Schwer verdaulich - Jürgen Seibold - E-Book

Schwer verdaulich E-Book

Jürgen Seibold

4,6

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Bestattungsunternehmer Gottfried Froelich aus Weil der Stadt kümmert sich momentan um seine Niederlassung in Besigheim. Mit Freundin Inge hat er ein schönes Haus in der malerischen Innenstadt bezogen, und die beiden haben schnell Zugang zur rührigen Genießerszene der Stadt am Neckar gefunden. Mit ihren neuen Freunden nehmen sie an einem Höhepunkt der Gourmetsaison teil: dem 'schwimmenden Büffet', das mit handverlesenen Feinschmeckern zwischen Besigheim und Plochingen über den Neckar schippert. Mit feinen Speisen und Getränken, mit edlem Jazz - und schließlich auch mit einer Leiche. Als dann noch eine Bombendrohung dafür sorgt, dass niemand das Schiff betreten oder verlassen kann, ist Froehlich wieder als kriminalistische Spürnase gefordert. Mit seinem musikalisch talentierten Bestatter Gottfried Froelich hat Jürgen Seibold eine ebenso skurrile wie liebenswerte Hauptfigur erfunden, die nach 'Unsanft entschlafen' nun einem zweiten Regionalkrimi als Gourmet und Hobbykoch eine besondere Note verleiht.

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Jürgen Seibold Schwer verdaulich

Jürgen Seibold

Schwer verdaulich

Ein Neckar-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane sowie Sachbücher und einen historischen Roman veröffentlicht.

 

2. Auflage 2011

© 2010/2016 by Silberburg-Verlag GmbH, Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Michael Raffel, Tübingen. Umschlaggestaltung: Wager ! Kommunikation, Altenriet.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1704-2 E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1705-9 Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-87407-992-1

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Inhalt

Über den Autor

Freitag, 1. Oktober

Samstag, 2. Oktober

Sonntag, 3. Oktober

Montag, 4. Oktober

Dienstag, 5. Oktober

Mittwoch, 6. Oktober

Donnerstag, 7. Oktober

Freitag, 8. Oktober

Samstag, 9. Oktober

Sonntag, 10. Oktober

Montag, 11. Oktober

Dienstag, 12. Oktober

Mittwoch, 13. Oktober

Donnerstag, 14. Oktober

Freitag, 15. Oktober

Dank

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Freitag, 1. Oktober

Inge Coordes hakte sich bei Gottfried Froelich unter und sah vom Gehweg hinunter auf die Anlegestelle. Es war achtzehn Uhr, und drunten am Steg stand schon eine munter plaudernde Gruppe von vielleicht fünfzig, sechzig Leuten zusammen. Einige hatten Stofftaschen dabei, manchen Männern baumelten lederne Handtaschen vom Handgelenk, während einige ältere Damen ihre Handtaschen umklammerten, als wollte sie ihnen jeden Moment ein Fremder aus der Hand reißen. Einige Gäste hatten sich auch Rucksäcke umgeschnallt, und Froelich fragte sich schon, ob sie mehr Stauraum brauchten als Inges recht große Umhängetasche zu bieten hatte.

Froelich blieb kurz stehen, um zu verschnaufen. Der Fußweg von der Stadtbahnhaltestelle und an der Wilhelma vorbei hatte ihm ein wenig zugesetzt, und möglichst unauffällig tupfte er sich nun mit einem Taschentuch die Stirn und die Oberlippe trocken.

»Tja, mein Lieber«, neckte ihn Inge, »da ist wohl Sport angesagt, was?«

»Meinetwegen«, brummte Froelich, grinste aber dabei. »Aber zunächst gehen wir mal schick essen.«

Er ließ den Blick über den Neckar schweifen, sah eine S-Bahn, Personen- und Lastwagen, einen Omnibus und eine Stadtbahn über ihre Brücken flitzen, sah unter der Brücke die Schleusenanlage und hinter dem Fluss den Stadtteil Bad Cannstatt liegen.

»Na, komm, Gottfried«, sagte Inge schließlich und ging mit ihm die Treppe hinunter.

Das Schiff, auf dem sie den heutigen Abend verbringen wollten, lag an der Ufermauer, und gerade hakte ein Mann in einer Art Uniform die Kette los, die bisher den Einstieg versperrt hatte.

Die Ersten bemerkten, dass nun der Weg aufs Schiff frei war, und schlenderten gemütlich über den Steg auf die »Anna Schäufele«. Froelich erinnerte sich vage, dass hier sonst ein gewaltiges Gedränge herrschte, weil jeder – je nach Witterung – einen möglichst trockenen Platz im Inneren oder einen möglichst sonnigen Platz auf einem der Freidecks ergattern wollte.

Heute war solche Hektik nicht nötig: Der Verein zur Genusspflege e. V., Ortsgruppe Besigheim, hatte in seiner Einladung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es Platzkarten gebe und dass besonders viel Sorgfalt darauf verwendet worden sei, jedem Gast eine angenehme Tischgesellschaft zu bescheren.

Um ehrlich zu sein: Froelich hatte mehr Interesse am Speisenangebot, aber gegen eine gepflegte Unterhaltung nebenbei war natürlich nichts einzuwenden.

Als Inge und Gottfried den Uniformierten erreichten, der nun jeden Neuankömmling mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßte und dabei aufmerksam die Tickets kontrollierte, waren im oberen Deck hinter den Fenstern zur Uferseite hin schon die Köpfe jener Gäste zu sehen, die bereits ihren Platz eingenommen hatten.

Hinter den Fenstern des Hauptdecks dagegen hingen silbern geschmückte Papier- und Bambusfächer und allerlei mehr oder weniger geschmackvolle Dekorationsmaterialien, zwischen denen hindurch man ein ausladendes und reich beladenes Büffet erahnen konnte.

* * *

Im Durcheinander der Gäste, die überall auf dem Oberdeck nach ihren Sitzplätzen suchten, war es nicht allzu schwer gewesen, den Sportrucksack auf dem hinteren Freideck so zu platzieren, dass er nicht störte und auch niemandem besonders auffiel.

Ohnehin würde eine flüchtige Untersuchung nichts Ungewöhnliches ergeben: Obenauf, im Hauptfach des Rucksacks, lag allerlei Kram, wie er für Ausflügler typisch war. Aber unter dem Durcheinander aus Fotoapparat, Stiften, Handcreme, Kräuterbonbons, Wasserflasche und einer Packung Papiertaschentücher war ein zweiter Boden eingearbeitet, und erst unter diesem befanden sich die beiden Apparaturen, die später so wichtig sein würden.

Auch nicht jedes der im Rucksack steckenden Päckchen aus Butterbrotpapier enthielt ein Vesperbrot, aber dazu hätte jemand die Verpackung aufklappen müssen, und damit war eigentlich nicht zu rechnen. Noch ein kurzer prüfender Blick über das Freideck, und dann ging die Gestalt ruhig und fürs Erste zufrieden zu ihrem Sitzplatz.

* * *

Aus den Bordlautsprechern dröhnte ein Swingtitel, der Froelich an die Zwanzigerjahre erinnerte. Nach kurzer Zeit wurde die Musik ausgeblendet, und der Kapitän begrüßte seine Passagiere und hieß sie im Namen seiner Schifffahrtsgesellschaft herzlich willkommen an Bord des »Schwimmenden Büfetts«, wie die »MS Anna Schäufele« für diesen Abend firmierte.

Die Musik wurde wieder lauter, und blubbernd nahm der Dieselmotor Drehzahl auf. Als das »Schwimmende Büfett« ablegte und sich rückwärts in den Neckar hinaustastete, tauchte das Heck in die dichten Abgasschwaden, die der Diesel absonderte. Kurz zog ein scharfer Geruch durchs Deck, aber dann gab das Schiff Schub nach vorn und nahm Kurs auf die flussaufwärts liegende Schleusenanlage.

* * *

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Serviceleiter, »aber das Büfett ist noch nicht eröffnet.«

»Ja, ich weiß«, sagte die Gestalt, ließ kurz ihren Blick über die angerichteten Speisen schweifen und nickte dann zu den Toiletten hin. »Ich muss mal kurz.«

»Verstehe«, lächelte der Serviceleiter und ging nach vorn zur Treppe, um sich einen Kaffee zu holen.

Die Gestalt sah ihm nach, blickte dann durch ein Fenster auf den Fluss hinaus und beobachtete immer wieder die Tür zum Maschinenraum, die zwischen den Toiletten von einem kleinen Vorraum ins Heck führte.

Nach einer kurzen Weile öffnete sich die Tür, ein hagerer Mann mit nur noch wenigen grauen Haarsträhnen auf dem ansonsten kahlen Schädel kam heraus, verschloss die Tür hinter sich und ging zur Toilette hinüber. Die Gestalt sah sich noch einmal kurz nach allen Seiten um und folgte ihm.

* * *

»So, haben wir Spaß?«

Der junge Mann, der in der Captain’s Lounge hinter der Tür auf dem Boden gesessen hatte, sah erschrocken von seinem Handy auf.

»Geben Sie mal her!«, kommandierte der andere Mann und streckte die Hand aus.

Zögernd übergab der junge Mann dem Älteren sein Handy und erhob sich unsicher.

Kapitän Paulsen warf einen kurzen Blick auf das Handydisplay, dann schaltete er das Gerät aus und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.

»Und? Gewonnen?«

»Ich … Äh … Ich …«

Der junge Mann war sichtlich verlegen und trat von einem Bein aufs andere.

»Mensch, Faller, wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich es überhaupt nicht schätze, wenn man hier an Bord seine Aufgaben nicht selbstständig erledigt – und sich stattdessen abseilt, wie Sie sich das schon ein paar Mal erlaubt haben.«

»Tut mir leid, Käpt’n …«

»Davon kann ich mir nichts kaufen, Herr Faller!«

Paulsens Tonfall war schneidend, und der junge Mann wand sich.

»Sie sind hier Leichtmatrose, und das heißt nicht, dass Sie es leicht haben – das heißt, dass Sie hier am untersten Ende der Hierarchie stehen. Und wenn ich Sie nicht achtkant rauswerfen soll, bevor Sie auch nur die erste Stufe nach oben genommen haben, dann sollten Sie sich jetzt wirklich am Riemen reißen!«

Faller schluckte.

»Haben Sie Ihre Jobs denn alle schon erledigt?«

»Äh … fast. Und ich wollte gerade …«

Paulsen seufzte.

»Mensch, Faller«, begann er schließlich, und in die Strenge seines Tonfalls mischte sich ein wenig Resignation. »Zu meiner Zeit auf hoher See hätte es Ihnen passieren können, dass Sie mein erster Käpt’n einfach irgendwo zurückgelassen hätte. Der war da nicht besonders zimperlich. Aber damit, Sie in Plochingen oder Hessigheim auszusetzen, kann ich Sie vermutlich nicht erschrecken, was?«

Faller ließ ein kurzes Grinsen über sein Lausbubengesicht huschen. Wenn sich der Käpt’n wieder an die alten Zeiten erinnerte, war das Schlimmste für ihn in der Regel schon überstanden.

»Machen Sie sich an die Arbeit, Mann!«, herrschte Paulsen ihn dann noch einmal an, weil ihm natürlich aufgefallen war, dass sich sein Leichtmatrose schon wieder etwas entspannte.

»Äh … und mein Handy?«, fragte Faller vorsichtig.

»Welches Handy?«, schnappte Paulsen zurück, und Faller schloss daraus völlig zu Recht, dass er dieses Thema nun besser nicht vertiefte. Das Telefon würde er heute vor Feierabend wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Geschickt huschte er auf den Ausgang der Captain’s Lounge zu.

»Florian?«

Die Stimme des Käpt’ns klang plötzlich viel versöhnlicher, und ohnehin wurde er von dem gestrengen Freund seines Vaters seit dem Anheuern auf der »MS Anna Schäufele« nicht mehr häufig beim Vornamen genannt.

»Ja, Käpt’n?«

Über Paulsens Gesicht huschte ein Lächeln. Es war ein gutes Zeichen, fand er, wenn der kleine Florian professionelle Distanz wahren konnte.

»Machen Sie mir keine Sorgen, Herr Leichtmatrose«, nickte er ihm freundlich zu und deutete einen Gruß an.

Faller salutierte zackig, grinste breit und war auch schon aus der Captain’s Lounge verschwunden.

* * *

Ein leises Klingeln war zu hören. Froelich sah zu einem der benachbarten Tische hinüber. Dort hatte sich ein Mann Mitte fünfzig erhoben und sah sich erwartungsvoll um. Als das Gemurmel der Gäste nicht leiser wurde, klopfte er noch einmal mit seinem Messer gegen das Weinglas. Schließlich hob er das Glas geziert am Stil nach oben und schlug noch einmal etwas fester mit dem Messer dagegen – etwas zu fest, denn das Glas zerbarst und winzige Scherben flogen vor dem Mann auf den Tisch. Bedeppert sah er auf den Stiel, den nun nur noch ein kleiner Rest des Glases krönte – immerhin hatte er nun die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

Eine Bedienung eilte herbei und beseitigte die Scherben – das Glas war zum Glück leer gewesen, und wenige Augenblicke später huschte sie bereits mit gefüllter Kehrschaufel zurück hinter den kleinen Tresen zwischen den Treppenaufund abgängen.

»Ähem«, räusperte sich der Mann nun und sah mit leicht gerötetem Kopf in die Runde.

»Da muss er wohl noch etwas üben«, raunte der neben Froelich sitzende Mann dem Bestatter grinsend zu.

»Ja? Warum üben?«

»Unser neuer Vorsitzender, der neben dem ungeschickten Glasklopfer sitzt, leitet heute zum ersten Mal unser ›Schwimmendes Büfett‹. Und anders als sein Vorgänger pflegt er offenbar mehr den Teamgeist – also darf Muhrmann, sein Stellvertreter, heute die Rede halten. Tja, und der ist das als Metzger eher nicht so gewohnt. Der arbeitet eher mit Messer und Hackblock, seine Sätze sind … wie soll ich sagen … da etwas weniger geschliffen als seine Messer. Und Gläser hat er lieber dickwandig fürs Bier oder, wenn schon für Wein, dann mit grünem Henkel.«

»Aha«, machte Froelich, nickte und sah wieder zu dem stellvertretenden Vorsitzenden hin, der nun den Glasstiel auf dem Tisch abgestellt und ein mehrfach gefaltetes Manuskript aus der Tasche gezogen hatte.

»Meine Damen, meine Herren«, begann er, und seine Aussprache war eine putzige Mischung aus versuchtem Hochdeutsch und gelebtem Schwäbisch. »Ich derf Sie hier an Bord von onserm ›Schwimmenden Büffee‹ begrüßa.«

Er sprach es wirklich »Büffee« aus, mit starker Betonung auf der ersten Silbe, als habe jemand einen Wohnzimmerschrank – eben ein »Büffee« – aufs Schiff geschleppt.

»Sie werrat sich nachher glei ordentlich bedienen, bitte, aber z’erscht, ich moin: zuerscht mechte ich a bissle auf onser diesjährigs Jubiläum eiganga.«

»Um Himmels willen«, entfuhr es Froelichs Nebensitzer. »Das kann dauern …«

»Stimmt«, dachte Froelich. Auf der Einladung zum »Schwimmenden Büfett« war erwähnt worden, dass das Gourmet-Treffen diesmal zum 25. Mal stattfand.

»Mein Name ist übrigens Roland Butterweck«, sagte der Mann neben Froelich, reichte ihm die Hand und musterte ihn aufmerksam.

»Gottfried Froelich, angenehm«, erwiderte Froelich leise und drückte die Hand fest. »Und das ist meine Freundin, Inge Coordes.«

Butterweck nickte Inge freundlich zu, dann wandte er sich wieder an Froelich.

»Sie haben gar nicht geschmunzelt, als Sie meinen Namen hörten.«

»Warum sollte ich?«

»Na ja … Butterweck?«

Froelich dachte kurz nach, dann lächelte er.

»Ja, das ist schön hier beim ›Schwimmenden Büfett‹. Aber wissen Sie: Ich heiße Froelich und bin Bestatter – da sollte ich nicht über andere Namen lachen, meinen Sie nicht auch?«

Butterweck prustete los und hatte Mühe, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Trotzdem unterbrach der stellvertretende Vorsitzende seine noch immer andauernde Rede mitten im Satz und sah kurz tadelnd zu den beiden Männern herüber. Noch wütender starrte sie der gedrungene Mann mit Vollbart an, der direkt neben dem Redner saß und sich viel Mühe gab, furchtbar wichtig auszusehen.

Froelich und Butterweck saßen auf ihren Stühlen wie zwei Schüler, die der Lehrer bei einem Streich erwischt hatte, und grinsten sich an. Dann faselte der stellvertretende Vorsitzende weiter, und der eine oder andere hob verstohlen die Hand, um ein Gähnen zu verbergen.

»Wissen Sie was?«, tuschelte Butterweck nach einer kurzen Pause Froelich ins Ohr. »Bis der sich und uns alle müde gequatscht hat, stelle ich Ihnen einfach ein paar der Gäste vor. Nachher gehe ich mit meinem Fotoapparat herum und knipse die ganzen Gäste, damit unser Genussverein auch Stoff für seine Homepage hat. Aber im Moment habe ich noch nichts zu tun.«

»Einige von den Besigheimern kenne ich schon, die Stadt ist ja nicht so groß.«

»Wohnen Sie in Besigheim?«

»Ja, seit ein paar Monaten. Ich habe dort auch ein Bestattungsinstitut.«

»Schön«, grinste Butterweck. »Schade, dass ich in letzter Zeit viel außerhalb unterwegs war, sonst hätten wir uns sicher schon früher getroffen. Ich habe eine kleine Firma am Stadtrand, kümmere mich um Gärten und veranstalte ab und zu gastronomische Events wie diesen hier.«

»Davon wurde mir schon erzählt, klang spannend.«

»Danke. Also … der Mann neben unserem begnadeten Redner« – Butterweck rollte dabei mit den Augen – »heißt Wolfgang Päble und ist seit kurzem der Vorsitzende unserer Besigheimer Ortsgruppe. Er hat ein Lokal in Besigheim. Dort hinten sitzt sein Vorgänger, Manfred Schieber, der ein Stück weit außerhalb von Besigheim einen Gasthof direkt am Enzufer hat. Die beiden mögen sich nicht besonders – Schieber wäre gerne Vorsitzender geblieben, aber Päble hatte einfach ein paar Strippen mehr, an denen er ziehen konnte.«

Froelich schüttelte den Kopf. Wie konnte man sich als Verein zur Genusspflege e.V. nur solchen kleinkarierten Hakeleien hingeben?

»Das dort vorne …« – Butterweck deutete auf einen dicklichen Mann, der die Rede des stellvertretenden Vorsitzenden und Metzgers mit stoischem Lächeln ertrug und dabei verstohlen die anderen Gäste beobachtete.

Froelich legte seinem Nebensitzer die Hand auf den Arm. »Den Herrn kenne ich schon.«

»Ach so, stimmt ja: Sie sind ja Bestatter – da haben Sie natürlich häufig miteinander zu tun.«

»Das auch«, nickte Froelich. »Aber mit Pfarrer Brenz verbinden mich auch private Interessen: Wir essen beide gern, und wir spielen beide gern Orgel.«

»Ach, Sie machen Musik?«

»Ja, ja, meine Freundin Inge auch. Aber Sie wollten mir noch einige der Gäste vorstellen.«

»Stimmt.«

Butterweck deutete auf einen Gast nach dem anderen und gab kurze Kommentare zu jedem ab. Der stellvertretende Vorsitzende schien sich derweil dem Ende seiner unglaublich faden Rede zu nähern.

»Jetzt kommt dann gleich sein Einsatz«, sagte Butterweck und zeigte auf einen sehr hageren Mann mit grauen Haaren und einem sorgfältig gestutzten Kinnbart. »Das ist Walther Neuneck.«

Butterweck ließ den Namen wirken und sah Froelich aufmerksam an.

»Sie sagen das so, als müsste man den Mann kennen«, sagte Froelich schließlich. »Mir sagt der Name nichts. Neuneck, sagten Sie?«

»Sie kennen Neuneck nicht? Da merkt man, dass Sie nicht beruflich mit der Gastronomie zu tun haben. Er schreibt für die ›Auster‹ und ist deren gefürchtetster Gourmetkritiker.«

Die »Goldene Auster« war Froelich natürlich ein Begriff. Auch er hatte das führende deutsche Gourmetmagazin abonniert, und einmal im Jahr gab der Verlag der Zeitschrift ein Buch heraus, das schlicht mit »Gourmet« betitelt war und als Bibel für Feinschmecker galt. Seit ein paar Jahren hatte der Verlag das Konzept erweitert: Das Buch hatte nun auch ein Cover auf der Rückseite, dominiert von dem Titel »Gourmand«. Und während das Buch von der »Gourmet«-Seite her die Restaurants vorstellte und mit Austern bewertete, die der Redaktion eine Empfehlung wert waren, konnte man, wenn man das Buch wendete und von der »Gourmand«-Seite her las, bitterböse Verrisse von Lokalen lesen, vor denen die Redaktion inbrünstig warnte.

»Ich lese die ›Auster‹ sehr gerne. Aber Walther Neuneck… Der Name sagt mir nichts.«

»Als Kritiker nennt sich Neuneck nur Olivo, aber in der Szene wissen die meisten natürlich, wer dahintersteckt.«

»Olivo? Er ist Olivo?«

Das Pseudonym kannte Froelich: Dieser Olivo, dessen Artikel immer mit einem Schattenriss als Autorenbild illustriert waren, schrieb die flammendsten Verrisse und die schwärmerischsten Lobeshymnen. Froelich konnte sich gut vorstellen, dass Olivo alias Neuneck in der Branche einen Ruf wie Donnerhall genoss.

»Und warum ist Neuneck ausgerechnet hier auf dem Schiff? Ist unser ›Schwimmendes Büfett‹ denn eine solche Attraktion? Die Redaktion der ›Auster‹ sitzt doch in Hamburg, oder?«Butterweck lachte kurz auf und winkte dem daraufhin erneut tadelnd herüberschauenden Muhrmann entschuldigend zu.

»Das schon, aber Neuneck kommt von hier.«

»Ach?«

»Ja, in den Achtzigern hat er bei einer Stadtzeitung als Reporter und Gourmetkritiker angefangen – die hieß übrigens ›Ketchup‹ …«

»… und deshalb derf ich Ihne jetzt den Satz saga, den wahrscheins scho älle, ich moin, alle herbeisehnen: Das fünfundzwanzigschte ›Schwimmende Büffee‹ ischt hiermit ereffnet!«

»Oh, wie passend.«

»Ja, nicht wahr? Dort machte er schon mit bösen Verrissen auf sich aufmerksam. Ich erinnere mich noch besonders gut an eine Tirade, mit der er ein kleines Szenerestaurant fast in den Ruin schrieb. Sinngemäß meinte er damals: ›Irgendjemand sollte dem Koch endlich verraten, dass man einen Backofen nicht nur zum Aufbewahren alter Brötchen verwenden kann.‹ Oder so ähnlich.«

»Dass ihm damals kein Anwalt auf die Finger geklopft hat …«

»Es war wohl knapp, aber Neuneck hatte Glück – und mit seinen Frechheiten machte er sich in den folgenden Jahren einen Namen unter Gourmets in und um Stuttgart. Tja, und irgendwann legt man sich mit so einem am besten nicht mehr an.«

»Ach«, seufzte Froelich und sah ein wenig neidisch zu Neuneck hinüber. »Das würde mir auch gefallen: Einfach mal so alles sagen dürfen …«

»Das ist bei Ihnen eher nicht gefragt, was?«

»Nein«, grinste Froelich. »Erst, wenn die Kundschaft dann im Kühlraum liegt. Aber dann ist es ja auch keine Kunst mehr …«

Ein Aufatmen schien durch den Raum zu gehen, und als wollte das Schiff es bestätigen, gab der Dieselmotor wieder lautstark Schub; während Muhrmanns ausufernder Rede hatte die »Anna Schäufele« mit der Schleuse nahe des Cannstatter Wasens die ersten Höhenmeter in Richtung Plochingen genommen. Nun waren die Tore der Schleuse flussaufwärts geöffnet, und das Schiff arbeitete sich voran auf den freien Neckar hinaus.

Butterweck hatte recht behalten: Walther Neuneck alias Olivo war mit Muhrmanns letzten Worten als erster Gast die Treppe hinunter ins Hauptdeck gehuscht und stand, als auch Froelich und Inge die schön inszenierten Speisen erreichten, bereits kauend vor einer Schale mit kleinen Vorspeisenhäppchen.

Die Vereinsmitglieder hatten sich gut mit den Gegebenheiten an Bord des Neckarschiffs arrangiert. Im Oberdeck, das gewissermaßen das erste und einzige Obergeschoss des Schiffes darstellte, waren die fest montieren Tische hübsch mit weißen Tischdecken und kleinen Blumenarrangements geschmückt, und unten, im Hauptdeck genannten »Erdgeschoss« der »Anna Schäufele«, waren die Tische zu beiden Seiten des Mittelgangs so aneinandergeschoben worden, dass sich nun links und rechts jeweils eine ebenfalls mit weißen Tüchern eingedeckte Tafel mit einer beeindruckend großen Auswahl an ganz unterschiedlichen Leckereien über die gesamte Länge des Innenraums erstreckte.

Zum Heck hin hingen einige Tischtücher als Sichtblenden von der Decke herunter, die den Gästen den Blick auf die dort inszenierten Gerichte verwehrten und nur einen Durchgang zu den dahinter liegenden Toiletten freiließen. Der neben den Sichtblenden postierte Serviceleiter an Bord der »Anna Schäufele«, Herbert Meier, ließ mit verschränkten Armen und eisigem Blick keinen Zweifel daran, dass er auch niemanden von den noch verborgenen Speisen naschen lassen würde. Er beobachtete aufmerksam die beiden Bedienungen und gab ihnen manchmal einen Wink – offenbar war er ihr Vorgesetzter.

»Dort hinten könnten die Desserts stehen«, sagte Inge zu Froelich, als habe sie seine Gedanken gelesen.

»Dann muss das halt noch ein wenig warten«, sagte Froelich leichthin und wandte sich selig lächelnd der beeindruckenden Auswahl am vorderen Teil der Tafel zu.

* * *

Die Sichtblenden schützten auch die Gestalt, die sich im Vorraum der Toiletten verbarg, vor dem Blick des Kellners, der niemanden zu den Desserts durchließ. Zum Glück musste im Moment niemand auf die Toilette, denn die Gestalt hatte mehr Mühe mit der verschlossenen Tür zum Maschinenraum als erwartet.

Dann endlich war das Schloss geöffnet, und die Gestalt schlüpfte in den halbdunklen Raum dahinter, den Rucksack fest an sich gepresst.

* * *

Vor den Tischen mit den schön angerichteten Speisen drängten sich schon bald die Gäste. Allerdings ging es weniger ruppig zu als an manch anderem Büfett.

»Sehen Sie das?«, raunte Jonas Brenz dem neben ihm stehenden Froelich zu und deutete auf eine silberne Platte, auf der Lachsscheiben schön auf crushed ice mit Limetten und Dill angerichtet waren. »Der Teller mit dem Lachs ist noch nicht ganz leer. Sie sind hier also unter kultivierten Feinschmeckern.«

Pfarrer Brenz lachte aus voller Brust, was bei ihm einiges hieß und eine beachtliche Lautstärke erreichte. Einige andere Gäste sahen überrascht zu ihnen hin.

»Stimmt«, pflichtete ihm Froelich grinsend bei. »Lachs ist sonst immer zuerst weg.«

Vor dem Lachs stand wie vor allen anderen Tellern, Schüsseln und Platten ein Kärtchen. Brenz hatte ihm erklärt, dass dort die Spender der jeweiligen Speisen ihren Namen vermerkten – und sich für ihre Kreationen mal mehr, mal weniger blumige Bezeichnungen ausdachten.

Der Lachsteller zum Beispiel war mit »Sanft gebeizter Lachs aus Aquakultur« und »Waltraud Müller« bezeichnet. Daneben waren dünne Fleischscheiben aufgerollt, in einer Auflaufform nebeneinander platziert und mit halben Feigen garniert. Auf dem Kärtchen stand: »Kalbfleisch in einer Feigen-Limettensoße / M. Alt«.

Auf einer marmorierten Steinplatte lagen Spiegeleier, die offenbar auf beiden Seiten angebraten worden waren, die Beschreibung pries »Sunnyside up« an. Eine rustikal aussehende gusseiserne Pfanne war randvoll mit Rührei, das aber offensichtlich mit ungewohnten Zutaten vermengt war, daneben lag ein aufgeschnittenes Baguette. Froelich las: »Rührei mit Bananen und Käse«.

Flädlesuppe dampfte in einer großen Schüssel, drum herum waren kleine Teller angerichtet, auf denen Nuss-, Kümmel- und Weißbrotscheiben lagen, bestrichen mit den unterschiedlichsten Butter-, Frischkäse- und Schmalzvariationen. Griebenschmalz erkannte Froelich mit bloßem Auge, für eine zwischen bräunlichen und grünlichen Farbtönen pendelnde Masse brauchte er das erklärende Kärtchen (»Gemüseaufstrich down under«), und Brenz griff sich an Froelich vorbei eine Scheibe, deren Auflage als »Rehmousse mit Wacholder, Sherry und Kräutern« beschrieben war.

Während Brenz genussvoll kaute und dabei immer wieder kurz die Augen schloss, schöpfte sich Froelich einen Teller mit einer würzig riechenden Kuttelsuppe voll – die daneben aufgeschichteten Bratkartoffeln ließ er weg.

Auf dem Weg nach oben stellte Froelich fest, dass er sich den Suppenteller wohl etwas zu voll geschöpft hatte. Er aß ein paar Löffel ab, um den Teller nicht mehr ganz so vorsichtig ausbalancieren zu müssen. Danach erreichte er unbeschadet seinen Platz, hatte sich aber kaum gesetzt, als es auf dem Teller schon wieder Platz für Nachschub gab.

Inge kam ihm entgegen. Sie hatte sich eine kleine Glasschüssel mit einem sehr bunt und knackig aussehenden Salat gefüllt, der mit Blüten bestreut war. Sie nickte ihm nur kurz lächelnd zu und redet dann weiter mit der Frau neben ihr, einer schlanken, großgewachsenen Blondine, die auf einem großen Teller kleine Kleckse von unterschiedlicher Farbe verteilt hatte. Froelich sah kurz irritiert auf ihre rechte Hand: Damit hielt sie den Teller ganz locker und fand noch Platz für ein gut gefülltes Kelchglas, das irgendwie zwischen Ring- und kleinem Finger zu hängen schien. In der linken Hand hatte sie deshalb genug Platz für zwei Baguettescheiben.

Als Froelich mit seinem zweiten Teller zurückkehrte, sah Inge amüsiert auf die beiden Berge Rührei, die er sich aufgehäuft hatte – er wollte in aller Ruhe das normale Rührei mit ordentlich Speck und Schnittlauch mit dem »Bananen-Rührei« vergleichen, das mit reichlich Käse überbacken war.

»Das ist Frau Frohe-Mertens«, stellte sie ihm die blonde Frau vor, die noch immer neben ihr stand. »Sie ist Sommeliere in Stuttgart, und ich habe sie vor zwei Jahren interviewt, als sie wieder einmal einen renommierten Preis bekam.«

»Na ja, Frau Coordes, das muss man alles nicht so wahnsinnig hoch hängen«, sagte die Sommeliere, nickte Froelich freundlich zu und nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Glas.

»Ist das Wein?«, fragte Froelich – in der hellen Flüssigkeit schwammen kleine Fruchtstücke.

»Nein, Bowle«, lachte Karin Frohe-Mertens. »Aber verraten Sie mich bitte nicht! Als Sommeliere, die Bowle trinkt, ist man bei den ganz verbissenen ›Kennern‹ schnell unten durch. Aber ich hatte einfach Lust, mal wieder eine Bowle zu trinken. Schmeckt übrigens lecker – leicht und fruchtig, schön moussierend …« Sie unterbrach sich und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, das ist mir wohl schon so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich gar nicht mehr anders kann. Ich fürchte, für ein einfaches Urteil wie ›schmeckt lecker‹ muss ich mich inzwischen richtig anstrengen.«

Alle drei lachten, und die Sommeliere verabschiedete sich und ging zu ihrem Platz zurück.

Inge und Froelich probierten gegenseitig von ihren Tellern, und Butterweck kam vom Büffet mit einem Teller, auf dem sich einige Röllchen in einer roten Tunke direkt an eine Scheibe Fleisch mit einer spannend aussehenden »Panade« drängten.

Butterweck hatte Froelichs interessierten Blick bemerkt.

»Das sind Zanderrouladen auf Tomatensugo und dazu Roastbeef in Olivenkruste mit einer Essigsoße – Balsamico, glaube ich.« Er grinste und zuckte mit den Schultern: »Ich habe wirklich versucht, mir beide Kärtchentexte komplett einzuprägen, aber da muss ich noch üben.«

»Wenn’s schmeckt, pfeife ich auf die Kärtchen«, sagte Froelich und stopfte sich eine übervolle Gabel Rührei in den Mund.«

Abwechselnd aßen und fachsimpelten Inge, Froelich und Butterweck. Die drei verstanden sich prächtig, und nun, da die Rede zur Eröffnung der Veranstaltung gehalten war, störten sich auch Muhrmann und Päble nicht mehr an ihrer Unterhaltung und ihrem Lachen. Nur ab und zu sahen die beiden Funktionäre zu ihnen herüber – sie schienen ihnen die Störungen von vorhin noch nicht ganz verziehen zu haben.

* * *

Als die Gestalt alle Vorbereitungen im Maschinenraum abgeschlossen hatte, näherten sich Schritte. Sie drückte sich hinter die Tür zum Maschinenraum, zog einen großen Schraubenschlüssel aus dem nun ansonsten leeren Rucksack und hob die Hand – bereit zum Zuschlagen, sobald jemand den Maschinenraum betreten würde.

* * *

»So, mein Herr«, sagte Serviceleiter Meier und deutete eine kleine Verbeugung an. »Gehen Sie ruhig rein, ich warte hier so lange und bringe Sie dann wieder nach vorn.«

Der ältere Herr bedankte sich überschwänglich und stützte sich für die zwei Schritte bis zur Toilettentür schwer auf seinen Gehstock.

»Soll ich lieber mit reinkommen?«, fragte Meier schließlich. Der Gast schien allein doch nur gerade so klar zu kommen.

Mit gequältem Lächeln nickte der alte Mann.

»Wenn es Ihnen keine Mühe macht …«

Und damit verschwanden die beiden in der Herrentoilette.

* * *

Die Gestalt wartete noch kurz und lauschte, aber es waren nur die üblichen Geräusche aus der Herrentoilette zu hören. Kurz hielt sie den Atem an, als die beiden Männer feststellten, dass die Toilettenkabine besetzt war. Dann sagte eine ältere Stimme: »Ach, das macht nichts, ich kann auch im Stehen – alte Schule, wissen Sie?« Die beiden lachten, und die Gestalt atmete tief durch.

Sie öffnete die Tür einen Spalt breit und lugte hinaus auf das Hauptdeck. Der Kellner, der bis dahin die Desserts »bewacht« hatte, war nicht zu sehen – vermutlich war er einer der beiden Männer, die vorhin vor und jetzt auf der Toilette zu hören waren.

Bis zur Sichtblende, die den vorderen Teil des Hauptdecks von den Desserttischen und vom Toilettenbereich und dessen Vorraum abtrennte, hatte es die Gestalt schnell geschafft. Dahinter war im Moment nur noch der dicke Bestatter zu sehen, der sich den Teller ebenso vollgeladen hatte wie zuvor und nun schwerfällig zur Treppe ging und dann hinauf ins Oberdeck.

Die Gestalt schob sich den Schraubenschlüssel unter die Kleidung und steckte ihn im Gürtel fest, nutzte die günstige Gelegenheit und huschte bis zum unteren Ende der Treppe. Dort öffnete sie die Tür, sah sich kurz noch einmal um, beugte sich hinaus an die Reling und ließ den leeren Rucksack in den Neckar gleiten, der hier im Schatten des Schiffsrumpfs lag.

* * *

»Das ist die clevere Claudia«, sagte Butterweck grinsend zu Froelich und deutete auf eine Frau, die sich eine Nummer zu klein eingekleidet hatte. Die Knöpfe der Bluse hatten Schwerstarbeit zu leisten, und in dieser Größe musste der Rock fürchterlich kneifen. Dafür wirkte ihre rotblonde Turmfrisur umso ausladender. »Sie ist die Frau von Karl Müller, dem Kassierer unseres Genussvereins, und sie führt Ehe und Betrieb an der kurzen Leine.«

»Kein Wunder«, merkte Froelich an und grinste ebenfalls breit, »dass sich Müller so sehr für den Verein engagiert – wenn er daheim nicht viel zu melden hat.«

»Das wird wohl der Hauptgrund sein«, nickte Butterweck. »Claudia Müller jedenfalls hat von allen Aspekten ihres Geschäftslebens ganz klare Vorstellungen.« Er beugte sich noch ein wenig näher zu Froelich hinüber und fügte in gedämpftem Tonfall hinzu: »Übrigens auch von ihrem Privatleben, und da habe ich das mit der Leine auch beinahe wörtlich gemeint.«

Froelich verstand nicht gleich, aber Butterweck plauderte schon weiter drauflos.

»Claudia Müller hat den Weinbaubetrieb ihrer Schwiegereltern auf Vordermann gebracht, und ihr Mann, der als Wengerter durchaus Ahnung von seinem Metier hat, ist nicht schlecht damit gefahren, dass er ihren Vermarktungsideen gefolgt ist. Vor zwei Jahren erst haben sie ein neues Weingut bezogen – wunderschön gelegen auf einem sanften Abhang mit Blick auf den Neckar und die Felsengärten. Vielleicht sehen wir das Anwesen kurz vor unserer Ankunft in Besigheim: im toskanischen Stil, wirklich geschmackvoll.«

Butterweck machte eine kleine Pause und schob sich eine Dauphinkartoffel in den Mund. Er war mit Froelich zum Büffet gegangen und hatte sich ein wenig Beilagen, etwas Hähnchenbrust und einen Löffel von einer sämigen, kräftig gelben Soße aufgetan. Danach hatte er Froelich amüsiert dabei beobachtet, wie der sich gar nicht satt lesen konnte an den teils sehr originell beschrifteten Schildchen vor den einzelnen Speisen – und wie er sich schließlich »Blutwurst-Involtini an Cidreschaum« und »Schwäbische Pizza Vierjahreszeiten« auflud. Was auf dem letzten freien Fleck auf Froelichs Teller Platz fand, ließ die beiden Männer noch im Hinaufgehen herzhaft lachen: »Carpaccio von Weinbergschnecken aus der Hessigheimer Steillage« hatte auf dem Kärtchen gestanden – zwei offenbar mit Selbstironie gesegnete Vereinsmitglieder, die auf dem Kärtchen als »S &J Rommovski« signierten, hatten auf einem golden schimmernden Platzteller aus Oblaten, Frischkäse, hauchdünnen Fleischstreifen, etwas Senf, einem Fetzen Kopfsalat und einer Weintraube einen lecker aussehenden Snack aufgetürmt.

»Allerdings«, fuhr Butterweck fort, nachdem er die Dauphinkartoffel vertilgt hatte, »haben sie sich mit dem Neubau möglicherweise ein wenig verhoben. Karl Müller hat nach ein paar Viertele am Stammtisch mal eine entsprechende Bemerkung fallen lassen – sie scheinen finanziell im Moment ein wenig auf Kante genäht.«

Butterweck blickte bedeutungsschwer drein. Claudia Müller, die sich gerade angeregt mit dem Vereinsvorsitzenden Päble unterhielt, lachte laut auf – es klang ein wenig schrill, etwas überspannt. Karl Müller saß daneben und schien die lockere, vielleicht auch bemüht lockere Konversation nicht so richtig zu genießen.

»Die Bank macht wohl noch keine Zicken«, sagte Butterweck. »Aber das kann ja noch kommen. Und zuletzt hat es den Müllers eine Steillage komplett verhagelt.«

»Sind die denn nicht versichert?«

»Das schon, aber das macht den möglichen Gewinn nicht ganz wett – die Müllers sind inzwischen ganz gut im Direktvermarkten und erzielen richtig gute Preise für ihre Weine. Gute Tropfen übrigens, das muss man ihnen lassen.«

Butterweck plauderte lässig dahin, aber irgendwie klang er nicht so, als gönne er es dem Ehepaar Müller, für seine Weine hohe Preise verlangen zu können.

»Sie mögen die Müllers nicht so besonders, oder?«

Butterweck sah Froelich verblüfft an, dann hellte sich seine Miene schon wieder auf.

»Ach, geht so – früher bestückte ich alle meine Events mit Müller-Weinen. Aber seit sie die Nase und vor allem die Preise so hoch tragen, ergibt das für mich wirtschaftlich keinen Sinn mehr. Und davon, dass sie mir als altem Kunden einen Sonderrabatt einräumen würden, sollten Sie lieber nicht ausgehen.«

»Da schau an«, dachte sich Froelich. »Der gute Herr Butterweck hat auch so seine Rechnungen offen …«

* * *

Muhrmann erhob sich wieder, und einige Gäste verdrehten schon die Augen. Aber diesmal machte es der stellvertretende Vereinsvorsitzende gnädig. Er sah kurz in die Runde, erzählte einen gar nicht mal so schlechten Witz und wies dann darauf hin, dass nun Rezepte zu allen im Rahmen des »Schwimmenden Büfetts« angebotenen Speisen auslagen, die man sich gerne als Anregung mit nach Hause nehmen durfte.

* * *

Inge ging nach dem Hauptgericht auf das hintere Sonnendeck, um eine Zigarette zu rauchen. Froelich holte sich von dem Stapel neben dem Treppenabgang eines der dicken Bündel, zu denen die Rezepte der heutigen Büfettbeiträge geschnürt worden waren. Unterhalb der Rezeptbündel stand eine Schachtel etwa von der Größe eines Schuhkartons auf dem Boden, auf der Bilder einer Auflaufform aus weißem Porzellan zu sehen waren.

Kurz packte ihn die Neugier, und er wollte nachsehen, ob hier vielleicht einer der Spender seinen Nachtisch vergessen hatte – aber dann kamen drei Gäste angeregt plaudernd auf ihn zu, und er ließ die Finger von dem Karton. Auf die paar Minuten, bis das Dessertbüfett eröffnet wurde, kam es nun auch nicht mehr an.

Mit einem Espresso ging er zurück an den Tisch und blätterte langsam durch die Rezeptesammlung. Die Blutwurst-Involtini hatten ihm nicht gut genug geschmeckt, als dass er nun auch noch wissen musste, wie dieses Attentat auf einen durchschnittlich empfindsamen Gaumen herzustellen war. Auch das Rezept für den Räucherlachs mit Limetten – der mit viel mehr Aufwand vorbereitet worden war, als der leicht fade Geschmack hätte vermuten lassen – überblätterte er desinteressiert.

Die Zutaten für die »Schwäbische Pizza« dagegen las er aufmerksam durch, und auch das Rührei mit Banane studierte er kurz – es war originell und lecker gewesen, hatte ihn aber, was das weitere Fassungsvermögen seines Magens anging, sehr zurückgeworfen.

Und so schmökerte er entspannt weiter, lernte etwas über die Feigen-Limettensoße, mit der das Kalbfleisch angerichtet worden war, erfuhr Tricks für das Zubereiten der Zanderrouladen und der Olivenkruste für das Roastbeef – und musste kurz auflachen, als er die Juxrezeptur zum Schnecken-Carpaccio entdeckte. Darunter hatten die witzigen Köche eine »Variante für die Erbtante« aufgeschrieben: »Ersetzen Sie den Bärlauch durch Lilie oder Herbstzeitlose.« Und schließlich gab es auf diesem Blatt als Zugabe das (ernstgemeinte und sehr lecker klingende) Rezept für »Weinbergschnecken im Trollingersößle« – Froelich lief schon wieder das Wasser im Mund zusammen.

Um Platz auf dem Tisch zu schaffen, stopfte er die dicke Rezeptsammlung in Inges sehr große Umhängetasche, die sie über ihrer Stuhllehne zurückgelassen hatte. Dann ging er ebenfalls zur hinteren Freiterrasse.

* * *

Einige Zeit später – Inge stand wieder auf dem Freideck – wollte sich Froelich mit einem weiteren Espresso versorgen und noch ein wenig in den Rezepten schmökern. Auf dem Weg nach vorn kam er an Claudia Müller und Karin Frohe-Mertens vorbei, die sich angeregt unterhielten, aber fast augenblicklich verstummten, als sie den sich nähernden Froelich bemerkten.

»Hallo, die Damen«, begann Froelich, der sehr wohl die abrupte Unterbrechung bemerkt hatte. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt. Ich möchte mir nur kurz einen Kaffee holen.«

»Nein, nein«, sagte die Frau des Wengerters Müller. »Wir waren ohnehin gerade durch mit unserem Thema, nicht wahr, Karin?«

»Ach, Sie beide kennen sich näher?«

Froelich war sich nicht ganz sicher, ob er seine Neugier mit ausreichend Beiläufigkeit verdeckt hatte.

»Aber sicher«, sagte nun Karin Frohe-Mertens. »Wir stammen beide aus Ottmarsheim, und so groß ist unser Heimatflecken nun wirklich nicht.«

Sie lachte perlend, recht angenehm, während Claudia Müller etwas angestrengt mitkicherte. Vielleicht machte ihr ja doch die allzu enge Kleidung zu schaffen. Und sie schüttelte sich dabei ein wenig, so dass ihre aufgetürmte Frisur in einige Wallung geriet. Claudia Müller war nicht dick, sie war nur eben nicht mager, hatte Kurven an den richtigen Stellen – aber offenbar kein Gespür dafür, wie viel Stoff eine Bluse oder ein Rock brauchte, um gut drumherum zu kommen.

»Wie schön«, plauderte Froelich drauflos. »Und nun können Sie hier auch noch über die Genüsse des Lebens reden.«

Froelich hatte sich nichts Böses dabei gedacht, eigentlich fand er die Formulierung sogar etwas zu schwülstig für gutes Essen und guten Wein. Aber Claudia Müller sah wie ertappt auf ihre Arme und schob schnell die Ärmel ihrer Bluse ein wenig nach vorn. Ihm war, als habe er zuvor noch dunkelrote Streifen an ihren Handgelenken gesehen, wie Druckstellen oder Haut, an der gerieben wurde. Er sah ihr kurz in die Augen und streifte dabei mit seinem Blick den Hals – auch hier waren einige Verfärbungen auf der Haut zu sehen, die das Make-up nicht ganz verdecken konnte.

Claudia Müller errötete ein wenig. Froelich bekam eine leise Ahnung, was Butterweck vorhin mit dem Privatleben und der Leine gemeint haben könnte.

Er räusperte sich.

»Ich meine«, fügte Froelich hinzu, um sich auf ein weniger verfängliches Terrain zu retten, »weil Sie doch beide beruflich mit Wein zu tun haben.«

»Ja«, schaltete sich Karin Frohe-Mertens ein, der die plötzliche Verlegenheit ihrer Jugendfreundin aufgefallen war. »Und Sie sollten wirklich mal einen von Claudias Weinen versuchen – sehr lecker, kann ich Ihnen sagen.«

Damit ließ es Froelich fürs Erste gut sein, und er ging weiter. Hinter ihm nahmen die beiden Frauen ihre Unterhaltung tuschelnd wieder auf, aber so sehr sich Froelich auch auf die Stimmen der beiden konzentrierte: Er konnte nicht verstehen, worüber sie sich so intensiv unterhielten.

* * *

Durch die Fenster der »Anna Schäufele« waren nun ganz gegensätzliche Wegmarken zu sehen. Erst lag am rechten Ufer hinter einer Flussinsel das Kraftwerk, das hier einen nicht geschleusten Seitenarm des Neckars zur Stromerzeugung nutzte. Dann konnte man links in der Höhe das Schloss Kleiningersheim bewundern. Nach einer Weile gingen die Blicke wieder nach rechts: Dort lag ein schöner Biergarten direkt am Ufer, dahinter ein Restaurant.

Gelangweilt und gesättigt saßen viele der Gäste auf ihren Plätzen, sahen mal links, mal nach rechts aus den Fenstern, und nippten an ihren Getränken.

* * *

Wolfgang Päble hatte sich kurz erhoben und mit ein, zwei Sätzen alles gesagt, was seine Gäste im Moment interessierte: Die Desserts warteten nun unten im Hauptdeck darauf, verspeist zu werden.

»Eigentlich kann ich gar nicht mehr«, seufzte Inge, als Froelich sie fragte, ob sie mit ihm hinunter zum Dessertbüfett gehen wolle. »Aber egal: Wir sind ja nicht nur zum Vergnügen hier«, lachte sie und folgte ihm, der schon ganz erwartungsfroh der Treppe hinunter ins Hauptdeck entgegenstrebte.

Servicechef Meier hatte den Weg zum letzten Drittel des Büffets inzwischen freigegeben. Der Sichtschutz war abmontiert, die dafür benutzten Laken lagen zusammengelegt unter einem Tisch ganz hinten im Raum.

Natürlich stand Walther Neuneck längst vor den Desserts und war in das Lesen der Kärtchen vertieft. Die anderen Gäste schienen ihn ebenfalls zu kennen und hielten respektvoll Abstand, einige tuschelten auch hinter seinem Rücken über ihn und lachten dann halblaut.

Froelich rückte auf einen frei werdenden Platz am Büfett nach und ließ seinen Blick über das Angebot schweifen. Mandelbutter sah er, auch lecker aussehende Grießschnitten mit Kirschkompott, vor einer besonders interessant gefüllten Auflaufform aus weißem Porzellan stand ein Kärtchen mit der Aufschrift »Geeistes Schokoladenmus mit einem Aprikosen-Orangenspiegel«.

»Ein Jammer«, dachte Froelich, »dass ich keinen Hunger mehr habe.« Mehr als zwei Dessertteller, das war ihm klar, würde er im Kampf gegen das starke Völlegefühl auf keinen Fall mehr hineinbringen. Da hieß es, sorgfältig auszuwählen.

»Ha!«, machte neben ihm eine triumphierende Stimme – es war Neuneck: Der Kritiker beugte sich über die Mandelbutter, wedelte sich etwas Luft zu und schnupperte, wohl um einen ersten Eindruck vom Aroma der Butter zu bekommen. Dann griff er sich einen bröckligen Keks, der wie eine sehr rustikale Zwieback-Variante aussah, und zog ihn quer durch die Buttermasse.

Dann hielt er den Keks prüfend in die Höhe und musterte die üppig aufgewischte Butter mit hämischem Grinsen. Dass die übrige Mandelbutter auf dem Teller nun über und über mit abgebrochenen Keksbröseln bestreut und dadurch ziemlich unansehnlich geworden war, schien Neuneck nicht weiter zu kümmern.

Froelich ging ein paar Schritte und versuchte seinen Ärger über diesen egozentrischen Ignoranten zu unterdrücken, indem er sich auf einen Dessertbereich konzentrierte, in dem die unterschiedlichsten Käsesorten versammelt waren. Er säbelte schließlich ein Stück von einem kleinen Laib gerauchtem Ziegenkäse, der wie Käse aussah und tatsächlich wie Rauchfleisch roch. Dann pickte er sich mit einem Zahnstocher einige Weintrauben von einer großen Obstplatte, löffelte etwas »Birnenmus mit hausgemachtem Williams« auf den Teller und stapelte noch zwei kleine herzförmige Stückchen Schokoladenkuchen daneben.

Inge war schon wieder fertig und ging mit einem Teller die Treppe hinauf, auf dem einige Obststücke ein kleines Gläschen mit einer weißen Masse einrahmten.