Sag niemals noi - Jürgen Seibold - E-Book

Sag niemals noi E-Book

Jürgen Seibold

4,4

Beschreibung

Es beginnt mit einer kleinen Schwindelei von ihr. Mit einem Test, den er gerade so besteht. Und mit der Prophezeiung aller Freunde und Verwandten, dass »so etwas« auf gar keinen Fall gut gehen kann: ein badisch-schwäbisches Liebespaar - eine lebensfrohe Badnerin mit einer Vorliebe für edlen Schmuck, teuren Wein und feines Essen und ein verhockter Schwabe mit James-Bond-Spleen, der selbst zu Kutteln am liebsten Spätzle mag. Doch Nick und Lara ziehen allen Unkenrufen zum Trotz zusammen, nehmen sich eine Wohnung am Stuttgarter Eugensplatz und ihre Beziehung funktioniert. Lange. Jedenfalls länger, als alle gedacht haben. Dann glaubt Lara, ihren Nick mit der Nachbarin erwischt zu haben. Und er sieht sie zu häufig mit diesem Fahrradkurier. Es knirscht, es kracht, und nach der Trennung sagt mancher: »Hab ich‘s nicht gleich gewusst?« Doch alte und neue Freunde von Nick und Lara schmieden fieberhaft Pläne, um die beiden wieder zusammenzubringen. Badener - Schwaben? Eigentlich waren sie im kunterbunten Kiez am Eugensplatz multikultimäßig doch alle schon viel weiter: Raffaela und Jorge, Reza und Dorle, der verkrachte Autor Jobst und der Pantoffelheld Sebastian, Vermieter Giuseppe, die hübsche, aber verpeilte Nachbarin Franzi und die alte Gunda mit ihren seltsamen Tees und Eintöpfen. Jeder hilft auf seine Weise - oder macht alles nur noch schlimmer. Jedenfalls muss viel geschehen zwischen Oberrhein und Neckartal, bis Lara und Nick die Chance auf ihr Happy End haben.

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Jürgen Seibold

Sag niemals noi

Jürgen Seibold

Sag niemals noi

Roman

Jürgen Seibold, 1960 in Stuttgart geboren, war Redakteur der Esslinger Zeitung, arbeitete als freier Journalist für Tageszeitungen, Zeitschriften und Radiostationen und veröffentlichte 1989 seine erste Musikerbiografie. 2007 erschien bei Silberburg sein erster Regionalkrimi, 2010 die erste Komödie. Außerdem schreibt er Thriller und Jugendbücher. Jürgen Seibold lebt mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis und macht Musik – wenn er mal Zeit dafür findet. www.juergen.seibold.de

1. Auflage 2015

© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Aleksandar Dancu – iStockfoto.

Druck: Gulde-Druck, Tübingen.

Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1660-1

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1661-8

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1395-2

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uns auf Kritik und Anregungen unter:

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Inhalt

Der Vorspann Eine schöne Erinnerung

Kapitel 001 Jobst hat eine Idee

Kapitel 002 Das erste Treffen

Kapitel 003 Es wird ernst

Kapitel 004 Alles ändert sich

Kapitel 005 Es ist kompliziert

Kapitel 006 Ziemlich viel Theater

Kapitel 007 Thorben lernt dazu

Kapitel 008 Eine erfolgreiche Kampagne

Kapitel 009 Die badische Blondine

Der Abspann Felix will helfen

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Der Vorspann

Eine schöne Erinnerung

»Weg da, Jonger!«

Der Ruf kam von links, noch ein gutes Stück entfernt. Aber sofort danach: spritzender Dreck, ein schneller Schritt zur Seite, und schon konnte ich dem Rüpel nur noch hinterherschauen, der eben an mir vorbei den Hang hinuntergerast war. Tief über den Lenker gebeugt, streckte er mir seinen fülligen Hintern entgegen, den er aus dem Sattel gehoben hatte und der wie der Rest des massigen Körpers wie eine Presswurst in bunt bedruckten Stoff gezwängt war.

»Arschloch«, grummelte ich und stapfte weiter, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, den Blick finster auf den Boden gerichtet.

Der nächste Biker warf sich direkt hinter mir talwärts. Ich konnte für einen Moment den Fahrtwind im Nacken spüren, dann wurde ich heftig angerempelt und ein, zwei Schritte nach vorn gestoßen. Ich drehte mich um und stierte dem Radler hinterher, und als der mit dem Vorderrad auf einen kleinen Stein geriet, die Kontrolle über sein Gefährt verlor und kurz darauf im hohen Bogen und kopfüber über die Steilwandkurve flog, bevor er krachend im Dickicht der Äste verschwand, sah ich seelenruhig zu und gönnte mir ein böses Grinsen.

Das metallische Scheppern, mit dem das Bike auf dem harten Waldboden aufschlug, konnte ich deutlich hören, ebenso wie die kläglichen Hilferufe aus dem Unterholz. Doch stocksteif blieb ich stehen und sah zur Steilwandkurve hin. Ich kannte das Gefühl, dort hinten im Unterholz zu landen, nur zu gut. Ich selbst war damals zwar glimpflich davongekommen, weil der Schnee meinen Aufprall abgemildert hatte – aber umso mehr schmerzte mich der Gedanke an diesen Moment vor einigen Monaten.

Drunten am Rand der Downhill-Strecke schoben sich nun zwei Hände in Radlerhandschuhen über die Dreckkante, aber ich sah sie eigentlich nicht. Ich war in Gedanken, und für mich war der Hang wieder mit Schnee bedeckt, es war klirrend kalt und Laras Lachen perlte durch den sonnigen Winternachmittag.

Lara …

»He, du Sembel!«, krächzte eine Stimme und riss mich aus meinen Gedanken.

Der Radler hatte sich inzwischen so weit aus dem Unterholz hervorgearbeitet, dass sein Oberkörper zu sehen war. Das hautenge Trikot war nun nicht mehr quietschbunt, sondern staubig und dreckverschmiert. Der Helm fehlte, und ein überraschend faltiges Gesicht, eine hohe Stirn und eine Restmähne aus grauen Locken waren zu sehen. Im lockigen Haarkranz steckten kleine Zweige. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah mich der Seniorenbiker an.

Das hätte ich mir ja denken können, dass außer mir nur Rentner Zeit hatten, sich unter der Woche tagsüber hier oben herumzutreiben.

»He du, was isch? Kannsch du mir mol helfa?«

Viel Ähnlichkeit hatte der Graureiter nicht mit … Ich biss die Zähne aufeinander … aber auch der andere war auf seinem Rad wie der Henker durch Stuttgart gefahren, und …

»Jetzt schtand net rom wie agossa, Jonger!«

Ob Lara jetzt wohl mit ihm zusammen war? Oder ob sie einen anderen hatte?

»Jetzt komm scho ond helf mir uff!«

»Nö«, knurrte ich dem Radler zu.

Ich wandte mich um, setzte meinen Spaziergang fort und hielt im Weggehen noch die rechte Hand hoch, den Mittelfinger deutlich ausgestreckt. Als ich mich später noch einmal umdrehte, humpelte der Radler langsam den Hang hinauf, gestützt auf zwei andere grauhaarige Presswürste, die ihm zu Hilfe geeilt waren. Ein Dritter trug ihm das ramponierte Bike hinterher, und der Verletzte deutete immer wieder zu mir herüber und schien sich bitter über meine mangelnde Hilfsbereitschaft zu beschweren.

Ich gönnte mir noch ein finsteres Grinsen, dann schritt ich kräftiger aus und wanderte in den Wald hinein. Bald hatte ich die Downhill-Strecke weit hinter mir gelassen, und außer einem Eichelhäher, der mit seinen aufgeregten Schreien die anderen vor mir warnte, und einem irgendwo vor sich hin hämmernden Specht war nun nichts mehr zu hören. Kein Wunder eigentlich: An einem Dienstagvormittag kurz nach elf konnten es sich nicht viele einrichten, einen Ausflug nach Bad Wildbad zu machen, die Seilbahn auf den Sommerberg hinauf zu nehmen und zur Grünhütte zu wandern. Allenfalls ein freischaffender Autor wie ich … und Rentner wie die Fahrradfreaks vorne an der Strecke.

In der Grünhütte war trotzdem schon ordentlich Betrieb. Eine Gruppe betagter Ausflügler saß bei Bier und Vesper in der Sonne. Ich setzte mich an den freien Nebentisch und streckte die Beine aus.

»Hier draußen ist Selbstbedienung, junger Mann!«

Ich kannte die Stimme nicht, obwohl ich in der Hütte schon einige Male gewesen war. Unleidig sah ich auf und kreuzte den Blick mit einem knochigen Kerl, der zu den Ausflüglern gehörte, aber von allen am Tisch am wenigsten entspannt wirkte. Er hatte sich zu mir herumgedreht, sah mich streng an und versuchte mir nun, als er meine Aufmerksamkeit hatte, mit Gesten klarzumachen, dass ich hier draußen nicht bedient werden würde, sondern mir mein Getränk oder Vesper gefälligst selbst zu holen hatte. Das wusste ich selbst, mir war nur nicht klar, was es ihn anging, also musterte ich ihn mürrisch.

Der Alte ähnelte mit seinem asketischen Gesicht, dem stechenden Blick und den hochgezogenen Augenbrauen meinem Mathelehrer aus der siebten Klasse, und er schien ein ähnlicher Pedant zu sein. Einen Moment lang lag mir ein patzige Antwort auf der Zunge – ich war heute einfach zu schlecht gelaunt für solche Erbsenzähler, die sich in alles einmischten –, da sah ich Felix aus der Tür treten, zurück in die Hütte huschen und keine zwei Minuten später mit zwei Gläsern Milch und wehendem Küchenschurz herbeieilen.

»Mensch, Nick!«, rief Felix aus, und seine Freude wirkte echt. »Was machst du denn hier oben, am helllichten Tag?«

Er prostete mir zu und sah mich an, ganz gespannt, was ich ihm wohl zu erzählen hätte. Dass der ältere Gast neben uns nach Luft schnappte und uns beiden empörte Blicke zuwarf, schien ihn nicht weiter zu stören.

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte – er war ja selbst zu Beginn ein Teil von ihr gewesen –, obwohl Lara ihm vermutlich längst ihre Version geschildert hatte. Er hörte geduldig zu und manchmal räusperte er sich, und dann hatte ich fast das Gefühl, er habe ein schlechtes Gewissen wegen irgendwas. Aber ich hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht, dachte ich mir, hatte es mit der App zu tun – und damit lag ich richtig. Auch wenn aus einem ganz anderen Grund als dem, den ich zunächst vermutete.

Doch vielleicht sollte ich Ihnen lieber mal erzählen, was es mit meiner Geschichte, mit Lara und dieser App auf sich hat. Bitteschön …

Kapitel 001

Jobst hat eine Idee

Als ich Lara kennenlernte, hing ich abends oft mit Jobst Seiler ab, einem Schriftsteller, der mal erfolgreich gewesen war und dieser kurzen Zeit seither nachtrauerte. Ich hielt Jobst damals für eine Lusche, eigentlich tue ich das heute noch, und manchmal frage ich mich, ob ich mit ihm nur deshalb regelmäßig auf ein Bier in eine der Stuttgarter Szenekneipen ging, weil ich mich neben ihm immer als Gewinner fühlen durfte.

Mir ging es nicht schlecht, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich war Chefredakteur des angesagtesten Stadtmagazins in Stuttgart – na ja, damit war ich im Grunde genommen nur mein eigener Vorgesetzter, denn einen anderen festen Angestellten als mich hatte die Redaktion nicht. Für mich arbeiteten einige ziemlich schräge Vögel. Manche hatten nur die Tatsache zu bieten, dass sie jemanden kannten, der jemanden kannte, über den man Artikel schreiben konnte. Andere hielten sich für brillante Reporter, und weil ich nicht genug andere Leute fand, die für ein lausiges Honorar Veranstaltungen besuchen und zeilenträchtig darüber schwafeln wollten, ließ ich ihnen ihren Irrglauben. Dann gab es noch Leute, die schreiben konnten, aber zu abgedreht und chaotisch waren, um es in einer richtigen Redaktion zu etwas zu bringen.

Zu dieser letzten Gruppe zählte Jobst. Ich weiß gar nicht mehr, wie sein einziges wirklich erfolgreiches Buch hieß, aber inzwischen war es nicht mehr lieferbar, weil die Verkaufszahlen zuletzt in den kaum mehr messbaren Bereich abgerutscht waren. Seither schlenderte er immer etwas langsamer durch die Stadt, wenn wir an einem Antiquariat oder an der Grabbelkiste einer Buchhandlung vorbeikamen, und schielte leidlich unauffällig zu den Büchern hin, ob nicht womöglich sein Roman darunter war.

Jobst hielt sich mit Aufträgen als Werbetexter über Wasser, er veröffentlichte im Selbstverlag Kurzgeschichten und Romane und war darin eher fleißig als erfolgreich – und zwischendurch schickte ich ihn in Konzerte oder zu einem Krimidinner, zu Musicalpremieren oder ins Varieté, damit er mit seinem Presseausweis vom Büfett schnorren oder mir hinterher eine gesalzene Spesenquittung vorlegen konnte. Ab und zu gab er Lesungen, er tingelte vor allem eifrig mit den Krimis, die er mit heißer Nadel zusammenflickte und unlektoriert als E-Books herausbrachte. Ich glaube aber nicht, dass er jemals ein zweites Mal von einer Buchhandlung oder Bücherei engagiert wurde, denn Jobst als vortragender Autor … das kommt meiner Vorstellung von Tod durch Langeweile schon sehr nahe.

Ich habe ihn mal in einer seiner Lesungen erlebt, das hat mir gereicht. Und wach war ich nur geblieben, weil schräg vor mir eine atemberaubende Schönheit in viel zu engem Oberteil saß, die Jobst den ganzen Abend über mit ihren Blicken verschlang, während ich ganz versonnen ihr Profil betrachtete. Sie hat mich, glaube ich, überhaupt nicht bemerkt, und auch Jobst hatte nach der Lesung keine Zeit mehr für mich, weil er direkt nach dem höflichen Schlussapplaus mit der erhitzten Schönen von dannen zog.

Warum Jobst einen solchen Schlag bei Frauen hat, kann ich gar nicht sagen. Er sieht nicht schlecht aus, er kann nett und witzig sein, aber ich erkenne nichts an ihm, worin ich ihm nicht mindestens ebenbürtig wäre. Und falls er eine Granate im Bett sein sollte, können die Frauen das ja vorher schließlich nicht wissen. Vielleicht bringt der Beruf als Autor so etwas mit sich, und ich hatte damit ja auch schon meine Erfahrungen gemacht: Als … nun ja … Chefredakteur des Stadtmagazins war es oft keine große Sache, eine hübsche Praktikantin rumzukriegen oder vor der Schleyer-Halle ein süßes Mädchen zu finden, das für eine Pressekarte für das Konzert ihrer Lieblingsband auch hinterher noch auf einen Cocktail irgendwohin mitging.

Aber für so etwas fühlte ich mich inzwischen etwas zu erwachsen, meistens jedenfalls, und deshalb fragte ich Jobst an diesem Abend, wie ich es denn seiner Meinung nach anstellen sollte, endlich die Frau fürs Leben zu finden. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich wirklich so geschwollen ausdrückte – ich weiß nur noch, dass Jobst mich amüsiert ansah, bevor er sich von mir noch ein Bier spendieren ließ und mit Ratschlägen nur so um sich warf. Jobst war bester Stimmung. Und ich hatte mir zunächst artig die ausführliche Schilderung einer Lesung in einer größeren Buchhandlung irgendwo im Ostalbkreis angehört.

»Ich habe meinen neuen Krimi vorgestellt, du weißt doch: der achte Fall von Ronnie Rupff, dem misanthropischen Privatdetektiv, wo er mit Sina und Wolle in der Calwer Passage …«

»Klar, weiß ich«, unterbrach ich ihn.

Ich hatte keine Ahnung, was das für ein Krimi war, aber wenn ich Jobst nicht rechtzeitig gestoppt hätte, wäre er in seiner Zusammenfassung nicht mehr zu bremsen gewesen. Und es gab nur eines, was Jobst noch weniger konnte, als lesbare Bücher zu schreiben oder aus ihnen vorzulesen: die Handlung von Büchern zusammenfassen.

»Na, dann kannst du dir ja die überraschten Gesichter vorstellen.«

Er feixte mich erwartungsvoll an, und ich konnte mir gar nichts vorstellen, lächelte aber dünn und nickte.

»Die haben nämlich eigentlich gar nicht mich gemeint, als sie mich engagiert haben. Die hatten sich auf Lutz Seiler gefreut.«

»Aha? Ein Onkel von dir oder ein Cousin?«

Jobst schnappte für einen Moment nach Luft, dann schüttelte er fassungslos den Kopf.

»Du hast echt keine Ahnung! Mit Literatur kennst du dich ja echt kein bisschen aus!«

»Klar kenn ich mich aus – ich kenn ja dich.«

Ich grinste ihn an, dann fiel mir auf, dass meine launige Bemerkung durchaus auch als boshaft verstanden werden konnte, aber Jobst schüttelte nur weiterhin den Kopf.

»Kruso – das sagt dir nix?«

»Doch, klar. Das ist der Typ, der auf dieser einsamen Insel strandet und der einen kennenlernt, den er Freitag nennt.«

Jobst sah mich entgeistert an.

»War’s nicht der Freitag?«, fragte ich und zuckte mit den Schultern. »Na ja, vielleicht vertu ich mich, weil heute Freitag ist. Aber irgendein Wochentag war’s, richtig?«

»Nein, Mann: Lutz Seiler, Kruso – der hat dafür den Deutschen Buchpreis bekommen! Den hatten sie erwartet, und dann komme ich und lese aus meinem Krimi vor.«

Er prustete, sah mich an, und ich tat ihm den Gefallen und stimmte in sein Lachen mit ein.

»Die werden mich natürlich kein zweites Mal einladen«, brachte er schließlich hervor.

»Hätten die sowieso nicht«, dachte ich, sagte aber nichts und lachte Jobst zuliebe noch ein bisschen mit. Literatur interessierte mich nicht die Bohne – nur die Romane von Ian Fleming machten eine Ausnahme. James Bond: Das war mein Thema! Ich hatte alle Bond-Bücher im Regal, und dazu alle Bond-Verfilmungen mit Sean Connery in der Rolle des 007. Dazu Plakate, CDs, Filmrequisiten und so weiter. Auch mein liebstes Hobby hatte mit Bond, James Bond, zu tun – aber davon erzähle ich Ihnen später mehr.

An diesem Abend jedenfalls hörte ich mir alles Mögliche an, was Jobst so auf dem Herzen lag – bis ich unser Gespräch endlich auf das Thema lenken konnte, das mich wirklich beschäftigte.

»Und wozu willst du eine feste Freundin?«, sagte Jobst schließlich, als ich ihm mein Anliegen anvertraut hatte. »Ich meine, schau mich an. Ich bin Single, und ich genieße es in vollen Zügen. Und wenn ich abends nicht allein nach Hause möchte …«

Er grinste vielsagend, sah sich um und entdeckte zwei junge Frauen, die zwei Tische entfernt von uns saßen. Die eine war sehr hübsch, die andere leicht pummelig und ziemlich erfolglos aufgebrezelt, und beide hingen ziemlich deprimiert über ihren halb vollen Macchiato-Gläsern. Jobst sah so lange zu ihnen hin, bis eine der Frauen aufsah und leicht irritiert seinem Blick begegnete.

»Siehst du?«, raunte mir Jobst zu, und er wirkte sehr zufrieden mit sich.

Ich schaute auch kurz zu den beiden Freundinnen hinüber, die nun tuschelten. Die Hübsche sah etwas genervt aus, die andere wirkte empört, wenn auch nur ein ganz kleines bisschen und vielleicht sogar nur vorgetäuscht, denn sie musterte Jobst dabei durchaus aufmerksam. Er selbst nahm die Reaktionen der beiden nicht weiter zur Kenntnis.

»Also: Warum eine feste Freundin?«

»Weil ich keine Lust habe, mich ständig in Bars herumzutreiben, um fremde Frauen aufzureißen?«, bot ich ihm an. »Weil ich mich mal auf jemanden mehr einlassen will? Weil ich allmählich erwachsen werde?«

Jobst hatte die Augenbrauen hochgezogen und grinste.

»Große Liebe, Familie, Kinder – such dir was aus.«

»Oha!«, machte er. »Gleich das ganz große Besteck? Das ist allerdings wirklich nur im Paket zu bekommen, da hast du recht.«

»Red nicht so blöd daher, Jobst. Du sollst mir keinen Liebesroman schreiben, du sollst mir Tipps geben.«

»Tipps … um …« – er hob beide Hände und malte mit Zeige- und Mittelfingern Anführungsstriche in die Luft – »die Frau fürs Leben kennenzulernen?«

Er war ein bisschen lauter geworden, und die Hübsche sah nun schon etwas weniger unleidig zu ihm her.

»Schrei hier nicht so rum!«, zischte ich ihm zu. »Kannst du mir nun Tipps geben oder nicht?«

»Na ja, ich bin eher der Experte für …« Er deutete mit einem leichten Kopfnicken zu den beiden Frauen hin und grinste noch breiter. »Du weißt schon.«

»Okay, vergiss es«, winkte ich ab. »War eine blöde Idee, ausgerechnet dich zu fragen.«

»Nein, nein, war es nicht. Und jetzt sei nicht gleich beleidigt, nur weil ich einen Moment brauche, um mich in dich hineinzuversetzen. Ich helf dir natürlich, Ehrensache!«

Er sah kurz zu den beiden Frauen hinüber, und die Hübsche wich seinem Blick erst im letzten Moment aus und sah sehr konzentriert auf ihr Macchiato-Glas. Jobst lächelte noch für einen Augenblick in ihre Richtung, dann zwinkerte er der anderen zu und wandte sich wieder an mich.

»So, du hättest also gerne was Festes.«

Er musterte mich, und ich ärgerte mich noch immer darüber, dass ich ausgerechnet Jobst »One-Night-Stand« Seiler um Hilfe gebeten hatte.

»Hast du Vorlieben?«

Ich sah ihn verblüfft an.

»Wie, Vorlieben? Du meinst Handschellen oder so was?«

Als Stadtmagazin-Macher wusste ich natürlich, dass Stuttgart eine Sadomaso-Hochburg war, aber für mich kam das nicht infrage. Ein Bilderwitz kam mir in den Sinn, in dem sich ein Mann von seiner Domina verabschiedet, weil er es härter braucht – und sich deshalb eine Dauerkarte für den VfB kauft.

»Du lächelst?«, fragte Jobst. »Also tatsächlich Handschellen? Hätt ich nicht von dir gedacht.«

»Quatsch! Mir ist nur grad was Lustiges eingefallen. Aber was meinst du mit Vorlieben?«

»Na, blond oder braun, schwarz oder rot.« Er hob beide Hände vor seine Brust. »Viel oder wenig?«

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass die Hübsche jetzt grinste und sich ihre Freundin sehr aufrecht hinsetzte und die Brust durchdrückte.

Ich zuckte mit den Schultern.

Jobst schüttelte den Kopf. »Hübsch und sexy wär schon mal nicht verkehrt, oder?«, nahm er einen neuen Anlauf.

»Ja, schon. Aber Humor sollte sie haben, und blöd darf sie auch nicht sein.«

»Oje«, stöhnte er, »so einer bist du. Na, da werden dir die Frauen die Bude einrennen. Und wenn du jetzt noch im Haushalt helfen willst, reicht die Schlange bis raus nach Kaltental.«

»Ja, ja, mach du dich nur lustig über mich.«

»Nein, im Ernst. So was wie dich suchen die meisten – musst nur mal ein paar Frauenzeitschriften lesen.«

Nun grinste ich, und Jobst nickte anerkennend.

»Aha, hast du schon. Sehr gut. Also: hübsch, sexy, clever, humorvoll. Muss sie von hier sein?«

»Das wär mir egal. Ich will halt hier nicht wegziehen – schon nicht wegen meines Jobs, meiner Freunde, der Kneipen und so. Aber ich suche jetzt nicht zwingend eine Schwäbin mit Stuttgarter Ahnentafel bis zurück ins alte Herzogtum.«

Jobst zog einen winzigen karierten Block aus der Tasche und begann sich mit einem ebenso winzigen Bleistiftstummel Notizen zu machen.

»Äh … was wird das?«

»Das Profil deiner Zukünftigen«, sagte Jobst, ohne dass er mit den Notizen aufhörte. »Du musst doch schließlich festhalten, wonach du suchst.«

Ich fand das etwas albern, aber Jobst wirkte nicht, als würde er sich über mich lustig machen.

»Dann schreib noch dazu, dass sie auch James-Bond-Filme und -Romane gut finden sollte.«

Jobst verharrte mit dem Bleistiftstummel reglos über dem Block und sah mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost.

»Okay, dann … schreib wenigstens hin, dass es gut wäre, wenn sie nichts gegen James Bond hätte, okay?«

Er zuckte mit den Schultern und kritzelte weiter. Ich sah mich um, ob uns die anderen Gäste womöglich beobachteten, aber von den beiden Frauen abgesehen schien sich niemand für Jobst und mich zu interessieren. Die Hübsche lächelte, ich nickte ihr kurz freundlich zu, nun lächelte auch die andere und entblößte ein paar ziemlich schiefe Schneidezähne. Mein Lächeln wurde etwas dünner und ich konzentrierte mich wieder auf Jobsts Notizen.

»Gut«, sagte der nach einer Weile, »das hab ich so weit notiert.«

»Und jetzt? Soll ich eine Anzeige aufgeben oder was?«

Ich hatte eigentlich einen Witz machen wollen, aber Jobst lachte nicht.

»Das ist dann doch etwas old school, Nick. Nein, das geht heute so …«

Er zog sein Smartphone hervor, machte ein Foto von mir, noch ehe ich protestieren konnte, und dann tippte er schon flink auf dem Display herum. Nach ein paar Minuten war er fertig, er besah sich den kleinen Bildschirm noch einmal und navigierte sich mit Wischbewegungen nach oben und nach unten, als wolle er noch einen letzten prüfenden Blick auf das werfen, was er gerade eingegeben hatte. Dann hielt er mir das Smartphone hin.

Am oberen Bildrand war ein knallrot gezeichnetes Herz zu sehen, das in Bild und Ton heftig pochte und um das eine Banderole mit der Aufschrift »247luv4me« geschwungen war. Unter dem Herz schmachtete sich ein junges Pärchen an: er lässig unrasiert mit Nerd-Brille und Cap, sie blond und hübsch und …

Ich stutzte, sah kurz zu den beiden Frauen hinüber. Jobst folgte meinem Blick, dann strahlte er mich an. Noch bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte, stand er auch schon auf und ging zu den beiden hin. Er sprach leise auf sie ein, ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber wenig später kam er mit den beiden Mädels im Schlepptau zurück an unseren Tisch. Jobst zog kurzerhand zwei freie Stühle vom Nebentisch heran und bot sie den Frauen mit galanter Geste an. Dann winkte er der Bedienung, zeigte auf die Mädels und hob zwei Finger in die Höhe. Jobst setzte sich und strahlte die hübsche Blondine an, und schon kurz danach standen zwei neue Latte Macchiato vor ihr und ihrer Freundin auf dem Tisch. Jobst flüsterte der Bedienung noch etwas zu, bevor sie wieder davonflitzte, und die Blonde strahlte Jobst freudig an.

»Oh, haft du gefpickelt, waf wir vorhin hatten?«

Die Hübsche lispelte, sie drückte sich etwas gespreizt aus und ihre Stimme war ähnlich schrill wie das nervige Organ dieses berühmten Fotomodells, das seit einiger Zeit mit einer Castingshow im Fernsehen abräumte. Aber sie sah wirklich umwerfend aus, und ihre Bluse war für ihre ansehnliche Figur sehr geschickt gewählt. Ihre Freundin saß neben ihr wie ein hässliches Entlein, nicht ganz so schlank, nicht ganz so selbstbewusst und vor allem nicht halb so sexy wie die Blondine. Immerhin war ihr Lächeln recht nett – solange sie die Lippen geschlossen und die Schneidezähne verborgen hielt.

»Das ist Carina«, stellte Jobst mir die Hübsche vor, als würde er sie schon ewig kennen. »Und ihre Freundin heißt Molly.«

Carina gab mir die Hand. Ihre Finger waren kalt und sie hatte einen so laschen Händedruck, als wäre sie aus besonders dünnem Porzellan. Molly dagegen packte ordentlich zu, ihre Handflächen waren weich, warm und trocken – und auf den zweiten Blick fielen mir dann doch einige nette Details an ihr auf: funkelnde Augen, schön geschwungene Augenbrauen, lange Wimpern.

»Und Carina«, fuhr Jobst fort, nachdem wir uns alle begrüßt hatten, »ist das Covergirl von 247luv4me.« Er beugte sich ein wenig zu ihr hin. »Wir haben dich sofort erkannt, obwohl wir dich ja nur ganz kurz am anderen Tisch haben sitzen sehen.«

»Na ja, etwaf länger hingeschaut habt ihr ja wohl schon«, sagte Carina und deutete auf ihren Macchiato.

»Wundert dich das?«, säuselte Jobst, und mir wurde ganz anders, wie er seiner Stimme dieses vibrierende Timbre mitgab, wie ich es nur aus alten Filmen kannte.

Ich warf Molly einen Blick zu, ob sie wohl gerade genervt die Augen verdrehte, aber sie hing lächelnd an Jobsts Lippen und schien ganz einverstanden mit seiner Ausdrucksweise. Mich hatte so nicht einmal eine meiner Praktikantinnen angehimmelt … ganz offensichtlich hatte ich die Tipps von Jobst doch sehr nötig. Und es war höchste Zeit, dass ich mich in eine feste Beziehung flüchtete: Die »freie Wildbahn« war wohl nicht mehr wirklich mein Revier.

Eine kleine Pause entstand, weil sich Jobst und Carina lange in die Augen sahen, und neben mir entfuhr Molly ein leiser Seufzer. Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum, und als ich dabei ganz kurz mit dem Oberschenkel gegen Mollys Schenkel stieß, hob sie den Kopf und sah mich mit einem versonnenen Lächeln an.

»Äh … sorry«, stammelte ich.

Aber sie hob nur ihr Macchiato-Glas und prostete mir zu. Vor mir stand mein leeres Pils-Glas, und ich wollte gerade Nachschub ordern, als auch schon die Bedienung mit einem kleinen Tablett zu uns an den Tisch kam. Sie stellte zwei Cocktailkelche vor Jobst und mich. Die Gläser waren von einer dünnen Eisschicht bedeckt und gut gefüllt mit einer milchig trüben Flüssigkeit, darin lehnte ein kleiner Spieß mit drei Oliven.

»Oh«, flötete Carina und rührte mit dem Löffel in ihrem Macchiato, »daf fieht aber interefant auf!«

»Gell?«, flötete Jobst zurück. »Und was das ist, kann euch mein Freund Nick am besten erklären.«

Ich sah noch kurz den Luftbläschen beim Aufsteigen zu, dann nickte ich Jobst anerkennend zu.

»Ein Dry Martini«, dozierte ich. »Geschüttelt, nicht gerührt – so trinkt ihn James Bond am liebsten.«

Carina prustete und lehnte sich lachend an Jobsts Schulter, Molly verzog das Gesicht – von Bond und geschütteltem Dry Martini schien sie nicht viel zu halten.

Ich hob mein Glas. »Durch das Schütteln wird der Drink schneller kalt, zunächst aber auch trüb. Seht ihr die kleinen Luftbläschen hier? Die steigen auf, und allmählich wird der Dry Martini wieder klar. Aber bis dahin …« Ich prostete den anderen zu. »Bis dahin habe ich ihn längst ausgetrunken.«

Jobst folgte meinem Beispiel, und Carina und Molly nippten an ihrem Macchiato. Als auch ihre Gläser eine Viertelstunde später ausgetrunken waren, wechselten wir das Lokal. Die Location in der Stadtmitte galt als sehr angesagt, und der Barkeeper hantierte hinter dem riesigen Tresen mit großer Geste. Was er dabei fabrizierte, war nicht unbedingt Weltklasse, aber durchaus okay. Ich blieb bei Dry Martini, Jobst ließ den Mädels zwei Sex on the Beach mischen, die Anspielung quittierte Carina mit einem quiekenden Kichern und Jobst warf mir einen vielsagenden Blick zu. Danach orderte er eher stärkere Cocktails für unsere Begleiterinnen.

Molly, die sich als nicht sehr gesprächig erwies, beobachtete amüsiert, wie ihre Freundin immer aufgekratzter wurde, und ab und zu raunte sie mir eine spöttische Bemerkung über Carina und Jobst ins Ohr. Ihr warmer Atem an meinem Ohr bescherte mir eine ordentliche Gänsehaut, aber nach dem dritten Martini war es für weitergehende Ambitionen zu spät, und ich begnügte mich damit, Jobst zuzuhören, wie er den Frauen erklärte, was er eigentlich auf dem Flirtportal »247luv4me« zu suchen hatte.

»Mein Freund Nick sucht eine Frau fürs Leben.«

Ich hätte ihn erschlagen können, aber die Drinks hatten mich zu diesem Zeitpunkt schon angenehm schläfrig gemacht, also lümmelte ich weiterhin entspannt in meinem Sessel und warf ihm nur einen bösen Blick unter halb geschlossenen Lidern zu. Jobst kümmerte sich nicht weiter darum.

»Also hab ich ihm einen Account auf 247luv4me eingerichtet. Schaut, hier.«

Er hielt Carina und Molly das Smartphone hin, und die beiden wischten sich auch gleich durch die Angaben zu meiner Personen und meinen Vorlieben – während ich »meinen« Account noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte.

»Och, Humor foll fie haben«, gickerte Carina und warf mir einen Kussmund zu. »Daf ift foo füüüüf, Nick!«

Ich funkelte Jobst zornig an.

»Ja«, stimmte der ungerührt zu, »Nick ist süß. Vielleicht habt ihr vorher mitbekommen, dass ich ihn nach den wichtigsten Eigenschaften seiner Traumfrau gefragt habe?«

Er lachte und hielt sich wieder beide Hände vor die Brust. »Ist ihm egal, hat er gesagt – ehrlich!«

Dabei linste er Carina in den Ausschnitt, und die lächelte ihn daraufhin so freudig an, als sei sie ihm geradezu dankbar dafür, dass er sie mit Blicken fast auszog. Neben mir erklang ein leises Schnaufen. Ich wandte mich zu Molly um: Sie war in ihrem Sessel nach hinten gesunken, hatte die Augen geschlossen und den Mund halb geöffnet, und ihr schweres Atmen kippte allmählich in ein leises Schnarchen.

Carina beachtete ihre schlafende Freundin nicht weiter, sondern flirtete mit Jobst, der wiederum in ihren Augen versank. Dadurch bekam ich endlich dessen Smartphone zu fassen und konnte selbst lesen, was er über mich in diesem Portal geschrieben hatte.

»Hi, ich heiße Nick, ich bin 31 Jahre jung und ich suche meine Frau fürs Leben«, stand da neben dem Schnappschuss, den Jobst im vorigen Lokal von mir gemacht hatte. Das Foto war nicht besonders gut geworden, aber ich fand mich trotzdem recht gutaussehend abgebildet mit meinen dichten schwarzen Haaren und meinem sorgfältig gestutzten Hipster-Bart. Ich hatte Jobst ziemlich verblüfft angeschaut, als er mich so unvermittelt fotografiert hatte, doch auf dem Handy-Display wirkte mein Blick eher wach, interessiert und etwas keck. Und auch meine Augenringe, die durch die ungünstigen Lichtverhältnisse noch etwas tiefer zu sein schienen, standen mir gar nicht mal so schlecht.

»Humor sollst du haben«, hatte Jobst weiter für mich getextet, »und man soll sich gut mit dir unterhalten können. Na gut, wenn du umwerfend aussiehst und sexy bist, schick ich dich trotzdem nicht gleich wieder weg … Nein, war nur Spaß. Mir sind innere Werte wichtiger. Magst du wie ich gutes Essen, ein Glas Wein, ein angenehmes Gespräch und Filmklassiker?«

»Sag mal, Jobst«, begann ich, ohne vom Display aufzusehen. »Sollten wir das mit den Filmklassikern nicht etwas präziser ausdrücken? Ich meine: Da steht nirgends was von James Bond. Vielleicht denkt sie ja bei Kinoklassikern eher an … was weiß ich … Heinz Rühmann oder ›Pretty Woman‹ oder ›Frühstück bei Tiffanys‹?«

»Hmmmm …«, machte Jobst.

Ich blickte auf und erkannte gleich, warum seine Stimme so gedämpft geklungen hatte: Carinas Lippen waren fest auf seine gedrückt. Und wenn ich mir so ansah, wohin ihre und seine Hände gerade wanderten, konnte ich davon ausgehen, dass Jobsts »Hmmmm …« eher nicht mit meiner Frage zu tun hatte.

»Hmmmm …«, machte Jobst noch einmal, und jetzt ließ sein Tonfall wirklich keinen Zweifel mehr, dass er gerade ganz anderes als meine Kontaktanzeige in dieser knallbunten Flirt-App im Sinn hatte.

Kurz darauf entknoteten sich die beiden dann auch, Jobst murmelte eine Verabschiedung, ohne seinen Blick von Carinas Augen und seine Hände von ihrer Hüfte zu lösen. Carina zog aus ihrer Hosentasche zwei Zettel, linste kurz auf den einen und steckte ihn weg. Den anderen legte sie vor ihrer schnarchenden Freundin auf den Tisch. Sie murmelte mir noch kurz ein undeutliches »ihre Adresse« zu, dann verhakten sich auch schon wieder ihre Lippen in die von Jobst. Die beiden zogen und schoben sich davon und waren wenig später nach draußen verschwunden.

Molly schnarchte inzwischen etwas lauter. Ich nahm den Zettel vom Tisch: Sie wohnte in der Hackländerstraße, einer recht guten Wohngegend auf der Gänsheide, etwa auf halber Höhe zwischen City und Fernsehturm. Dort hatte auch eine meiner interessanteren Praktikantinnen mal eine Bleibe gehabt, aber nach einigen Besuchen hatten mich ihre Eltern zum Teufel gejagt – sie waren offenbar nicht der Meinung, dass ein Stadtmagazin-Redakteur, der am späten Samstagvormittag noch in Slip und Shirt im Apartment ihrer Tochter Ramona herumschlurfte, der richtige Umgang für sie sei.

Schmunzelnd erinnerte ich mich an Ramona. Kurz nach meinem Zusammenstoß mit ihren Eltern hatte sie ihr Praktikum in meiner Redaktion an den Nagel gehängt. Sie war hübsch gewesen, aber als Autorin riss sie keine allzu große Lücke.

Mollys Schnarchen schreckte mich aus meinem Tagtraum auf. Wie sie da neben mir in ihrem Sessel lümmelte, die Augen geschlossen, Arme und Beine ausgebreitet, den Mund weit offen, die Lippen etwas über die schiefen Vorderzähne zurückgezogen und mit bebenden Nasenflügeln und schnarrendem Zäpfchen die Luft einsog, bot sie einen ziemlich krassen Kontrast zu Ramona.

Ich musterte sie noch kurz, kam aber auch nach eingehender Betrachtung zu keinem besonders positiven Urteil und winkte der Bedienung. Ich bezahlte für Jobst, Carina und Molly mit, vermutlich war das meine Gegenleistung für den Flirt-Account, den mir Jobst eingerichtet hatte. Dann steckte ich sein Handy ein – er würde es heute Nacht ohnehin nicht mehr brauchen. Und schließlich tippte ich Molly ein paar Mal an, um sie aufzuwecken. Nachdem ich meinen Zeigefinger etwas tiefer in ihren weichen Oberarm gebohrt hatte, änderte sich zwar die Tonlage ihres Schnarchens ein wenig, aber wach bekam ich sie nicht.

Ich wusste nicht recht, wie ich sie schlafend aus dem Sessel und aus der Bar bekommen sollte, aber schließlich setzte ich auf eine kleine Schocktherapie, beugte ich mich zu ihr hinunter und flüsterte ihr ins Ohr: »Komm, Schatz, wir müssen nach Hause.«

Tatsächlich brach ihr Schnarchen ab, sie hob die Lider halb und sah mich fragend an.

»Na, komm, Molly, hilf mir.«

Ich hielt ihr meine Hände hin, und obwohl sie im Moment ganz offensichtlich keine Ahnung hatte, wo sie mich schon einmal gesehen haben könnte, erhellte ein beschwipstes Lächeln ihr Gesicht, sie schnappte nach meinen Händen und zog sich mit meiner Hilfe hoch. Kurz blieb sie etwas unsicher stehen, ich hakte sie unter und bugsierte sie auf den Gehweg hinaus. Draußen winkte ich ein Taxi heran, öffnete die Hintertür und half Molly in den Wagen. Sie ließ sich wie einen Kartoffelsack auf die Rückbank fallen und machte keine Anstalten durchzurutschen, um mir Platz zu machen. Also drückte ich die Tür wieder zu und setzte mich vorn neben den Fahrer.

Es roch leicht nach Zigarettenrauch, in dem eine leicht süßliche Note mitschwang. Der Fahrer trug eine regenbogenbunte Wollmütze, unter der lockige Strähnen hervorquollen. Am Rückspiegel baumelte eine Plastikfigur, ebenfalls mit bunter Wollmütze und wilden Locken, die im Schneidersitz in der Luft baumelte und sich mit beiden Händen einen überdimensionalen Plastikjoint an die grinsenden Lippen hielt.

»Bob Marley, Mann«, grunzte der Fahrer, der meinem Blick gefolgt war. »Ond wenn dei Braut au was graucht hätt statt zom saufa, no wär euer Abend jetzt no net rom!«

»Das ist nicht …«, setzte ich an, aber Jobsts Handy meldete den Eingang einer Nachricht.

Ich zog das Smartphone aus der Tasche: Die Flirt-App war noch aktiv, mein Profil war nach wie vor geöffnet, und nun stand da in knalligem Rot – garniert mit zwei pulsierenden Herzen: »Match! Nick, wir haben zwei Treffer für dich!«

Ich las noch kurz die Beschreibung zu Ende, die Jobst für mich hinterlegt hatte. »Ich zieh gern um die Häuser«, hatte er getextet, »liebe aber auch einen romantischen Abend. In meiner Stadt kenne ich mich aus wie in meiner Westentasche, und ich würde dir die schönsten Winkel und die angesagtesten Locations gerne zu Füßen legen. Aber ich lass mich auch gern von dir überraschen und lerne kennen, was du magst.«

Was hatte Jobst denn da zusammengefaselt? Kein Wunder, dass er als Schriftsteller auf keinen grünen Zweig kam. Aber wenn er damit einen solchen Schlag bei Frauen hatte …?

Ich wischte mich zu den Treffern. Zwei weibliche Vornamen wurden angezeigt, daneben waren winzige Porträtfotos zu sehen und ein Link, der mehr Details zu dem jeweiligen Account versprach. Außerdem stand bei jedem Bildchen ein Wert, der die Übereinstimmung mit meinen Vorgaben beschrieb – in beiden Fällen lag dieser Wert bei 95 Prozent. Das klang nicht schlecht, fand ich.

Der Fahrer neben mir räusperte sich, aber ich beachtete ihn nicht weiter. Diese App hatte zwei Treffer für mich gefunden! Was das wohl für Frauen waren?

Die erste war eine »Lara«, ihr Foto war in der Übersicht etwas seltsam anzusehen, also bediente ich den Link und hatte ihr Bild nun displayfüllend vor mir. Sie sah nicht schlecht aus, ganz hübsch eigentlich, aber mit ihren aufgerissenen Augen, einem völlig übertriebenen Lächeln und dem großen, weit aufgerissenen Mund wirkte sie, als wolle sie mich gleich beißen. Außerdem waren ihre kurzen, struppig nach allen Richtungen abstehenden roten Haare nicht ganz mein Geschmack. Gut, man konnte sich ja trotzdem mal treffen – sie würde hoffentlich nicht den ganzen Tag mit aufgerissenem Mund herumlaufen.

Aber zunächst navigierte ich zurück zur Übersicht und öffnete das zweite Trefferprofil. Hier fühlte ich mich schon wohler: Eine blonde Schönheit lächelte mich gewinnend an, zumindest schien sie mich nicht gleich beißen zu wollen. »Linda« stand neben dem Bild.

»He, Mann, was isch? Wo goht’s nah?«

»Was?«

Den Taxifahrer hatte ich im Moment komplett vergessen. Er hatte beide Arme über sein Lenkrad gelegt, hielt seinen Kopf schräg, wirkte sehr genervt und stierte mich ungeduldig an.

»Wo willsch nah?«

Ich nannte ihm ganz in Gedanken meine Adresse im Stuttgarter Westen und vertiefte mich wieder in das Profil der schönen Blonden. Sie hatte noch ein paar weitere Fotos eingestellt, eins begeisterte mich mehr als das andere. Und noch bevor das Taxi die Liederhalle passiert hatte, las ich ihr Selbstporträt, als wolle ich es auswendig lernen. Wenn ich nicht alles völlig falsch verstand, hatte ich hier in jeder Hinsicht meine absolute Traumfrau vor mir: Linda schrieb witzig und selbstironisch, clever, frech und selbstbewusst. In ihrem Text war davon die Rede, dass sie die Nase voll davon habe, wenn Männer sie immer nur nach ihrem Äußeren beurteilten – was meiner Meinung nach zumindest nahelegte, dass sie nicht nur im Gesicht sehr gut aussah. Ihre Figur war auch auf den anderen Fotos nur zu erahnen, aber schlank schien sie zu sein, außerdem zählte sie einige Sportarten auf, die sie gerne betrieb – das klang fast zu gut, um wahr zu sein.

Mein Ghostwriter Jobst kam mir in den Sinn. Ob auch die schöne Blonde sich den Text von jemand anderem hatte schreiben lassen? Na, selbst wenn: Auch eine enge Freundin würde sie nicht völlig im Gegensatz zu ihrem wirklichen Erscheinungsbild beschreiben, oder? Ich navigierte zu meinem eigenen Profil zurück. So falsch war es ja auch nicht, was Jobst über mich geschrieben hatte. Also schnell wieder zur Beschreibung der Blondine. Der Button, über den man mit ihr Kontakt aufnehmen konnte, pulsierte in tiefem Rot gleich neben ihrem Porträtfoto, und ich wollte ihn gerade antippen, da hielt das Taxi an.

Ich sah kurz auf: Wir hatten die Ecke Silberburg-/Lerchenstraße erreicht. Nur noch zum nächsten Hauseingang und dann die Treppe hoch bis unters Dach – so lange konnte die Nachricht an Linda auch noch warten. Zu einem schönen Glas Rotwein und vielleicht sogar bei Kerzenlicht würde sich die erste Botschaft an sie vermutlich auch besser formulieren lassen. Also drückte ich die Tür auf und war schon draußen, als mich der empörte Ruf des Taxifahrers noch einmal aufhielt. Ich nestelte einen Zwanziger hervor, schnippte ihn auf den Beifahrersitz und schlug die Tür hinter mir zu.

Oben in der Wohnung machte ich es mir erst einmal gemütlich. Ich dimmte das Licht im Wohnzimmer und startete den CD-Player. Zum vertrauten Klang von Shirley Basseys wuchtiger Stimme schlüpfte ich aus meiner Jeans – der kleine Zettel, der mir dabei aus der Tasche rutschte, schreckte mich kurz auf. Auf dem Papierschnipsel war Mollys Adresse zu lesen … die Adresse jener Molly, die ich auf dem Rücksitz des Taxis vergessen hatte!

Ich flitzte zum Fenster und sah zur Straße hinunter: Der Rastamann war längst weggefahren – na ja, Molly würde ihm auch selbst sagen können, wo sie wohnte. Und dass eine Frau auf seinem Rücksitz schnarchte, musste ihm ja bald auffallen.

Ich zog meine schlabbrigste Jogginghose an, und Shirley Bassey sang noch immer »Goldfinger«, als ich mir ein Henkelglas aus dem Regal holte. Ich schenkte mir einen trockenen Trollinger ein und wollte mich am Laptop in mein Flirt-App-Profil einloggen, aber Jobst hatte mir bisher noch keine Zugangsdaten gegeben, also tippte ich den Text, mit dem ich die blonde Linda zu einem ersten Treffen bewegen wollte, auf dem kleinen Display von Jobsts Smartphone ein.

»Liebe Linda …«

Ich trank einen Schluck, dann ließ ich meinen Finger auf der Löschen-Taste, bis die Anrede wieder verschwunden war.

»Hi, Linda!«

Viel besser. Jünger vor allem. Nur das Ausrufezeichen war zu viel.

»Hi, Linda. Du wurdest mir als einer von zwei …«

Löschen.

»Hi, Linda. Du wurdest mir als mein Match angezeigt.«

Klang das zu popelig, wenn ich nur einen Match auf meine Anfrage bekam? Schließlich sollte Linda gern glauben, sie stehe in einer sehr langen Reihe an. Ich brauchte fast zehn Minuten und das halbe Glas Trollinger, bis mein kurzer Text stand. Dann las ich alles noch einmal sorgfältig durch, bevor ich auf »Senden« tippte.

»Hi, Linda. Du wurdest mir als ein Match angezeigt, und ich finde dein Profil sehr interessant. Können wir uns nicht mal treffen? Ich kann zu dir kommen, oder wir treffen uns in einem netten Bistro in der Stadt. Ich freu mich schon, bis bald, Nick.«

Meine Nachricht wurde mir nach dem Versenden ähnlich wie in WhatsApp angezeigt, und einen Moment lang überlegte ich, ob ich das mit dem Profil noch durch einen kleinen Nachklapp korrigieren sollte. Ich meine: Profil, Seitenansicht, Oberweite und so – nicht dass Linda mir noch unterstellte, dass ich nur nach dem äußeren Eindruck urteilen würde. Wobei … Ich besah mir noch einmal einige der Fotos und lächelte. Dann – und überraschenderweise erst dann – las ich, woher Linda stammte beziehungsweise was sie als Wohnort angegeben hatte.

Karlsruhe.

Nicht dass Sie jetzt denken, ich hätte ein Problem mit Karlsruhe. Oder mit badischen Frauen. Einige meiner süßesten Praktikantinnen stammten nicht von hier. Sie waren aus Kopenhagen nach Stuttgart gekommen, aus Bamako, Wassertrüdingen und Paris. Nun gut, Karlsruhe war nicht dabei gewesen, aber ich hatte keine Vorbehalte gegen Frauen von anderswo, wirklich nicht!

Karlsruhe …

Ich wischte mich noch einmal zu der Seite mit meinen Nachrichten und tippte: »Wir können uns in Stuttgart treffen oder in Karlsruhe oder irgendwo dazwischen – ganz wie du magst.«

Den Smiley, den ich anhängte, fand ich erst ein bisschen affig, aber dann ließ ich ihn in der Botschaft stehen und drückte »Senden«. So müsste mein Angebot, mit dem Treffpunkt auf ihre Wünsche einzugehen, locker genug wirken. Und wenn Linda ein Problem mit Schwaben hätte, wäre sie nun zur Sicherheit auch noch einmal auf meine Herkunft gestoßen worden – vielleicht würde sie das ja sonst anfangs ebenso übersehen wie ich.

Die Soundtrack-CD zu »Goldfinger« lief durch, ohne dass Jobsts Smartphone eine Antwort auf meine Nachricht meldete. Ich schenkte mir Trollinger nach und startete die Filmmusik zu »Liebesgrüße aus Moskau«. Dann sah ich noch einmal meine Knetfiguren durch, begradigte Bonds ausgestreckten Arm mit der Waffe, drückte ein Detail in Miss Moneypennys Gesicht zurecht und machte mir Notizen dazu, was ich bei nächster Gelegenheit für mein Hobby mit diesen beiden Figuren umsetzen wollte.

Da ertönte das markante Signal der Flirt-App, und ich griff so schnell nach dem Smartphone, dass mir Miss Moneypenny auf die Tischplatte purzelte.

»Irgendwo dazwischen«, las ich, und dann nannte Linda den Ort, an dem sie mich treffen wollte.

Natürlich kenne ich Bad Wildbad.

Meine Eltern waren regelmäßig mit mir dort gewesen. Vermutlich bin ich damals mehr durch die Wälder entlang des oberen Enztals gelatscht als jeder andere schwäbische Jugendliche, der an solchen Tagen einfach nur mit offenen Augen auf dem Bett liegen und die neue Platte von Pearl Jam oder Soundgarden hören wollte. Gut möglich, dass mir das ein kleines Trauma verpasst hat und mir deshalb jahrelang kein Grund mehr dafür eingefallen war, dorthin zu fahren.

Immerhin, jetzt hatte ich wieder einen Grund – Linda. Sie hatte mich einer kleinen Prüfung unterzogen, und ich fand, dass ich mit Bravour bestanden hatte.

»Sommerberg. Morgen, drei Uhr nachmittags. Oder musst du da die Straße kehren? (zwinkernder Smiley)«

Ich sah auf die Uhr: halb zwölf. Der Abend in der Cocktailbar hatte durch Jobsts liebestollen Abgang ungewöhnlich früh geendet, normalerweise würde ich jetzt noch nicht in der Jogginghose zuhause sitzen. Immerhin war damit klar, mit Lindas »morgen« war wirklich der Samstag gemeint, für viele im Schwäbischen der feste Kehrwochentag.

Erst wunderte ich mich, dass Linda sich so kurzfristig mit mir treffen wollte, aber natürlich war es mir durchaus recht, dass ich nun nicht eine ganze Woche wie auf Kohlen sitzen musste, um aufs kommende Wochenende zu warten. Und unter der Woche war sie vielleicht beruflich zu sehr eingespannt oder konnte aus anderen Gründen nicht.

Die Anspielung auf die schwäbische Kehrwoche fand ich nur mäßig witzig: Natürlich hatte ich auch samstagnachmittags Zeit. Zum einen galt in Stuttgart inzwischen die Vorschrift, dass man den Gehweg nur kehren musste, wenn er auch wirklich schmutzig war – ein großer Fortschritt, wie ich selbst mal in einer Glosse gefrotzelt hatte. Und ich persönlich hatte schon seit langer Zeit keinen Besen und keine Kutterschaufel mehr in der Hand gehabt. Im Parterre meines Hauses wohnte die alte Erna, und der konnte es eh keiner recht machen mit dem Fegen und Wischen und Fußmattenausklopfen – also brachte ihr jeder süße Stückle vorbei oder bedankte sich mit einer Flasche Wein oder Mirabellengeist dafür, dass sie für die gesamte Hausgemeinschaft zuverlässig und penibel die Kehrwoche erledigte.

Welchen »Sommerberg« Linda meinte, wusste ich fast sofort: Es war gewissermaßen der Haushügel von Bad Wildbad, auf den aus der Innenstadt eine Seilbahn hinaufführte, und Bad Wildbad lag, wenn man es nicht allzu genau nahm, etwa gleich weit von Karlsruhe und Stuttgart entfernt.

»Grünhütte oder Bikepark?«, fragte ich zurück.

Das sollte ihr hinreichend deutlich machen, dass ich mich dort oben auskannte. Den Bikepark hatte es in meiner Jugend zwar noch nicht gegeben, aber einer meiner Fotoreporter hatte mal eine Bilderstrecke mitgebracht, auf der einige waghalsige Radler ihre besten Sprünge vorführten – und die Grünhütte war schon in meiner Jugend ein beliebtes Ziel von Wanderern und Skifahrern gewesen.

»Respekt!«, antwortete Linda dann auch und ich registrierte es mit einem sehr zufriedenen Grinsen. »Dann also die Skihütte beim Bikepark, okay?«

»Okay. Bis morgen um drei.«

Einen Moment lang überlegte ich noch, ob ich ein kurzes »Ich freu mich!« anhängen sollte, aber dann wollte ich doch lieber etwas cooler rüberkommen und ließ es bleiben.

Jobst traf ich am nächsten Tag. Er saß am späten Vormittag in unserem Lieblingsbistro, hing über einem Milchkaffee und sah ziemlich übernächtigt aus.

»Na, wie war’s mit Carina?«

Er legte sein zerknittertes Gesicht in ein breites Grinsen. »Schau mich an, dann weißt du Bescheid.«

Ich nickte ihm anerkennend zu. »Respekt, Alter. Aber ganz ehrlich: Ich habe noch nicht ganz begriffen, warum du so gut ankommst bei den Mädels.«

Er zuckte mit den Schultern und schaute sehr selbstzufrieden drein. »Charme, gutes Aussehen, Spendierhosen«, tönte er. »Und wahrscheinlich finden es viele auch spannend, wenn ich von meinem Beruf als Autor erzähle. Egal, die Mischung macht’s.«

»Wirst du Carina wiedersehen?«

Seine Mundwinkel gingen nach unten.

»Oh, tut mir leid, Jobst. Ich wollte keinen wunden Punkt treffen.«

»Nein, schon gut. Alles prima.«

Er war ein schlechter Lügner.

»Probleme im Bett?«, hakte ich nach.

Jobst sah sich um, ob die junge Bedienung auch weit genug weg war, damit sie ihn nicht hören konnte. Dann rührte er weiter im Kaffee, zuckte noch einmal mit den Schultern und ließ mich weiter warten.

»Ach, Jobst, das kann doch jedem mal passieren.« Ich schlug einen tröstenden Tonfall an, musste mir dabei aber ein Grinsen verkneifen.

Jobst sah auf und funkelte mich verärgert an.

»Red keinen Quatsch!«, begann er endlich. »Natürlich hab ich’s gebracht, wo denkst du denn hin?«

»Aber du hast doch gerade selbst …«

»Nix hab ich! Behalt solche Unterstellungen bloß für dich, sonst macht das noch die Runde – dann kann ich vollends einpacken, wenn ich abends auf die Piste will!«

»Jetzt krieg dich wieder ein! Ich sag nix, Ehrenwort! Aber nun erzähl doch endlich: Was war los?«

»Und du behältst das für dich, ja?«

Ich hob beide Finger, als wolle ich schwören, und rückte etwas näher an den Tisch, weil er seinen Bericht vermutlich mit gesenkter Stimme vortragen würde.

»Wir sind von der Cocktailbar direkt zu Carina, die wohnt nur ein paar Minuten zu Fuß von dort entfernt. Wir beide also rauf zu ihr, rein in die Wohnung …«

Er lächelte versonnen.

»Wir haben’s nicht mal mehr ins Schlafzimmer geschafft. Die Frau ist echt der Hammer! Mann, sah’s danach in der Wohnung aus … Stühle, Stehlampe, Bilderrahmen – alles mussten wir hinterher wieder ordentlich arrangieren. Und was die Nachbarn von Carina denken, mag ich mir gar nicht ausmalen. Die ist abgegangen wie Schmidts Katze, ach, was red ich da, wie Schmidts Panther! Heiß ist die, Mann oh Mann, und wild … und ziemlich laut.«

Ich war mir nicht ganz sicher, ob er mir hier einfach eine Lügengeschichte auftischte, um sein Image als begehrter Lover zu pflegen. Jedenfalls strahlte Jobst die ganze Zeit wie ein kleines Kind, das sich an seine schönste Bescherung erinnert. Dann wurde er ernst und stierte wieder trübsinnig auf seinen Kaffee. Spätestens jetzt schien eine wahre Geschichte zu kommen.

»Wir lagen danach völlig verschwitzt im Wohnzimmer herum. Carina hat uns Sekt eingeschenkt und hat Trauben und Käse hingestellt.«

Das klang weiterhin gut, und ich verstand nicht ganz, was genau daran Jobst zu schaffen machte. Mochte er keinen Sekt? War er allergisch gegen Käse oder Trauben? Hatte er zu viel Alkohol erwischt? War ihm Carina nach dem Sekt weggepennt?

»Ich hab eine Zeitlang kaum mehr Luft bekommen. Aber kaum hatten wir das Sektglas leer, wollte Carina schon wieder loslegen. Ich meine, kann man da nicht auch mal zufrieden sein?«

Er räusperte sich. Ich musste mich sehr beherrschen, nicht loszuprusten.

»Aber Carina hat keine Ruhe gegeben. Eine Weile hat sie es so probiert, dann ist sie raus und kam mit einer kleinen blauen Pille zurück.«

Jobst seufzte, trank seinen Milchkaffee leer und bestellte Nachschub.

»Du kannst dir also vorstellen, dass ich letzte Nacht nicht viel geschlafen habe. Und mir tut alles weh. Der Kopf auch.«

So genau wollte ich es gar nicht wissen.

»Und jetzt will sie dich nicht mehr wiedersehen?«

»Keine Ahnung, aber wahrscheinlich eher nicht, oder? Ich meine … wenn sie schon mit einer Pille nachhelfen muss? Was macht das denn für einen Eindruck?«

Dazu konnte ich nichts sagen, also schwieg ich. Dann fiel mir Jobsts Smartphone ein, das ich noch immer in der Tasche hatte. Ich legte das Gerät vor Jobst auf den Tisch.

»Da, dein Handy. Du hast es gestern in der Bar vergessen. Ich hab’s für dich mitgenommen.«

»Ah, danke, das hab ich daheim wie blöd gesucht. Ich hatte schon Angst, es wäre mir bei Carina aus der Tasche gerutscht und ich müsste noch einmal in ihre Wohnung hoch, um es zu holen.«

Jobst musste vor dieser Frau ja geradezu panische Angst haben!

Er steckte das Handy weg, da fiel ihm etwas ein. »Sag mal, hast du dir eigentlich deinen Account auf der Flirt-App schon mal angesehen?«

»Ja, danke, gleich gestern in der Bar. Ich wollte dich noch fragen, ob wir nicht konkret erwähnen sollten, was ich unter Filmklassikern verstehe, aber du hattest da gerade den Mund nicht frei.«

Er nickte und sah mich lächelnd an. »Wirst sehen, da meldet sich bald eine. Ich drück dir die Daumen – aber erzählen musst du mir hinterher alles, versprochen?«

»Alles?«

»Weißt schon.«

»Übrigens gab es schon zwei Treffer«, sagte ich so cool wie möglich und trank meinen Espresso leer.

»Echt? Super!« Er griff wieder nach dem Handy. »Darf ich nachsehen?«

»Klar, mach nur. Du musst mir eh noch die Zugangsdaten zu meinem Account auf dieser App geben. Deshalb war ich froh, dass ich dein Handy hatte – da war der Account bis vorhin noch geöffnet.«

Er nannte mir Nutzernamen und Passwort, beides war recht einfach zu merken. Währenddessen schaltete er sein Smartphone ein und rief die App auf. Er seufzte kurz, als er auf der Startseite das Werbebild mit Carina sah, dann tippte er meine Zugangsdaten ein und ließ sich die beiden Frauen anzeigen, die der Algorithmus von »247luv4me« für mich ausgesucht hatte.

Er nickte anerkennend. »Nicht schlecht, Nick. Die Blonde gefällt mir am besten.« Er sah auf und grinste. »Da scheint auch ordentlich was dran zu sein, wenn ich mir den Rest zu dem vorstelle, was auf den Bildern zu sehen ist.«

»Die andere fand ich auch nett, sie könnte sehr … leidenschaftlich sein.«

Einen Moment lang hatte ich nach dem richtigen Wort gesucht, aber kaum hatte ich es ausgesprochen, tat es mir auch schon wieder leid – ein schmerzlicher Zug legte sich auf Jobsts Miene und sein Grinsen erstarb.

»Aber jetzt treffe ich mich erst einmal mit der Blondine«, fuhr ich schnell fort, um ihn abzulenken. Ich sah auf die Armbanduhr. »In drei Stunden.«

»Oha! So schnell. Hm …« Jobst wiegte nachdenklich den Kopf. »Hat die gute Linda womöglich doch einen Haken? Ich meine: wenn sie es so eilig hat?«

»Ach«, tat ich so, als hätte ich mir solche Gedanken nie gemacht, »das Wochenende wird ihr halt besser reinpassen als ein Werktag. Sie wohnt ja in Karlsruhe, ich in Stuttgart, also …«

»Sie wohnt … in Karlsruhe?«

»Ja, wieso?«

»Hallo? Karlsruhe?«

Jobst fingerte sich noch einmal zu Lindas Flirt-App-Profil, las ihren Wohnort und schüttelte den Kopf.

»Du weißt schon, dass Stuttgart und Karlsruhe … ich meine …«

»Blödsinn. Sie sieht super aus, scheint was in der Birne zu haben und wirkt sehr nett – also treff ich sie. Da kann sie wohnen, wo sie will. Erinnerst du dich an Kadidia, die kam aus Mali und mit ihr hatte ich …«

»Ja, ja, Kadidia war eine ganz Süße. Aber deine Linda kommt nicht aus Mali, die kommt aus … Karlsruhe!«

Er spuckte den Städtenamen beinahe aus und verzog dabei das Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen.

»Lass stecken, Jobst«, brummte ich, legte das Geld für den Espresso auf den Tisch und stand auf. »Ich hätte nie gedacht, dass du einer dieser Spinner bist, die sich um so etwas wie Baden und Württemberg, um alte Grenzen und überkommene Klischees scheren.«

»Glaub mir, Nick, das wird nix!«, beteuerte er und sah dabei schon fast flehend zu mir hinauf. »Ich hatte mal eine Badenerin in der Klasse. Die war noch nicht mal aus Karlsruhe, sondern aus Bretten, aber als ich sie nach dem Tanzkurs nach Hause brachte und noch mit hoch wollte, hat sie mir …«

»Oh Mann, Jobst! Du bist Badenhasser geworden, weil dich eine Schulfreundin hat abblitzen lassen? Du arme Wurst!«

Ich schüttelte den Kopf und ließ ihn sitzen. Ich war echt sauer auf ihn. Warum musste er mir mein Date madig machen? Ich freute mich zwar noch immer auf das anstehende Treffen mit Linda, aber Jobsts letzten Satz bekam ich trotzdem nicht aus dem Kopf.

»Das geht niemals gut!«

Kapitel 002

Das erste Treffen