Fünf Stunden Vegas - Torsten Ideus - E-Book

Fünf Stunden Vegas E-Book

Torsten Ideus

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Beschreibung

Jenoah Dawson ist Detective des 'Gangs Crime Bureau' in Las Vegas. Ein anonymer Anrufer stellt ihm in seiner beginnenden Spätschicht eine lebensverändernde Aufgabe: "Beichte Lisa Dein Geheimnis oder im größten Casino der Stadt wird ein Giftgas freigesetzt und tötet 4000 Menschen. Versuchst Du, die Leute vor Ort zu retten, zünde ich die Bombe in Deinem Haus und Deine Frau stirbt." Ihm bleiben 60 Minuten, um eine Wahrheit auszusprechen, die er selbst noch nicht bereit ist, zuzugeben. Ein nächtlicher Roadtrip beginnt, der nicht nur Jenoah einiges abverlangt. Fünf Stunden, fünf Sichtweisen und eine Verkettung, deren Kontrollverlust auch Dein Leben für immer verändern könnte. Bist Du bereit?

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Für Birgit.Eine KI-Skeptikerin, die es zu überzeugen galt.

Auch wenn dieser Roman größtenteils in einer realen Kulisse angesiedelt ist, sind die Handlung und die Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Organisationen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Epilog – 153 Stunden später

Glossar

Teil 1

19:55 Uhr – Jenoah hatte gerade seine Füße auf die Schreibtischkante gelegt, als das Telefon klingelte. Hektisch brachte er sich wieder in eine aufrechte Position. Es war das erste Mal in dieser Spätschicht, dass einer der roten LEDs an der Station blinkte.

„Detective Dawson, Las Vegas Police Department, wie kann ich Ihnen helfen?“ Auch wenn er einerseits Lust hatte, einen aktiven Einsatz zu erleben, bedeuteten Anrufe im ‚Gang Crimes Bureau‘ automatisch jede Menge Ärger.

„Tatsächlich rufe ich an, um Ihnen zu helfen.“ Jenoah starrte den Hörer an und notierte sich vorsorglich die Nummer auf seinem Notizblock. Wieso glaubte die Person am anderen Ende der Leitung, dass er Hilfe benötigte?

„Mit wem spreche ich denn?“, fragte er vorsichtig und rechnete damit, dass es sich mal wieder um einen Scherz der ‚Sexual Assault Unit‘ handelte. Deren abgestumpfter Humor ging nur zu gerne über gewisse Grenzen hinaus.

„Mein Name tut nichts zur Sache. Hier geht es um Sie …“, stockte der Anrufer, sodass nur noch sein tief entspanntes Atmen zu hören war, „…aber nicht nur. Es betrifft auch Lisa und Connor.“

Der Detective umgriff den Hörer so stark, dass das Kunststoff knackte. Dies konnte kein normaler Prank sein. Worum ging es hier wirklich? Woher kannte der Typ den Namen seiner Ehefrau? Und wie konnte er von Connor wissen?

Jenoahs linke Hand verfranzte sich in seinen kurzen schwarzen Locken und ein leichter Schweißfilm bildete sich auf seiner cappuccinofarbenen Stirn.

„Was wollen Sie von mir? Wollen Sie mich erpressen? Dann haben Sie wohl vergessen, bei welchem Department sie angerufen haben.“ Er hatte seine Stimme senken wollen, doch das fiel ihm in Anbetracht dieser Dreistigkeit mehr als schwer.

„Erpressung würde ich es nicht nennen“, antwortete der anonyme Anrufer. „Ich stelle Sie vor eine Wahl, die nicht nur Ihr Leben verändern wird, sondern auch das einiger anderer.“ Wieso hatten manche Menschen das Bedürfnis, um den heißen Brei herumzureden? Auch wenn es ein ruhiger Abend zu werden schien, hieß das nicht, dass er für diesen Blödsinn Zeit hatte.

„Was soll das für eine Wahl sein? Kommen Sie endlich zur Sache!“ Nun war er doch lauter geworden; ein vorbeigehender Kollege drehte sich zu ihm um, doch Jenoah winkte freundlich lächelnd ab.

„Es ist gleich zwanzig Uhr. Sie haben ab dann sechzig Minuten Zeit, Ihrer Frau zu erzählen, welche Rolle Connor in ihrem Leben spielt.“ Der Detective schaute zum Bilderrahmen neben seinem Monitor. Er hatte den Schnappschuss bei einem Ausflug in die Wüste gemacht. Lisas Blick über die Schulter war unglaublich intensiv. Ihre hellbraune Afromähne wehte im Wind. Er liebte nicht nur das Foto, er liebte auch seine Frau. Und dieser Spinner verlangte jetzt, das einzige Geheimnis, das er vor ihr hatte, preiszugeben?

„Und wenn ich mich weigere? Was passiert dann?“ Jenoah hatte ein höhnisches Lachen erwartet, aber es war nur ein tiefer Seufzer zu vernehmen.

„Sollten Sie wirklich so dumm sein und ihrer Frau in der nächsten Stunde nichts erzählen, wird im Mandalay Bay Casino ein Gas freigesetzt, dass nicht nur den darin befindlichen Connor tötet, sondern auch die anderen 4000 Menschen, die sich in dem großen Gebäudekomplex aufhalten.“

Nun stellten sich bei dem 34-Jährigen die Nackenhaare auf. Konnte dieser Irre das ernst meinen? Und wenn nicht, wie konnte er das herausfinden? Nur noch eine halbe Minute bis zur vollen Stunde. Eine wirkliche Wahl gab es nicht. Es kam nicht in Frage, das Leben so vieler Leute zu riskieren, nur um nicht aufzufliegen. Und wenn das mit Lisa nur ein Ablenkungsmanöver sein sollte und das Gas trotzdem frei gelassen werden würde? Das Luxushotel lag etwas außerhalb der Stadt und befand sich zwanzig Autominuten von Henderson entfernt, in der seine Frau mit ihm lebte. Zumindest, wenn kein Fahrzeug den Weg blockierte.

„Darf ich fragen, was Sie davon haben? Das mögliche Ende meiner Ehe ist wohl nicht mit einem Massenmord vergleichbar. Ist das ein sadistischer Schachzug und wenn ja, wie viele folgen dann noch?“ Der Stundenzeiger seiner Armbanduhr schob sich vor die nächste Zahl.

„Ich kann die Frage gerne ausführlich beantworten, aber jedes weitere Wort verkürzt die Zeit. Aber das ist natürlich ganz Ihre Entscheidung.“ Jenoah fühlte, wie kalter Schweiß sein Hemd zum Kleben brachte. Er könnte auflegen und Lisa sofort anrufen. Wäre der Spaß dann direkt vorbei? Aber konnte er sein Geständnis per Telefon erledigen? Sie hatte es nicht verdient, es auf diese Weise zu erfahren. Er konnte nicht einfach ihre heile Welt zerstören und ihr gleichzeitig auch noch die Chance nehmen, ihn anzuschreien und nach ihm zu treten.

„Und wenn ich jetzt direkt zum Casino fahre und dafür sorge, dass das Gas nicht austritt?“ Nun erklang das Lachen, dass er vorhin erwartet hatte. „Ich habe Zugriff auf jegliche Kameras dort. In dem Fall zünde ich die Bombe in ihrem Haus, in dem Lisa gerade auf dem Sofa liegt und einen Film schaut. Wie ich schon sagte: Sie haben die Wahl.“ Dann hörte der Detective nur noch ein Klacken und damit war die Leitung unterbrochen.“

20:05 Uhr – Mit Schwung warf er den Hörer in Richtung der Station, aber der prallte nur daran ab und segelte zu Boden. Das Leerzeichen erklang im Sekundentakt und erinnerte daran, dass die Zeit lief. Jenoah sprang auf, lief zur Tür und blieb wieder stehen. Er konnte nicht einfach gehen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Die Wahrheit konnte er seinem Vorgesetzten aber unmöglich sagen, weil der sofort ein Team zum Casino schicken würde. Er brauchte also zuerst eine glaubwürdige Ausrede. Familiärer Notfall? Nein, der Lieutenant wusste, dass seine Eltern in Boca, Florida, lebten und er ein Einzelkind war. Und weil er Lisas Babywunsch immer wieder nach hinten geschoben hatte, lag auch hier keine passende Option parat.

Er lief ans Fenster und sog die schwül-warme Sommerluft ein. Der laute Verkehrslärm und die vielen grellen Reklamelichter halfen nicht dabei, seine Gedanken zu ordnen. Mit einem Grummeln wandte er sich wieder in die Mitte des Raumes. Der Detective zog sein Smartphone aus der Tasche. Konnte er überhaupt jemanden anrufen? Wenn der Typ in der Lage war, das Lüftungssystem eines der bestbewachten Hotels der Stadt zu manipulieren, auf jegliche Kameras Zugriff hatte, was hielt den davon ab, sein Handy abzuhören?

Jenoah scrollte durch die Kontaktliste. Sein Daumen stoppte bei „Playboy17“ und ein tiefes Knurren kam tief aus seiner Kehle. Nein, er konnte Connor nicht anrufen, ganz egal, wie stark der Drang danach war. Vielleicht war aber Playboy trotzdem der richtige Gedanke. Er könnte seinem Vorgesetzten erklären, dass er bei dem Anruf einen Insidertipp bekommen hätte, dem er nachgehen wolle. Aber würde er ihn allein gehen lassen? Mit seinem Partner an der Seite würde er nicht weit kommen. Baptiste konnte er nichts vormachen. Der wüsste sofort, dass etwas nicht stimmt und dann so lange nachbohren, bis Jenoah nicht anders konnte, als mit der Wahrheit herauszurücken. Es nützte nichts. Hier kam er nicht weiter. Er musste einfach improvisieren und darauf vertrauen, dass der Lieutenant ihn machen ließ.

20:10 Uhr – Seine rechte Hand griff die Autoschlüssel aus der Ablage, er atmete noch einmal tief durch und verließ sein Büro. Rodriguez stand vor der Displaywand, bestehend aus einem Dutzend großer Monitore, auf denen nicht nur die neuesten Nachrichten verfügbar waren, sondern auch die aktuellen Informationen, wo welche Gang gerade ihr Unwesen trieb. Jenoah lief mit schnellen Schritten auf ihn zu:

„Fernando, ich hab’ gerade einen Tipp bezüglich der ‚Rolling 60s‘ bekommen. Ich würde gerne kurz meinen Informanten treffen wollen, um sicherzustellen, ob da wirklich was dran ist.“ Der glasklare Blick des Ranghöheren traf ihn wie eine scharfe Klinge, doch er durfte sich jetzt keine Fehler erlauben. Obwohl sein Puls raste, hielt er den Augenkontakt stand und atmete erst wieder, als sich dessen Miene veränderte:

„In dem Fall ist jede Neuigkeit wichtig. Irgendwann kriegen wir die Schweine dran. Soll Boyle mitkommen? Nur zur Schutz?“

Nun galt es, ihn in Sicherheit zu wiegen. Jenoah rang sich ein zwangloses Lächeln ab und klopfte wohlwollend auf Fernandos Schulter:

„Ist schon okay. Wir bleiben außerhalb der Bandenzone. Außerdem steht mein Informant nicht auf viele Mitwisser. Du verstehst.“ Ein wissendes Nicken und der Wink zur Tür gaben den Weg frei:

„Aber mach’ nicht zu lange! Irgendwie habe ich im Gefühl, dass heute Nacht noch irgendwas Größeres passiert.“

Der Detective fragte sich, ob es möglich war, diese Art von Intuition zu erlernen. Vielleicht lag es in den Genen, denn Fernandos Vater und Großvater gehörten auch zu diesem Police Department. Noch an der Tür blieb Jenoah kurz stehen und blickte noch einmal zurück. Es war nicht das erste Mal, dass er den Lieutenant angelogen hatte, aber diesmal gab es weit mehr zu verlieren als nur seinen Job.

Nun lag es am Verkehr, wie schnell er durchkommen konnte. Zwar waren um diese Zeit die Straßen nicht mehr allzu verstopft, aber in einer Stadt, in der die Lichter niemals ausgingen, schliefen die Menschen kaum noch. Alles blieb in Bewegung, mal mehr und mal weniger fließend.

Jenoah stand draußen vor dem Gebäude, das ihm bisher viel Sicherheit gegeben hatte. Er fühlte sich ohnmächtig und hilflos und konnte noch nicht einmal irgendjemanden einweihen. Es blieb aber keine Zeit, jetzt einzuknicken und emotional zu werden. Seine Armbanduhr, die er von Lisa zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, behauptete, es wäre 20:15 Uhr. Er rannte zum Auto. Seine Hände zitterten so sehr, dass er die Schlüssel fallen ließ. Noch eine Verzögerung. Fluchend bückte er sich hinab, griff sie erneut und öffnete mit einem Klick die Zentralverriegelung. Er ließ sich aufs vertraute Leder sinken und startete den Motor. Ein geübter Schulterblick und schon rollte der Wagen vom Parkplatz, hinein ins Ungewisse.

Auf die Harmon Avenue konnte er problemlos fahren. Die meisten Anwohner dieser Siedlung saßen bereits auf den Sofas ihrer Häuser und verbrachten den Abend im Kreis ihrer Liebsten. Lisa und er gaben ihr Bestes, um die jeweiligen Dienstpläne aufeinander abzustimmen, aber das war nur begrenzt umsetzbar. Jenoah stellte sich vor, wie er ihren gemütlichen Fernsehabend gleich sprengen musste. Im ersten Moment würde sie sich freuen, dass er früher frei gekriegt hatte. Dann würde sie bemerken, dass er noch immer seine Uniform trug und so käme automatisch die Frage: „Was ist denn los?“ Und so konnte das Übel beginnen.

Auf der Höhe des Harmon Business Centers bog er rechts auf die Soundhill Road. Weil hier auch die C W Woodbury Middle School stand, durfte er laut Schild nur 35 Meilen pro Stunde fahren.

Die hiesigen Schüler saßen aber entweder vor ihrer Playstation5, machten noch die letzten Hausaufgaben oder hingen mit den falschen Leuten in zwielichtigen Ecken ab. Jenoah drückte aufs Pedal, brauchte aber zum Glück niemanden überholen. Die Straßenlaternen auf der rechten Seite hüllten die Palmen in ein mystisches Licht.

20:20 Uhr – Wie immer dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis er links auf die Tropicana Avenue abbiegen konnte. Die dreispurige Straße schloss sich an viele Geschäfte an und führte zum Highway, weshalb sie immer stark befahren war. Bis zur Abfahrt ging es nur gerade aus, an den Seiten trennten hässlich graue Lärmschutzmauern die Autofahrer vom Rest der Gesellschaft ab. Immerhin durfte er jetzt 45 Meilen fahren, was Jenoah mehr als ausreizte. Mehrfach ging seine Hand zum Radio, zwei Mal hatte er es bereits angestellt und direkt wieder ausgemacht. Wenn er privat unterwegs war, konnte er die Musik gar nicht laut genug aufdrehen. Lag es an der Uniform, dass er sich dieses Vergnügen vorenthielt? Oder versuchte er, jegliche Ablenkung zu vermeiden, um einen klaren Verstand zu behalten?

Er fuhr diese Strecke mehrmals die Woche mindestens zwei Mal. Sein innerer Autopilot kannte jeden Meter auswendig, dafür brauchte er sein Gehirn jedenfalls nicht. Aber es fiel ihm trotzdem schwer, sich die Worte zurechtzulegen, die er schon in viel zu naher Zukunft laut aussprechen sollte.

Hatte Baptiste nicht in seinem Handschuhfach eine Notfall-Ration Zigaretten hinterlegt? Jenoah nutzte Daumen und Zeigefinger und mit einem Klick sprang das Fach auf. Da lagen sie. Eine blaue Hülle mit einem warnenden Schriftzug. Schwungvoll warf er die Klappe wieder zu. Er hatte auch gar kein Feuerzeug dabei. Aber gab es dafür nicht ein Tool am Armaturenbrett? Nein, so durfte er gar nicht erst denken! Seine Jugend über war er stark geblieben, da würde er jetzt nicht mit diesem ekligen Glimmstängeln anfangen, nur, weil ihm eine Situation über den Kopf zu wachsen drohte. Das Abfahren zum Highway lenkte ihn ab.

20:22 Uhr – Nun kam der längste Teil der Tour. Anfangs wirkte der Blick nach draußen trostlos. Geröll, Sand und vereinzelte Büsche und eine Weite, die im Zentrum von Las Vegas kaum vorstellbar war. Bis auf den Motorenlärm herrschte hier Stille. Ganz anders als in Jenoahs Gedanken. Immer wieder flackerten Szenen mit Connor auf. Sein Misstrauen am Anfang, die bösen Blicke, die voller Ablehnung im Schein der Kronleuchter glänzten. Die krasse Überzeugungsarbeit, ihn auf seine Seite zu ziehen. Die Scheiße, die sie miteinander durchgemacht hatten. Von all dem hatte Lisa nicht die geringste Ahnung. Und das geschah nicht ohne Grund.

Trotzdem fuhr er immer schneller. Auf dem Highway mit Tempolimit 65 auch kein Problem, und die vier Spuren gaben jede Menge Möglichkeiten zum Überholen. Jenoah dachte kurzweilig sogar daran, dass Blaulicht anzumachen, aber ein solcher Missbrauch konnte auf den Verkehrs-Kameras nachgewiesen werden. Ein Delikt dieser Art konnte durchaus dafür sorgen, dass jegliche Außeneinsätze vorerst gestrichen waren und dann könnte er auch nicht mehr zu Connor, ohne dass es auffiel.

20:23 Uhr – Die Verkehrslärmmauern kehrten zurück und es fühlte sich für Jenoah so an, als ob ihm jemand Scheuklappen angelegt hätte. Das sture Nachvorneschauen gab ihm das Gefühl, in einen Tunnel zu fahren, ohne Ausweg, ohne zu wissen, ob am Ende wirklich Licht zu erwarten war. Wenn ihm jemand vor einer Stunde noch gefragt hätte, wie gut er seine Frau kenne – er hätte „Sehr gut“ geantwortet. Aber stimmte das wirklich? Wenn das der Fall wäre, warum konnte er dann so gar nicht abschätzen, wie sie reagieren würde? Sie hatte bisher nie hinterfragt, warum er ihr nicht alle beruflichen Einzelheiten erzählen konnte. Darauf legte sie auch gar keinen Wert. Jede Information, die er mit ihr teilte, war okay. Das sagte sie jedenfalls.

Würde sie wirklich mit seinem Risiko klar kommen? Konnte sie ihm verzeihen, dass er auch ihr Leben indirekt aufs Spiel gesetzt hatte? Akzeptieren, mit welchen Leuten er es zu tun hatte? Jenoah drehte die Klima-Anlage auf volle Pulle. Mit der Hitze Nevadas war er aufgewachsen, doch in dieser Situation brauchte er jede Abkühlung, die er kriegen konnte. Und der ‚Great Basin Highway‘ schien wieder kein Ende zu nehmen. Unbewusst zählte er die Brücken, die er unterfahren musste. Acht waren es insgesamt und vier davon hatte er schon hinter sich gelassen.

20:25 Uhr – Der ‚Schwarze Berg‘ schien nicht näher zu kommen, obwohl Jenoah direkt auf ihn zu fuhr. Aufgrund seiner schieren Größe bleib er eine Beständigkeit dieser Strecke. Diese Gesteinsformation scherte sich nicht um die kleinen Belange der Bewohner. So viele Menschen hatte sie kommen und gehen sehen, für sie waren Probleme wie seines mit einem Wimpernschlag erledigt und schnell wieder vergessen.

Der Detective wünschte sich, ihm würde es auch so ergehen. Am liebsten hätte er die Uhr seiner Armatur mit irgendetwas zugeklebt. Mit jeder vergehenden Minute verringerte sich die Chance, beide retten zu können. Er konnte diesem Anrufer nicht trauen. Und beide verlieren? Wie sollte er das verkraften? Von den anderen 3999 Menschen ganz abgesehen. Wahrscheinlich wäre er auch noch seinen Job los, weil er der Polizei diese Information vorenthalten hatte. Mit diesem einen Anruf hätte der Typ ihm dann alles genommen, was ihm wichtig war. Sollte er zumindest die Zeit nutzen, um die Telefonnummer zurückverfolgen zu lassen? Gleich käme eine Tankstelle – aber dann fielen ihm die Kameras wieder ein. Der Typ würde sofort durchschauen, was er vorhatte und damit die Bombe zünden. Er schlug wütend auf das Lenkrad und traf dabei die Hupe. Sofort fuhr das Auto vor ihm schneller.

20:28 Uhr – Kurz vor der Ausfahrt zum Bruce Woodbury Beltway kam er an der Touro University Nevada vorbei. Hier hatte Lisa ihre Ausbildung zur Osteopathin absolviert und schwärmte noch heute von ihren guten Erfahrungen dort. Sie ließ keinen Moment unversucht, ihm die Philosophie von der Person als Einheit des Verstandes, des Körpers und des Geistes unterzujubeln, aber es fiel ihm schwer, das Prinzip der Selbstheilung für sich anzunehmen.

Vielleicht lag das an seiner Erziehung. Mit einer OP-Schwester als Mutter und einem Architekten als Vater standen Bodenständigkeit und eine rationale Sicht der Welt im Vordergrund. Daher waren sie auch nicht sonderlich begeistert, als Jenoah verkündete, er würde eine „Quacksalberin“ ehelichen wollen. Die Mama hielt nichts von dieser Pseudowissenschaft und versäumte auch keine Gelegenheit, ihrer Schwiegertochter diese Meinung unter die Nase zu reiben. Womöglich würde sie sich sogar darüber freuen, wenn diese Beziehung in die Brüche ging. Gleichzeitig malte sich der Detective die Miene auf ihrem Gesicht aus, wenn sie den Grund dafür erfahren würde.

Die letzten Brücken kamen in Sichtweite. Diese mochte Jenoah am Liebsten. Die Säulen waren rund und komplett bemalt. Eine Mischung aus gewollter Farbe und jugendlicher Graffiti gab ihnen ein urbanes Flair inmitten der Kleinstadt. In der Dunkelheit konnte er das Grasgrün, Mauve und Taubenblau nur erahnen. An diesem Verkehrsknotenpunkt hätte er noch ohne Probleme wieder umkehren können in Richtung Mandalay Bay.

Der Detective lachte laut auf – ohne Probleme? Wenn der Typ ernst machte, würde sein Haus samt Ehefrau in die Luft fliegen. Das Eigenheim war noch nicht einmal abbezahlt, seit sie es vor drei Jahren zusammen gekauft hatten. Wo sollte er dann schlafen? Ja, Baptiste würde ihm mit Sicherheit sein Sofa überlassen, aber nur solange er ihm vorenthalten konnte, dass dies alles vermeidbar gewesen wäre.

Vielleicht hätte er seinen Partner trotz der Drohungen einweihen sollen? Schließlich war dieser der Einzige, der von Connor wusste. Und selbst wenn er sein Versprechen gebrochen und es doch jemandem erzählt hatte, wäre er dann nicht von sich aus auf ihn zugekommen? Schließlich hing er genauso wie Jenoah in dieser Sache mit drin.

20:30 Uhr – Ein paar schnelle Straßenwechsel später bog er in die Rangely Avenue. Die ganze Strecke über war er weit über das Tempolimit gegangen. Jetzt, fast am Ziel, ließ er den Wagen nur noch ausrollen. Er dachte daran zurück, wann sein Herz zuletzt so schnell das Blut durch die Adern gepumpt hatte. War es sein Antrag gewesen?

Im Tropical Smoothie Café, in dem sie sich kennengelernt hatten, war er auf die Knie gegangen. Alle Anwesenden gehörten zur Familie oder zum Freundeskreis, maskiert, sodass Lisa ja keinen Verdacht schöpfen konnte. Völlig entspannt und ins Gespräch vertieft genoss sie ihre Grünkohl-Gurke-Kiwi-Mischung, als plötzlich nach und nach alle aufstanden und sich zu erkennen gaben. Sofort flossen Tränen und obwohl er einen tollen Ring gefunden hatte und darauf hoffte, dass sie Ja sagen würde, blieb eine Restfunke Angst. In diesem Moment fühlte es sich so an, als würde Hemd, Haut, und Rippen nicht ausreichen, um seinen Lebensmuskel im Zaum zu halten.

Nur jetzt konnte Jenoah weit mehr verlieren. Obwohl sich der Herbst erst allmählich ankündigte, zeigte der Katsurabaum schon seine rote Färbung im Blätterwerk. Unter dem Erdkreis hatte er Solar-LEDs verwendet, um seinen Liebling auch in der Nacht als Highlight des Vorgartens hervorzuheben. Der Wagen hielt an der Straße, obwohl auf der Einfahrt zur Garage Platz genug gewesen wäre. Auf diese Weise konnte er schnell wieder losfahren, um vielleicht doch noch das Casino rechtzeitig erreichen zu können. Von hier aus konnte er das Licht im Inneren sehen und auch die wechselnden Bilder des Smart-TVs zeugten davon, dass der anonyme Anrufer Recht gehabt hatte.

20:31 Uhr – Er umklammerte den Griff zum Öffnen der Fahrertür. Die Finger nach oben ziehen und schon könnte er aussteigen. Wieso war das nur so schwer? Eine kleine Bewegung und dann musste er nur noch die Füße herausheben, die wenigen Stufen zum Tor gehen und auf der Veranda waren es nur drei Schritte bis zum Eingang. Je länger er zögerte, umso weniger Zeit blieb ihm für Connor. War es das wirklich wert? Hier zu erstarren und beide Menschen zu zerstören, die ihm das Meiste bedeuteten? Im Hintergrund hörte er ein Geräusch, wie eine Melodie. Er ließ den Blick von seiner Hausfassade auf den Beifahrersitz gleiten und realisierte, dass sein Handy klingelte. Sofort erkannte er die Nummer wieder. Mit zitternden Händen griff er nach dem Smartphone und hielt es sich nach dem Nach-rechts-wischen ans Ohr: „Sie sind schon so weit gekommen. Worauf warten Sie noch?“

„Warum tun Sie uns das an?“, fragte Jenoah mit gepresster Stimme. Zwar glaubte er nicht daran, eine ehrliche Antwort zu bekommen, aber genau das interessierte ihn – das Warum.

„Ich baue auf die Vernunft Ihrer Frau. Erzählen Sie ihr von Connor und Sie werden sehen, dass sich alles zum Guten wendet.“ Irgendwie konnte sich der Detective genau das nicht vorstellen, aber anscheinend hatte er diesen Anstupser gebraucht, denn fast wie von allein öffnete sich das Auto und schon sprang er auf die geteerte Straße.

„Wenn heute Abend einem von beiden auch nur ein Haar gekrümmt wird, werde ich sie finden – und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“ Wieder war Jenoahs Stimme unnötig laut geworden. Von sich selbst erschrocken schaute er sich um, doch es war kein Nachbar zu sehen.

„Schwingen Sie lieber im Haus große Reden und ersparen mir die leeren Floskeln. Wie war das noch? In guten wie in schlechten Zeiten. Hoffentlich muss nicht der Tod sie scheiden, aber bis dahin haben Sie ja noch 28 Minuten. Tick tack.“ Ein dumpfes Klacken und schon war der Detective wieder auf sich allein gestellt.

20:32 Uhr – Auf dem Weg zur Tür warf Jenoah immer wieder Blicke durchs Fenster. Er konnte den an der Wand montierten Fernseher sehen. In dem dort laufenden Film sah Hauptdarstellerin ausnahmsweise nicht fabelhaft aus, sondern schien etwas neben sich zu stehen. Tiefe Ringe unter den Augen zeugten von tiefem Schmerz, während sie apathisch aus dem Zugfenster schaute. Eine Rückblende schien von einer Paartherapie zu handeln.

Würde ihnen das auch bald so gehen? Er neben ihr sitzend, von der Seite immer wieder mit vernichtenden Blicken attakkiert, bis eine Therapeutin die nächste Frage stellte, auf die beide keine Antwort parat hatten. Immerhin war ihm sehr wohl bewusst, dass sie in diesem Fall keine Schuld trug. Aber hatte er wirklich einen Fehler gemacht? Das konnte er so nicht unterschreiben. Dafür war die Situation eindeutig zu kompliziert und er hätte niemals erahnen können, dass es solche Ausmaße annehmen würde. Und es machte jetzt auch keinen Unterschied mehr, wie häufig er das Ganze in seinem Kopf durchging. Er musste reinen Tisch machen, ganz egal, ob ihm das passte oder nicht. Jenoah öffnete die Sturmtür mit der linken Hand, atmete noch einmal tief ein und wieder aus und drehte dann den Knauf mit der Rechten, um die eigentliche Haustür nach innen zu drücken.

„Du hast nicht nach dir abgeschlossen?“, war das Erste, was ihm aus dem Mund schoss. Mit einem Schrei fuhr Lisa herum. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen und war direkt aufgesprungen.

„Was machst Du denn hier? Ich dachte, Du arbeitest noch.“ Müde wischte sie die Locken aus ihrem Gesicht. Der Detective sah sofort, dass sie ihren hellblauen Lieblingspyjama trug, auf dem runden Couchtisch neben dem L-formigen Sofa stand ein Glas Rotwein und eine Schüssel mit Süßkram. Auf jeder freien Stelle standen brennende Kerzen, die bereits schon gefährlich nah am Docht-Ende waren.

„Ich glaube nicht, dass unsere Versicherung uns einen müden Dollar gibt, wenn das Haus abgefackelt ist.“ Er zeigte dabei auf die vielen kleinen Flammen, die ihr helles Wohnzimmer in ein einladend warmes Ambiente tauchte.

„Es steht ja noch, oder nicht?“ Sie zögerte, sah, dass er noch die Uniform trug und versuchte blinzelnd zu verstehen, was hier vor sich ging. „Wieso bist Du hier? Was ist los?“ Da war sie, die Frage, die er vor zwanzig Minuten vorhergesehen hatte.

Die Protagonistin wurde derweil von der neuen Frau ihres Mannes angeschrien, sie solle verschwinden und sich von ihr fernhalten. Würde Lisa das auch gleich von ihm verlangen? Konnte er das? Einfach gehen, ohne zu kämpfen. Sein Leben hinter sich lassen, neu anfangen. Wollte er das überhaupt? Ihm blieb keine Wahl.

„Ich muss dir etwas erzählen und mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Als höre mir einfach zu.“ Seine Frau hüllte sich in die Decke, die gerade noch über ihr gelegen hatte und ging ums Sofa herum. Sie wollte ihm nah sein, weil sie automatisch spürte, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war. In der Hinsicht kannte sie ihn gut genug. Aber wollte er sie wirklich in seiner Nähe haben?

„Vielleicht ist es besser, Du setzt dich hin.“ Dieser Satz beunruhigte sie nur noch mehr. Sie stand auf der Höhe der Kücheninsel und drehte einen der mit weißem Leder bezogenen Hocker so, dass sie darauf Platz nehmen konnte. „Jenoah, Du machst mir Angst. Jetzt sag’ schon, um was es geht! Ist jemand gestorben? Jemand, den ich kenne?“

Der Detective versuchte, milde zu lächeln. Wenn es doch so einfach wäre! Dann könnte er seine Frau tröstend in die Arme nehmen, ihre Tränen aus dem Gesicht wischen und für sie da sein. Stattdessen würde er gleich ihren Safe-Space auseinander treten, als wäre es ein simples Kartenhaus.

„Ich habe deinen Bruder gefunden“, sagte er leise und ließ diese Worte erst einmal in ihr Bewusstsein treten. Es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde, bevor sie vom Hocker sprang:

„Du weißt, wo Connor ist? Ist er noch am Leben? Geht es ihm gut?“ In ihrer Stimme erklang so viel Hoffnung und trotzdem schwang die Angst mit, als hätte jemand einen Akkord auf einem Piano angespielt und zeitgleich schräge Tone dazu gedrückt.

Jenoah ging ein Stück auf seine Frau zu; er konnte gar nicht anders. Sein Beschützerinstinkt war viel zu stark ausgeprägt, gleichzeitig ging sein Blick zum Fernseher. Im Film durchlebte die Exfrau in einer Rückblende einer Feier, auf der sie sehr betrunken war, dem Boss ihres Mannes eine Szene machte und ein ganzes Tablett gefüllter Eier an die Terrassenwand warf. Zum Glück stand auf der marmornen Arbeitsplatte nichts zu Werfendes in Lisas Nähe.

„Er lebt, es geht ihm soweit gut.“ Der Detective hielt kurz inne, um zu sehen, wie sie diese Information verarbeitete. Er hatte das Wort ‚soweit‘ absichtlich eingefügt, damit sie erahnen konnte, dass es einen Haken gab. Lisa legte den Kopf schräg und hüllte sich neu ein, nicht ohne dabei ihre tollen Kurven zu zeigen. Er wünschte sich so sehr, er könnte ihr all dies hier ersparen. Aber noch weniger wollte er, dass dieser schöne Körper in Stücke gerissen wurde. Es reichte, wenn gleich ihr Herz explodieren würde.

20:35 Uhr – „Wie hast Du ihn gefunden? Und wo ist er?“

Aus einem inneren Impuls heraus lief er am Sofa entlang, nahm das Glas Rotwein vom Couchtisch und hielt es Lisa hin. Diese griff danach, ohne zu wissen, warum dieser Schritt nötig war.

„Tatsächlich ist er hier, in Vegas. Gerade jetzt ist er im Mandalay Bay Casino.“ Ohne zu zögern trank sie das ganze Glas leer. Danach musste sie kurz husten, weil der trockene Merlot mit seiner torfig samtigen Note nicht dafür gedacht war, ihn auf einmal hinunter zu stürzen. In ihren Augen lagen tausend Fragen und Jenoah hatte Angst, sie beantworten zu müssen.

„Er ist hier? So nah? Wieso hat er keinen Kontakt gesucht? Hast Du ihm gesagt, wo er mich finden kann?“ Wieder sprang sie auf, kam jetzt auf ihn zu. Der Detective ging zur Seite, lehnte seine Arme auf einen Stuhl der Essecke. Im Notfall konnte er diesen vor sie stellen und sie damit zumindest ein paar Sekunden aufhalten.

„Er weiß, wo Du bist. Und er hält sich bewusst von dir fern, um dich zu beschützen.“ Sein Blick ging zur Uhr neben dem Fernseher. Die Frau mit den strähnig braunen Haaren stritt sich erneut mit ihrem Exmann, stieß ihn von sich weg, während seine neue Frau mit dem Baby panisch in Richtung Haus rannte.

Ihm lief die Zeit davon, wenn er noch wieder zurückfahren wollte. Warum konnte Lisa nicht einfach zuhören? Sie würde noch genug Gelegenheiten haben, um ihm an die Gurgel zu gehen.

„Wovor will er mich beschützen?“ Sie schaute ihm direkt in die Augen und Jenoah schaffte es nicht rechtzeitig, ihr auszuweichen. Er fand es schon immer faszinierend und gruselig zugleich, wie sie in seine Gedankenwelt eindringen konnte: „Oder sollte ich fragen, vor wem?“

Jenoah seufzte laut auf. Sobald er die Wahrheit ausgesprochen hatte, war es vorbei mit ihrer Sicherheit. Dessen müsste sich auch der Anrufer sicher sein und trotzdem bestand er auf diesen Wahnsinn. Wieso glaubte dieser, dass Lisa so viel sinnvoller handeln würde, als er?

„Connor wurde nicht entführt. Jedenfalls nicht im üblichen Sinne“, begann der Detective und ahnte direkt, dass er diese Erklärung nicht so kurz halten konnte, wie es nötig gewesen wäre. Leise vor sich hin fluchend, erzählte er weiter:

„Markette Tillman hat sein Potential erkannt und dafür gesorgt, dass er aus seinem bekannten Umfeld verschwand. Im Untergrund war es ein Leichtes, aus ihm einen möglichen Nachfolger zu formen.“

20:37 Uhr – Lisa drehte sich von ihrem Ehemann weg und lief zum Kühlschrank. Sie öffnete die rechte Seite und holte eine zweite Flasche Wein hervor. Aus dem Oberschrank schräg gegenüber entnahm sie ein zweites Glas und stellte beides auf die Kücheninsel, goss die rote Flüssigkeit in ihr eigenes Glas und in das für Jenoah bereit gestelltes.

„Bestimmt wirst Du mir gleich mitteilen, wer dieser Markette ist. Ich weiß, dass viele deiner Versuche gescheitert sind, mir beizubringen, wer in Las Vegas momentan das Sagen hat. Gerade bereue ich tatsächlich, dir nicht eindringlicher zugehört zu haben.“

Unter normalen Umständen hätte er niemals zum Alkohol gegriffen, aber in diesem Fall machte er eine Ausnahme. Dieser Moment würde alles verändern, von daher konnte er auch einfach die Situation zu seinem Vorteil nutzen. Das Ehepaar prostete sich zu und das harmonische Klirren der Gläser hallte grotesk durch den Raum. „Rodriguez hat mich und Baptiste undercover bei den ‚Playboy Bloods‘ eingeschleust, um deren Hierarchie transparent zu machen.“

Lisa begann unter ihrer Decke zu zittern. „Ich dachte, ihr bewacht die Gangs und deren Verhalten! Es war nie die Rede davon, sie von innen heraus zu überwachen. Seid ihr wahnsinnig?“ Ihre Lippen bebten und in ihren Augen machte sich schiere Angst breit. Sie war in Vegas aufgewachsen. Die Fehden der vielen unterschiedlichen Gangs hatten über die Jahrzehnte für so manches Blutvergießen gesorgt.

„Es fiel mir wirklich nicht leicht, dir diese Informationen vorzuenthalten. Nur zu gerne hätte ich dir von Anfang an erzählt, was wir vorhaben. Aber wir waren uns einig, dass wir unsere Partner nicht mit hineinziehen wollten. Gerade die Playboys sind unberechenbar und zögern nicht mit Vergeltungs-Anschlägen.“

Lisa war auf der anderen Seite der Kücheninsel stehen geblieben. Auf dem ersten Blick trennten sie nun fast eineinhalb Meter voneinander. In Wahrheit waren es weitaus mehr.

„Wir reden hier also nicht von Tagen oder Wochen, oder? Du weißt seit Monaten, dass mein einziger Bruder so nah ist und erzählst mir nichts davon?“

Sie verkrampfte ihre Hände ineinander und Jenoahs Impuls war, um die Insel herumzugehen und sie zu umarmen, aber er wusste, dass sie diesen Beruhigungsversuch gar nicht zulassen würde.

„Connor ist nicht mehr der, der er einmal war. Er hat sich verändert.“ Der Detective suchte nach Worten und verließ den Schutz der Essecke. Mit etwas Schwung drehte er den Hocker, auf dem seine Frau noch vor kurzem gesessen hatte, derart in seine Richtung, dass er sich auf die kleine Lehne stützen konnte.

„Aber er bleibt mein Fleisch und Blut! Er gehört zur Familie und ich werde ihn nicht einfach so aufgeben.“

Auch die Protagonistin des Films schien um ihr Recht zu kämpfen. Sie hatte ihre Konkurrentin endlich auf ihrer Seite und konnte gegen ihren Exmann agieren. Jenoah schien das Gegenteil zu machen. Er separierte sich vom guten Teil in seinem Leben und schlug sich auf die dunkle Seite der Macht.

„Für die anderen Gangs bist Du das perfekte Ziel, wenn bekannt wird, dass Du Connors Schwester bist! Und Du schließt nicht einmal die Tür ab! Wer soll denn für deine Sicherheit sorgen?“ Lisa verdrehte die Augen. Sie ging zurück zum Sofa und griff in die Schale mit den Süßigkeiten. Im Film rannte der Widersacher auf die Hauptdarstellerin zu und diese rammte ihm den zuvor entwendeten Korkenzieher direkt in den Hals. Eine schnelle und präzise Möglichkeit, um jemanden loszuwerden.

Dieser Wein schien einen Schraubverschluss zu haben, aber in einer der Schubladen würde sich ein entsprechender Zieher finden lassen.

Jenoahs Handy vibrierte. Intuitiv griff er danach und schaute auf das Display: „Das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Die Zeit läuft.“ Eine Message vom Anrufer, die davon kündete, dass die bisherige Erklärung noch nicht ausreichte. Hier waren also definitiv überall Kameras. Mit Ton-Überwachung. Es gab kein Entkommen. Es musste die ganze Wahrheit auf den Tisch.

Aber der Detective änderte nach der Nachricht seine Taktik: „Okay, wir werden hier beobachtet. Überall sind versteckte Kameras und Mikros. Alles, was wir sagen, wird aufgenommen. Sogar eine Bombe soll im Haus sein, die von außerhalb gezündet werden kann.“

Lisa, die gerade noch so steif am Tresen stand, drehte sich nun zu allen Richtungen um. „Du verarscht mich doch gerade! Woher willst Du das denn wissen?“ Sie lief durch den Raum und pustete alle Kerzen aus, als wenn sie damit ihre Anwesenheit verdecken könnte.

„Ich werde bedroht. Entweder ich erzähle dir die Wahrheit oder Connor wird sterben! Hätte ich ihn gerettet, wäre die Bombe hier gezündet worden.“ Jenoah biss sich auf die Zunge. Der Schmerz fühlte sich gut an. Real. Verdient. Und im gleichen Atemzug hoffte er, dass im Mandalay Bay kein Gas ausgesetzt wurde. Ihm waren die anderen Anwesenden egal, aber Lisas Bruder durfte keinesfalls etwas passieren.

Der Abspann des Films sorgte nicht für Ablenkung. Der Strom der Beteiligten weiß auf schwarz lieft kontinuierlich über den großen Bildschirm.