Mein Fliegerleben: Die Autobiografie - Ernst Udet - E-Book

Mein Fliegerleben: Die Autobiografie E-Book

Ernst Udet

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Beschreibung

Dieses eBook: "Mein Fliegerleben: Die Autobiografie" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Mein Fliegerleben ist die Autobiografie von Ernst Udet aus dem Jahre 1935. Ernst Udet (1896-1941) war während des Ersten Weltkriegs Jagdflieger in der Fliegertruppe des Deutschen Heeres. Nach Manfred von Richthofen erzielte er die zweithöchste Zahl von Abschüssen unter den deutschen Jagdpiloten. Nach mehreren riskanten Flugmanövern und einem Absturz erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Im März 1916 versetzte man ihn in die bei Colmar stationierte Artilleriefliegerabteilung 206. Nach seinem dritten Luftsieg am 24. Dezember 1916 wurde er mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet. 1917 erhielt er das Kommando über die Jagdstaffel 37, die er bis zum März 1918 führte. Im April 1918 wurde ihm der Pour le Mérite verliehen. Während der Zeit des Nationalsozialismus war Udet im Reichsluftfahrtministerium verantwortlich für die technische Ausrüstung der Luftwaffe und bekleidete ab 1939, zuletzt im Rang eines Generaloberst, das Amt des Generalluftzeugmeisters der Wehrmacht.

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Ernst Udet

Mein Fliegerleben: Die Autobiografie

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-1468-9

Inhaltsverzeichnis

Flug über Feindesland
Erste Kämpfe
Der Tod fliegt schneller
Richthofen
Heimkehr
Das Ende
Neuer Start
Vier Männer in Afrika
Amerika im Fluge
Am Rande der Welt
Ausklang
Anhang

Mit 77 Abbildungen

Im Deutschen Verlag – Berlin 301.-350. Tausend Printed in Germany Copyright 1935 by Deutscher Verlag, Berlin

Ich schreibe dieses Buch für die Jugend, die nach uns kommt. Denn sie wird einst der Richter unserer Taten sein. Ich widme es meinen toten Kameraden. Denn sie haben das Beste von uns allen getan. Und wenn ich sonst noch einen Zweck mit diesem Buch verbinde, so ist es der: ich möchte zeigen, daß es das Schicksal jedem von uns in die eigene Hand gegeben hat, ob wir Krämer sein wollen oder Soldaten, ob wir das Leben genießen wollen oder unser Glück für nichts achten vor einer Idee, die die kleine Barke unseres Daseins in den ewigen Strom der Geschichte hinausträgt.

Flug über Feindesland

Inhaltsverzeichnis

Als ich in unsere Stube trete, ruft mir Niehaus schon an der Tür entgegen: »Udet, sofort zu Leutnant Justinus kommen, er hat schon zweimal nach dir geschickt!«

Ich rücke die Mütze gerade, Kokarden in Verlängerung des Nasenrückens, und gehe den langen, grauen Kasernenflur entlang. Die Flugschüler kommen von einem Übungsmarsch zurück, mit Karabiner und Tornister klappern sie an mir vorbei.

Ich überlege: Was kann Justinus von mir wollen? Ob er erfahren hat, wer dem Hauptmannshund Benzin unter den Schwanz gespritzt hat? Wäre komisch, wenn er sich darum kümmerte. Denn er ist schließlich nur nach Darmstadt kommandiert, um Piloten für seine Abteilung auszusuchen. Mit dem inneren Betrieb der Fliegerersatzabteilung hat er nichts zu tun.

Der »Aeroklub 1900« als Zaungast bei den Ottowerken

Eine schmale Tür, ein weißes Pappschildchen »Lt. Justinus«. Ich klopfe, trete ein.

Justinus liegt auf dem Bett, in Hemdsärmeln. Der Waffenrock hängt über der Stuhllehne, das Band des Eisernen Kreuzes leuchtet aus dem zweiten Knopfloch. Draußen vor dem offenen Fenster flirrt ein heißer Sommertag.

Der erste Gleitflugapperat wird gebaut

Ich stehe stramm.

»Setzen Sie sich, Udet!« sagt Justinus, reckt sein Bein aus und fegt einen Stoß Zeitungen vom Stuhl auf den Boden herunter.

Ich setze mich und sehe ihn erwartungsvoll an.

»Wie alt sind Sie eigentlich?« beginnt er unvermittelt.

»Neunzehn Jahre, Herr Leutnant!«

»Hm«, brummt er, »bißchen jung!«

»Aber ich werde bald zwanzig«, füge ich eilig hinzu, »nächstes Jahr im April.«

Um seine Augen bilden sich Lachfältchen. »Na, da beeilen Sie sich mal«, sagt er. »Und wie sind Sie zur Fliegerei gekommen?«

Ich fange an zu begreifen, was er von mir will.

»Ende Vierzehn wurde ich als freiwilliger Motorradfahrer entlassen«, berichte ich eifrig, »und da habe ich mich sofort bei einer Fliegerersatz-Abteilung gemeldet. Bin aber nicht genommen worden.«

»Weshalb?«

»Weil ich damals noch zu jung war«, gebe ich zögernd zu. Justinus lächelt wieder. »Und dann?« fragt er.

»Dann habe ich mich als Zivilflieger ausbilden lassen. Bei den Ottowerken in München.«

»Auf eigene Kosten?«

»Mein Vater hat zweitausend Mark bezahlt und eine Badezimmereinrichtung für Herrn Otto.«

Unfreiwillige Landung beim Gleitflugversuch in Niederaschau

Ich will noch weiter erzählen, aber Justinus schneidet mir mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ist gut!« sagt er. Dann richtet er sich auf, den Kopf auf den Ellenbogen gestützt, und sieht mich mit seinen harten, blauen Augen eine Weile prüfend an.

»Hätten Sie Lust, mit mir rauszugehen, als mein Pilot?« fragt er. Obwohl ich das erwartet habe, kann ich nicht verhindern, daß ich rot werde. Vor Freude. Denn Justinus ist ein feiner Kerl. »Verdammt schneidiger Hund!« sagen die Flugschüler von ihm.

Als Pennäler vor Verdun, 1913

»Selbstverständlich, Herr Leutnant!« schmettere ich ganz vorschriftswidrig. Er nickt mir freundlich zu.

»Geht in Ordnung!«

Ich stehe auf, baue ein strammes Männchen. In der Tür ruft er mich noch mal zurück.

»Haben Sie heut abend frei?« Und als ich bejahe: »Dann wollen wir unsere neue Ehe begießen, ›Emil‹.«

»Jawoll, Leutnant ›Franz‹.« Bei ihm riskiere ich diese Antwort.

»Emil« heißt in der Fliegersprache der Pilot, »Franz« der Beobachter. Aber nur »Franz« traue ich mich denn doch nicht zu sagen.

Gegen Morgen kommen wir heim. Ich bin lange über meinen Urlaub ausgeblieben, und Justinus hängt mir sein Offizierscape um, damit ich ungefährdet die Posten passieren kann.

Rohrlegerlehrling in Vaters Fabrik

Am nächsten Morgen bei den Schulflügen im Grießheimer Sand hätte ich beinah Bruch gemacht. Ich vergesse, meinem Schüler, dem großen, dicken Kolonialwarenhändler, der immer zu früh abfängt, im entscheidenden Augenblick mit dem Spazierstock eins über die Haube zu geben. Erst im allerletzten Moment kriegt er seinen Puff. So sehr beschäftigt mich das Gespräch mit Justinus.

*

Nun bin ich schon vierzehn Tage bei der Flieger-Abteilung 206 in Heiligkreuz. Jeden Tag machen Justinus und ich ein paar Flüge zusammen. Meist müssen wir die Artillerie unseres Abschnitts einschießen, deshalb haben wir fast immer dieselbe Landschaft unter uns, die Drei Ähren, den Schwarzen und den Weißen See, die, von den dunklen Hängen der Vogesen beschattet, wie geschmolzenes Blei zu uns heraufblinken.

Die erste Maschine, Geschenk für das bestandene Einjährigen-Examen

Nur manchmal holen wir weiter aus. Einmal so weit, daß ich über die Hügelrücken hinweg die runde Mütze des Kirchturms von Saint-Dié herübergrüßen sehe. Hier sind wir als Motorradfahrer gewesen, damals, zu Anfang des Krieges. Ist es neun Monate her oder neun Jahre? Zu fünft fuhren wir hinaus gleich im August, nur drei kamen im Dezember wieder heim. Einen haben die Franzosen totgeschossen, der andere nahm sich selbst das Leben, well er den Krieg und die harte Anspannung des Dienstes nicht ertragen konnte. Wie weit das alles zurückliegt! Ich meine manchmal, es müßte in einem früheren Leben gewesen sein.

Kriegsfreiwilliger Flieger mit Lt. Justinus

Gelegentlich begegnen wir auch einem Feind, aber wir Beobachtungsflugzeuge tun uns nichts. Wir haben kaum Waffen an Bord, das weiß jeder vom andern, und so ziehen wir wie Schiffe auf See aneinander vorüber.

Mit Beginn des Herbstes wird der Luftkrieg härter. Zu Anfang wurden aus den Maschinen noch Stahlpfeile auf die Truppe heruntergeworfen. Jetzt aber hat man Bomben hergestellt, deren Wirkung schon fast einem Granateinschlag gleichkommt. Um dem Feind die neue Errungenschaft möglichst nachdrücklich vorzuführen, wird am 14. September ein Bombenangriff aller Flieger der Armee auf Belfort angesetzt.

Justinus und ich fliegen mit. Es ist ein grauer Tag, erst in dreitausendfünfhundert Meter Höhe durchstoßen wir die Wolken. Hier oben ist es wunderbar ruhig, fast windstill. Unsere weiße Aviatik B mit dem 120-Mercedes streicht wie ein Schwan dahin. Justinus späht häufig über Bord nach unten, durch Risse in der Wolkendecke kann man die Erde erkennen.

Plötzlich ein metallisches Klingen, so als ob eine Klaviersaite reißt. Im nächsten Augenblick bekommt der Apparat Schlagseite nach links, trudelt und stürzt in die Wolken hinein. Über der Rücklehne des Vordersitzes erscheint bleich und fragend das Gesicht von Justinus.

Ich zucke die Achseln. Ich weiß selbst noch nicht, was geschehen ist, ich weiß nur, daß ich das Seitensteuer mit aller Kraft treten muß, nach rechts treten, und das Steuerrad hinüberdrehen, daß mir die Hände schmerzen.

Nach erfolglosem Kampf mit den Wanzen im Neubteisacher Militärgefängnis

Tausend Meter stürzen wir, dann fängt sich der Apparat. Er liegt noch immer schief, aber er trudelt nicht mehr, und wir können hoffen, im Gleitflug zur Erde zu kommen. Zur Erde – das bedeutet in Gefangenschaft. Denn wir sind noch mindestens fünfzehn Kilometer vor der deutschen Front.

Justinus deutet auf das rechte obere Tragdeck. Ich sehe: der Scheckel, an dem das Verspannungskabel befestigt ist, muß gerissen sein. Das Kabel flattert im Winde, und unter dem Druck der Luft bauscht sich die obere Tragfläche nach oben.

Wir gleiten ostwärts auf die Schweizer Grenze zu. Ab und an gebe ich ein bißchen Gas, um den Höhenverlust aufzuhalten. Dann legt sich die Maschine auf die Seite, neigt sich mehr und mehr, ich muß fürchten, wieder ins Trudeln zu kommen. Ich nehme das Gas weg.

Über Montbéliard kommen wir aus den Wolken heraus. Achtzehnhundert Meter zeigt der Höhenmesser, und die Schweizer Grenze ist noch über zwölf Kilometer entfernt. Es scheint ausgeschlossen, daß wir sie erreichen.

Justinus steht auf, klettert langsam aus seinem Beobachtersitz heraus – das Herz schlägt mir im Halse beim Zusehen – auf die rechte Tragfläche hinaus, tastet sich bis zur Mittelstrebe. Dort läßt er sich nieder, die Beine in der Luft baumelnd. Wir sind sechzehnhundert Meter hoch.

Ich gebe wieder Gas, die Maschine neigt sich zur Seite. Es ist zu fühlen, daß Justinus einen Ausgleich schafft, aber es ist zu wenig.

Lange kann ich das Steuerrad so nicht mehr halten. Ich spüre, wie ein Zittern durch meine Arme läuft. Ich winke Justinus. Mein Arm schlägt dabei wie ein losgerissener Maschinenkolben im Krampf hin und her. »Komm!« schreie ich. »Komm!« Den »Leutnant« und alles andere habe ich vergessen.

Und Justinus kommt. Langsam kriecht er über das schräggeneigte Tragdeck wieder herein.

Ein paar mächtige Schläge lassen die Maschine erzittern, die dünne Holzwand des Beobachtersitzes zersplittert, zwei Hände erscheinen, zwei blutende, von splitterndem Holz zerschürfte Hände tasten in der Luft umher und packen das Steuerrad. Justinus ist da, Justinus hilft mir!

Sein Gesicht, blaß unter der Bräune, vor Anstrengung mit kleinen Schweißperlen bedeckt, erscheint einen Augenblick über der Öffnung. »Wir müssen durchhalten, Junge!« brüllt er … »Rüber nach der Schweiz!« Wir sind tausend Meter hoch und noch acht Kilometer von der Grenze entfernt.

Die Erde unten ist ganz unberührt vom Kriege. Dörfer mit roten Ziegeldächern, ins saftige Grün der Obstbäume eingebettet, das lebendige Schachbrett der Felder.

Da – ich zucke zusammen – mitten durch die Flur läuft Stacheldraht, das Verhau, das die Schweiz gegen Überläufer errichtet hat. In sechshundert Meter Höhe passieren wir bei Saint-Dizier die Grenze.

»Die Schweiz!« brülle ich nach vorn. Justinus’ Gesicht erscheint wieder über der zersplitterten Rückwand des Beobachtersitzes.

»Nach Deutschland!« schreit er zurück.

Gas, Gleitflug, Gas, Gleitflug! Wir streichen ganz niedrig über der Landschaft hin. In den Dörfern bleiben die Leute auf den Straßen stehen, deuten mit offenen Mäulern nach oben. Courtemaiche muß das sein! Das Vendlincourt! Und dann – wieder Stacheldraht: die Grenze, die Grenze nach Deutschland!

Auf einem frischgepflügten Acker landen wir. Wir springen aus dem Flugzeug heraus, wir sehen uns an, und plötzlich packt’s uns wie ein Rausch. Es gibt keinen Leutnant Justinus mehr und keinen Flieger Udet, es gibt nur noch »Franz« und »Emil«, zwei Jungens, die herumhopsen wie Siouxindianer um einen Marterpfahl, die Erdklöße aufgrabschen und sich damit bewerfen, als wenn es Schneebälle wären.

Man hat unsere Landung beobachtet, übers Feld kommen Leute gelaufen, wir nehmen Haltung an. Justinus gibt einem Radfahrer den Auftrag, vom nächsten Dorf aus nach Heiligkreuz zu telefonieren.

Der Kreis der Neugierigen wird immer größer, wir gehen neben dem Flugzeug auf und ab. Justinus schlägt mir auf die Schulter: »Weißt du was? Wir lassen uns hier einen neuen Scheckel machen und fliegen aus eigener Kraft zurück.« Ein großartiger Gedanke!

Der Dorfschmied in Winkel besieht sich das Ding mit gerunzelter Stirn. »In drei Stunden haben Sie ein neues«, sagt er dann. Wir gehen zum Flugzeug zurück, die Menschen laufen hinter uns her, als wenn wir Seiltänzer wären.

Ein graues Auto jagt die Landstraße entlang, stoppt. Ein Offizier steigt aus, die Menge, die uns umlagert, macht eine Gasse frei. Der Stabsoffizier der Flieger kommt auf uns zu.

Justinus berichtet. Der Stabsoffizier schüttelt uns beiden die Hände: »Großartig habt ihr das gemacht, Jungens.« Er tritt an das Flugzeug heran. »Und wo ist die Bruchstelle?«

Justinus strahlend: »Wird bereits repariert, Herr Hauptmann!«

Der Stabsoffizier fährt herum: »Wa-as?«

Er ist ganz außer sich. Ein solcher Materialfehler muß dem Prüfungsamt eingereicht werden. Das hätten wir auch wissen müssen!

Wir steigen in sein Auto und fahren zur Dorfschmiede, schweigend und verstimmt. Der Schmied kommt uns schon auf der Schwelle entgegen, Handwerkerstolz auf dem breiten Gesicht. »Hier!« Er hält uns den fertigen neuen Scheckel hin.

»Und wo ist der alte?« Die Frage des Stabsoffiziers klingt ungewöhnlich scharf. Der breite Daumen des Schmiedes deutet rückwärts über die Schulter nach dem Hof. Das Tor steht offen, man sieht einen hochgetürmten Misthaufen, auf dem im Sonnenschein Hühner gackern.

»Na, suchen Sie schon!« fährt mich der Stabsoffizier an. Ich gehe zum Hof, Justinus geht mit mir, er bleibt an meiner Seite.

Der Scheckel ist leicht zu finden, er liegt ganz oben auf dem Mist. Wir spülen ihn unter dem Brunnen ab und bringen ihn dem Hauptmann. Der besieht ihn, schiebt ihn in die Rocktasche. Der Schmied wird bezahlt, wir steigen ein, wir sollen mit nach Mülhausen fahren. Kopfschüttelnd sieht der Schmied uns nach.

Der Stabsoffizier hat sich noch immer nicht beruhigt. »Holzköpfe!« brummt er vor sich hin. Dann gibt er sich einen Ruck und wendet sich zu uns, plötzlich ganz liebenswürdig:

»Sie müssen meine Erregung schon entschuldigen, meine Herren, aber gerade heute sind zwei Kameraden Ihrer Abteilung verunglückt, Leutnant Winter und Vizefeldwebel Preiß. Über dem Hartmannsweilerkopf abgestürzt. Wahrscheinlich wegen desselben Materialfehlers. Beide sind tot!«

Ein Schatten fällt auf unsere Freude.

Eine Woche später wird im Tagesbefehl bekanntgegeben: Leutnant Justinus hat das E.K. I erhalten, Gefreiter Udet das E.K. II. Weil sie dem Vaterland ein Flugzeug gerettet haben.

*

Wieder ist ein Bombenflug angesetzt. Diesmal soll es gegen eine Reihe befestigter Vogesennester gehen. Der Flug kann länger dauern, die Tanks werden bis obenhin gefüllt, außerdem haben wir zwei Maschinengewehre an Bord. Französische Jagdflieger sollen die Gegend unsicher machen. Man spricht sogar von Pégoud.

Schon beim Start merke ich’s: die Maschine hebt sich nur mühsam vom Boden wie ein gefreckter Schwan, dessen vollgefressener Leib zu mächtig für seine Schwingen ist. Die Maschinengewehre, die vollen Tanks, die neue Funkanlage, Bomben – das alles zieht nach unten. In einer großen Kurve schraube ich mich hoch. Unter uns der Flugplatz, das stumpfe Grün des Rasens, das matte Grau der Zelte. Wir steigen langsamer als sonst – hundert Meter – zweihundert –

Gerade über den Zelten lege ich die Maschine in eine Kurve. Sie richtet sich nicht wieder auf, sie hängt mit dem linken Flügel. Ich trete nach rechts, umsonst, das Ruder gehorcht nicht mehr. Fahrtverlust! Im nächsten Augenblick stellt sich das Flugzeug kopf und saust in enger Spirale zur Erde.

»Justinus«, denke ich, »um Gottes willen, Justinus ist verloren. Wenn wir aufschlagen, haut der Motor nach hinten und quetscht ihm die Beine ab.« Ich reiße das Höhensteuer an die Brust, trete nach rechts, trete, trete … Vor mir langt ein Arm aus dem Beobachtersitz, greift nach oben zum Spannturm. Mit einem Ruck zieht Justinus seinen Körper aus dem Sitz, hockt oben auf der Rückenlehne. »Udet«, schreit er, »Udet – Uuuu …« ein Gurgeln – ein Krachen – alles schwarz … im Schädel dröhnt eine mächtige Glocke …

Und dann nach langer, langer Zeit eine Stimme: »Lähm Se’n noch, Herr Udet?« Und über mir das dicke Antlitz von Behrend, meinem Monteur, voll väterlicher Sorgenfalten. Dann packen mich vier kräftige Arme und zerren mich aus dem Gewirr von Holz und Stahl heraus. Das Knie hängt fest, es schmerzt furchtbar, sie müssen das Stahlgestänge erst zurückbiegen.

»Wo ist Justinus?«

Behrend deutet auf den Rasen. Da liegt er, auf dem Rücken, das Gesicht nach oben, die Augen geschlossen.

»Tot?« schreie ich.

Behrend beruhigt: »Nä, nä, der hat’n zähes Läbn, der hat schon nach Ihn’n gefragt.«

Sie fassen mich an, zwei und zwei, tragen mich und legen mich behutsam auf den Rasen, dicht neben Justinus.

Eine ganze Weile liege ich regungslos. Über mir der blaßblaue Himmel, unter mir das feuchte, kühle Gras und die feste, lebendige Erde. Langsam drehe ich den Kopf zu Justinus hinüber. Er hält die Augen noch immer geschlossen, über sein Kinn läuft vom Mund her ein dünner Blutfaden. Vielleicht …?

Doch da kommt über den Rasen seine Hand auf mich zu. Wie die Hand eines Kranken sich über die Bettdecke tastet. Vorsichtig strecke ich ihm meine entgegen und spüre seinen Druck, den festen, guten Druck einer Freundeshand. Wir sprechen kein Wort.

»Leutnant Justinus … Justinus, mein Kamerad!«

Hinter uns, am Flugzeug, arbeiten die Monteure. »Na, die ha’m ein Schwein gehabt, daß die Bomben nicht losgegangen sind«, höre ich Behrends Stimme.

Und dann kommen die Sanitäter, heben uns auf Bahren und schieben uns wie Bäckerbrote in das Auto. In Colmar im Lazarett werden wir getrennt.

Justinus, der beim Aufschlag der Maschine weggeschleudert wurde, hat Prellungen und Schürfungen erlitten, mir ist das Knie im Gelenk geplatzt. Ein dicker Beutel hängt da, und ich soll lange fest im Bett bleiben.

Nach zehn Tagen darf ich zum ersten Male aufstehen und durch die Gänge humpeln. In der ganzen Zwischenzeit habe ich keine Post von zu Hause erhalten, und kein Kamerad von der Abteilung hat mich besucht. Es ist, als ob ich für die andern verschollen wäre. Noch vier Tage halte ich das aus. Dann erkläre ich dem Arzt, daß ich zur Truppe zurück muß. Er zieht erstaunt die Brauen hoch, aber schließlich bin ich kein Infanterist, und es ist nicht sein Bein. So gibt er mir den Entlassungsschein für den nächsten Tag.

Der erste, der mir auf dem Flugplatz begegnet, ist ein Kamerad, mit dem ich oft zusammen nach Colmar auf Urlaub gefahren bin, ein Pilot unserer Abteilung. Ich rufe ihn an, er grüßt verlegen und geht hastig weiter. Es kann ein Zufall sein – aber die drei, die vor dem großen Zelt stehen, wenden sich ganz offensichtlich ab.

Endlich treffe ich Behrend. Er kratzt sich vielsagend den Kopf und zieht mich in einen Winkel zwischen den Zelten. Ja, es ist eine verdammte Geschichte! Sowie wir runtergekommen waren, hat sich der Abteilungsleiter ans Telefon gehängt und den Stabsoffizier der Flieger angerufen. Er hat sich furchtbar aufgeregt: der Gefreite Udet sei infolge wahnsinnigen Kurvendrehens abgestürzt, eben jetzt. Er bitte um sofortige Ablösung und strenge Bestrafung. »Allerstrengste Bestrafung!« hat er geschrien, auf der Schreibstube haben’s alle mitgehört. Mein Nachfolger ist schon da, und ich kann mir meine Papiere holen, ich bin zum Flugpark Neubreisach zurückversetzt.

Behrend wiegt bedauernd den dicken Kopf. Ich danke ihm, hole auf der Schreibstube meine Papiere und humple in mein Quartier. Am Nachmittag sitze ich auf dem Sofa, das kranke Bein ausgestreckt. Meine Wirtin kniet vor mir am Boden und packt die Koffer nach meinen Angaben. Ihr Gesicht ist dick verschwollen vom Heulen, und von Zeit zu Zeit seufzt sie tief auf. Ich bin ihr immer ein guter Mieter gewesen, und das Insektenpulver habe ich auch nicht vom Mietpreis abgezogen.

Es klopft. Auf der Schwelle steht Justinus. Er kommt auf mich zu, drückt mich, als ich aufstehen will, in den grünen Plüsch zurück.

»Na, laß man, Kleiner«, sagt er freundlich, »das ist nun mal nicht anders. Es geht rauf und runter. Dafür sind wir bei den Fliegern.«

Er klopft mir auf die Schulter und drückt mir eine große Schachtel Zigaretten in die Hand. Dann geht er. Er muß gleich starten zu einem Beobachtungsflug mit meinem Nachfolger.

Ich habe Justinus nicht mehr wiedergesehen. Er ist Siebzehn als Jagdflieger an der Westfront gefallen.

*

Bei Dunkelheit treffe ich auf dem Flugplatz in Neubreisach ein. »Aha, da haben wir ja den Herrn, der die Kurve gedreht hat«, empfängt mich der Feldwebel. Die Schreiber grinsen. Da es schon spät ist, werde ich auf die Kammer geschickt, um mir Bettzeug zu holen. In dieser Nacht kann ich kein Auge zutun.

Am nächsten Morgen treten die Flugschüler draußen im Hof an, ich muß in der Baracke bleiben. Dann kommt einer und holt mich. Der Hauptmann steht vor der Front, sieht mir finster und drohend entgegen. Ich gehe, als wenn meine Beine aus Gummi wären.

»Kehrt!« kommandiert er, als ich sechs Schritt vor ihm siehe. Hundert Augenpaare starren mich voll kalter Neugier an.

»Seht ihn an!« donnert die Stimme hinter mir. »Das ist der Bursche, der durch sein gewissenloses Fliegen dem Vaterland eine neue, wertvolle Maschine zerstörte und das Leben seines Beobachters aufs schwerste gefährdet hat.«

Die Flugschüler blicken auf mich, als wenn ich eben einen Vatermord begangen hätte.

Ein Papier raschelt, der Hauptmann verliest, kühl und geschäftsmäßig:

»Der Gefreite Udet wird mit sieben Tagen Mittelarrest bestraft, weil er durch leichtfertiges Kurvenfliegen das Leben seines Beobachters gefährdet und eine wertvolle Maschine zerstört hat. Nur in Anbetracht seiner bisherigen guten Führung im Felde fällt die Strafe nicht höher aus.«

»Möge euch das allen zur Warnung dienen!« fügt er donnernd hinzu und zu mir: »Wegtreten!«

Auf der Kammer gebe ich das Bettzeug ab und hole mir ein Kommißbrot. Das soll für die sieben Tage reichen. Dann kommt ein Unteroffizier, Karabiner auf Schulter, und holt mich ab.

Der Weg zum Militärgefängnis führt mitten durch das Städtchen. Wir gehen auf der Fahrstraße, ich vorneweg, hinter mir der Unteroffizier. An den Schuhen der Leute auf dem Bürgersteig kann ich erkennen, daß viele stehenbleiben und uns anstarren.

Das Militärgefängnis ist ein alter Festungsbau, düster und grämlich. Der Gefängnisbeamte, ein vollbärtiger Kauz, begleitet seine Arbeit mit munteren Reden:

»Damit du dich nicht erhängen kannst!« sagt er, als er mir die Hosenträger wegnimmt. »Damit du dich nicht erstechen kannst!«, als ich das Taschenmesser abliefern muß.

»Und nun die Zähne!«

»Wieso Zähne?« frage ich.

»Damit du dir nicht im Schlaf die Gurgel abbeißt!« sagt er. Alle lachen, aber mir ist nicht zum Lachen zumute.

Dann werde ich in meine Zelle gesperrt. Es ist ein kleiner, kahler Raum, eine Holzpritsche drin, ein Schemel und ein Waschgeschirr, sonst nichts. Vor den Fenstern ist eine stählerne Luke angebracht wie die Ladeluke eines Dampfers, nach oben offen. Man kann ein kleines Stückchen Himmel sehen wie aus der Tiefe eines Brunnenschachts.

Der Schlüssel dreht sich, ich bin allein. Allein mit meinen Gedanken. Wie lange, weiß ich nicht. Dann dröhnen Schritte über die steinernen Fliesen des Flurs, die Tür wird aufgerissen: die Ronde.

Ich springe auf und stehe stramm.

Der Führer, ein älterer Feldwebelleutnant, sagt: »Sprechen Sie nach: Gefreiter Udet« … seine Stimme hallt mächtig in dem kahlen Raum …

»Gefreiter Udet …« sage ich. Und Wort für Wort dröhnt er mir vor:

»… verbüßt sieben Tage … mittleren Arrest … weil er … durch leichtsinniges Kurvenfliegen … das Leben seines Beobachters … gefährdete … und eine wertvolle Maschine zerstörte.«

Die Ronde marschiert ab. Doch am Abend kommt sie wieder. Und wieder beginnt der Führer: »Gefreiter Udet … verbüßt …«

Am nächsten Tag kann ich den Spruch auswendig und bete ihn ohne Aufforderung her. Während meines Arrests muß ich das vierzehnmal tun, denn die Ronde kommt zweimal jeden Tag vorbei.

Das erste Mittagessen lasse ich stehen. Es sind Graupen ohne alles, »blauer Heinrich« in der Gefängnissprache. Der Rotbart nimmt ganz ungerührt den Blechnapf wieder mit.

»Der Appetit kommt mit dem Sitzen«, sagt er trocken, als er hinausgeht. Am Abend wirft er mir eine Matratze in die Zelle. Sie ist mit Heidekraut gefüllt. Der Himmel im Fensterviereck erlischt, ich lege mich nieder. Da, ein Stich im Oberschenkel, gleich darauf an der linken Schulter … Wanzen!

Es wird eine lange Nacht. Mal schlafe ich auf der blanken Pritsche, mal am Boden auf der Matratze, zuletzt auf den nackten Steinfliesen.

Die Wanzen sind schlimm, aber die Gedanken sind schlimmer. Die eisernen Fensterluken stehen wie große, gespitzte Ohren an den grauen Wänden des Gefängnisses, Schallfänger, die jedes Geräusch verstärkt in die Zelle dröhnen. Der Flugplatz ist ganz dicht dabei. Und von früh an höre ich das knatternde Geräusch, wenn die Motoren anspringen, und das tiefe orgelnde Summen, wenn der Propeller die Lüfte peitscht. Ich aber werde nie wieder einen Knüppel zwischen den Fäusten haben, nie wieder werde ich die Welt unter mir im blauen Dämmer versinken sehen!

Was habe ich denn getan? Eine Kurve gedreht. Gewiß, Kurvendrehen ist verboten. Vor einem Monat erst haben sie Rieger vor ein Kriegsgericht gestellt und zu einem Jahr Festung verurteilt. Weil er über dem Flugplatz Kurven gedreht hat. »Ungehorsam vor versammelter Mannschaft«, hat das Kriegsgericht entschieden. Ich bin glimpflich davongekommen. Aber ist das ganze Verbot nicht ein papierner Unsinn, am Schreibtisch ausgeklügelt von Leuten, die nie am Steuer saßen?

Ich fühle mich zu Unrecht bestraft. Aber – kann ich mich beschweren?

Hat nicht mein eigener Absturz denen recht gegeben, die das Verbot erließen? Fragen, Fragen – und keine Antwort.

Ich denke an meine Eltern. Mein Vater hat’s nie gezeigt, aber ich weiß, wie stolz er darauf ist, daß ich Pilot bin. Und jetzt wird man mich als unbrauchbar wegschicken! Aber das Bitterste ist doch, daß ich nun nicht mehr fliegen soll.

Die sieben Tage schleichen dahin wie sieben Jahre.

Am letzten Morgen kommt der Rotbart und bringt mir den Kaffee.

Ich schüttle den Kopf; ich will nicht trinken.

»Ist im Logis mit einbegriffen«, nötigt er.

Aber ich muß zurück zur Truppe, ich muß wissen, was weiter mit mir geschieht. Sicher werde ich auf der Schreibstube antreten müssen: »Gefreiter Udet, der sieben Tage mittleren Arrest verbüßt hat, weil er –«, das wird von nun an wie eine Kette hinter mir her klirren.

Doch es kommt anders.