin ich wohl doch schon ein bisschen senil, was?«

Peters dachte an seine eigene Großmutter, die vor drei Jahren nach langem, elendem Leiden in den Tod hinübergeglitten war, und er wünschte sich, noch eine Oma wie Hermine Ederley zu haben.

»Er hatte also seinen Motorroller hinten auf seinen Wagen montiert und ist weggefahren.«

Die alte Frau nickte.

»Und Sie haben ihn am Steuer gesehen und erkannt?«

»Na, wer wird schon anderes als Herr Kremp in Herrn Kremps Wagen aus Herrn Kremps Garage fahren, junger Mann? Sie stellen ja seltsame Fragen!«

»Und seither haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«

»Nein.«

»Und wann davor zum letzten Mal?«

»Keine Ahnung. Wissen Sie, Herr Wachtmeister, ich stehe ja nicht den ganzen Tag am Fenster und beobachte, was die Nachbarn so treiben.«