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Als Clarissa wegen ihrer kranken Mutter häufig zur Oma muss, wird das Leben der Dreijährigen zur Hölle. Im Schlafzimmer der Großeltern passieren furchtbare Dinge. Vor laufender Kamera und im Beisein weiterer Männer wird Clarissa missbraucht. Weil der Opa behauptet, ihr einen Sender in den Rücken operiert zu haben, vertraut sie sich keinem an. Als sie sich wehrt, schlägt er ihren Kopf auf eine Stuhllehne, bricht ihr die Nase. Zehn Jahre geht das so. Dann hat Clarissa die Chance, sich zu befreien.
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2020
Als Clarissa wegen ihrer kranken Mutter häufig zur Oma muss, wird das Leben der Dreijährigen zur Hölle. Im Schlafzimmer der Großeltern passieren furchtbare Dinge. Vor laufender Kamera und im Beisein weiterer Männer wird Clarissa missbraucht. Weil der Opa behauptet, ihr einen Sender in den Rücken operiert zu haben, vertraut sie sich keinem an. Als sie sich wehrt, schlägt er ihren Kopf auf eine Stuhllehne, bricht ihr die Nase. Zehn Jahre geht das so. Dann hat Clarissa die Chance, sich zu befreien.
Clarissa Vogel, Jahrgang 1985, hat in ihrer Heimatstadt Düsseldorf Sozialpädagogik studiert und einige Jahre in einer kirchlichen Einrichtung gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Lebenspartner in der Nähe von Düsseldorf. Um auf Kindesmissbrauch und dessen Folgen aufmerksam zu machen, betreibt sie den Facebook-Blog Kairies schwarz-weiße Seifenblasen, PTBS, Depression und Borderline.
CLARISSAVOGELmit Andrea Micus
Manchmal konnte ich vor Angst nicht atmen
Zehn Jahre missbraucht und gepeinigt.Mein Weg in ein glückliches Leben
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen
Titelillustration: © NinaMalyna/GettyImages
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8657-8
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Es sind diese Augen. Sie sind wasserblau mit einem eiskalten Glanz, und sie durchdringen jede Faser meines Körpers.
Nur wenige Sekunden lang treffen sich unsere Blicke, aber die Zeit reicht aus, um alle Energie aus mir zu pressen. Mein Herz rast. Mir wird schwindelig, und ich taste nach etwas, das mir Halt gibt.
»Verzeihen Sie, brauchen Sie Hilfe?« Eine junge Frau steht vor mir und sieht mich besorgt an. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Bitte?« Ich sehe sie irritiert an und kann im Moment nicht einordnen, was sie meint. Die Augen? Ich habe sie wiedererkannt und weiß genau, zu wem sie gehören.
Wo ist der Mann jetzt? Er trug einen schwarzen Anzug und eine rote Krawatte. Oder war der Anzug blau? Verdammt, ich kann mich nicht erinnern. Er stand an der Bushaltestelle, an der ich jeden Morgen auf dem Weg zum Bäcker vorbeikomme. Ich habe ihn doch gesehen, oder nicht?
Wie immer bin ich an der Hausseite auf dem Bürgersteig gegangen. Da kommen mir normalerweise nicht so viele Menschen entgegen. Aber an der Haltestelle hatte sich heute eine Menschentraube gebildet, und ich musste mir einen Weg hindurch bahnen. Vorbei an zwei Männern in Anzügen, die offenbar in Gedanken vertieft auf den Bus warteten. Einen von ihnen habe ich aus Versehen ganz leicht berührt. Er hat zu mir aufgeschaut, und da habe ich sie gesehen: Die Augen, die mir in meinem Leben schon so unfassbar viel Angst gemacht haben, dass ich jetzt aufgelöst nach Luft japse …
»Nein, nein, alles gut«, beruhige ich nach einer Pause die junge Frau, die immer noch neben mir steht und mir jetzt sogar fürsorglich den Arm um die Schulter legt.
»Entschuldigen Sie, es ist nur … mir ist schwindelig geworden«, stammle ich ausweichend.
Sie soll sich nicht sorgen. Ich muss nur weg von hier, ganz schnell. Denn vielleicht ist er gar nicht in den Bus gestiegen, sondern noch in der Nähe. Er hat garantiert gemerkt, dass ich ihn erkannt habe. Vielleicht will er mich töten, so, wie er es schon früher oft angedroht hat.
Ich muss hier weg, sofort.
Ich ringe nach Luft und röchle laut.
»Eins, zwei, drei, durchatmen – eins, zwei, drei, durchatmen, eins, zwei drei …«
Zählen beruhigt mich, hoffentlich auch jetzt.
»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen? Wo wollen Sie denn hin?« Die junge Frau ist immer noch bei mir, hält meine Hand.
»Wie heißen Sie? Ich bin Ulrike!«
»Clarissa, Clarissa Vogel!«, antworte ich höflich. »Ulrike, bleiben Sie noch einen Moment bei mir, bitte«, flüstere ich. »Es geht mir gleich besser, ganz bestimmt.«
»Das Wetter ist heute so drückend. Da kann einem schnell mal schwindelig werden.«
Ich nicke und versuche dabei möglichst entspannt zu wirken.
»Eins, zwei, drei, durchatmen – eins, zwei, drei, durchatmen …«
Ob sie merkt, dass ich mich sehr zusammenreiße? Ob sie meine Angst bemerkt?
Ich zähle und atme, zähle und atme. Das habe ich in der Therapie gelernt. Man kann damit die Angst etwas kontrollieren. Normalerweise klappt das ganz gut. Aber heute ist es anders. Denn ich habe diesen Mann gesehen und weiß nicht, wo er jetzt ist.
»Ich möchte doch ein Taxi«, sage ich mit fester Stimme. »Könnten Sie mir bitte eins rufen und solange bei mir bleiben?«
Ulrike nickt und tippt schon die Nummer in ihr Handy. Hier, mit Ulrike an meiner Seite und im quirligen Morgenverkehr kann mir nichts passieren.
Durchatmen, ganz tief durchatmen, sage ich zu mir selbst und spüre, dass ich langsam ruhiger werde.
Es ist ein ganz normaler trüber Oktobertag, und ich wollte in dem kleinen Bistro in der Bäckerei nur einen Kaffee trinken. Denn heute früh habe ich kurz vor dem Spiegel gestanden, mich angesehen und gut gefühlt!
Ich bin 32 Jahre alt, eine erwachsene Frau mit langen dunklen Haaren, schlank, modisch gekleidet. Ich muss es doch endlich schaffen, ein halbwegs normales Leben führen zu können.
»Ich will, und ich werde«, habe ich mich lautstark selbst motiviert, meine Tasche gepackt und bin aus dem Haus gegangen.
Ich wollte stark und mutig sein. Und jetzt bin ich hier, an eine Hauswand gelehnt, und werde gestützt von einer jungen Frau, die sieht, wie schlecht es mir geht.
»Das Taxi!« Ulrike streichelt mir aufmunternd über den Arm. »Sie trauen es sich doch zu, nach Hause zu fahren?«
Ich nicke und lächle sie dankbar an. Es ist schön, dass sie bei mir geblieben ist. Das hat mir Sicherheit gegeben und etwas von meiner Angst genommen.
Als ich im Taxi nach Hause fahre, pocht mein Herz nach wie vor. Diese blauen Augen begleiten mich – und längst auch die dazugehörigen Bilder. Sie drehen sich jetzt immer schneller und schneller in meinem Kopf.
Ich versuche an etwas Schönes zu denken. Ich versuche mir eine Blumenwiese vorzustellen. Ich sehe roten Mohn und weiße Margeriten. Aber ich sehe auch Hände, höre Stimmen, spüre Schmerz.
Mir wird übel, furchtbar übel.
Ich muss mich übergeben.
»Bitte, können Sie anhalten!«
»Moment … sofort!«
Ich stoße hastig die Tür des Taxis auf, beuge mich hinaus, aber zum Glück nimmt mir die frische Luft die Übelkeit. Ich sauge zwei-, dreimal die Luft ein und ziehe die Tür wieder zu.
»Verzeihen Sie, bitte fahren Sie ruhig weiter. Es geht mir gut!«
»Wir sind auch schon gleich da!« Der sympathische Taxifahrer lächelt mich aufmunternd an.
Als ich aus dem Auto steige, beruhige ich mich mit der Vorstellung: »Der Mann im Anzug, er ist weg.« Immer wieder denke ich diesen Satz. Auch das habe ich in der Therapie gelernt. Man kann so viel durch Autosuggestion erreichen: »Der Mann im Anzug, er ist weg!«
Trotzdem sehe ich mich noch einmal um. Ist mir ein Auto gefolgt? Schnappen sie mich jetzt, weil ich einen von ihnen wiedererkannt habe?
Es muss ein ungewöhnlicher Zufall gewesen sein. Ich gehe so oft diesen Weg und habe noch nie jemanden dort gesehen.
Trotzdem werde ich die Gegend künftig meiden. Dieser Mann darf mich nie wieder sehen.
»Los kommt, wir spielen noch eine Runde ›Mensch ärgere Dich nicht‹!«
Meine Mutter steht an der Spüle und wäscht gerade den letzten Teller ab. Sie sortiert noch zwei Löffel in den Besteckkasten ein und streift dann die Plastikhandschuhe ab.
»Fertig!«, ruft sie. »Ich bin so weit. Es kann losgehen.« Und gespielt provozierend meint sie schelmisch: »Ich fühle übrigens, dass ich heute gewinne!«
Mein Vater geht sofort darauf ein. Er sitzt am Küchentisch, hat sich eine Flasche Bier aufgemacht und blättert in seiner Fernsehzeitschrift. »Davon träumst du schon lange«, murmelt er und streicht sich mit einem Kugelschreiber die Sendungen an, die er im Laufe der Woche sehen möchte.
Benjamin, mein zehn Jahre älterer Bruder, liebt »Mensch ärgere Dich nicht« genauso wie ich. Er räumt sofort den Tisch frei und legt Spielzeug und meine Malsachen auf die Anrichte, während ich den Spielekarton aus dem Küchenschrank hole.
»Ich baue heute die Steine auf, bitte«, bettle ich und hoffe, dass mir Benjamin nicht wieder wie die letzten Male in die Quere kommt und es selbst macht.
Wir haben gerade zu Abend gegessen. Es gab leckere Rühreier mit Tomaten. Die mag ich besonders gern. Dazu warmen Tee und getoastetes Schwarzbrot.
Wenn wir essen, brauchen wir immer viel Zeit. Wir haben uns eine Menge zu erzählen, denn jeder hat im Laufe des Tages etwas Aufregendes erlebt. Mein Vater liefert Kühlschränke aus und erlebt dabei die ulkigsten Begegnungen. Einmal traf er eine Frau, die sich als Schneewittchen verkleidet und im Keller einen ganzen Märchengarten aufgebaut hat. Wir haben uns darüber kringelig gelacht. Ein anderes Mal musste er zu einer Familie, die mit einem echten Krokodil zusammenlebte. »Ich hatte wirklich Angst, dass ich gefressen werde«, hat er erzählt und es so glaubhaft beschrieben, dass wir alle Sorge um ihn hatten und froh waren, dass er noch heil mit uns am Tisch sitzen konnte und nicht im Bauch des Krokodils gelandet ist.
Mein Vater ist sehr groß, sehr schlank und hat blonde, stets raspelkurz geschnittene Haare. Ich mag seine runde blassrote Hornbrille, die seine Augen richtig lustig aussehen lässt. Aus Kleidung macht er sich nicht viel. Ich kenne ihn nur in Jeans und Poloshirts. Aber das passt zu ihm, denn er ist ein unkomplizierter Typ, der gern Witze erzählt und auch fremde Leute häufig mit einer spaßigen Bemerkung begrüßt. Gut, er trinkt gern, aber Alkohol macht ihn nicht aggressiv oder unberechenbar. Nein, er redet nach ein »paar Bierchen«, wie er immer sagt, nur noch mehr, lacht noch mehr, ist noch mehr der gute Kumpel als sonst.
Meine Mutter ist das genaue Gegenteil von ihm. Sie arbeitet als Krankenschwester und legt großen Wert auf ihr Äußeres. Ich kenne sie nur sehr schick zurechtgemacht. Sie trägt ausgefallene und manchmal richtig elegante Kleidung, und ihre kurzen hellrot gefärbten Haare sind immer perfekt zurechtgemacht. Ich mag die Art, wie sie sich schminkt, und sehe ihr oft dabei zu. Es ist schön, sie dann zu beobachten, weil sie es so gründlich und gewissenhaft macht. Bei meiner Mutter hat alles seine Ordnung, seine Reihenfolge, seinen Platz. Sie ist sehr sortiert, sehr diszipliniert und überaus pflichtbewusst. Das Leben meiner Mutter verläuft nach einem Plan. Das gibt uns allen, so glaube ich, Sicherheit.
Im Moment arbeitet sie in einem Altenheim und erlebt dort die tollsten Sachen. So hatte sie einmal eine Patientin, die dachte, sie sei ein Hund, und ständig aus dem Bett hüpfte, um auf die Straße zu kommen. Das habe ich mir immer bildlich vorgestellt und sogar im Kindergarten davon erzählt …
Aber sie erlebt auch viele traurige Geschichten, doch die erzählt sie uns nicht. »Es reicht schon, wenn ich traurig bin«, sagt sie häufig und erzählt uns dann lieber einen ihrer Witze. »Treffen zwei Nullen eine Acht. Sagt die eine zur anderen: ›Sieh mal, bei der Hitze noch mit Gürtel!‹«
Ich muss zugeben, dass ich den Witz erst gar nicht verstanden habe. Aber mein Bruder Benjamin hat mir die Zahlen auf die Serviette gemalt, und da ist bei mir der Groschen gefallen.
Benjamin erzählt abends immer von der Schule. Er ist ja schon dreizehn und erlebt viel dort. Er ist supergut in Mathe und superschlecht in Deutsch. Beim Abendessen spricht er über beides.
Obwohl mein Vater nicht sein Vater ist, sieht er ihm sehr ähnlich. Er hat auch kurzes blondes Haar, blaue Augen und kann wunderbare Witze erzählen. Nicht nur den mit den Nullen und der Acht, den er sich gemerkt hat. Sein Lieblingswitz lautet: »Vor einer Schule ist für Autofahrer ein Warnzeichen angebracht: ›Überfahren Sie die Schulkinder nicht!‹ Darunter steht: ›Warten Sie lieber auf die Lehrer!‹«
Seine Witze kommen wie aus der Kanone geschossen, und oft schaffe ich es gar nicht, etwas zu essen, weil ich so lachen muss.
»Hallo, jetzt machen wir mal zwei Minuten lang eine Witzpause«, sagt meine Mutter dann und sieht dabei richtig streng auf die Uhr. »Ich möchte nicht, dass meine beiden Sonnenscheine noch um Mitternacht hier sitzen.«
Ich habe natürlich auch viel zu erzählen. So ist es nicht. Ich gehe in den Kindergarten, genauer in die Marienkäfergruppe, und berichte von meinen beiden Freundinnen Katrin und Lisa, meiner Erzieherin Annika und dem doofen Manuel aus der Bärengruppe, der mich immer ärgert.
Aber ich erzähle auch von den tollen Sachen, die wir zusammen machen, zum Beispiel von unserem Stuhlkreis oder dem Wanderausflug an den See.
Ich liebe unser gemeinsames Abendessen, weil es dabei so lustig zugeht. Und ich liebe die Spiele, die wir anschließend immer spielen, vorausgesetzt, die Zeit reicht. Denn meine Mutter muss abends immer noch los, sie arbeitet im Nachtdienst. »Damit ich tagsüber für meine Kinder da sein kann«, sagt sie. Und deshalb läuft bei uns eben alles anders ab als bei anderen Familien. Wenn wir um 19 Uhr ins Bett gehen, fährt meine Mutter in das nahe gelegene Krankenhaus und betreut die ganze Nacht hindurch ungefähr 80 alte Menschen. »Ein Knochenjob«, klagt sie oft. »So viel Verantwortung kann ein Mensch eigentlich gar nicht tragen.«
Doch meine Mutter kann, denn sie ist eine richtig starke Frau, die alles schafft. Wenn sie morgens zurückkommt, weckt sie uns, und wir können noch alle miteinander frühstücken. Aber da geht es hektischer zu als am Abend, denn mein Vater muss in seine Firma, und Benjamin und ich gehen meistens mit ihm aus dem Haus. Meine Mutter legt sich dann ins Bett und schläft sich aus.
Unsere Familienzeit ist also am Nachmittag, dann, wenn wir alle zu Hause sind.
Im Sommer machen wir Radtouren, gehen ins Schwimmbad oder einfach nur ins Eiscafé um die Ecke. Im Winter bleiben wir meistens zu Hause. Meine Mutter backt gern, und ich helfe ihr dabei. Unser Sandkuchen ist ein Traum. Noch besser sind unsere Waffeln. Allein beim Zubereiten läuft mir schon das Wasser im Mund zusammen: Sie sind so lecker, dass ich gar nichts anderes mehr essen möchte.
Mein Vater repariert in dieser Zeit häufig etwas in der Wohnung. Mal schraubt er an einem alten Radio herum, mal setzt er eine neue Türklinke ein. Er findet immer etwas, um sich zu beschäftigen. Oft sitzt er auch nur auf dem Sofa und liest in seiner Fernsehzeitschrift.
Um 17 Uhr gibt es dann Abendessen, unsere »Schnatterzeit« sagt Mama immer. Danach kommt unsere »Spielezeit« – die jetzt eben losgeht, denn alle Spielsteine sind nun ordentlich an ihrem Platz.
»Können wir?«, fragt Mama und setzt sich auf ihren Stuhl am Kopfende des Tisches. Papa legt sein Heft zur Seite, nimmt noch einen Schluck aus der Bierflasche, und ich gebe jedem einen Würfel.
»Wehe, du mogelst wieder«, foppt mich Benjamin.
»Ich mogle nie«, entgegne ich ganz ruhig. Ich bin in Gedanken und überlege mir gerade, wie ich dieses Mal gewinnen kann. Es ist schon verhext, dass Benjamin immer als Erster fertig ist und alle seine Spielfiguren im Häuschen hat.
»Er hat das Glück gepachtet«, sagt Mama dann, und ich bin jedes Mal ein bisschen sauer. Ich möchte auch mal »Glück pachten«. Gott sei Dank aber habe nicht nur ich eine Pechsträhne. Auch mein Vater verliert immer. Wir beide sind längst als »hoffnungslose Fälle« abgestempelt. Papa kann nicht gut damit umgehen, dass er so oft der Letzte ist, der seine Spielfiguren ins Ziel bringt. Er reagiert dann gereizt, flucht sogar manchmal, was Mama überhaupt nicht mag. Ab und zu wird er auch richtig laut. Mama wird dann sauer und ermahnt ihn.
»Jetzt reiß dich einfach mal zusammen«, sagt sie oft, und ihre Stimme klingt dann richtig scharf. Das wirkt, denn meistens ist mein Vater danach ruhig. Er hört überhaupt sehr auf meine Mutter.
»Mutter bestimmt, wo es langgeht«, hat Benjamin einmal gesagt, und ich glaube, er hat recht.
Benjamin ist aus Mamas erster Ehe. Er hat einen anderen Vater, den ich aber nie gesehen habe. Er ist gestorben, als Benjamin noch ganz klein war. Deshalb ist mein Papa eben auch sein Papa. »Wir sind alle eine Familie, basta«, sagt Mama immer. Das stimmt, und unsere Mutter kümmert sich um alles. In ihren Händen laufen die Fäden zusammen. Sie ist diejenige, die alles organisiert und jedes Problem löst. Denn mein Vater ist kein Mensch, mit dem man etwas Wichtiges besprechen kann. Zu ihm gehören die lustigen Seiten des Lebens. Mit ihm kann man Spaß haben, eigentlich immer, aber wenn es ernst wird, ist unsere Mutter zuständig.
Papa lässt sich auch gern mal »gehen«, wie Mama ihm dann lautstark vorwirft. Ich weiß, was sie damit meint: Mein Vater trinkt abends gern sein Bier, und meine Mutter mag das gar nicht. Manchmal trinkt er es heimlich und zwinkert mir zu, damit ich es Mama nicht erzähle. Dann sitzt er in der Küche, hinter seiner Zeitung verschanzt, das Bierglas versteckt. Aber sie merkt es trotzdem, weil er nach einiger Zeit nicht mehr richtig sprechen kann. Das fällt auch mir auf. Papa spricht undeutlich, und ich verstehe kaum, was er sagen will.
In diesen Situationen gibt es auch Streit. Mama schimpft, Papa lässt sich das nicht gefallen, und wenn ihm das alles zu viel wird, haut er ab, flüchtet sich in die Kneipe zwei Straßen weiter. Mama ist dann richtig sauer, weil sie ja zur Arbeit muss und es überhaupt nicht mag, wenn am Abend kein Erwachsener zu Hause ist. Papa soll ja auf uns aufpassen. Aber Papa mogelt auch sonst gern: Er bleibt so lange zu Hause, bis Mama weg ist und wir schlafen, zumindest glaubt er das, und dann haut er ab. Aber ich höre häufig die Tür und schleiche mich dann zu Benjamin ins Zimmer, denn der ist um diese Zeit garantiert noch wach.
»Los komm, Spatz. Wir machen uns jetzt einen tollen Abend«, flüstert er mir zu, und dann kann ich in seinem Zimmer alles machen, was ich will.
Benjamin hat eine riesengroße Legokiste unter seinem Bett, und er lässt mich fernsehen, die tollsten Kinderserien, Scooby-Doo oder Hallo Spencer.
Letztes Mal haben wir ein Computerspiel gespielt, das erst ab sechs Jahren war. Benjamin hat mir jede Menge Tricks verraten. Ich habe mich gefühlt wie ein Schulkind.
Ich liebe diese Zeit mit meinem Bruder. Wenn ich dann richtig müde bin, gehe ich wieder in mein eigenes Zimmer, damit Papa nichts mitbekommt. Das klappt eigentlich immer. Bis vor zwei Wochen, da ist alles aufgeflogen.
In einer Nacht ist mir blöderweise schlecht geworden. Ich hatte schon geschlafen, als ich von den schlimmen Magenschmerzen aufwachte. Ich bin dann zu Benjamin ins Zimmer gelaufen und habe geweint. Benjamin wollte Papa wecken, doch das Schlafzimmer war leer, das Bett unbenutzt. Papa war gar nicht zu Hause. Also hat er Angst bekommen und Mama im Krankenhaus angerufen, und da ist die Bombe geplatzt: Papa war nicht zu Hause, hat uns Kinder also alleingelassen.
Mama hat sich furchtbar aufgeregt, und Papa musste ihr und uns beim Frühstück hoch und heilig versprechen, abends nun immer zu Hause zu bleiben.
»Es tut mir so leid«, habe ich morgens geweint. »Ich wollte nicht, dass es jetzt Streit gibt!«
»Das ist doch Unsinn. Es ist nicht deine Schuld. Ich hätte nicht gehen dürfen!«, hat Papa mich sofort in Schutz genommen.
Er hat sogar Benjamin gelobt, weil der so gut reagiert und Mama angerufen hat. »Man darf bei der Gesundheit kein Risiko eingehen«, war seine Begründung, und Benjamin war stolz darauf, richtig reagiert zu haben.
Ich habe aber einen ganz anderen Verdacht. Ich glaube, er verträgt sich gut mit dieser Laurenzine, die in der Kneipe in der Querstraße arbeitet, jedenfalls haben die beiden das letzte Mal, als ich dabei war, ständig miteinander gesprochen. So lange, dass sogar der Wirt des Lokals schimpfte, weil sie sich nicht mehr um die anderen Gäste kümmerte. Außerdem habe ich genau gesehen, dass Papa sie gestreichelt hat, ganz liebevoll, ganz innig.
Mama muss irgendetwas davon mitbekommen haben, denn in den Tagen danach haben sie mehrfach laut gestritten, und dabei ist auch der Name Laurenzine gefallen.
Jedenfalls musste Papa uns allen versprechen, auf keinen Fall mehr abends das Haus zu verlassen, Laurenzine hin oder her, er hatte bei uns Kindern zu bleiben.
Mama hat sogar angekündigt, das regelmäßig zu kontrollieren! Deshalb ruft sie jetzt abends auch stichprobenartig an. Ich höre immer, wenn das Telefon klingelt. Papa sagt dann leise, dass alles in Ordnung sei, bevor er sich wieder im Wohnzimmer vor den Fernseher setzt.
In der letzten Zeit hat er sich auch daran gehalten. Ich bin allerdings gar nicht so erfreut darüber, denn die Abende in Benjamins Zimmer fand ich spannender, als einfach nur allein im Bett zu liegen und darauf zu warten, dass mir die Augen zufallen. Auf der anderen Seite ist es aber auch schön, wenn ich einschlafe und von Weitem den Fernseher höre und weiß, dass mein Vater da ist. Das gibt mir ein Gefühl von Liebe und Geborgenheit, ich fühle mich sicher und wohl. Denn auch wenn es manchmal bei uns rumst, sind wir eine richtig tolle Familie, und am besten zeigt sich das, wenn wir zusammen am Tisch sitzen und spielen.
»Heute gewinne ich«, flöte ich fröhlich und glaube selbst, was ich da gerade lautstark herausposaunt habe.
»Na, dann lass uns mal anfangen«, meint Mama und stellt für jeden von uns ein Glas mit einem leckeren Saft hin, bevor wir auswürfeln, wer beginnen darf.
Wir haben eine Familienregel. Derjenige, der die höchste Augenzahl würfelt, fängt an. Ich würfle eine Sechs und lege los. Heute bin ich ein Glückskind!
*
»Komm, Schatz, komm in Papas Arme, mein kleines süßes Mäuschen.«
Mein Vater steht vor mir und streckt mir seine Arme entgegen. Ich reibe mir noch schlaftrunken die Augen, als er mich schon in die Bettdecke wickelt und vorsichtig hochnimmt.
»Ich geh noch mal ein bisschen aus«, flüstert er mir leise ins Ohr. »Im Fernsehen läuft nichts, und ich langweile mich.«
»Aber Mama …«, murmle ich.
»Ich weiß, Süße. Du musst mir auch versprechen, Mama nicht zu sagen, dass du heute noch ein bisschen zu Opa gehst. Okay? Versprochen?«
»Opa!«, sage ich sofort und bin hellwach. »Wie spät ist es denn?«
»Ach, erst halb zehn. Du kannst noch ein bisschen aufbleiben. Opa und Oma verwöhnen dich doch bestimmt noch. Aber es ist unser Geheimnis. Du darfst auch Benjamin nichts sagen, verstanden?«
Ich nicke. Papa ist jetzt schon mit mir auf dem Flur, öffnet mit einer Hand die Wohnungstür und zieht sie leise hinter uns wieder ins Schloss.
»Ich habe nachgesehen. Benjamin schläft wie ein Murmeltier. Wenn du nichts sagst, bekommt Mama auch nichts von unserem kleinen Ausflug mit.«
Ich schmiege mich ganz fest an meinen Vater. Natürlich sage ich nichts. Ich freue mich doch, wenn ich noch aufbleiben kann. Länger aufbleiben, das lockt immer. Und bei Oma und Opa darf ich viel mehr als bei meinen Eltern. Ich bin gern bei ihnen, zumal sie genau unter uns wohnen. Wir leben alle in einem Sechsfamilienhaus, Oma und Opa in der ersten Etage, meine Eltern mit uns Kindern in der zweiten.
Aber meine Mutter ist über die räumliche Nähe nicht glücklich. Sie mag meine Großeltern nicht. Mit Oma Hilde kommt sie noch halbwegs zurecht, aber mit meinem Opa Frank überhaupt nicht. Über den schimpft sie häufig, und meine Eltern haben oft Streit deswegen. Für meine Mutter sind die beiden »asozial«, und sie regt sich darüber auf, dass sie sich nicht gut ausdrücken, schlechte Manieren haben und auch äußerlich nicht auf sich achten.
Bei meiner Großmutter ist das besonders offensichtlich. Ihre kurzen grauen Haare sind häufig fettig und unfrisiert, und auf ihrer Oberlippe wächst ein schwarzer Damenbart. Dazu ist sie schon auffällig dick. »Mir hat es schon immer richtig gut geschmeckt«, sagt sie gern, wenn sie sich beim Mittagessen mal wieder einen Nachschlag gönnt und dann dröhnend lacht und sich angesichts ihres Übergewichts »auf die Schippe« nimmt. Sie hatte früher ein Lokal und dort für die Gäste gekocht. Bis heute kocht sie leidenschaftlich gern, und offenbar isst sie auch genauso leidenschaftlich. Zumindest sieht sie so aus.
Als mein richtiger Opa vor vielen Jahren verstorben ist, hat sie noch einmal geheiratet: Frank, meinen Stiefopa. Er ist genau das Gegenteil von meiner Oma, dünn und drahtig und außerdem zehn Jahre jünger, was man auf den ersten Blick sieht.
Am meisten fallen in seinem hageren Gesicht die stechend blauen Augen auf, die manchmal ein bisschen gefährlich blitzen. Laut meiner Mutter ist er »irre« und »undurchsichtig«, und sie hat noch viel mehr negative Begriffe für ihn. Sie kann ihn einfach nicht ausstehen.
Ich habe das alles nie verstanden. Ich bin immer gern bei meinen Großeltern gewesen, im ersten Kindergarten-Jahr sogar regelmäßig. Damals war ich ein »Mittagskind« und musste deshalb um zwölf Uhr abgeholt werden. Das hat dann Opa gemacht, weil mein Vater um diese Zeit gearbeitet hat und meine Mutter sich nach dem Nachtdienst ausschlafen musste.
Bei meinen Großeltern gab es immer richtig leckeres Essen. Omas Erbsensuppe und ihr Milchreis sind wirklich spitze. Ich konnte mir auch wünschen, was ich gern mag. Wenn ich sagte: »Morgen möchte ich Nudeln essen«, antwortete sie: »Alles klar!«, und dann stand mittags mein Wunschessen auf dem Tisch, frisch gekocht, lecker duftend, einfach nur wunderbar.
Aber die beiden verwöhnten mich noch mehr. Ich bekam als Nachtisch immer meine Lieblingsschokolade und regelmäßig auch ein Eis.
Das leckere Essen bei Oma, es war für mich der Höhepunkt des Tages. Dass es in der winzigen Küche immer unangenehm gerochen hat und auch nie wirklich aufgeräumt war, das hat mich nicht gestört. Ich hätte es nicht einmal gemerkt, wenn meine Mutter nicht so häufig darüber gesprochen hätte. Ich war glücklich dort.
Nach dem Essen haben wir uns alle immer ausgeruht und Mittagsschlaf gemacht. Wobei meine Oma mittags nicht richtig müde war und deshalb auch nicht schlafen mochte. Sie blieb immer in der Küche, machte den Abwasch, blätterte in Zeitschriften oder löste Kreuzworträtsel.
Aber Opa war immer hundemüde.
Kaum hatte er seinen Nachtisch gegessen, streckte er mir die Hand entgegen und meinte: »So, jetzt legen wir beide uns hin. Ein Kindergartenkind braucht seinen Mittagsschlaf, und Opas müssen sich auch ausruhen.«
Dann habe ich seine Hand genommen, und wir sind beide ins Schlafzimmer gegangen. Mein Großvater zog die Rollos herunter, sodass es ganz dunkel war, und damit wir beide richtig gut schlafen konnten, haben wir uns ausgezogen. »Dann können wir gut kuscheln«, sagte Opa immer. Er legte sich dazu auf den Rücken, winkelte seinen rechten Arm ab, und ich machte es mir in seiner Armbeuge bequem. Es dauerte nur wenige Atemzüge, und ich schlief tief und fest.
Opa war warm und vermittelte mir Sicherheit. Ich habe gern zusammen mit ihm den Mittagsschlaf gehalten.
Später, wenn ich wieder aufgewacht bin, ging das Programm weiter. Meine Großeltern haben viel mit mir gespielt, meistens Mau-Mau, und ich war so gut, dass ich meistens gewonnen habe. Klar gab’s danach eine Belohnung, etwas Süßes oder selbst gebackene Kekse.
Bei schönem Wetter haben wir manchmal auch etwas draußen unternommen: Wir waren Enten füttern, einkaufen, haben Verstecken gespielt im Park.
Wenn es draußen zu ungemütlich war, durfte ich fernsehen. Lustige Kinderfilme wie Mickey Mouse oder Fix und Foxi. Es war immer schön bei ihnen.
Aber plötzlich war das vorbei. Meine Mutter wollte partout nicht mehr, dass ich allein bei meinen Großeltern war. Warum? Das habe ich nie richtig verstanden. Doch ich weiß noch genau, dass es vorher einen heftigen Streit zwischen meinen Eltern gegeben hatte. Ich konnte die beiden nämlich belauschen, als sie sich in der Küche angeschrien haben.
»Ich will nicht mehr, dass die Kleine allein dort ist«, hat meine Mutter gesagt, und ihre Stimme klang richtig verärgert.
Ursache für das Verbot war ein Zwischenfall mit Benjamin. Der hatte eine Freundin mitgebracht, und Opa soll das Mädchen angestarrt und anzüglich angesprochen haben. »Ich trau dem alten Kerl alles zu!«, hat meine Mutter gezischt, und mein Vater hat nur bedröppelt »Das war bestimmt nur ein Ausrutscher« gemurmelt.
Aber meine Mutter ließ sich nicht besänftigen. Sie hat meinem Vater klipp und klar gesagt, dass ich nie wieder allein zu meinen Großeltern darf. »Der perverse Kerl ist zu allem fähig«, hat sie geschimpft, und ich stand auf dem Wohnungsflur, war traurig und musste weinen.
Denn wenn meine Mutter etwas nicht wollte, war das Gesetz. Da gab’s keine Widerrede. »Das Mädchen geht da nicht mehr hin, basta!«, beendete sie das Gespräch, und mein Vater saß wie ein begossener Pudel vor ihr und sagte kein Wort.
Für Benjamin musste sie kein Verbot durchsetzen, denn er ist nie zu den beiden gegangen, sondern war regelmäßig bei seinen eigenen Großeltern. Es ging also nur um mich. Oder? Denn dann wurde meine Mutter sogar besonders massiv: »Das Beste ist, wenn die beiden wieder ausziehen, ans andere Ende der Stadt!«
Mein Vater war damals richtig geschockt und meldete sich auch prompt zu Wort. »Meine Mutter ist alt und hilflos, und die beiden haben kaum Geld. Wir können sie doch nicht an die Luft setzen«, warf er ein.
Die Wohnung meiner Großeltern war winzig. Sie hatte nur zwei Zimmerchen und war entsprechend preiswert. »Ideal für die beiden«, sagte mein Vater immer. Einen Auszug wollte er partout nicht, zum einen, weil es nichts vergleichbar Preiswertes gab, und zum anderen, weil er seine Mutter in der Nähe haben wollte. Mein Vater liebte Oma wirklich, sagte das oft, und man konnte es auch sehen. Denn er knuddelte sie immer ganz fest, und Oma lehnte sich selig an ihn. Die beiden mochten sich von ganzem Herzen.
Mein Vater erledigte auch viel für Oma, kaufte regelmäßig ein, schleppte Getränkekisten und holte Medikamente, denn Oma hatte Diabetes und musste sich regelmäßig eine Spritze geben.
Und jetzt stand der Satz meiner Mutter im Raum, dass Oma und Opa ausziehen sollten. Papa war natürlich geschockt und hat richtig darum gebettelt, dass meine Mutter nachgab.
Schließlich tat sie das auch. »Aber nur aus Mitleid«, wie sie sagte, und ihre Bedingung wiederholte sie auch noch einmal. »Das Mädchen darf nicht mehr allein in die Wohnung. Ich traue dem Kerl nicht über den Weg! Er hat etwas von einem Verbrecher an sich«, hat sie zum Abschluss noch gedonnert.
Jedenfalls musste mich nach diesem Streit mein Vater vom Kindergarten abholen und direkt nach Hause bringen. Damit das mit seinen Arbeitszeiten passte, blieb ich länger in der Betreuung. Wir sind dann allerdings zu zweit noch manchmal bei meinen Großeltern gewesen, haben dort gegessen oder auch zu viert Karten oder Mau-Mau gespielt.
Aber heute darf ich zum ersten Mal seit Langem wieder allein zu meinen Großeltern, und ich freue mich riesig darauf.
Als Opa die Tür öffnet, legt mich Papa mitsamt meiner Decke vorsichtig in seine Arme und gibt mir noch einen Kuss auf die Wange.
»So, meine Süße, genieße die Zeit. Ich hole dich bald wieder ab«, flüstert er mir liebevoll ins Ohr.
»Bis gleich, Papa«, antworte ich und schmiege mich dann schon an meinen Opa. Ich bin froh, wieder bei ihm zu sein. Er hat mir gefehlt.
Papa beugt sich schnell noch mal zu mir herüber, streichelt mir über den Kopf.
»Und denk daran: Kein Wort zu Mama. Du weißt ja, sie mag nicht, dass du hier bist.«
Ich nicke.
»Großes Indianer-Ehrenwort?«, fragt Papa und hält mir zum Einschlagen seine Hand hin.
»Großes Indianer-Ehrenwort!«, verspreche ich sofort und schlage ein. Papa und ich, wir sind ein Team. Ich werde nichts verraten.
Vielleicht spielen wir jetzt wieder eine Partie Mau-Mau, oder Oma hat sogar noch Lust, mir etwas Leckeres zu kochen. Ich freue mich so!
*
Als Opa die Tür hinter uns schließt, möchte ich am liebsten aus seinem Arm hüpfen und in die Küche laufen.
»Was spielen wir denn jetzt?«, frage ich ihn und bin völlig übermütig. Ich habe Halli-Galli im Kopf – aber dieses Mal ist alles anders. Mein Opa ist gar nicht so lieb und herzlich wie sonst immer. Sein Blick ist stechend, und seine Mundwinkel zucken fast schon ein bisschen zornig.
»Spielen? Um diese Zeit noch? Nein, nein, du schläfst schön«, meint er, und seine Stimme klingt unerwartet streng. »Der Opa ist übrigens auch müde.«
Ohne ein weiteres Wort trägt er mich durch den schmalen, kleinen Flur Richtung Schlafzimmer. Aus dem Wohnzimmer höre ich, dass Oma einen Film im Fernsehen ansieht. Es ist ein fröhlicher Film. Jemand singt, es wird geklatscht.
»Kann ich nicht noch ein bisschen mitgucken?«, bettle ich. Aber Opa hat’s irgendwie eilig und keine Lust, noch lange mit mir herumzudiskutieren.
»Jetzt wird geschlafen«, sagt er bestimmt, und ich spüre, dass Widerstand zwecklos ist.
Ich bin enttäuscht. Opa scheint das zu sehen. Jedenfalls streichelt er mir versöhnlich über die Wange, als er mich auf das große Ehebett ablegt. Ich will gar nicht schlafen und sage das auch, allerdings leise und vorsichtig. Ich habe ein bisschen Angst. Opa ist heute ganz anders als sonst.
»Nun sei mal nicht traurig. Ich bin auch müde, meine Kleine, und komme zu dir!«, meint er dann, und der so sanft ausgesprochene Satz beruhigt mich. Eigentlich schlafe ich ja gern mit ihm im Bett, und vielleicht hat er auch noch etwas vor mit mir. Bestimmt holt er ein Bilderbuch aus dem Nachtschrank und liest mir vor. Opa wird mich nicht einfach nur ins Bett stecken und schlafen lassen. Er freut sich doch bestimmt auch, dass ich endlich mal wieder allein hier bin und wir zusammen etwas unternehmen können.