Männergeschichten - Torsten Ideus - E-Book

Männergeschichten E-Book

Torsten Ideus

4,3

Beschreibung

Entdecke den Jaguar in dir! Diese Geschichten-Sammlung wird dir einiges abverlangen, vor allem jede Menge Spaß beim Lesen.

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Seitenzahl: 173

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„Der Mann steht im Mittelpunkt

und somit auch im Wege.“

Pablo Neruda

Für meine Freunde im Gleichart-Café.

Schön, dass es Euch gibt.

Auch wenn diese Anthologie größtenteils in einer

realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung

und die Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten

mit lebenden Personen und Organisationen wären

rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Im Bann des Jaguars

Das Gayromeo-Prinzip

Der letzte Fahrgast

Der Ghostwriter

Im kalten Wasser

The meeting of two queens

Zu viele Gedanken

Das Ende einer Nacht

Bewusst bewusstlos

Der Chatlog

Ein verhängnisvoller Abend

Eine einfache Frage

Kein Zurück

Melinda

Sonnenuntergang 2045

Träume verblassen nicht

Im Bann des Jaguars

Ohne Mei Jing wäre ich heute nicht der, der ich bin. Er war mein Lehrer und hat mir beigebracht zu überleben. Als ich auf dieser Insel landete, dachte ich noch an einen Glücksfall. Der Sturm hatte uns auf der Yacht überrascht und nach deren Sinken war ich der einzige, der es geschafft hatte. Mein Freund und mein Vater blieben im Meer zurück.

Doch mir blieb keine Zeit zum Trauern. Kraftlos und hungrig schleppte ich mich über die Felsen, als ich ein Zischen vernahm. Es blieb keine Zeit zum Ausweichen, der Pfeil bohrte sich in meine rechte Schulter und der Schmerz trieb mich zu Boden.

Ich blieb nicht lange dort liegen. Jemand packte meinen linken Fuß und zerrte mich ins Innere des Dschungels. Die aus mir herausblitzende Pfeilspitze rieb stoßweise über den Boden und trieb mir die Tränen in die Augen.

Ich versuchte, mich loszureißen, aber damit wurde der Griff nur fester. Plötzlich stoppten wir. In meinem schmerzlichen Delirium hatte ich nicht gemerkt, wie es über mir dunkler wurde. Erst nach und nach begriff ich, dass es eine Art Höhle war, in der wir uns befanden.

Ein kleines Feuer erhellte den Raum und zum ersten Mal sah ich ihn. Er saß an einem kleinen Tisch und verrührte etwas in einer Kokosnusshälfte. Das lange schwarze Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der muskulöse Oberkörper glänzte im Schein des Feuers. Er trug eine abgeschnittene khakifarbene Hose, die seine sehnigen und mit feinen Narben übersäten Waden freigab. Seine Schuhe waren noch recht neu, was mich wunderte.

Mit einem Mal schaute er zu mir herüber und ich sah sein Gesicht. Von der Sonne gebräunt und vom Wetter gegerbt, war es relativ jung und markant. Große schwarze Augen starrten mich an: „Du bist wach. Das ist gut. Du bist bist stärker als ich dachte. Diese Salbe wird brennen, aber helfen.“ Mit der Tinktur kam er zu mir und kniete sich neben mich. Er nahm das Tuch von meiner Schulter und erst jetzt sah ich, dass der Pfeil fehlte. Wann hatte er ihn herausgezogen? War ich länger ohnmächtig gewesen, als ich dachte?

Mit den Fingern schmierte er die übelriechende Masse auf meine Wunde. Er hatte nicht übertrieben. Es fühlte sich an, als ob sich Insekten durch mein Fleisch fressen würden. „Das besteht zum Großteil aus dem Sekret einer hiesigen Käferart, die ihre Nahrung in etwas ähnliches wie Antibiotika umwandelt“, gab er zur Erklärung an.

Ich versuchte, eine Frage zu formulieren, aber mein trockener Mund gab nur ein Stöhnen von sich. „Warum ich auf dich geschossen habe?“, fragte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Um dich zu beschützen. Wenn die dich in die Finger bekommen hätten, wärst du jetzt tot. Falls sie gnädig mit dir gewesen wären.“ Ich versuchte es erneut, brachte aber nur ein „Wer?“ heraus.

Er lachte mit tiefer kehliger Stimme: „Wer die sind? Das erzähle ich dir lieber erst, wenn es dir besser geht.“ Von einem Regal, dass sich anscheinend über mir befand, nahm er einen Becher und flößte mir damit eine leicht süßliche Flüssigkeit ein. „Jetzt schlafe etwas. Das tut deinem Körper gut.“ Wie auf Kommando überkam mich eine tiefe Müdigkeit.

Als ich wieder aufwachte, war ich allein. Meine Schulter schmerzte kaum noch. Daher versuchte ich mich aufzusetzen, was schon beim zweiten Ansatz gelang. Ich schaute mich um. Die Höhle war viel größer, als ich angenommen hatte. Es gab nicht nur einen Tisch, sondern auch eine improvisierte Küche und eine gemütliche Schlafstelle. Wie lange lebte er schon hier?

Vor der Öffnung befand sich ein viereckiges Holztor, sodass ich nur durch das einfallende Licht erkennen konnte, dass es Tag sein musste. Beim Versuch, aufzustehen merkte ich erst, dass an meinem rechten Fuß eine Fessel angebracht war. Das dicke Seil daran war lang, aber um einen mittelgroßen Felsstein gespannt. Werde ich gefangen gehalten? Ich zerrte und zog an der Schlinge, als mich ein amüsiertes Kichern zusammenfahren ließ. Er stand mit einem Korb voller Früchte im Eingang und musterte mich mit einem schelmischen Grinsen. „Dir geht es wohl besser. Dann können wir darüber verhandeln, ob ich dich von der Leine nehmen kann oder nicht.“ Er stellte den Korb auf den Tisch, nahm sich einen Hocker und ein volles Gefäß und nachdem er sich gesetzt hatte, reichte er mir den Krug. Als ich nicht reagierte, sagte er mit freundlicher Stimme:

„Das ist Wasser. Keine Angst. Wenn ich dich vergiften wollte, hätte ich das längst getan.“ Ich zögerte nur kurz, dann trank ich so viel ich konnte. Er ließ mich dabei nicht aus den Augen. Als ich den Holzkrug absetzte, beugte er sich ein wenig vor:

„Jetzt können wir reden. Ich bin Mei Jing und wer bist du?“ Ich lehnte mich an die Wand. Dabei berührte meine kaputte Schulter den kalten Stein und ich zuckte zusammen. „Ich bin Vadim. Warum hältst du mich gefangen?“

Wieder dieses herzliche Lachen: „Du bist nicht mein Gefangener. Die Fessel habe ich dir zum Schutz angelegt, damit du denen nicht einfach in die Arme rennst. In dieser Wildnis wirst du es nicht ohne mich schaffen.“

Ich dachte an zu Hause und an die Menschen dort, die mich suchen könnten. Bis auf meine Mutter und meine Schwester fiel mir niemand ein. Tatsächlich hatte ich weit über meine Verhältnisse gelebt und dabei die meisten Freunde vergrault. In diesem Moment war ich nicht sehr stolz darauf.

„Diese Insel ist sehr gefährlich und du bist hier nicht zufällig gelandet. Das ist eine Strafe.“ Wie bitte? „Wie kommst du denn darauf? Ich war mit meinem Vater und meinem Lover auf unserer Yacht, als uns ein Sturm überraschte. Nur ich habe es geschafft. Wie kann das kein Zufall sein?“

Mei Jing lächelte mitfühlend: „Ich bin hier damals ganz ähnlich gelandet. Ich war nur mit meinem Freund unterwegs und es war nur ein schickeres Boot, keine Yacht.“ Er hielt inne und ließ den Blick in die Ferne schweifen. „Ich dachte auch erst, dass es das Schicksal so wollte. Bis sie mich aufklärten.“

Ich runzelte die Stirn und wartete ab. „Es gibt eine Firma, die sich darauf spezialisiert hat, Menschen verschwinden zu lassen und bei Bedarf eine angemessene Bestrafung zu finden. Meine Strafe war die Einsamkeit, nachdem ich meine Eltern so bitter enttäuscht hatte.“ Ich war geschockt. Gänsehaut kroch über meinen Rücken.

„Deine Eltern haben dich hierher geschickt?“ Mit einer geschmeidigen Bewegung strich er sich eine Strähne aus dem Gesicht: „Nicht sie selbst. Sie würden sich niemals die Blöße geben. Einen schwulen Sohn konnten sie allerdings nicht tolerieren.“

Ich wollte protestieren; mein Vater kam damit klar, doch nun war er tot. Ich hatte ihn untergehen sehen. Ich überlegte. Meine Mutter war eine reiche Businessfrau und medienpräsent. Tatsächlich war ich ihr ein Dorn im Auge, aber für skrupellos hatte ich sie nicht gehalten. Bis jetzt.

„Hast du mal versucht zu entkommen?“ Eine zerknirschte Miene machte sich in seinem attraktiven Gesicht breit: „Zwei Mal. Beim ersten Mal haben sie mich bloß ausgepeitscht.“ Er zeigte mir mit einer kleiner Drehung die Narben auf seinem Rücken. „Beim zweiten Mal haben sie mich richtig gefoltert. Ich dachte, ich überlebe das nicht. Aber ich bin noch hier.“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht: „Und jetzt bist du da, aber solltest wohl gar nicht hier sein. Deswegen suchen sie dich jetzt.“ So richtig verstand ich das noch nicht: „Aber wenn die wissen, dass du hier bist und ich woanders sein sollte, ist es dann nicht nur eine Frage der Zeit, bis die hier auftauchen?“

Er grinste verschmitzt: Ja, aber ich habe einen Plan. Wir müssen auf die andere Seite der Insel. Dort liegen die Boote.“ Ich entdeckte auf seiner Stirn ein paar Sorgenfalten. Bevor ich fragen konnte, fuhr er fort: „Das Problem ist nur, dass uns dafür nur die kommende Nacht bleibt., wenn weniger Wachen aufgestellt sind. Aber das ist auch die Jagdzeit der Jaguare.“

Mein Magen knurrte. Es war laut genug, dass Mei Jing es auch vernahm. Prompt stand er auf und reichte mir den Früchtekorb. Ich hatte solch exotische Obstsorten noch nie gesehen, aber mein Hunger überlagerte jegliche Skepsis. Es schmeckte vorzüglich, wie ich mit Erleichterung feststellte.

„Und woher weißt du, wie wir dahin kommen? Anscheinend ist es sehr gefährlich dort.“ Der junge Mann, der kaum älter als ich sein konnte, stand auf und holte aus einer selbst gebauten Truhe eine Karte heraus:

„Die hier konnte ich einem Wächter entwenden, der... sagen wir, ich ließ ihm nicht die Möglichkeit, den anderen davon zu erzählen. Ich habe die Wege der Wachposten und die verschiedenen Fallen eingezeichnet.“ Er hielt stolz die Karte hoch. „Zusätzlich sind darin die Reviere der Raubkatzen markiert. Auf dieser Insel leben zur Zeit sechs erwachsene Männchen und neun Weibchen, vier davon mit Jungen. Die sind am Gefährlichsten.“

Während ich mir eine weitere Frucht nahm, lamentierte er weiter: „Laut dieser Karte gehört dieses Eiland zum Galapagos-Archipel und liegt ungefähr 100 Seemeilen westlich der fünf besiedelten Inseln.“ Er faltete die Karte wieder ordentlich zusammen.

„Es gibt dort einen Militärstützpunkt. Wenn wir es bis dahin schaffen, könnten wir die ganze Firma öffentlich machen und dieser Hölle ein Ende bereiten.“ Ich hörte auf zu kauen. Dieser Plan klang für mich so unrealisierbar, dass ich am liebsten dass ich am liebsten gelacht hätte.

„Verstehe ich das richtig: Du willst, dass ich mit dir durch einen Dschungel spaziere, in dem Fallen, bewaffnete Wachen und hungrige Raubkatzen auf uns warten – und das Ganze noch heute Nacht. Um dann ein Boot zu stehlen, dass uns auf eine andere Insel bringt. Bist du noch bei Trost?“

Mein selbsternannter Beschützer setzte sich wieder: „Ich hatte drei Jahre Zeit, diesen Plan zu entwickeln und vorzubereiten. Was ich nicht eingeplant hatte, war noch jemanden mitzunehmen. Aber ich bin bereit, es zu tun – wenn du mir vertraust.“ Ich überflog in Gedanken meine Chancen, hier allein klarzukommen. Sie standen schlecht.

„Vertrauen muss man sich verdienen. Wie wäre es, wenn du meine Fußfessel abnimmst?“ Er zögerte, blickte mir für einen langen Moment in die Augen, aber die Intensität ließ mich wegschauen. Ich seufzte und zog mich ein Stück zurück, als ich plötzlich eine Hand an meinem Knöchel spürte. Das kratzige Seil hatte schon eine satte Rötung hinterlassen, trotzdem fiel das Gefühl der Gefangenschaft endlich von mir ab.

„Danke. Ich habe noch eine Frage.“ Mei Jing hob eine Augenbraue und lächelte ein wenig, sodass weiche Grübchen sichtbar wurden: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass es noch nicht die Letzte ist.“ Mir gefiel sein Humor. Leicht grinsend sprach ich meine Bedenken aus: „Selbst wenn wir es durch den Dschungel schaffen... Wie willst du ein Boot klauen, ohne dass es jemand merkt und uns dann verfolgt?“

Er wandte den Blick ab und drehte sich zum Tor. Das durchscheinende Licht wurde bereits weniger. Seine Muskeln spannten sich an; ich bewunderte seine Proportionen – sehr breites Kreuz und eine schmal definierte Taille. Er musste dafür Monate lang trainiert haben. Seine starke Brust hob und senkte sich, dann sagte er leise: „Wir müssen dafür sorgen, dass uns keiner folgen kann.“

Ein Adrenalinschub ging durch meinen Körper und ließ mich unter Schmerzen aufstehen: „Du willst alle Menschen auf dieser Insel töten?“ Er drehte sich blitzschnell zu mir um. Ich überragte ihn um einen Kopf. Seine Augen blitzten: „Unschädlich machen. Und glaub mir, der Tod ist nicht das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann.“

Meine Beine begannen zu zittern, daher ging ich auf und ab, um meinen Kreislauf zu reaktivieren. „Von wie vielen Menschen reden wir hier?“ Mei Jing ging zurück zur Truhe, kniete davor und öffnete sie erneut. Er holte die Karte hervor und faltete sich auf dem Tisch auseinander. Während ich näher kam, begann er aufzuzählen:

„Auf dem äußeren Ring befinden sich vier Wachen, über Funk verbunden, die von einem Fixpunkt aus jeweils 100 Meter in beide Richtungen gehen. Im Inneren sind nur zwei, aber dort sind ja auch die Jaguare. Diese befinden sich jeweils in einem Hochstand. Bei nördlichen Stützpunkt sind vier Männer und am Hauptstützpunkt auf der Südseite sind es zehn. Dort ist der kleine Hafen mit den Booten.“

Er zeigte auf einen Punkt im Nordosten: „Hier sind wir.“ Allmählich begriff ich das Ausmaß seines Plans. Allein hätte er vielleicht eine Chance, obwohl ich auch das bezweifelte. Aber mit mir zusammen würde das nicht funktionieren.

„Wir können doch unmöglich 20 Menschen verschwinden lassen, ohne dass es irgendwem auffällt. Wenn sie über Funk verbunden sind, werden die sich regelmäßig gegenseitig überprüfen, ob alles okay ist. Außerdem suchen die doch nach mir. Da werden die wohl kaum auf ihren üblichen Posten bleiben.“

Ich entdeckte Zweifel in seinem Gesicht. Er kräuselte seine vollen Lippen und schien auf einmal nervös zu sein. Immer wieder ging sein Blick von der Karte zu mir, als erwartete er von mir eine bessere Idee.

Dann bewegte sich auf einmal das Holztor. Zwei Wächter standen am Eingang, einer von ihnen ergriff sein Funkgerät, doch er kam nicht dazu, etwas hinein zu sprechen. Mei Jing zückte aus seiner rechten Hosentasche ein kleines Messer und warf es mit Präzision in die Stirn des linkes Angreifers. Der andere sah seinen Kollegen tot zu Boden sinken und hielt sein Maschinengewehr in unsere Richtung, doch Mei Jing stand bereits vor ihm, riss ihm das Teil aus der Hand, stieß mit dem rechten Fuß in dessen Kniekehle und schlug mit der linken Faust in dessen Nacken.

Das alles passierte so schnell, dass ich gar nicht begriff, was hier geschah. Ich stand immer noch am Tisch über die Karte gebeugt, während Mei Jing innerhalb von Sekunden zwei Männer kampfunfähig gemacht hatte.

Mit einem Ruck zog er das Messer aus dem Schädel des einen, nur um ihn in das Herz des anderen zu stechen. Jetzt bereute ich, die Früchte gegessen zu haben, denn mir drehte sich der Magen um. Ich wagte aber nicht, hinauszurennen, um mich zu übergeben, weil ich keinesfalls in die Nähe der Leichen kommen wollte.

Mein Verstand versuchte für diese Situation Worte zu finden, aber ich starrte stumm vor mich hin. Hilflos sah ich dabei zu, wie mein Kompagnon zuerst die Funkgeräte an sich nahm und dann deren Taschen leerte. Auch dort fanden sich weitere Messer, jeweils eine Pistole und jede Menge Munition.

„Komm schon her! Du wirst die Klamotten von diesem Typen brauchen. Das müsste von der Größe her passen.“ Langsam fand ich meine Sprache wieder: „Ich... kann nicht. Ich will nicht einmal in die Nähe. Das ist Leichenfledderei, was du da machst. Das ist nicht richtig.“

Mei Jing lachte auf: „Ist es richtig, dass wir zwei auf dieser Insel festgehalten werden? Ist es richtig, dass die beiden uns kaltblütig erschossen hätten, wenn ich ihnen nicht zuvor gekommen wäre? Ist es das?“

Ich fand die Kontrolle über meine Beine wieder und bewegte mich nun doch ein Stück auf ihn zu: „Nein. Das wohl nicht. Aber hast du mal darüber nachgedacht, dass die beiden vielleicht Familie haben!“ Mei Jing hielt inne und sah mich mit großen Augen an: „Ernsthaft? Daran sollte ich denken? Unsere Familien sind überhaupt der Grund, warum wir hier sind. Also erzähle mir nichts von Familie.“

Ich sank vor den leblosen Körpern zu Boden. Er hatte wahrscheinlich Recht. Das war das letzte, an das wir denken sollten. Ich begann, dem Mann die Schuhe auszuziehen. Der Geruch seines eisenhaltigen Blutes ließ mich würgen, aber ich schluckte den Brechreiz tapfer hinunter. Nur widerwillig knöpfte ich sein Hemd auf.

Ich musste an meinen Freund denken; wie er nach unserem dritten Date mein Hemd Knopf für Knopf geöffnet hatte und seine Hand dabei über meine Brust strich. Damals lief ein Schauer durch meinen Körper und ich wusste, dass er der Richtige ist. Nun lief mir ein Schauer des Ekels durch Mark und Bein.

Als ich ihm die Hose auszog, liefen mir Tränen übers Gesicht und tropften auf den Boden. Nicht aus Trauer oder Verzweiflung – aus Wut. Ich war wütend, dass ich hier gelandet war. Ich war wütend, weil mein Liebster auf dem Boden des Meeres zu Fischfutter wurde. Ich war wütend, dass Mei Jing mich dazu brachte, einem Ermordeten die Kleidung zu stehlen und ich war wütend, weil ich keine andere Wahl hatte.

Mir schien, als würde auf dieser Insel alles im Zeitraffer geschehen. Während ich die Wächtersachen anzog, versiegten meine Tränen und an dessen Stelle trat eine wilde Entschlossenheit. Ich wollte hier wieder weg, koste es, was es wolle.

Mei Jing reichte mir eins der Funkgeräte: „Du bist jetzt Wächter 2 und bewachst offiziell den westlichen Teil der Insel. Es ist wichtig, dass du schnell und selbstsicher reagierst. Dein Vorgänger hatte einen barschen Ton an sich, also bitte keine falsche Höflichkeit, sonst fliegen wir sofort auf.“

Mir wurde klar, wie intensiv er das Verhalten auf der Insel studiert haben musste. Meine Aussage von vorhin tat mir jetzt Leid; er kannte die Menschen hier ganz genau.

„Du bist ein drahtiger Typ“, erklärte Mei Jing mit neutralem Tonfall, „du hast nicht zufällig Kampfsporterfahrung, oder?“ Er schien abzuschätzen, ob ich in irgendeiner Form nützlich sein könnte und ich ärgerte mich darüber, dass er mich für schutzlos hielt. „Seit meinem achten Lebensjahr bin ich Judoka. Die drahtige Figur kommt vom Schwimmen.“

Zufrieden nickte er mit dem Kopf: „Das ist gut. Dann kannst du dich wenigstens verteidigen.“ Wieder vor der Karte stehend, hielt er inne. Er prüfte die Entfernungen, schaute regelmäßig auf seine Uhr und entwickelte anscheinen einen neuen Plan. Auch ich sah mir das Prinzip der Landschaft genau an. Die Jaguar-Reviere konnten in drei sich leicht überschneidende Bereiche eingeteilt werden: die Männchen im Südwesten, die Weibchen ohne Junge im Norden und die mit Jungen im Südosten.

Ich hatte mal gelesen, dass diese Tiere Einzelgänger waren, aber dass sie es so genau nahmen, fand ich absurd. Mei Jing zeigte per Hand, dass unsere Leichen die Nord- und Ostwächter gewesen waren. Diese konnten uns nicht mehr gefährlich werden. „Könnten wir nicht per Funk die beiden andren Wächter nach deren Position fragen?“

Ich erntete einen bösen Seitenblick: „Dann müsstest du auch deinen Standort verraten. Und ins Blaue hinein lügen geht nicht, weil du nicht weißt, wo sich der Rest befindet.“ Um nicht weitere Missgunst aufzubauen, fragte ich lieber nach den faktischen Begebenheiten:

„Wenn ich das richtig sehe, befindet sich diese Höhle in einer jaguarfreien Zone, richtig?“ Ich bekam nur ein stirnrunzliges Nicken. Anscheinend wartete er ab, was diese Frage sollte. „Wären alle auf ihrem Posten, gäbe es in diesem Umfeld keine Wächter mehr, richtig?“ Ein weiteres Nicken wirkte schon leicht genervt. Ich musste mich mit meiner Ausführung beeilen, bevor er gänzlich die Geduld verlieren würde.

„Alle auf der Insel meiden das Zentrum aus Prinzip, richtig?“ Mei Jing verschränkte die Arme: „Worauf willst du hinaus?“ Fast hätte ich ihm gesagt, dass ich versuchte, wie Michael Scofield aus Prison Break zu denken, verkniff mir aber diesen Kommentar. Ich hatte schon gemerkt, dass er Humor nur sehr gezielt einsetzte. „Meine Idee wäre nun, den nördlichen Stützpunkt auszuschalten, die anderen zu alarmieren, dorthin zu kommen und dann durch das Revier der Jaguare auf dem schnellstmöglichen Weg zum Hafen zu gelangen. Bis die wieder zurück sind, können wir schon viele Seemeilen weit weg sein.“

Mei Jing sah mich ungläubig an, dann fing er plötzlich an zu lachen. Es schien gar nicht mehr aufzuhören, klang schon fast hysterisch und die herunterlaufenden Tränen zeigten ganz deutlich, dass ich eine Schnapsidee produziert hatte. Müde lehnte ich mich an die Felswand und wieder kam der kalte Stein an meine Wunde. Überrascht stellte ich fest, dass ich diese Tatsache völlig vergessen hatte. Vorsichtig ließ ich meine Finger darüber gleiten. Der dabei entstehende Schmerz war weitaus erträglicher als die Peinlichkeit meines verursachten Lachanfalls.

Als sich Mei Jing wieder im Griff hatte, kam er zu mir herüber und tat etwas Außergewöhnliches: Er umarmte mich und flüsterte: „Danke. Das habe ich dringend gebraucht.“ Ich schmunzelte über den spontanen Sympathieausbruch. Auch wenn dieser Moment nur kurz währte, nahm ich dabei seinen Geruch wahr, der durchaus nicht unangenehm war. Das irritierte mich ein wenig, aber wieder blieb mir keine Zeit für Grübeleien: „Dein Plan ist in der Theorie gar nicht mal schlecht. Klingt ein wenig nach Scofield, wenn du mich fragst.“ Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Er kannte Prison Break. „Die Sache hat nur einen großen Haken, noch ein paar Kleinere, aber einen ganz Großen.“ Ich verschränkte die Arme: