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In diesem Buch geht es um die Entwicklung einer zeitgemäßen Haltung zum Thema Loslassen, Vergebung und Opfern aus Nächstenliebe. Wo gebe ich, um zu bekommen? Wo gebe ich selbstlos? Welche Zugänge gibt es zu einer zeitgemäßen Erlösungslehre? Wie kann Loslassen und Opfern im Alltag gelingen?
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Seitenzahl: 99
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Teil 1: Opfern im Alltag
1.1 Einleitung: Warum Opfer
1.2 Demut
1.3 Stille und Meditation
1.4 Gebet
1.5 Opfern - wie kann das gehen?
1.6 Opferzukunft - Werke der Barmherzigkeit
1.7 Opfern im Gottesdienst
Teil 2: Opfern im Glauben und Leben
2.1 Wortfeld Opfern und Vergebung
2.2 Krise der Erlösungslehre und Auswege
2.3 Erlösung - wovon? Die Macht der Sünde
2.4 Erlösung - wovon? Macht des Todes
2.5 Erlösung - wovon? Der Fluch des Gesetzes
2.6 Erlösung - wovon? Der Teufel und das Böse
2.7 Erlösung - wodurch? Sühne & Stellvertretung
2.8 Erlösung - wodurch? Opfer Loskauf Genugtuung Verdienst
2.9 Erlösung - wozu? Neues Leben in Fülle und Verheißung
2.10 Opfern - mit welchem Recht?
2.11 Quellen und Literaturhinweise
Was hat mich bewogen, über das Thema Opfern zu schreiben und mich auseinander zu setzen? Ich habe in meinem Leben Immer wieder Erfahrungen gemacht, in denen ich Gedanken und Gefühle von Zweifeln, Loslassen, Scheitern, Verlust und Tod selbst hautnah erlebt habe. Diese Erfahrungen wurden wir in den letzten 5 Jahren bewusst, während meines Diakonstudiums. Erst durch ein Zulassen, Aushalten und Annehmen von Gefühlen wie, Ohnmacht, Scham, Trauer, Wut, Hilflosigkeit bei mir und bei anderen, passiert etwas, was die Situation verändern kann. Ich konnte und musste erfahren, wie es Momente der Opferung, des Scheiterns, des Loslassens gab, und auch der Annahme, der Verwandlung, der Überwindung. Kairos-Momente, Momente der Wandlung, wenn Gedanken, Vorstellungen und Worte nicht mehr helfen. Durch diese konkreten Erfahrungen von Not, Tod und Sterben und anderen Grenzerfahrungen habe ich das Gefühl, ich stehe sicher, kann vieles aushalten, einfach da sein und bin so vielleicht ein Teil, das hilfreich andere in solchen Prozesses begleiten kann.
Kairós ist in der griechischen Mythologie der Gott des „rechten Augenblicks“, des „passenden Momentes“. Während chronos die fließende Zeit repräsentiert, die ohne den Menschen vergeht, steht kairós für das, was sich plötzlich ereignet. Kairós bezeichnet auch den Augenblick, in dem der Mensch aktiv gestaltend eingreifen kann. Der passende Moment um zu entscheiden, zu handeln, aktiv zu werden – kairós.
Die Gelegenheit beim Schopfe packen. Lysippos hat Kairós als Jüngling dargestellt, der vorne am Kopf eine dicke Haarsträhne hat, hinten aber kahl ist. Man bekommt ihn nicht mehr zu fassen, wenn er vorbei gegangen ist. Daher kennen wir die Redewendung: die Gelegenheit beim Schopfe packen.
Im Erleben der vielen zum existenziellen Begegnungen mit den verschiedenen Menschen in Not, fiel mir auf, dass es an den Grenzen des Lebens. Der Rückblick auf das eigene Leben, die eigenen Verluste, Bilanz ziehen, geschieht meist in Träumen, im Halbschlaf oder im monologhaften Gespräch. Einige machen diesen Rückblick in der Stille, ganz für sich allein - anderen wiederum hilft die stille Anteilnahme eines anderen. Im Begleitenden kann der Trauernde Raum finden, sich selbst, seinem Leben, seinen Erinnerungen zu begegnen.
Im und am Gegenüber kann es oft leichter geschehen, dass für den opfernden, loslassenden Menschen Ordnungen, Zusammenhänge und Sinnhaftigkeit erkennbar werden, dass Ereignisse sich zueinander fügen und z. B. Versäumnisse, Scheitern, Schuldhaftes in einem anderen Sinnzusammenhang angenommen werden können.
Wie sieht ein Demütiger aus?
Im Mittelalter gab es den frommen jüdischen Gelehrten Mose ben Nachman, der sagte: „Einen Demütigen erkennt man an seinem Verhalten, an seinem Äußeren.
Ein Demütiger spricht mit Gelassenheit und hat seinen Kopf stets geneigt. Ein Demütiger hat seine Augen niedergeschlagen, doch sein Herz wendet er ganz nach oben. Er vergilt nicht Böses mit Bösem und erträgt willig den Spott anderer.“
Kurz nach Verfassung dieser Worte brachen fanatisierte Kreuzfahrer auf nach Jerusalem, um das „Heilige Land von den Moslems zu befreien“. Ihr Kreuzzug begann allerdings schon hier mit der Jagd auf jüdische Bewohner, die im Schatten der deutschen Dome lebten.
Es kam zu Pogromen. Viele Juden haben dann tatsächlich oft „demütig“ reagiert, haben sich wehrlos schlagen und umbringen lassen mit niedergeschlagenen Augen und stillem Leiden. Hat Mose ben Nachman das so gemeint? Hat Gott das gemeint, wenn er im Propheten Micha sagt: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“(Mi 6,8) Heißt demütig sein, dass man sich nicht wehren darf, dass man eigentlich im Grunde keinen eigenen Wert beanspruchen darf?
Heißt Demut: Den Schwanz einziehen, zu allem schweigen, dass man sozusagen nur „heimlich“ auf der Welt sein darf? Ich kenne Menschen mit einer demütig gebückten Haltung und einem stets süßlichen Lächeln nach dem Motto: „In meiner Demut lasse ich mich von niemandem überbieten!“ Menschen, bei denen man den Eindruck hat: Obwohl die Haltung demütig wirkt, ist das Herz nicht bei Gott, sondern nur bei sich selber und bei dem Gedanken: „Bin ich auch demütig genug, dass ich in den Himmel komme?“
Luther meint dazu: „Wahre Demut vergisst ganz, dass sie demütig ist!“ Biblisch gesehen ist Demut keine bestimmte Körperhaltung, sondern eine Herzenshaltung, etwas, das unseren natürlichen Augen entzogen ist. Klar für Gewaltlosigkeit eintreten, ist in Zeiten vom Verlust des Mitgefühls schwer zu disskutieren.
Die kirchliche Hochachtung der Demut
Für die Mütter und Väter des Glaubens ist die Haltung der Demut die Grundhaltung christlicher Frömmigkeit.
Origenes sieht im 2. Jahrhundert n. Chr. die Welt in einem Gegenüber von Licht und Dunkel. Auf der dunklen Seite regiert die Hochmut. Sie ist die Wurzel aller Sünde.
Auf der Lichtseite herrscht die Demut. Sie ist die Wurzel aller Tugend. Für ihn kommen alle guten Werke aus dieser Grundhaltung des Herzens. Das demütige Herz ist gleichsam das fruchtbare Ackerfeld, auf dem alle guten Pflanzen des Glaubens gedeihen. Auch Kirchenvater Augustin befasst sich im 5. Jahrhundert intensiv mit dem Thema Demut. Für ihn kämpfen Stolz und Demut ein Leben lang miteinander.
Johannes Chrysostomus sagt: „Demut ist die Mutter aller Tugenden, die Elementartugend, aus der alles Gute hervorwächst.“ Geiler von Kaisersberg, ein berühmter Straßburger Prediger im 15. Jahrhundert, der mit bildhaften Predigten wahre Menschenmassen angezogen hat, bindet Demut und Glaube eng zusammen.
Gemeinsam ergeben sie für ihn das „Fundament des christlichen Lebens“. Demut ist sozusagen „das Loch“, der ausgehobene Keller, und Glaube, das sind die Grundsteine, die nun in diesen Keller hineingelegt werden und auf denen der ganze Bau des Hauses steht.
„Demut üben“ heißt also: nach unten gehen, zu Boden gehen, ein Loch graben, damit Glaube, Liebe, Hoffnung in uns wohnen können.
Hier klingen mönchische Gedanken an.Cassianus, einer der Väter des Mönchtums, sagt: „Dämonen werden durch nichts anderes besiegt als durch Demut!“ In asketischen Klöstern kann man deswegen hören: „Erst wenn wir den Leib abtöten und keusch leben, wenn wir Buße tun und die eigenen Bedürfnisse in uns töten, hat Gott Raum, dass er ganz in uns wohnen kann.“ Aber ist das biblisch?
Geht es bei der Demut um die Selbstauslöschung des Ich? Demut und die Germanen – oder: was den natürlichen vom geistlichen Menschen unterscheidet!
Demut war für unsere germanischen Vorfahren etwas Wesensfremdes. Der Begriff „Demut“ kam in ihrem Wortschatz nicht vor. Ihre Lieblingsgeschichte in den Evangelien war die Stelle, als Petrus bei der Gefangennahme Jesu dem Knecht des Hohenpriesters ein Ohrläppchen abgeschlagen hat.
Diesen Gefühlsausbruch, dieses Kämpfen mit dem Schwert für die Gerechtigkeit konnten sie nachvollziehen.
Das, was Jesus dagegen brachte, Liebe und Verzeihen, war unseren Vorfahren zunächst einmal völlig fremd. Da prallten natürlicher und geistlicher Mensch aufeinander, und dazwischen lag die Demut.
Friedrich Nietzsche hat geschrieben, das Christentum habe den Germanen ihren „natürlichen Selbstbehauptungstrieb“genommen und sie zu Knechten und Sklaven gemacht. Demut sei – so Nietzsche – ein „Sklavengeist“, etwas, das den Menschen ihre Freiheit, ihren „gesunden Kämpfergeist“ nehme.
Heute würde er vielleicht formulieren: „Demut macht die Menschen zu Memmen!“Als die iro-schottischen Mönche kamen, um den Deutschen das Evangelium zu bringen, kannten sie bereits das lateinische Wort „humilitas“ (Niedrigkeit, Kleinheit). „Humus“ steckt da drin: der Erdboden. Eine menschliche Eigenschaft also, die damit zu tun hat, zu Boden zu gehen. Wir denken an biblische Sätze, in denen sich Menschen vor Gott wie Abraham „in Staub und Asche werfen“ (1. Mose 18,27) oder sich im Angesicht des Allmächtigen als „ein Wurm“ empfinden (Psalm 22,6).
Demütige sind also „Kellerkinder“, die nahe am Boden leben – gleichsam „im Loch“ könnte man annehmen.
Dafür steht die Bezeichnung „Humilitas“. Aber wie sollte man das nun in die Sprache der kämpferischen Germanen übersetzen? „Diomuti“ schien das Wort zu sein, das wie ein Schlüssel erklärt, welches die Grundhaltung des Christen vor Gott sein soll. „Diomuti“ ist althochdeutsch und steht im Gegensatz zum lateinischen „lucrum“ (Gewinn, Lohn).
Der „Diomuti“ ist einer, der ohne Lohngedanken seinen Dienst tut und in völliger Loyalität. Einer, der immer und überall von der Weisung seines Herrn und in völligem Gehorsam lebt. Aber entscheidend ist das eine:
Der „Diomuti“ ist kein Sklave, kein von vornherein Abhängiger! Er tut seinen Dienst freiwillig. Er tritt aus eigener Entscheidung in den Dienst seines Herrn.
Erkennt und anerkennt die Macht und Stärke seines Herrn. Dieses Wort Demut, das sich von dem „Diomuti“ her entwickelt, bedeutet also nicht: gehorchen, weil man muss, weil man Sklave ist – wie Nietzsche meint –, sondern: gehorchen aus Weisheit heraus, weil man den wahren Herrn erkannt hat. Entspricht das nicht auch dem biblischen Zeugnis?
Demut im Alten Testament
Zunächst ist Demut im Alten Testament tatsächlich – wie der jüdische Rabbi Mose ben Nachman beschreibt – eine gewisse Haltung. Das zugrunde liegende hebräische Wort „’nh“(ana) heißt so viel wie: „sich ducken, sich beugen“. Wenn z.B. irgendwo ein großer Löwe auftaucht und man sofort erkennt, wer hier der Stärkere ist, dann bleibt nur noch eines: sich ducken und in Deckung gehen. Es ist also durchaus eine bestimmte Haltung, die als Bild hinter diesem Wort steckt, gemeint aber ist die Herzenshaltung. Des Weiteren: Demut wird im Alten Testament noch nicht über Gott ausgesagt.
Gott ist der Souverän. Er ist nicht der, der sich duckt, beugt oder vor irgendjemandem in Deckung gehen muss.
Dies ist allein die Haltung, die dem Menschen zukommt, und es ist die einzige Haltung, die Gott gegenüber korrekt ist: „Suchet den Herrn, alle ihr Elenden im Lande, die ihr seine Rechte haltet! Suchet Gerechtigkeit, suchet Demut!
Vielleicht könnt ihr euch bergen am Tage des Zorns des Herrns“ (Zefanja 2,3). Mit jedem Wort drückt dieser Satz aus: Gott ist größer und stärker als jeder Löwe. Der einzige Weg, vor ihm zu bestehen, ist die Demut. In Sprüche 15,33 heißt es: „Die Furcht des Herrn ist Zucht, die zur Weisheit führt und ehe man zu Ehren kommt, muss man Demut lernen.“ In diesem Vers ist beides drin:Einerseits gehört es zur Furcht des Herrn, dass man Demut lernen muss und dass es die einzige Haltung ist, wie man vor dem großen Gott existieren kann. Dies zu erkennen, hat etwas mit Weisheit zu tun, mit Klugheit.
Wer klug ist, der geht vor Gott in die Knie, weil er erkennt, dass es einen himmelweiten Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf gibt. Doch es gilt auch das andere: Wer vor Gott demütig handelt, wird zu Ehren kommen. Eine demütige Haltung hat positive Folgen für den Menschen – genauso wie der Hochmut negative Konsequenzen bringt.
Sprüche 18,12 spitzt es zu: „Wenn einer zugrunde gehen soll, wird sein Herz zuvor stolz; und ehe man zu Ehren kommt, muss man demütig werden.“
Manchmal kommt die Demütigung auch von außen, von Gott her, wenn z.B. Krankheit oder ein anderes Schicksal hereinbricht. Auch das Babylonische Exil wird als Demütigung angesehen. Der Mensch wird dabei klein und arm, aber – es ist wie bei einem Hund, der sich auf den Rücken legt: Spätestens jetzt ist der Kampf aus. Wer auf dem Rücken liegt, wird nicht auch noch zertreten werden! Auch der Arme, der Kleine, der Geringe hat ein eigenes Recht und eine eigene Würde. „Er soll dem Elenden im Volk Recht schaffen und den Armen helfen und die Bedränger zermalmen“ (Psalm 72,4).
Wer keinen eigenen Stand mehr hat, wird von Gott aufgerichtet und zu Ehren gebracht. In 5.Mose 8,2ff.