Märchen-Schatulle - Karin Wimmer - E-Book

Märchen-Schatulle E-Book

Karin Wimmer

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Beschreibung

Ein besonderes Märchenbuch voll mit neuen Märchen über feige Schneider, tapfere Burgfräulein, Birnen, Drachen, Zauberhüte und vieles mehr. Liebevoll wird für kleine und große Märchenfreunde über Freundschaft, Liebe und den Glauben an sich selbst erzählt. Begeben wir uns gemeinsam auf eine Reise ins Märchenland!

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Märchen-Schatulle

Karin Wimmer

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.papierfresserchen.de

© 2023 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Taschenbuchauflage erschienen 2019

Cover: © Michel Wimmer

Bearbeitung: CAT creativ - www.cat-creativ.at

ISBN: 978-3-86196-834-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-263-0 - E-Book

*

Inhalt

Wahl der Rosen

Vinur – Das Mal des Drachen

Das Geheimnis um die Seele des Hofes

Der kleine Löwenzahn

Die Igelprinzessin

Die Prophezeiung der Bimpfe

Ring der Entscheidung

Die Herrin des Flusses

Die Birnenkönigin

Die Zauberin

Malaika

Die Tierhochzeit

âschnâyy

Das feige Schneiderlein

Die List der Königstochter

Zwergenweihnacht

Die Autorin

Unser Buchtipp

*

Wahl der Rosen

Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten eine Tochter, deren Wangen so rosig schimmerten, dass ihre Eltern sie Rosalie nannten. Als das Mädchen ins heiratsfähige Alter kam, geriet das Herrscherpaar in große Sorge. Rosalie war ihr einziges Kind und würde einmal das ganze Königreich erben. Die Eltern schickten sich nun an, nach einem geeigneten Gemahl für ihre Tochter und somit dem künftigen König zu suchen. Doch die Prinzessin war sehr unglücklich, dass dies nicht ihre eigene Entscheidung sein durfte.

Eines Tages ging Rosalie spazieren und erreichte schließlich einen alten Turm. Neugierig stieg sie die Stufen hinauf und gelangte zu einer Kammer, die Ausblick in alle vier Himmelsrichtungen bot. Von hier konnte man das ganze Land überblicken. Überwältigt trat die Prinzessin an ein Fenster.

Da hörte sie hinter sich eine Stimme sagen: „Es ist wunderschön, nicht? Überlege gut, wer einmal mit dir gemeinsam dieses wunderbare Reich regieren darf, denn es ist ebenso eine Ehre wie auch eine Bürde und die wichtigste Entscheidung deines Lebens!“

Rasch drehte sich Rosalie um und fragte erschrocken: „Wer seid Ihr?“

Da trat eine Gestalt aus dem Schatten heraus. Die Prinzessin sah eine alte Frau mit Schleier und wunderschönem Gewand.

„Ich bin eine Fee, deren Name etwas beschreibt, das jeder kennt, doch auf das niemand hört. Aus diesem Grund geschieht in jeder Generation der Königsfamilie seit fast hundert Jahren ein Unglück.“

Erstaunt sah das Mädchen die Fremde an. „Aber davon weiß ich gar nichts.“

Die Fee entgegnete mitfühlend: „Dein Großvater kam im letzten Krieg ums Leben und so musste dein Vater überstürzt den Thron besteigen. Deshalb erfolgte die Heirat deiner Eltern zu schnell und aus den falschen Gründen. Doch auch ihnen wird bald ein Unglück geschehen, wie es der Fluch besagt.“

Verzweifelt erwiderte die Prinzessin: „Aber könnte der Fluch denn gebrochen werden?“

Die Fee nickte wissend. „Wenn du deinen Bräutigam erwählst, dann gehe in dich und höre auf mich“, meinte sie ruhig.

„Aber meine Eltern werden entscheiden, wen ich ehelichen soll“, erwähnte Rosalie.

Beschwichtigend schüttelte die Fee ihr Haupt. „Das Blatt wendet sich und du wirst selbst wählen. Dein Herz sagt dir, welcher der Richtige für dich ist. Vertraue nur auf mich.“ Mit diesen Worten reichte sie ihr eine weiße Rose und verschwand. Verwirrt verließ die Königstochter den Turm.

Wenige Wochen nach jenem Gespräch erkrankte das Königspaar und verstarb. So kam es, dass die Fee recht behielt und Rosalie selbst begann, nach einem Bräutigam zu suchen. Denn das Gesetz besagte, dass jeder Thronfolger erst nach seiner Hochzeit rechtmäßiger Regent werden konnte. Nur ein Königspaar durfte regieren. Die Prinzessin gab ein großes Fest für alle unverheirateten, jungen Männer des Landes. Die Söhne aller herrschaftlichen Familien kamen und Rosalie sprach mit jedem Einzelnen. Als Erster trat ein Fürstensohn in den Audienzraum der Königstochter. Er verbeugte sich tief. „Prinzessin, ich heiße Theodorius und mein Vater ist der reichste Fürst Eures Landes.“

Rosalie deutete ihm, aufzusehen. „Sagt mir, warum sollte ich von allen Werbern gerade Euch heiraten? Und weshalb wollt Ihr mich zur Frau?“, fragte sie nachdenklich.

Der Jüngling räusperte sich. „Nun“, begann er, „ich bin ein sehr wohlhabender Mann und bald ein Fürst. Ich würde Euch viel Reichtum und Wohlstand bringen. Gemeinsam hätten wir ein Vermögen, welches weit über das aller anderen Königshäuser hinausginge.“

Ungläubig sah ihn die junge Frau an. „Deswegen wollt Ihr die Ehe mit mir eingehen?“, fragte sie.

Theodorius nickte. „Ja! Reichtum und Macht waren immer schon gute Gründe für eine Heirat“, behauptete er fest.

In diesem Moment erblickte die Prinzessin eine Vase mit weißen Rosen. Nach den Worten von Theodorius färbten sich ihre Blütenblätter schwarz.

Rosalie erkannte das Zeichen und schüttelte den Kopf. „Nein! Reichtum und Macht waren niemals gute Gründe, um zu heiraten. Reichtum wird mich nicht glücklich machen. Und in einer schweren Stunde werdet Ihr nicht der Macht wegen zu mir stehen. Ich werde weiter suchen müssen, um den rechten Gemahl zu finden. Lebt wohl!“ Die Königstochter kehrte dem Fürstensohn den Rücken.

Als Nächster trat der Sohn eines Herzogs ein. Auch er verbeugte sich tief vor Rosalie. „Ich grüße Euch. Mein Name ist Dietmar und ich bin der Sohn eines Herzogs aus einem anderen Königreich. Unser Land grenzt an Eures und so habe ich von Euren Heiratsplänen erfahren.“

Auch ihm deutete die Prinzessin, sich zu erheben. „Ich freue mich, dass Ihr gekommen seid, doch nun sagt auch Ihr mir, weshalb ich gerade Euch die Ehe versprechen soll und warum Ihr mit mir Hochzeit feiern wollt?“

Der junge Herzogssohn sah sie verwundert an und sprach: „Ihr hättet große Vorteile durch unsere Verbindung. Mein Land ist groß, und wenn unsere Häuser sich vereinigen, dann haben wir ein Königreich, welches das größte und weiteste ist, das jemals existiert hat.“

Rosalie sah auf die Rosen und wieder wurden diese schwarz. Also schüttelte sie auch diesmal traurig den Kopf. „Nein, auch Eure Antwort überzeugt mich nicht. Habgier ist keine meiner Tugenden und ich befürchte, dass Ihr mich nicht um meinetwillen zum Traualtar führen wollt. So muss ich weiter nach meinem Bräutigam suchen. Lebt wohl!“

Sie wandte sich von dem Herzogssohn ab und ging auf die Vase mit den Rosen zu. Behutsam strich Rosalie über die inzwischen wieder weiß gewordenen Blütenblätter. „Danke für eure Hilfe, aber ich glaube nicht, dass sich noch ein passender Gemahl finden wird, dessen Herz mir in aufrichtiger Zuneigung entgegenschlägt“, flüsterte sie leise. Sie erschrak, als die Tür sich öffnete und ein schüchterner junger Mann eintrat, der ehrfürchtig sein Haupt senkte und vor ihr niederkniete.

Rosalie bat ihn freundlich, aufzustehen. „Sagt mir, Fremder, wer seid Ihr?“, fragte sie neugierig.

„Verzeiht, Majestät, mein Name ist Matthias und ich komme weder aus einer reichen noch aus einer adligen Familie. Aber eure Herolde verkündeten landesweit, dass jeder Mann im heiratsfähigen Alter in den Palast kommen dürfe und Ihr ihm eine Audienz gewähren würdet. Mir ist bewusst, dass ich niemals würdig wäre, eine Prinzessin zu heiraten, doch ich wollte Euch ein einziges Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen“, erklärte der Jüngling leise.

Rosalie lächelte. „Nun, die Kunde sollte ja auch bewirken, dass jeder junge Mann die Möglichkeit bekommt, um meine Hand anzuhalten. Er sollte mir nur ehrlichen Herzens sagen können, weshalb gerade er der richtige Gemahl für mich wäre. Und das möchte ich nun auch von Euch wissen“, bat sie dann.

Matthias’ Augen leuchteten vor Freude. „Für mich gibt es nur einen einzigen Grund, weshalb ich mit Euch den Bund fürs Leben schließen möchte. Als ich Euch zum ersten Mal in Eurer Kutsche durchs Land reisen sah, überwältigte mich Eure Schönheit und Natürlichkeit so sehr, dass ich mich augenblicklich unsterblich in Euch verliebte! Auch wenn ich an Reichtümern und Ländereien nichts zu bieten habe, so kann Euch doch kein anderer Mann in diesem großen Saal jemals so sehr lieben wie ich“, erklärte er inbrünstig.

Rosalie lächelte errötend, denn auch ihr Herz schlug schneller, seit Matthias den Raum betreten hatte, und als ihr Blick auf die weißen Rosen fiel, verfärbten sich diese dunkelrot. Hocherfreut sprach sie zu ihm: „Matthias, Euer Grund ist der einzige, aus dem ich einen Gemahl erwählen möchte. Nur die von Herzen kommende Liebe sollte für alle Paare der Wunsch zum Lebensbund sein. Als ich Euch erblickte, entbrannte auch in mir die Liebe, und ich würde mit Freuden die Eure werden!“

Glücklich umarmten sich die beiden.

Kurz darauf wurde Hochzeit gefeiert. Unter den Gästen befand sich auch die Fee. Als Rosalie diese sah, eilte sie zu ihr.

Die alte Frau lächelte und sagte zufrieden: „Du hast mir vertraut und die richtige Wahl getroffen, denn du hast dein Herz entscheiden lassen. So hast du nun nach einhundert Jahren deine Familie vom Fluch befreit.“

Die frisch vermählte Königin Rosalie entgegnete dankbar: „Darüber bin ich sehr glücklich, doch nun verratet mir bitte, wie man Euch nennt.“

Die Fee flüsterte geheimnisvoll: „Man nennt mich Liebe und ein jeder, der auf mich vertraut, wird glücklich sein!“

Dann verschwand sie, doch Rosalie wusste, dass sie in ihrem Herzen immer bei ihr sein würde. Deshalb lebte und regierte sie mit ihrem Gemahl frohen Herzens bis an ihr Lebensende.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich mit der Wahl der Rosen.

*

Vinur – Das Mal des Drachen

Es war einmal vor langer Zeit, als Drachen und Menschen noch friedlich nebeneinander lebten. Da stand eine kleine Burg umgeben von großen Tannen, in der wohnte ein Mädchen von gerade einmal zehn Lenzen.

Eines Tages verfing sich ein junger Drache in einem der hohen Bäume und stürzte in den Burghof. Es war einer seiner ersten Flugversuche gewesen und er vermochte nicht wieder vom Boden abzuheben. Die Aufregung unter der Dienerschaft war groß, die einen fürchteten sich, die anderen wollten das Tier sofort vertreiben. Ängstlich zog es sich in eine Ecke zurück.

Als das junge Burgfräulein an der Hand seiner Mutter die Treppe herunter in den Burghof kam, lief es sofort zu dem Drachen und kniete sich neben das Tier. „Mutter, sieh doch! Ich glaube, er hat sich am Flügel verletzt“, rief es aufgeregt.

„Theres, sei vorsichtig, Drachen können Feuer speien“, antwortete die Burgherrin und bahnte sich einen Weg durch die Diener zu ihrer Tochter. Dann sah sie das junge Tier, gerade einmal so groß wie ein Hund, mit großen orangen Augen auf einem blaugrünen Kopf. An der Brust ging die Farbe in ein sattes Dunkelgrün über, das am Schwanz und an den Flügelspitzen von einem Weinrot abgelöst wurde. Das Tier blickte auf und gab ein leises Husten von sich, bei dem eine kleine Rauchwolke aus dem Maul entwich.

„Aber dieser ist wohl noch zu jung dafür“, fügte sie dann hinzu. Langsam ging neben sie Theres in die Hocke und tastete vorsichtig den Flügel ab. „Ja, der sieht gebrochen aus. Ich zeige dir, wie du ihn schienen kannst, dann darf der Drache bleiben, bis er wieder fliegen kann.“

Und so geschah es. Theres verarztete das Tier und brachte ihm Nahrung und Wasser. Der Drache fasste Vertrauen zu dem Mädchen und wich ihm nach einiger Zeit kaum mehr von der Seite. Gerade einmal zum Schlafen war das Burgfräulein noch in seinem Zimmer zu finden, den restlichen Tag verbrachte es bei dem Drachen. Es nannte ihn Vinur, das bedeutet Freund.

Der Burgherr war nicht besonders glücklich über den tierischen Gast hinter seinen Mauern. Immer mehr der Landfürsten wollten die Drachen von ihren Ländereien vertreiben, weil sie deren Stärke und Feuersbrunst fürchteten. Er selbst hatte keine solchen Pläne, doch mit einem Drachen in seiner Burg waren weder das Tier noch die Bewohner hier sicher. Als der Flügel des Tieres geheilt war, bat er Theres, den Drachen wieder freizulassen.

„Aber Vinur möchte bei mir bleiben“, wand seine Tochter ein.

„Ein Drache ist kein Haustier“, erklärte der kluge Burgherr. „Er hat kräftige Flügel und den inneren Drang, sich in die Lüfte zu schwingen. Das macht ihn aus. Nimm ihm das nicht, es würde ihn auf Dauer nicht glücklich machen, eingesperrt in einem Stall zu leben.“

„Wir sind aber Freunde“, bettelte das Mädchen.

„Wenn du seine Freundin bist, dann akzeptiere ihn als das, was er ist. Lass ihn gehen, damit er zu seiner Familie zurückkann, denn dort gehört er hin.“

Unter Tränen sah Theres schließlich ein, dass ihr Vater wohl recht hatte, und lief in den Stall zum Lager des Drachen. Sie löste den Strick und öffnete die Tore weit.

„Lass mich ein Mal auf deinen Flügel zeichnen, damit du mich nicht vergisst“, bat sie. Das Tier hielt still und Theres malte einen Strich in einem Dreieck in einem Kreis. „Der Strich bin ich, das Dreieck bist du mit deinen kräftigen Flügeln und der Kreis bedeutet, dass wir für immer Freunde bleiben“, erklärte sie. Dann zeichnete sie dasselbe Mal auch auf ihren Handrücken und Vinur rieb seine Nase an ihrem Kopf.

„Geh, damit du glücklich sein kannst, aber sei gewiss, dass du hier jederzeit willkommen bist. Es ist kein Lebwohl, nur ein Auf Wiedersehen“, versicherte das Mädchen. Dann umarmte es den Drachen innig, ehe das Tier sich mit zwei kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte erhob, einmal um die Burg kreiste und schließlich verschwand.

Die Jahre zogen ins Land und Theres wuchs heran zu einer Frau. Der Hass der Landfürsten gegen die Drachen wurde immer größer und es war die Habgier, auch die Drachenfelsen für sich beanspruchen zu wollen, die letztlich Krieg ausbrechen ließ. Hunderte Drachen wurden getötet, doch noch viel mehr Menschen ließen ihr Leben. Es war ein Krieg, bei dem alle verloren – nur der Tod gewann.

Auch Theres’ Vater musste dem Druck der anderen Fürsten letztlich nachgeben und zog in die Schlacht. Er kehrte niemals heim und ihre Mutter starb nur wenige Wochen danach an gebrochenem Herzen.

Nun war es an der jungen Frau, die Burg und das Land darum zu schützen. Sie befahl, alle Leute aus dem Umland hinter die Burgmauern umzusiedeln, die Zugbrücken hochzuziehen und sich am Krieg gegen die Drachen nicht mehr zu beteiligen. „Sie verteidigen nur ihre Heimat. Nichts anderes würden wir tun, wenn man uns das Zuhause stehlen wollte“, erklärte sie ihrem kleinen Volk. „Wenn wir sie in Ruhe lassen, werden sie auch uns nichts tun.“

„Mit Verlaub, aber woher sollen die Drachen denn wissen, dass wir keine Männer mehr zu den Drachenfelsen entsenden? Sie werden über die Burg fliegen und genauso gnadenlos ihr Feuer auf uns speien, wie sie es mit den umliegenden bereits getan haben“, warf einer der Soldaten ein.

Theres blickte auf das Mal auf ihrem Handrücken und hielt den Arm hoch. „Fertigt Flaggen mit diesem Mal auf einem grünen Untergrund. Es soll von nun an unser Wappen sein“, erwiderte sie. „Beflaggt die Burg, sodass man es von weit her schon sehen kann.“

Das Volk und die Diener schüttelten den Kopf über diesen Befehl. Sie hätten lieber gekämpft, statt sich auf Flaggen zu verlassen.

Doch es geschah, wie es die junge Herrscherin befohlen hatte. Einige Tage später sahen die Späher sieben Drachen heranfliegen. Die Drachen waren auf Rache aus, sie spien Feuer und brannten jedes Schloss, jede Burg und jedes Herrenhaus bis auf die Grundmauern nieder. Zu viele von ihnen hatten ihr Leben lassen müssen, obwohl sie niemandem etwas zuleide getan hatten. Nun sollten die Menschen dafür bezahlen.

Doch als Theres’ Burg in Sichtweite kam, landete einer der Drachen und die anderen sechs folgten ihm. Zu weit lagen seine Erinnerungen zurück, dass er die Burg von den anderen noch unterscheiden hätte können, doch das Mal, das er Tag für Tag auf seinem Flügel sah, wehte ihm nun auf den vielen Flaggen der Burg entgegen. Hier war er freundlich aufgenommen, gepflegt, gefüttert und geliebt worden. Hier hatte er seinen Namen Vinur erhalten – von Theres. Er hob seinen Flügel mit dem Mal und die anderen Drachen verstanden, dass Vinur mit dieser Burg verbunden war. Sie flogen darüber hinweg, ohne auch nur eine Rauchwolke aus ihrem Rachen entweichen zu lassen.

Als der Krieg schließlich vorüber war und die Besitzansprüche der Drachen wieder von allen Herrschern anerkannt wurden, flog Vinur erneut zu Theres’ Burg und landete sicher im Burghof. Abermals war die Aufregung unter den Dienern groß und die Angst entsetzlich.

Doch die junge Burgherrin lief sogleich in den Hof und fiel dem großen, Furcht einflößenden Tier um den Hals. „Du hast uns alle gerettet“, rief sie dankbar.

„Du hast euch gerettet! Du hast mich damals aufgenommen, geheilt und mir dann wieder mein Leben in Freiheit geschenkt, damit ich glücklich sein kann“, antwortete der Drache. „Wenn du anders gehandelt hättest, hätten meine Brüder eure Burg dem Erdboden gleichgemacht.“

Vinur verabschiedete sich wieder von Theres, doch von nun an besuchte er sie, wann immer er in der Nähe war.

Theres gab die Weisheit ihres Vaters auch weiter an ihre eigenen Kinder: Freunde akzeptiert man so, wie sie sind!

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!

*

Das Geheimnis um die Seele des Hofes

Es war einmal ein Königspaar, das hatte eine Tochter. Nach einem kalten Winter starb die Königin an einer schweren Krankheit, gerade als das Mädchen an die Schwelle zur jungen Frau trat. Da der König befand, dass es einer weiblichen Hand bedurfte, um seine Tochter zu einer Thronerbin auszubilden, schickte er sie an den Hof seiner Schwester.

Das Mädchen wurde herzlich aufgenommen, alle Bediensteten des Hofes taten ihr Möglichstes, um ihm die Mutter zu ersetzen und es auf sein Leben als zukünftige Königin vorzubereiten.

Drei Jahre sollte die Prinzessin am Hofe ihrer Tante lernen, und als das erste Jahr ins Land gezogen war, gab die Königin ein Festessen für ihre Nichte und verkündete, jene Menschen zur Tafel zu laden, die im vergangenen Jahr die wichtigsten gewesen waren.

Das Mädchen wartete gespannt, und als der Abend gekommen war, blickte es aufgeregt den langen Tisch entlang. Dort fand es jedoch nur einen ihm unbekannten Mann vor. Seine Tante erinnerte es daran, dass dieser Mann das Schloss erbaute und es an seinem ersten Tage hier über die Ländereien geführt hatte. Wohlerzogen unterhielt es sich den Abend über mit den Anwesenden.

Als der Gast sich verabschiedet hatte, wollte die Königin wissen, wie ihrer Nichte die Feier gefallen habe. Das Mädchen wollte nicht ungehörig antworten, hatte es der Tante doch so viel zu verdanken, doch konnte es seine Enttäuschung nicht ganz verbergen. So antwortete es:

„Ich weiß, ich bin zu lernen hier,

doch lerne heute eins von mir,

die wahrlich wicht’gen Menschen mein,

durften heut nicht bei mir sein.“

Die Königin verstand nicht, was die Prinzessin meinte, war der Bauherr doch so ein wichtiger Mann im Reich. Da meinte die Prinzessin: „Wahrlich war er wichtig, dein Schloss so prächtig zu erbauen und deine Ländereien so wundervoll zu gestalten. Doch war für mich nicht der Kutscher wichtiger, der mich lehrte, ein Pferd zu reiten, um diese Pracht erkunden zu können? Hat nicht er Stunde um Stunde damit zugebracht, mich an das Tier heranzuführen und mich zu unterweisen, wie ich es trotz meiner Ungeschicktheit unbeschadet bewegen kann?“

Nun nickte die Herrscherin und versprach, im kommenden Jahr wichtigere Menschen zum Fest zu laden.

Erneut verstrich ein Jahr, und als wieder die Zeit gekommen war, dass die Königin ein Festmahl ausrichten ließ, meinte das Mädchen, nun bekannte Gesichter an der Tafel anzutreffen. Doch es irrte sich. Die Königin hatte den Kaplan zum Fest geladen und wohlerzogen unterhielt sich die Prinzessin mit diesem.

Als er gegangen war, wollte ihre Tante wissen, ob die Feier nun zu ihrer Zufriedenheit gewesen war. Wieder behalf sich die Prinzessin einer Ausflucht, um nicht undankbar zu erscheinen, und sprach:

„Ich weiß, ich bin zu lernen hier,

doch lerne heute eins von mir,

die wahrlich wicht’gen Menschen mein,

durften heut nicht bei mir sein.“

Kopfschüttelnd tadelte die Königin ihre Nichte, dass es wohl selbstredend wäre, dass der Kaplan als Mann der Kirche ein sehr wichtiger Mensch sei.

Das Mädchen nickte, meinte jedoch dann: „Ohne Frage ist er wichtig. Doch als ich im Frühjahr eine Woche lang hoch fieberte, hätte er wohl nur für mich gebetet. War für mich nicht die Kammerfrau wichtiger, die nächtelang an meinem Bett saß, um kalte Umschläge aufzulegen? Und war nicht die liebe Köchin wichtiger, die mir Brei zubereitete, weil ich nichts Festes zu mir nehmen konnte?“

Abermals nickte die Herrscherin und wollte das nächste Mal alles besser machen.

Als das dritte Jahr ins Land gezogen war, kam für die junge Frau die Zeit des Abschieds. Sie sollte an den Hof ihres Vaters zurückkehren. Doch es fiel ihr schwer, den Hofstaat ihrer Tante zurückzulassen, hatte sie doch durch ihn so viel Zuneigung erfahren und so vieles erlernt.

An ihrem letzten Abend sollte ein rauschendes Fest gefeiert werden. Voller Freude betrat die Prinzessin den Saal, doch vertraute Gesichter suchte sie vergeblich.

Ihre Tante sprach: „Liebe Nichte, einst kamst du als unscheinbares Kind, nun bist du zu einer klugen und schönen Frau herangewachsen. Ich habe verstanden, dass Bauherren und Priester für keine Wichtigkeit besitzen, da du von anderem Blute bist. Darum habe ich alle edlen Männer und Frauen an deine Tafel geladen, all jene, die dich sahen, als du kamst, und nun sehen werden, wie du meinen Hof wieder verlässt. Und weil du morgen fortgehen sollst, wünsch dir heute von mir, was immer dir beliebt, du sollst es haben.“

Doch die junge Frau schüttelte den Kopf.

„Ich weiß, ich war zu lernen hier,

doch das meiste lernt ich nicht von dir,

die wahrlich wicht’gen Menschen mein,

müssen nicht edlen Blutes sein.

Ihr saht mich kommen, seht mich gehen,

doch was ist dazwischen denn gescheh’n?

Wer war denn da zu jeder Zeit,

trocknete Tränen, war bereit

sich anzuhören Kummer, Sorgen,

zu raten, helfen und auch borgen,

wer lehrte mich zu kochen, nähen,

den Mensch hinter dem Stand zu sehen?

Die Frau, die ich geworden nun,

damit hattest du nicht viel zu tun.

Stolz bist du auf deinen Hofe,

doch Diener, Köchin und auch Zofe,

Stallburschen, Kutscher und so weit,

siehst du als Selbstverständlichkeit.

Du gönnst es ihnen nicht, zu speisen,

in den für dich so wicht’gen Kreisen.

Doch wer ist wichtig, frag ich nun,

die die nehmen oder die die tun?

Sind nicht die des Hofes wahre Seele,

die achten, dass dir an nichts fehle?

Wahrlich wichtig sind mir die Kleinen,

darum wünscht ich, es wären die meinen,

dass allen, die auch mich als wichtig seh’n,

du erlaubst, mit mir zu geh’n.

Zu meinem Vater woll’n wir reisen,

und täglich dort zusammen speisen.

Denn nicht nur Regenten kann es geben,

das Volk erhält das Reich am Leben.“

Und weil die Königin es vor allen Gästen versprochen hatte, hielt sie ihr Wort und ließ jeden mit der Prinzessin gehen, dem dies beliebte und der sie ins Herz geschlossen hatte. Mehr als die Hälfte des Hofstaats folgte der jungen Frau in ihr Heimatreich und bald schon fehlte es am Hofe der Königin am Nötigsten und der Glanz des einst so prächtigen Reichs begann zu bröckeln.

Die Prinzessin jedoch ließ im Schloss ihres Vaters einen großen Tisch anfertigen, an dem alle Bediensteten gemeinsam mit der Königsfamilie Tag für Tag das Abendbrot zu sich nahmen und sich austauschten. Und niemals fehlte es jemandem an etwas.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!

*

Der kleine Löwenzahn

Es war einmal vor langer Zeit, da standen unter einer alten Eiche eine rote Tulpe, eine weiße Narzisse und ein kleiner gelber Löwenzahn einträchtig nebeneinander.

Eines Tages sah der Löwenzahn den Wolken zu, die über den Himmel tanzten, und meinte verträumt: „Ich möchte auch fliegen können.“

Die rote Tulpe blickte sanft zu ihm herab.

---ENDE DER LESEPROBE---