Lions – Freche Bisse - G. A. Aiken - E-Book

Lions – Freche Bisse E-Book

G. A. Aiken

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Beschreibung

Als Honigdachs kennt Livy Kowalski weder Furcht noch Respekt. Auch nicht vor einem riesigen Tiger-Bär-Hybriden wie Vic Barinov. Im Gegenteil, wenn es im eigenen Leben drunter und drüber geht (denn wie soll man es sonst nennen, wenn der eigene Cousin den Verstand verloren und der Vater unter mysteriösen Umständen das Zeitliche gesegnet hat), kann ein so großer, tapsiger Bär ganz unterhaltsam sein. Vic hat es mit Livy nicht leicht. Die eigensinnige Gestaltwandlerin taucht ständig ungefragt bei ihm Zuhause auf und ist völlig verrückt nach ... nun ja, dem Honig in seiner Speisekammer. Dabei gibt es bei Vic noch ganz andere Dinge zu holen.

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Doris Hummel

ISBN 978-3-492-97098-3

September 2015 © 2014 Shelly Laurenston Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Bite Me« Kensington Publishing Corp., New York 2014 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015 Covergestaltung: Guter Punkt, München Covermotiv: Sabine Dunst, Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Thinkstock Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Kapitel 1

Livy Kowalski atmete ganz langsam aus, als die beiden kämpfenden Weibchen hart auf dem Sarg landeten.

Livys Vater lag in diesem Sarg. Und die Schwester ihres Vaters und Livys Mutter waren damit beschäftigt, sich auf ihm zu prügeln.

Ihr Cousin Jake lehnte sich zu ihr und flüsterte: »Als würde man einer tristen, uralten Trauerzeremonie der Familie Windsor beiwohnen, stimmt’s?«

Gott sei Dank war Jake hier. Sie wusste wirklich nicht, ob sie diesen Albtraum ohne ihn durchgestanden hätte.

Nein. Nicht den Tod ihres Vaters, sondern die Tatsache, dass sie sich mit ihrer Familie herumschlagen musste. Andererseits war das nun mal deren Art zu trauern. Auch wenn Livy keine Ahnung hatte, warum alle so überrascht auf den Tod ihres Vaters reagiert hatten. Damon Kowalski war nicht unbedingt für seine ruhige, ausgeglichene Lebensweise bekannt. Er war ein Dieb, ein Lügner, ein Raufbold, ein Unruhestifter und ein Säufer. Und nicht irgendein Säufer, sondern ein Honigdachs-Säufer. Ihr Vater trank mit diversen Schlangengiften versetzten Schnaps. Gifte, die die meisten Menschen umgebracht hätten, es sei denn, sie wären sofort mit einem Gegengift behandelt worden – und manchmal wären sie trotzdem gestorben. Bei HDs lösten sie jedoch lediglich ein geradezu lächerliches High und einen Bärenhunger aus.

Der Großteil von Livys Artgenossen beschränkte seine Gifteinnahme auf die Familie der Klapperschlangen, aber ihr Vater war auch nicht vor Bier- und Tequilasorten zurückgeschreckt, die mit abscheulicheren Giften versetzt waren, beispielsweise mit dem der Schwarzen Mamba oder Puffotter.

Traurigerweise war ihr Vater nie wieder ganz der Alte gewesen, nachdem er ein solches Gesöff zum ersten Mal getrunken hatte: Er hatte sich von einem geschwätzigen, manchmal nervtötenden Dieb in einen ausgemachten menschlichen Mistkerl verwandelt.

Irgendwann war es so schlimm geworden, dass sich schließlich sogar Livys Mutter geweigert hatte, ihn noch länger zu ertragen. Sie hatte ihn aus ihrem Zuhause im Bundesstaat Washington geworfen und sich schließlich von ihm scheiden lassen, obwohl die Verbindung ihrer Eltern ohnehin immer … lächerlich gewesen war.

Denn ganz gleich, wie sehr sie sich auch stritten und wie oft sie sich mit Gegenständen bewarfen oder sich gegenseitig drohten, denjenigen umzubringen, mit dem der jeweils andere gerade zusammen war – es gab zwei Dinge, bei denen das Paar gut harmonierte: Sex und Diebstahl.

Livys Eltern waren ein großartiges Team, wenn es ums Stehlen ging, und Geld regierte für Honigdachs-Gestaltwandler nun mal die Welt. Denn Geld erlaubte es ihnen, ihrer abstoßenden Lebensweise sorgenfrei nachzukommen und darüber hinaus eine äußerst robuste und notwendige private Krankenversicherung zu bezahlen – plastische Narbenchirurgie konnte heutzutage ganz schön teuer werden.

Und, wie sich herausstellte, ermöglichte Geld es auch, eine robuste Lebensversicherung abzuschließen, von der Livys Tante der Ansicht war, Livys Mutter habe kein Anrecht darauf, wenn man die Tatsache in Betracht zog, dass ihre Eltern sich hatten scheiden lassen, als Livy fünfzehn gewesen war. Leider stimmte Livys Mutter dieser Logik nicht zu, da sie in den vergangenen zwanzig Jahren diejenige gewesen war, die die Versicherungsprämien bezahlt hatte, stets in der Annahme, dass sie Damon Kowalski mit Leichtigkeit überleben würde. Auch wenn das bedeutete, dass sie ihn selbst umbringen musste.

Noch schlimmer war jedoch, dass dieses spezielle Thema an Damons Grab zur Sprache kam. Die meisten Menschen hätten ein solches Verhalten bei einer Beerdigung als vollkommen unangemessen betrachtet, aber Honigdachse … nun, »angemessen« war ein relativer Begriff, wenn es um Livy und ihresgleichen ging.

Livy ließ den Blick über ihre restliche Verwandtschaft schweifen und fragte sich, ob einige ihrer Onkels oder Cousins und Cousinen ihre Mutter und Tante wohl voneinander trennen würden – sie waren jedoch viel zu sehr mit Glotzen beschäftigt … und mit Trinken … und mit ihren eigenen Zänkereien.

»Dann hängst du also immer noch mit ihr rum, was?«

Livy warf einen Blick über die Schulter zu »ihr«.

Toni Jean-Louis Parker winkte Livy mit ihrer besten Trauermiene zu und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Dieses Lächeln sagte: »Du kannst das hier überstehen!« Livy hoffte inständig, dass ihre Freundin damit recht hatte.

Aber Toni war nicht alleine gekommen, um für Livy da zu sein. Auch Tonis Eltern, Jackie und Paul, waren hier. Leider waren Tonis Bruder Cooper und ihre Schwester Cherise gerade auf Tournee in Europa. Sie waren brillante Musiker, die eine Menge Geld damit verdienten, vor ausverkauften Häusern zu spielen. Ihre sechzehnjährige Schwester Oriana trainierte mit dem Royal Ballet in England – und würde dort auch bald auf der Bühne stehen. Der zwölfjährige Kyle studierte Kunst in Italien. Troy war zehn und machte gerade seinen Master in Mathematik … oder Naturwissenschaft … eins von beiden. Livy konnte es sich nie richtig merken, und es war ihr auch egal. Der achtjährige Freddy ging gerade einem Bachelorstudium in theoretischer Physik nach und erfand in seiner Freizeit Videospiele, die wirklich Spaß machten. Ihr jüngster Bruder Dennis war sechs und studierte Architektur, und die drei Jahre alten Zwillinge Zia und Zoe waren damit beschäftigt, die unzähligen Dialekte der meisten wichtigen Sprachen der Welt zu lernen und gleichzeitig ihr Kindermädchen zu terrorisieren, indem sie einfach sie selbst waren.

Oh, und dann war da noch die neunzehnjährige Delilah, aber niemand sprach besonders viel über sie. Sie führte momentan irgendwo im Staat New York einen Kult an, dessen Mitglieder sie für den Messias hielten. Sie und ihr Kult machten selbst die Bundesregierung leicht nervös, auch wenn die Familie diese Tatsache gerne ignorierte.

Und nein, Livy war mit den Jean-Louis Parkers nicht blutsverwandt. Sie waren schließlich Schakale. In der Wildnis waren ihresgleichen Feinde. Allerdings waren HDs mit … nun … mit allen verfeindet. Löwen. Hyänen. Leoparden. Imkern. Imker hassten ihre Artgenossen wirklich, aber auch nur, weil man in der afrikanischen Steppe nun mal keine Grizzlybären fand. Trotzdem hatte die Tatsache, dass Livy nicht mit ihnen blutsverwandt war, für die Jean-Louis Parkers nie eine Rolle gespielt. Soweit es sie betraf, gehörte Livy zur Familie – was auch der Grund dafür war, dass Toni sich von ihrem Job in Manhattan freigenommen hatte und mit ihr hergekommen war, um dabei zuzusehen, wie Livys Mutter die jüngere Schwester ihres Ex-Mannes verprügelte und dabei dessen Stahlsarg zerschrammte.

Jake betrachtete Livy von oben bis unten. »Wo ist sie?«

»Wo ist was?«

»Deine Kamera. Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal ohne sie gesehen habe.«

Livy zuckte mit den Schultern. »Es erschien mir nicht richtig, meine Kamera zur Beerdigung meines Vaters mitzubringen«, log sie.

»Du hast sie aber zur Beerdigung unserer Großtante in Polen mitgenommen. Und Preise für die Bilder gewonnen, die du dort gemacht hast, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ich glaube, den Preis habe ich nur gewonnen, weil es etwas Neues war. Man sieht nicht so oft Messerstechereien auf der Beerdigung einer hundertachtjährigen Frau.«

Jake schaute wieder zu Toni zurück. »Ich muss zugeben, dass sie inzwischen wirklich süß ist.«

»Sie hat jetzt einen Gefährten.«

»Ehrlich? So ein Jammer.«

»Warum?«

»Gefährten verkomplizieren die Dinge nur.«

Livy zuckte erneut mit den Schultern. »Für meine Eltern nie.«

»Na, na, na…« Er deutete auf Livys Mutter und Tante, die sich gegenseitig Ohrfeigen verpassten, als seien sie in einer alten Folge von Der Denver-Clan. »Ganz offensichtlich macht deine Mom ihre ganz eigene Form der Trauer über den Verlust ihres Gefährten durch.«

»Ganz offensichtlich.«

Vic Barinov stand mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt und wartete. Und während er wartete, dachte er ans Essen. Er hatte Hunger.

Glücklicherweise kannte er mindestens zwei gute Steakhäuser in dieser albanischen Stadt. Eines richtete sich an alle Arten von Gestaltwandlern, das andere speziell an Bären. Es gab eine Menge Bären in Osteuropa, und einige der größten lebten in der Ukraine und in Sibirien.

Unglücklicherweise würde Vic jedoch erst etwas zu essen bekommen, wenn er diese Sache erledigt hatte. Und er stand nun schon seit drei Stunden an dieser Mauer. Vic verfügte jedoch über schier endlose Geduld. Er konnte tagelang in Lauerstellung warten, falls es nötig war. Allerdings war es kein einziges Mal mehr nötig gewesen, seit er aufgehört hatte, für die US-Regierung zu arbeiten. Er hatte seinen Job ganz spontan aufgegeben, weil er die ganze Politik einfach satt gehabt hatte, obwohl er damals noch nicht wusste, was er für den Rest seines Lebens tun wollte, um seine Rechnungen zu bezahlen – vor allem seine Rechnungen fürs Essen, die ziemlich üppig ausfallen konnten.

Das Freiberuflerdasein hatte sich jedoch besser entwickelt, als er je zu hoffen gewagt hätte. Und dass er ein Mischling war – Grizzlybär und Sibirischer Tiger – hatte sich dabei ausnahmsweise einmal zu seinen Gunsten ausgewirkt. Außerdem sorgte die Tatsache, dass er nicht nur acht Sprachen fließend sprach – darunter auch Russisch, Polnisch, Deutsch und Albanisch–, sondern auch die Kultur der meisten dieser Länder kannte und verstand, dafür, dass es stetig in seiner Kasse klingelte. Und zum allerersten Mal seit langer Zeit hatte Vic das Gefühl, ein wenig Stabilität in seinem Leben zu haben. Das war nett.

Vics Ohren zuckten, als er ein schweres Keuchen hörte. Er hob den Kopf und schnupperte in die Luft. Er witterte den Vollmenschen, der durch die Straße auf ihn zurannte.

Vic wartete, bis das Keuchen direkt neben ihm war, und dann…

Streckte Vic einen Arm aus, bekam sein Zielobjekt am Hals zu fassen und riss ihn in die Gasse.

Sein Zielobjekt hatte offensichtlich noch gar nicht bemerkt, dass es den Boden nicht mehr berührte, denn die Füße des Mannes rannten immer noch weiter, und er schwang nach wie vor kräftig mit den Armen.

Vic hielt ihn in dieser Position fest, bis die örtliche Polizei an ihnen vorbeigerauscht war. Als er sich sicher war, dass sie weg waren, setzte er sein Zielobjekt wieder auf dem Boden ab, hielt den Mann aber weiter am Hals fest. Inzwischen hatte er anscheinend auch bemerkt, dass er nicht mehr vor der Polizei davonlief. Einen kurzen Moment lang schien er darüber erleichtert zu sein – bis er gezwungen war, seinen Kopf in den Nacken zu legen, um Vic ins Gesicht sehen zu können.

»Oh … Victor. Hallo.«

»Ein paar Leute suchen nach dir, Bohdan.«

»Liefere mich nicht an sie aus, Victor«, flehte Bohdan ihn an, während er versuchte, sich aus Victors Griff zu winden. »Du weißt doch, was sie werden machen mit mir.«

»Ich weiß überhaupt nichts. Außer, dass ein paar Leute nach dir suchen.«

Vic stieß sich von der Wand ab, hielt Bohdan aber weiter ganz fest.

»Warte! Warte! Ich habe Informationen. Informationen, die du willst.«

»Ich brauche keine Informationen.«

»Auch nicht über Whitlan?«

Vic blieb stehen und sah mit zusammengekniffenen Augen in Bohdans verzweifeltes Gesicht. »Mich anzulügen wird dir auch nicht helfen, kleiner Mann«, knurrte Vic auf Russisch.

»Ich dich nicht lügen an.«

»Nein?«

Bohdan deutete auf Vics Hand, die noch immer seinen Hals umklammerte. »Bisschen fest.«

»Und das geht noch viel fester. Zwing mich besser nicht dazu, dir zu zeigen, wie fest.«

Bohdans Augen weiteten sich panisch, was irgendwie traurig war, weil Vic sich bei dem, was er tat, noch nicht einmal sonderlich anstrengte. Hätte er es getan, hätte er die Knochen in Bohdans Hals pulverisieren können. Diese Vollmenschen … so zerbrechlich.

»Rede, kleiner Mann.«

»Whitlan schickt Pakete in und aus Land.«

Vic runzelte die Stirn. »Woher weißt du, dass sie von Whitlan stammen? Die hätten doch von jedem sein können.«

»Ich ihn habe gesehen. Ich habe gesehen Frankie Whitlan.«

Jetzt grinste Vic höhnisch. »Du? Du hast Frankie Whitlan gesehen? Einen Mann, den seit über zwei Jahren niemand mehr gesehen hat?«

»In Amerika ihn vielleicht hat niemand gesehen. Aber er viele Freunde in Russland, Polen, Rumänien, Bulgarien…«

»Ist er ein Freund von dir?«

»Nein. Aber ich war in Lagerhaus an diese Tag. Große Kisten er hat verschickt. Er wollte sichergehen, dass alles war perfekt. Er hat sie mit Boot verschickt.«

»Wohin?«

»Überallhin. Aber ich weiß, ging mindestens eine nach Miami.«

»Und wer hat ihm dabei geholfen, diese Kisten zu verschiffen?«

Jetzt grinste Bohdan hämisch. »Ich mag meine Kehle ohne große Schlitz drin, Victor Barinov.«

Das war nur verständlich. Höchstwahrscheinlich hatte sich Whitlan mit irgendwelchen Mafiosi eingelassen, die einen Typen wie Bohdan in Stücke reißen würden, nur, weil ihnen langweilig war.

Vic öffnete seine Hand, und Bohdan plumpste auf den Boden und landete mit einem Grunzen auf den Knien.

»Das du wirst nicht bereuen, Victor Barinov«, sagte Bohdan und grinste breit, während er sich den Hals rieb. »Ich wusste, ich kann helfen!«

Vic machte einen Schritt über Bohdan hinweg und trat aus der Gasse. Er blieb an der Gehsteigkante stehen und holte sein Telefon aus der Jackentasche. Während er per Kurzwahl eine Nummer wählte, sah er, wie ein paar Lokalpolizisten wieder Richtung Gasse zurückrannten, immer noch auf der Suche nach Bohdan.

Vic deutete in die Gasse, und die Polizisten nickten ihm dankbar zu, bevor sie hineinrannten und Bohdan übermannten. Vic ging dadurch zwar leicht verdientes Geld durch die Lappen, aber die Informationen, die er über Whitlan erhalten hatte, waren entschieden wichtiger.

»Ja?«, hörte er am anderen Ende der Leitung. Dee-Ann Smith vom Smith-Rudel war nicht unbedingt das, was man als geschwätzige Wölfin bezeichnen würde. Oder als freundlich.

»Ich habe Informationen«, erwiderte er kryptisch, weil er übers Telefon nicht zu viele Einzelheiten preisgeben wollte. Aber er musste Whitlans Namen Dee-Ann gegenüber ohnehin nicht erwähnen. Frankie Whitlan war der meistgesuchte Vollmensch in der Geschichte der Gestaltwandler. Alle drei großen Organisationen versuchten, ihn aufzuspüren und auszuschalten, weil er nicht nur an Expeditionen teilgenommen hatte, bei denen Gestaltwandler gejagt wurden, sondern diese auch selbst organisiert hatte. Der Mann hatte jedoch die beinahe unheimliche Fähigkeit, einfach vom Erdboden zu verschwinden. Oder er hatte ein paar sehr mächtige Leute, die ihn beschützten. Was auch immer es war: Die Gruppe, die amerikanische Organisation zum Schutz aller Gestaltwandler, sowie Katzenhaus Securities, die Organisation zum Schutz aller Katzen, auch KZS genannt, und der Bear Preservation Council, die weltweite Bärenschutzorganisation, kurz BPC, konnten den Mann schlicht und ergreifend nicht finden. Alles, was sie brauchten, war sein Aufenthaltsort, damit sie entweder Dee-Ann Smith oder Cella Malone, die Scharfschützin von KZS, losschicken konnten, damit sie den Mann erledigten. Aber inzwischen waren mehrere Jahre vergangen, und sie hatten den Typen immer noch nicht erwischt.

»Wann kannst du wieder hier sein?«, fragte sie.

»Ich nehme den ersten Flieger.«

»Gut.«

Die Verbindung wurde unterbrochen, und Vic setzte sich wieder in Bewegung und folgte der Straße in Albanien zu seinem Mietwagen.

»Wo willst du denn hin?«, fragte eine Stimme hinter Vic.

»Zurück in die Staaten.«

»Cool.«

Vic blieb stehen und drehte sich zu dem Gestaltwandler hinter ihm um. Shen Li lächelte Vic über den kurzen Bambusstängel hinweg an, den er im Mund hatte.

»Du musst nicht mitkommen.«

»Hattest du vor, mich in Albanien zurückzulassen?«

Shen war ein Großer Panda und in San Francisco geboren und aufgewachsen. Er verfügte über ganz spezielle Fähigkeiten, die sich Vic für einzelne Aufträge zunutze machte. Sie waren schon seit Langem Kollegen und hatten auch gemeinsam für die Regierung gearbeitet. Nun, da sie beide freiberuflich tätig waren, holte Vic Shen mit ins Boot, wann immer er ihn brauchte. Vic war jedoch nicht der Meinung, dass er Shen für diese Sache brauchte.

»Du kommst doch allein wieder zurück, oder?«

»Ich spreche kein Albanisch. Du schon.«

»Oh. Richtig. Okay. Na ja, dann, sicher. Du kannst mit mir kommen.«

»Großartig.«

Die beiden gingen schweigend weiter, abgesehen von dem scheinbar endlosen Geräusch, das Shen beim Kauen des Bambusstängels produzierte.

»Also, was ist unser nächster Job?«, fragte Shen und Vic blieb erneut stehen.

Er drehte sich zu Shen um. »Du hast schon verstanden, dass wir keine Partner sind, oder?«

»Sind wir nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil es einfacher für mich ist, allein zu arbeiten und dich dazu zu holen, wenn ich dich brauche.«

Shen kaute und kaute, während er Vic aus seinen großen braunen Augen anblickte.

Und genau das war das Problem, wenn man ein Hybride war: Vics Bärenseite hatte kein Problem mit dem Anstarren, dem Schweigen und dem Bambusknabbern. Seine Katzenseite hingegen … wollte Shen am liebsten das Gesicht herunterreißen. Schon allein wegen dieses verdammten Knabbergeräuschs.

Vic musste sich unheimlich anstrengen, um seine Katzenneigungen im Zaum zu halten, und schlug vor: »Warum unterhalten wir uns nicht ein andermal weiter darüber? Wir müssen noch unsere Sachen aus dem Hotel holen und den ersten Flieger hier raus finden.«

»Okey-dokey!« Shen entfernte sich, und in dem Versuch, die Kontrolle zu behalten, schüttelte Vic ganz leicht den Kopf, aber das Katzenknurren war bereits aus den Tiefen seiner Kehle entwichen, bevor er es unterdrücken konnte. Die Vollmenschen, die mit schnellen Schritten an ihm vorbeigingen, machten einen großen Bogen um ihn … und er konnte ihnen deswegen nicht mal im Entferntesten einen Vorwurf machen.

Vic folgte Shen, nun wieder völlig ruhig und ausgeglichen, zu seinem Mietwagen und schließlich zurück in die Vereinigten Staaten.

»Wie geht’s dir?«, fragte Toni, als sie Livy ein dunkles deutsches Bier reichte.

Livy hatte darauf bestanden, dass Tonis Eltern nicht am Leichenschmaus im Haus ihrer Eltern teilnahmen. Die Jean-Louis Parkers waren so nette Menschen – es wäre einfach nicht fair gewesen. Antonella konnte jedoch nichts davon abhalten. Sie war wild entschlossen, den kompletten, grauenvollen Trip mitzumachen.

Livy öffnete den Kronkorken ihrer Bierflasche mit der Hand, gähnte, trank einen Schluck und zuckte mit den Schultern. »Gut.«

»So schlimm, ja?«

»Es könnte schlimmer sein.«

»Du bist auf der Beerdigung deines Vaters…«

»Ich bin mir sicher, dass er aus einem sehr guten Grund getötet wurde.«

»…deine Mutter streitet sich mit seiner kompletten Familie über Geld…«

»Ihrer Meinung nach bedeutet die Tatsache, dass sie ihn nicht selbst getötet hat, dass sie sich dieses Geld verdient hat.«

»…irgendjemand hat hinter dem Haus Giftschlangen im Garten ausgesetzt…«

»Damit die Kinder was zum Spielen haben.«

»…und gerade ist auch noch die Geliebte deines Vaters aufgetaucht.«

Livy drehte sich um und beobachtete das hoch aufgeschossene serbische Topmodel, das gerade durch den Flur auf Livys Mutter zustolzierte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, einschließlich einer schwarzen Fellstola und schwarzer Louboutin-Schuhe mit fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen. Livys Mutter entdeckte sie sofort, und ohne auch nur ein Wort sagen zu müssen, war sie im nächsten Moment von ihren versammelten Schwestern und Cousinen umringt.

»Cool«, murmelte Livy. »Schlägerei.«

»Du kannst deine Mutter nicht gegen sie kämpfen lassen.«

»Wahrscheinlich wird sie das sowieso nicht tun. Meine Tante Teddy wird sich allerdings definitiv auf sie stürzen. Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass dieses Model mit einem von Teddys Söhnen zusammen war, bevor es die Affäre mit meinem Dad angefangen hat. Und du weißt ja, wie Teddy ist, wenn es um«, Livy senkte ihre Stimme und sprach mit ihrem besten polnischen Akzent weiter, »›meine wunderhübschen Jungs‹ geht. ›Sie sind Geschenke Gottes, nicht wahr?‹«

Toni schüttelte den Kopf. »Ich schwöre dir, deine ganze Familie ist wie eine Folge Dallas.«

»Ich finde eher wie Der Denver-Clan, nur ohne die Schulterpolster. Unseresgleichen braucht keine Schulterpolster.«

Livy sah zu, wie sich ihre Mutter – ihr Geburtsname war Chuntao Yang, aber sie hatte sich mit neun Jahren, als sie gerade in die USA gezogen war, einen amerikanischen Namen ausgesucht: Joan – gegen die letzte Frau behauptete, mit der Livys Vater geschlafen hatte und die nun auf sie zusteuerte.

Toni rieb sich die Nase und bemerkte leise: »Sie ist ein Vollmensch.«

»Das war eine Macke von ihm.«

»Was ich damit sagen will, Livy: Sie ist ein Vollmensch.«

Livy zuckte mit den Schultern und beobachtete, wie sich ihre Mutter vorbeugte und der Frau etwas zuflüsterte. »Dann schlage ich vor, dass wir sie nicht in den Garten hinterm Haus lassen.«

»Livy…«

Was auch immer ihre Mutter gesagt hatte, die Worte mussten es in sich gehabt haben, denn die Frau lehnte sich zurück, holte aus und versetzte Joan eine saftige Ohrfeige, durch die der Kopf des Dachsweibchens zur Seite geschleudert wurde.

Langsam blickte Joan die sehr viel jüngere Frau an. Sie hielt ihren Kopf weiter zur Seite geneigt und betrachtete die andere Frau abschätzend mit ihren kalten schwarzen Augen. Dann verpasste sie dem Model eine Kopfnuss, und die Vollmenschen-Frau schrie auf und stolperte rückwärts. Joan ließ einen linken Haken an ihren Kiefer folgen, dann einen rechten in die Magengegend und einen weiteren linken mitten ins Gesicht. Und all das tat sie ohne den geringsten Anflug von Wut. Wenn sie wütend gewesen wäre, hätte dieses Supermodel längst seine Augen eingebüßt.

Joan streckte eine Hand aus, und eine ihrer Schwestern legte ein Klappmesser in ihre offene Handfläche.

Bevor Toni ein Wort sagen konnte – und Livy wusste, dass sie das tun würde, weil diese ganze Sache hier völlig über das Verständnis der viel kontrollierteren und höflicheren Jean-Louis Parkers hinausging–, durchquerte Livy den Raum.

»Dann wollen wir doch mal sehen, auf wie vielen Vogue-Covern dein Gesicht jetzt noch zu sehen sein wird«, bemerkte Joan ruhig und führte die Hand mit der Klinge nach hinten.

Sie ließ sie gerade wieder nach vorne sausen, doch Livy bekam das Handgelenk ihrer Mutter zu fassen und hielt es fest.

»Nein, Ma.«

Mit geschürzten Lippen blickte ihre Mutter sie mit derselben Enttäuschung an, an die Livy schon seit vielen Jahren gewöhnt war. Seit damals, als Livy dem Mann im Süßwarenladen mitgeteilt hatte, er habe ihr zu viel Wechselgeld herausgegeben. Etwas, das ihre Mutter ihr niemals verziehen hatte.

»Nein«, beharrte Livy.

»Du und deine ewige Schwäche.« Mit dieser Schwäche meinte sie Livys Gewissen. Sie benutzte es zwar nicht oft, aber die Tatsache, dass Livy es überhaupt benutzte, enttäuschte ihre gesamte Familie zutiefst.

Joan riss ihren Arm los. »Ich weiß, dass du deinen Charakter sicher nicht von meiner Familie hast.«

»Dann gibst du uns also die Schuld?«, wollte Tante Teddy wissen. »Jede Schwäche, die dieses Mädchen an den Tag legt, ist allein deine Schuld, Joan. Und ganz sicher nicht die meines wunderschönen Bruders.«

Und dann, so als existiere die blutende, schluchzende Geliebte gar nicht mehr, bauten sich Joan und ihre Schwestern vor den Kowalskis auf.

Livy gesellte sich wieder zu Toni. »Ich hab Lust auf Waffeln. Möchtest du auch Waffeln?«

Mit weit aufgerissenen Augen erwiderte die Schakalin: »Aber deine Familie…«

»Sie haben Schlangen im Garten.« Sie packte Toni am Handgelenk und führte sie in den Flur. »Sie brauchen also keine Waffeln.«

»Schon, aber was ist mit…?«

Da sie ganz genau wusste, wohin das führen würde, blieb Livy neben der Geliebten ihres Vaters stehen. »Wenn ich du wäre«, warnte sie die törichte Frau, »dann würde ich von hier verschwinden. Und scheu dich nicht, zur Polizei zu gehen – auf eigenes Risiko.«

Da sie der Meinung war, alles getan zu haben, wozu sie in moralischer Hinsicht verpflichtet war, steuerte Livy weiter auf die Haustür zu und ging die Treppe hinunter zu einem der Wagen, die vor dem Haus parkten.

»Wartet!«, rief eine Stimme hinter ihr. »Wartet!«

Livy blieb stehen und drehte sich um, ihre Hand noch immer fest um Tonis Handgelenk geschlungen.

Jake rannte auf sie zu. »Du willst ohne mich Waffeln essen gehen, Cousinchen?«

»Ich dachte, du würdest dich tapfer auf die Schlangen im Garten stürzen.«

»Zusammen mit diesen fiesen kleinen Welpen-Miststücken? Lass dich von ihrem Alter nicht täuschen. Die sind gemein. Aber was noch viel wichtiger ist…« Er hielt einen Autoschlüssel in die Luft. »Wir können Dads Bentley nehmen.«

Livy stieß ein Grunzen aus und ließ Tonis Handgelenk los, damit sie ihrem Cousin den Schlüsselbund aus der Hand reißen konnte. »Dann mal los.«

Die beiden setzten sich in Bewegung, und Toni verkündete entschlossen: »Ich gehe nirgendwohin, wenn einer von euch fährt!«

Livy grinste ihren Cousin hämisch an, und die beiden gingen zu Toni zurück, packten sie an den Armen und zerrten sie hinter sich her.

»Das könnt ihr nicht machen!«, protestierte Toni. »Das ist Kidnapping! Eine ganz brutale, sinnlose Entführung!«

»Hör auf, den Mund so voll zu nehmen«, neckte Livy sie.

»Ja, genau«, scherzte auch Jake. »Als wäre sie so bedeutend, dass man sie in einem zweihunderttausend Dollar teuren Auto geradezu entführen muss.«

»Oh, mein Gott, wie teuer?«, wollte Toni wissen. »Dein Vater wird dir den Arsch aufreißen, wenn diesem Wagen irgendwas passiert!«

»Dein mangelndes Vertrauen in meine Fahrkünste verletzt mich zutiefst.« Livy blieb neben dem wunderschönen Auto stehen, und der grellgelbe Lack verbrannte beinahe ihre Netzhaut. Nein. Die Kowalskis waren nicht unbedingt für ihr subtiles Stilbewusstsein bekannt.

»Nur, damit wir uns richtig verstehen«, informierte Toni die beiden Kowalskis. »Wenn ich wegen deines irrsinnigen Fahrstils draufgehe … werde ich dir das niemals verzeihen.«

»Verstanden. Und jetzt schieb deinen dürren Hintern und deine schmalen Schultern in diesen Wagen.«

»Sie hat wirklich unnatürlich kleine Schultern«, bemerkte Jake, nachdem sie Toni auf den Rücksitz gezwungen hatten.

»Ich weiß. Aber ich hasse sie deswegen nicht.«

»Das ist wirklich sehr groß von dir, Cousinchen.«

»Das finde ich auch.«

Jake öffnete die Beifahrertür, während Livy um den wunderschönen Wagen herumging. »Was willst du machen, wenn wir was gegessen haben?«, fragte er.

Livy schaute zu dem Haus zurück, in dem sie während ihrer Jahre an der Highschool gelebt hatte. Jedenfalls, wenn sie nicht gerade bei Toni übernachtet oder ein Haus gefunden hatte, das für ein paar Tage leer stand.

»Was glaubst du wohl?«, fragte sie ihren Cousin.

Jake grinste. »Soll ich dich zum Flughafen fahren?«

»Siehst du? Du bist nicht mal annähernd so dumm, wie dein Vater immer behauptet.«

Jakes Grinsen verblasste kein bisschen. »Aaah, ja. Die Liebe der Familie. Siehst du, was du verpasst, weil du in Manhattan lebst?«

Livy schnaubte und öffnete die Fahrertür. »Nein. Nein, das sehe ich nicht.«

Kapitel 2

Wie immer entwickelten sich Livys Pläne nicht so, wie sie gehofft hatte. Obwohl sie vorgehabt hatte, schon am Abend der Beerdigung ihres Vaters wieder in Manhattan zu sein – oder spätestens früh morgens am folgenden Tag – blieb sie am Ende einen weiteren vollen Tag in Washington und half ihrer Mutter, sich mit den unzähligen Lebensversicherungsunternehmen in Verbindung zu setzen. Sie tat das nicht, damit die Frau ihren Anspruch auf Damons Geld geltend machen konnte, sondern vielmehr, weil es bedeutete, dass ihre Mutter Livy in den nächsten paar … Jahren nicht mehr behelligen würde.

Ihre Mutter vergaß oft, wie nervtötend sie Livy in Wirklichkeit fand, bis sie ein wenig »wertvolle« Zeit mit ihrem einzigen Kind verbringen musste. Dann brachen sämtliche Erinnerungen wieder über sie herein, und Livy musste sich für Ewigkeiten keine Sorgen mehr darüber machen, ihre Mutter wiedersehen oder sich mit ihr herumschlagen zu müssen.

Obwohl Livy Toni vorgeschlagen hatte, schon vor ihr abzureisen, hatte diese darauf bestanden, bei ihr zu bleiben. Was letzten Endes auch gut gewesen war. Weil die Frau einfach wusste, wie man Leute möglichst schnell durch einen Flughafen schleuste.

»Setz dich hier hin«, befahl Toni und drückte Livy an den Schultern nach unten, bis sie auf dem einzigen Gepäckstück saß, das sie mitgebracht hatte. »Ich besorg uns ein Taxi, dann sind wir ruckzuck von hier weg.«

Toni eilte davon, und Livy stützte sich mit dem Ellenbogen auf ihrem Knie ab, das Kinn auf der Faust, und blickte über die geschäftigen Straßen, die den Flughafen JFK umgaben. Während sie wartete, marschierten geradezu obszön lange Beine und mächtige Körper an ihr vorbei.

Sie rührte sich keinen Millimeter, bemerkte jedoch die kreischenden Mädchen und die Menschentraube, die den Vollmenschen-Männern folgten, die an ihr vorüberzogen. Etwa im selben Moment hörte sie eine männliche Stimme bellen: »Ich bin kein Footballspieler. Und jetzt lasst mich in Ruhe.«

Zum ersten Mal seit Tagen musste Livy lächeln. Sie konnte einfach nicht anders. Was genau erwartete der Mann denn? Er war zwei Meter fünfzehn groß. Gut hundertachtzig Kilo schwer. Und trotz seines hübschen Gesichts, der gefährlich scharfen Wangenknochen und seines dunkelbraunen und goldenen Haars, das in zerzausten Stufen fast bis auf seine Schultern herabreichte, sah er wirklich furchteinflößend aus. Natürlich glaubten die Leute da, dass er zu einer Sportmannschaft gehörte. Ihre einzige andere Option war ein mörderischer Serienkiller aus der Filmreihe Freitag, der 13.

Livy wartete, bis sich Vic ein paar Schritte von ihr entfernt hatte, bevor sie süßlich fragte: »Hey, Mister. Kann ich ein Autogramm von Ihnen haben?«

Knurrend antwortete Vic: »Ich bin kein … Livy?« Vic blieb direkt vor ihr stehen, und sein genervter Gesichtsausdruck verflog und wurde von Neugier abgelöst. »Was machst du denn hier?«

»Meinen Hintern für ein paar Mücken auf der Straße verkaufen.«

»Sind die Zeiten so hart?«

Glücklicherweise hatte Vic bereits kurz nachdem sie sich zum ersten Mal begegnet waren gelernt, wie er mit Livys Sinn für »Humor«, wie es nur ganz wenige nannten, umzugehen hatte. Was wirklich gut war, weil Livy schlichtweg nicht wusste, wie man Leuten keine seltsamen, verwirrenden Fragen stellte. Als Künstlerin fand sie die Verwirrung anderer faszinierend.

»Hart genug«, erwiderte sie. »Hi, Shen.«

»Hey, Livy. Mir gefällt dein Haar.«

Livy musste über Shens Dauerscherz grinsen. Als Honigdachs hatte sie schwarzes Haar mit einer weißen Strähne an der Seite, während Shen als Pandabär weißes Haar mit großen schwarzen Flecken hatte. Außerdem kaute er schon wieder auf diesem verdammten Bambus-Mistding herum. Seine Reißzähne wiesen ihn zwar eindeutig als Raubtier aus, aber aus irgendeinem Grund – obwohl sie dasselbe Verdauungssystem hatten wie Fleischfresser – aßen Große Pandas Bambus. Das Problem dabei war, dass Pandas eine Menge Bambus brauchten, um zu überleben. Eine Menge. Und jedes Mal, wenn Livy den Mann sah … futterte er gerade.

Trotzdem war es lustig, zuzusehen, wie er sich an den armen Vic Barinov hängte. Obwohl Livy Vics Grizzly-Seite immer deutlicher sah als seine Tiger-Seite, schien es, als wüsste keine der beiden Seiten des Hybriden, was sie mit dem freundlichen, manchmal etwas geschwätzigen, gut einen Meter achtzig großen Panda anstellen sollte, der fast genauso breit war wie hoch. Noch etwas, das Livy und Shen gemeinsam hatten: mächtige Schultern auf relativ kleinen menschlichen Körpern, was für die meisten Gestaltwandler ungewohnt war. Oh, und sie waren beide asiatisch. Oder wie Jake es gerne formulierte: »Livy ist halb asiatisch, halb polnisch und gaaaaanz und gar Honigdachs!«

Mit Vic hingegen hatte Livy viel weniger gemeinsam. Sie hatten jedoch schon einmal zusammengearbeitet, als sie Toni dabei geholfen hatten, ihren kleinen Bruder aus Delilahs Kult zu retten.

»Bevor ihr zwei ewig so weitermacht«, sagte Vic zu Livy. »Mein Haus?«

»Was ist damit?«

Vic hob eine Augenbraue.

Livy verdrehte die Augen. »Ich bin nicht mehr dagewesen, seit du mich das letzte Mal rausgeschmissen hast.«

»Ich hab dich nicht rausgeschmissen. Ich hab dich ganz freundlich gebeten, zu gehen, weil ich die Handwerker rufen wollte, damit sie die ganzen Löcher wieder schließen, die du hinterlassen hast.«

»Ich musste schließlich irgendwie reinkommen, oder?«

»Aber du hast eine eigene Wohnung.«

»Mir war der Honig ausgegangen.«

»Und deshalb bist du den ganzen Weg bis nach Westchester gefahren? Wegen des Honigs?«

»Du hast wirklich guten Honig.«

Vic atmete ganz langsam aus. »Sag mir einfach, ob ich Löcher zu erwarten habe, wenn ich nach Hause komme.«

»Keine Löcher.«

»Und hab ich noch Honig?«

»Ja, du hast noch Honig.«

»Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir diesen Tonfall anhören muss. Du bist schließlich diejenige, die immer meinen Honig auffrisst.«

Livy grinste. »Wenn du mit Rum verfeinerten Honig im Schrank hast – dann bettelst du förmlich darum.«

Das brachte Vic zum Lächeln – etwas, was er nicht sehr oft tat. Andererseits … tat sie das auch nicht.

Shen deutete mit seinem Bambusstängel auf die beiden und gab zu: »Ich begreife wirklich nicht, warum ihr zwei so auf Honig steht.«

Sie starrten ihn eine Weile an, während er weiter seinen Bambus mampfte, bis Vic sich schließlich wieder Livy zuwandte und fragte: »Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Toni besorgt uns ein Taxi. Sie müsste gleich zurück sein.« Livy betrachtete Vic einen Moment lang. Sie hatte ihn seit Monaten nicht gesehen. Er musste aus beruflichen Gründen sehr oft ins Ausland reisen. »Was machst du denn zurück in den Staaten? Oder genießt du die frostigen Temperaturen an der Ostküste, um dich von diesen lauen russischen Wintern zu erholen?«

»Ich hab neue Informationen zu unserem alten Freund.«

»Zu diesem Whitlan? Suchen sie immer noch nach ihm?«

Vic nickte. »Ja.«

»Man sollte annehmen, sie hätten ihn inzwischen geschnappt. Wie schwer kann es heutzutage schon sein, jemanden aufzustöbern?«

»Der Mann weiß eben, wie man verschwindet.«

Livy zuckte mit den Schultern. Honigdachse kümmerten sich nicht um die Probleme anderer Gestaltwandler. Sie betrachteten sich ausschließlich als Honigdachse, nicht als Teil eines größeren Gestaltwandler-Universums. Was auch gut war, da die meisten anderen Arten sie nicht wirklich mochten und viele von ihnen nicht einmal wussten, dass Honigdachse überhaupt existierten.

»Und was ist mit dir?«, fragte Vic. »Was machst du hier?«

»Ich komme gerade aus Washington.«

»Familie besucht?«

»Tote Familie.« Livy kicherte über ihren eigenen Scherz, aber als Vic und Shen sie nur anstarrten, fügte sie hinzu: »Sorry, schlechter Witz. Ich war bei einer Beerdigung.«

Vic runzelte die Stirn, wodurch er nur noch furchteinflößender wirkte. Livy wusste jedoch, dass sein Gesicht nun mal einfach so aussah. Sein hübsches, aber furchteinflößendes Gesicht. Gott, diese Wangenknochen sind einfach unglaublich.

»Das tut mir leid, Livy. Wer ist denn gestorben?«

»Mein Vater.«

Beide Männer blinzelten heftig, und ihr wurde bewusst, dass ihre Antwort sie überrascht hatte.

»Livy…« Vic schaute zu Shen hinüber und dann wieder zurück zu ihr. »Mein Gott, das tut mir so leid.«

»Ist schon okay.«

»Ist es?«

Livy zuckte mit den Schultern. »Wir standen uns nicht sehr nahe.«

»Trotzdem. Er war dein Vater.«

»Ich hab mal einen Baseballschläger nach ihm geworfen«, gestand sie den beiden Männern. »Hab ihn voll am Kopf getroffen. Er war gut dreißig Minuten lang völlig weggetreten.«

Shen atmete langsam aus. »Oh. Okay.«

Aber Vic weigerte sich, von seiner Meinung abzurücken. »Er ist trotzdem dein Vater. Ich weiß, dass das hart für dich sein muss.«

»Nicht so hart wie damals, als er aufgewacht ist und mich mit dem Baseballschläger gejagt hat. Aber erwischt hat er mich nicht. Ich bin superschnell, wenn ich … fliehe.«

Vic starrte sie einen Moment lang an, bevor er schließlich zugab: »Ich möchte dich jetzt gerne unbeholfen in den Arm nehmen.«

Livy schaute zu ihm hinauf. »Unbeholfen?«

»Wir können beide nicht so gut mit Zuneigung umgehen, deshalb nehme ich an, dass jeglicher körperlicher Kontakt zwischen uns ziemlich unbeholfen wäre.«

Das brachte Livy zum Lachen, und ohne groß darüber nachzudenken stand sie auf, schlang ihre Arme um Vics Taille und nahm ihn so fest in den Arm, wie sie es bei ihrer Mutter nicht getan hatte, bevor sie zum Flughafen gefahren war, um nach New York zurückzukehren.

Vic erwiderte die Umarmung, und wenn Livy sich nicht völlig irrte, küsste er sie auf den Kopf.

»Wenn du irgendwas brauchst«, bot Vic an, »dann sag einfach Bescheid.«

»Danke, Vic.«

Livy löste sich von ihm. Nicht, weil sie genug von der Umarmung hatte – die war überraschend nett–, sondern weil sie spürte, dass sich jemand den Rollkoffer schnappte, den sie auf ihrer Reise dabeigehabt hatte.

Mit dem Fuß drückte Livy den Koffer auf den Boden, wirbelte herum und wollte dem Mann gerade die Hände an den Hals legen, als Toni auf sie zurannte und schrie: »Das ist der Taxifahrer! Das ist der Taxifahrer!«

Livy zog sofort ihre Hände wieder zurück. »Oh. Tut mir leid.«

»Er will dir nur mit dem Gepäck helfen«, erklärte Toni. Sie tätschelte Livys Bein und versuchte, sie dazu zu bewegen, ihren Fuß von dem Koffer zu entfernen. Als Livy sich nicht schnell genug bewegte, verwandelte sich das Tätscheln in harte Schläge.

Livy nahm ihren Fuß zur Seite, und der Fahrer schnappte sich schnell ihren Koffer und steuerte auf das wartende Taxi zu.

Toni funkelte sie an, worüber Livy nur kichern konnte. Dann schenkte Toni Vic ein Lächeln. »Hallo, Victor.«

»Hi, Toni. Wie geht’s?«

»Gut.« Toni tätschelte Vics Arm, winkte Shen, den sie nicht sehr gut kannte, kurz zu, und ging dann zum Taxi.

»Ich muss los.« Livy lächelte Vic an. »Vielleicht sehen wir uns ja mal.«

»Arbeitest du immer noch im Sportzentrum?«, wollte er wissen.

Livy seufzte. »Natürlich. Wo sollte ich auch sonst sein? In Paris? Mailand? Vielleicht mitten in einem großen Krieg? Warum sollte ich auch irgendwo anders sein, wenn ich Fotos von riesigen Kerlen machen kann, die auf dünnen Schlittschuhen balancieren und auf einer Eisfläche einem kleinen schwarzen Puck nachjagen? Weil das nämlich wirklich faszinierend ist.«

»Dann läuft’s bei der Arbeit also richtig gut?«, fragte Vic und verzog dabei keine Miene.

Livy grinste. Dieser Mistkerl. »Bis bald.«

Livy setzte sich neben Toni ins Taxi und schloss die Tür.

»Ha«, sagte Toni.

»Was?«

»Gar nichts.«

»Erklär mir schnell, zu welchem Zeitpunkt in unserer Freundschaft ich jemals zum Ausdruck gebracht habe, dass ich besonders viel Toleranz für Mädchen hätte, die dieses spezielle Spielchen spielen.«

»Na schön«, erwiderte Toni. »Mir ist nur aufgefallen, dass Vic dir die ganze Zeit nachgeschaut hat, bis du ins Taxi gestiegen bist.«

»Und?«

»Sein Freund war damit beschäftigt, den Football-Cheerleadern oder Tänzerinnen oder was auch immer die waren hinterherzuglotzen, die gerade an ihnen vorbeistolziert sind. Aber Vic hat dir nachgeschaut.«

»Und? Was willst du damit sagen?«

Toni zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster. »Ich mein ja nur.«

»Wie schon gesagt«, hatte Livy das Bedürfnis, klarzustellen. »Wenig Toleranz für solche Mädchen.«

»Das tut mir echt leid«, gab Vic gegenüber Shen zu, während sie zu dem Wagen gingen, den er immer auf dem Langzeitparkplatz am Flughafen abstellte, um schnell wieder in die Stadt zu kommen.

»Was denn?«

»Das mit Livy. Ich hatte keine Ahnung, dass ihr Dad gestorben ist.«

»Sie scheinen sich nicht sehr nahegestanden zu haben.«

»Na und? Er war trotzdem ihr Vater.«

»Nicht jeder hat ein so enges Verhältnis zu seiner Familie wie du.«

»Was soll das denn heißen?«

»Das soll heißen, dass du und ich unseren Familien sehr nahestehen. Wenn mein Vater stirbt? Dann sitze ich wahrscheinlich wochenlang in meiner Wohnung, schluchze und esse ihm zu Ehren Bambusstängel. Aber nicht jeder verarbeitet den Tod auf dieselbe Weise wie ich.«

»Trotzdem … hab ich das Gefühl, dass ich irgendwas tun sollte.«

»Was denn?«

»Ich weiß auch nicht. Ich hatte gehofft, du hättest vielleicht ein paar Ideen.«

»Weißt du, was mir hilft, wenn ich nach einer grandiosen Idee suche?«

Vic seufzte. »Ein kostenloses Abendessen?«

»In einem Steakhaus, das keine Angst davor hat, rohen Bambus auf die Speisekarte zu setzen.«

»Du willst, dass ich für uns beide ein Essen im Van Holtz Steak House bezahle?« Ein von Gestaltwandlern geführtes Haus, das sämtlichen Gattungen und Spezies offenstand und das einzige Restaurant war, das Vic einfiel, das rohen Bambus als Beilage anbot.

Shen hob und senkte seine Hände wieder, bevor er den nächsten kurzen Bambusstängel aus der Packung holte, die in seiner Jeansjacke steckte. »Du willst doch Ideen, oder? Meine Ideen gibt’s nun mal nicht gratis.«

Livy betrat ihre Wohnung und stellte ihre Tasche neben der Tür ab. Sie machte sich nicht die Mühe, das Licht anzuschalten. Es gab nicht viel zu sehen. Ein paar schäbige Möbel, die sie günstig gekauft hatte. Einen Fernseher, den sie als Geräuschkulisse einschaltete, wenn sie zu Hause war. Und stapelweise Bücher. Sie las gerne. Etwas, das ihre Eltern an ihr geliebt hatten, als sie drei gewesen war, das sie jedoch immer weniger begeistert hatte, als Livy lieber gelesen hatte anstatt an den ebenso unterhaltsamen wie informativen Familienlektionen zum Thema »Wie ziehe ich Geldbeutel aus Gesäßtaschen, ohne erwischt zu werden« teilzunehmen, die alle zwei Wochen für die jüngsten Kinder abgehalten wurden.

Die harsche Realität von Livys Wohnung ließ sich nicht verleugnen. Sie war so eingerichtet, dass es ihr leichtfiel, sie beim ersten Anzeichen von Ärger blitzschnell zu verlassen. Außerdem besaß sie die Wohnung sowieso nur, weil Toni darauf bestanden hatte: »Du brauchst eine eigene Wohnung. Du musst wie ein normaler Mensch leben.« Anscheinend war Toni nicht der Ansicht, dass eine Reihe von »sicheren Unterschlüpfen« in aller Welt, die Livys Familie unterhielt, als »Leben wie ein normaler Mensch« galt.

Also hatte Livy Geld für dieses Zwei-Zimmer-Apartment auf den Tisch gelegt, in dem es noch nicht mal ein Bett gab. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie tatsächlich hier wohnte, schlief sie ohnehin auf der Couch und nutzte das Schlafzimmer als Büro Schrägstrich Kunstatelier.

Sobald Livy jedoch einen Fuß in diesen speziellen Raum setzte, musste sie ihn auch schon wieder verlassen. In Wahrheit hatte sie zwar immer weiter fotografiert, aber keine echte »Kunst« mehr produziert.

Sie wusste nicht, wann es passiert war. Wann dieser Quell stetiger Kreativität versiegt war. Ihre Kreativität hatte sie begleitet, seit sie sechs Jahre alt gewesen war und begonnen hatte, mit der Kamera ihres Vaters zu spielen, die er eines Nachts von einem kleinen Wohnungseinbruch mitgebracht hatte, als er ein wenig knapp bei Kasse gewesen war. Es war ein Film darin gewesen, und nachdem sie ihn vollgeknipst hatte, hatte sie darauf bestanden, dass ihr Vater den Film entwickeln ließ. Selbst ihre Eltern waren schockiert darüber gewesen, wie gut einige der Bilder waren. Und nicht eines von ihnen war ein einfaches Familienfoto oder ein Bild von einer Blume gewesen. Weit davon entfernt. Unter den Bildern waren Aufnahmen von Obdachlosen in der Innenstadt, kiffenden Teenagern und einem Vollblut-Bären, der durch die Stadt streifte. Bei Letzteren war ihre Mutter wirklich ausgerastet, als sie gesehen hatte, dass Livy eine Zeitlang auf dem Schoß des Bären gesessen hatte. In diesem Moment war ihren Eltern endlich bewusst geworden, dass sich ihre sechsjährige Tochter allein in der Stadt herumtrieb, wenn sie gerade nicht zu Hause waren, ihren nächsten Einbruch planten oder sich über irgendetwas Lächerliches stritten.

Selbstverständlich hielten ihre Versuche, die Wanderlust ihrer Tochter zu zügeln, nur rund … eine Woche lang an, bis zu ihrem nächsten Diebstahl. Danach konnte Livy wieder frei ihren Weg der Fotografie beschreiten. Sie las jedes Buch, das sie in die Finger bekommen konnte: von technischen Ratgebern bis hin zu den riesigen Bildbänden solcher Größen wie Ansel Adams oder Dorothea Lange. Sie studierte sämtliche Magazine, auch Modezeitschriften, und brachte sich selbst bei, Licht und Schatten zu verstehen. Als sie älter wurde, kaufte sie sich alte Kameras und Kamerazubehör, nahm sie auseinander und lernte selbständig, wie man sie wieder zusammensetzte, bis sie ihre Ausrüstung in- und auswendig kannte.

Ehrlich gesagt war Livy, so weit sie sich zurückerinnern konnte, nie ohne ihre Kamera gewesen. Egal, ob sie um ihren Hals oder über ihrer Schulter hing oder sich griffbereit in ihrer Tasche befand – Livy hatte sie immer dabei, weil sie nie wusste, wann ein Motiv ihre Aufmerksamkeit erregen würde.

Aber im letzten Jahr … war das nicht mehr der Fall gewesen. Sie hatte die Kamera zwar immer noch dabei gehabt, irgendwann jedoch festgestellt, dass sie sie immer seltener benutzte. Bis sie schließlich ganz unten in ihrem Rucksack vergraben lag, zusammen mit dem Lippenstift, den sie nie auflegte, und dem Kaugummi, den sie darin vergessen hatte.

Was die Leute jedoch nicht begreifen wollten, war, dass der Verlust dieser Sehnsucht, der Verlust ihres Interesses an der Fotografie und Kunst, Livy zutiefst schmerzte. Körperlich. Mitten in der Brust. Und dass sie sich regelrecht dazu zwingen musste, sich etwas Interessantes für ihren Job im Sportzentrum einfallen zu lassen, schmerzte sie ganz genauso. Es war, als würde man ihr ohne Betäubung die Zähne ziehen. Jedes Bild, das sie knipste, war die reinste Folter. Obwohl sie selbst nicht wusste, warum. Sie hatte jahrelang nebenbei als Auftragsfotografin gearbeitet, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Sie hatte sich als Assistentin durchgeschlagen – eine hin und wieder undankbare Aufgabe, je nachdem, für wen man arbeitete – und als Szenenbildnerin für Modeaufnahmen. Sie hatte in einem Fotostudio im Einkaufszentrum gearbeitet und sich dabei mit nervtötenden Familien herumschlagen dürfen. Sie hatte alle erdenklichen niederen Dienste erledigt, weil es ihr immer nur um die Fotografie gegangen war und sie jeden zusätzlichen Cent in ihre Kunst gesteckt hatte.

Also was zur Hölle war hier los? Warum fiel es ihr im Moment so schwer?

Livy wusste es nicht. Was sie jedoch wusste, war, dass in wenigen Wochen ihre nächste Galerieausstellung anstand und sie absolut nichts Neues vorweisen konnte. Immer wieder versprach sie dem Kurator, dass sie bald etwas liefern würde. Etwas Frisches, Kraftvolles und Unglaubliches. Aber sie log sich selbst in die Tasche. Sie hatte nichts. Absolut gar nichts.

Livy ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Sofakante.

Es gab Künstler, die den Schmerz eines Verlustes – etwa den Verlust ihres Vaters – für sich nutzten, um die mächtigen Dämonen wirklich zu ergründen, die sie antrieben.

Livy hingegen griff nach der Fernbedienung ihres Fernsehers und schaltete ihn an.

Als sie sich auf der Couch ausstreckte, vibrierte ihr Handy. Sie streckte eine Hand nach unten aus und zog es aus ihrer Gesäßtasche. Es war Vic.

Wie gesagt, wenn Du irgendwas brauchst … oder wenn Du reden willst. Ich bin hier.

Livy lächelte leise. Vic war nicht mal annähernd so furchteinflößend, wie er aussah. Er war einfach nur ein netter Kerl. Sie schickte ihm ein »Danke« zurück und warf ihr Telefon auf den Couchtisch.

»Was hast du ihr geschrieben?«, wollte Shen wissen, während er sich sein Steak und den mit Knoblauch verfeinerten rohen Bambus schmecken ließ.

»Ich hab ihr nur gesagt, dass ich hier bin, wenn sie mich braucht.« Vic legte sein Telefon auf den Tisch.

»Das war nett.«

»Ja.«

Shen schaute ihn einen Moment lang an, bevor er fragte: »Du findest, das reicht nicht, oder?«

»Ihr Vater ist gestorben! Das ist ein tiefer Einschnitt. Meinst du nicht, dass das ein tiefer Einschnitt ist?«

»Für mich wäre es ein tiefer Einschnitt. Und für dich auch. Sie scheint aber ganz gut damit klarzukommen. Ich hab sie mal mit demselben Gesichtsausdruck gesehen, als sie in einem Restaurant im Sportzentrum einen Schoko-Toffee-Eisbecher gegessen hat. Will heißen: praktisch ohne Gesichtsausdruck. Wie kann ein Mensch bitte keinen Gesichtsausdruck haben, wenn er gerade einen Schoko-Toffee-Eisbecher verspeist?«

»Danach beurteilst du die Menschen? An ihrem Gesichtsausdruck, während sie einen Schoko-Toffee-Eisbecher essen?«

»Vielleicht liegt es daran, dass ich überhaupt nur einmal gesehen hab, dass sie eine Miene verzieht – als sie dieses Löwenmännchen angegriffen hat, den Footballspieler.«

»Der hat ja praktisch darum gebeten. Er hat ihr den Hintern getätschelt.«

»Stimmt. Hat er. Aber ich finde immer noch, dass sie ein bisschen überreagiert hat, als sie ihn skalpiert hat. Vor allem, weil wir beide genau wissen, wie berechnend das war. Du weißt doch, wie Löwenmännchen sind, wenn es um ihre Haare geht.«

Vic blickte auf sein Essen hinunter. Ein Zwei-Kilo-Rostbraten mit Pfeffer-Honig-Glasur. Perfekt für seine Tiger- und seine Grizzly-Seite.

»Ich finde einfach, dass ich irgendetwas für sie tun sollte«, gab Vic zu.

»Schick ihr Blumen.«

Vic und Shen sahen gleichzeitig von ihren Tellern auf, schauten einander an und sagten schließlich gemeinsam: »Nee.«

Kapitel 3

Livy verließ den Fahrstuhl und steuerte auf ihr Büro zu. Im Gehen hörte sie ihren Namen. Irgendjemand rief ihr einen Gruß hinterher, aber sie reagierte nicht darauf. Sie konnte nicht besonders gut mit Grüßen umgehen. Sie fand sie lästig.

Livy ging den Flur hinunter und vermied es, in die anderen Büros zu schauen. Sie sah auch nicht zu den Leuten hinauf, die ihr entgegenkamen. Sie hielt einfach nur den Kopf gesenkt und ging weiter. So ging Livy die meiste Zeit durchs Leben … es sei denn, sie hatte ihre Kamera im Anschlag.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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