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"Sie haben Morbus Hodgkin, eine Form des Lymphdrüsenkrebs." Diese erschütternde Diagnose traf Jess Doenges aus heiterem Himmel. Doch sie ließ sich davon nicht unterkriegen und nahm den Kampf gegen den Krebs auf. Während der ganzen Zeit von der Diagnose bis zur Heilung schrieb sie ein Tagebuch, in dem sie schonungslos offen über ihre Emotionen, dem Umgang ihrer Umwelt mit der Krankheit und natürlich auch über Krankheitsverlauf und Behandlungsmethoden berichtet. Dieser Erfahrungsbericht wird so zu einem wertvollen Mutmacher - nicht nur für Betroffene und Angehörige. "Ein anrührendes, mutiges Buch voller Zuversicht und Humor." Sabine Kornbichler
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Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2011
Jess Doenges
Mein Sieg über den Lymphdrüsenkrebs
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
»Sie haben Morbus Hodgkin, eine Form des Lymphdrüsenkrebs.« Diese erschütternde Diagnose traf Jess Doenges aus heiterem Himmel. Doch sie ließ sich davon nicht unterkriegen und nahm den Kampf gegen den Krebs auf. Während der ganzen Zeit von der Diagnose bis zur Heilung schrieb sie ein Tagebuch, in dem sie schonungslos offen über ihre Emotionen, dem Umgang ihrer Umwelt mit der Krankheit und natürlich auch über Krankheitsverlauf und Behandlungsmethoden berichtet. Dieser Erfahrungsbericht wird so zu einem wertvollen Mutmacher - nicht nur für Betroffene und Angehörige.
»Ein anrührendes, mutiges Buch voller Zuversicht und Humor.«
Sabine Kornbichler
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Danke
Anhang
Rezepte
Und sonst …
Medikamente
Ohren auf Durchzug
Im Text erwähnte Bücher
Internet
Mitte Juni • Operation • Diagnose Morbus Hodgkin, auch bekannt als Hodgkin-Lymphom oder Lymphdrüsenkrebs, anstatt vermuteter Katzenhaarallergie • Rückblick auf den März
Nicht so schön
Das Ergebnis ist leider nicht so schön.« Die Ärztin verzieht das Gesicht. »Es wird zwar noch einen Befund geben, aber dieser erste stimmt meistens.«
Wieso bloß gibt es dann zwei bzw. warum warten sie den zweiten Befund nicht ab, bevor sie mich verrückt machen?
Ich bin seltsam klar in diesem Moment, in dem ich auf einem HNO-Behandlungsstuhl in einer Minikabine sitze, in der HNO-Abteilung eines Krankenhauses, in dem ich vor kurzem operiert wurde. Warum ich ausgerechnet hier gelandet bin, ist mir bis heute schleierhaft. Ich habe nichts an der Nase oder an den Ohren. Aber scheinbar werden Routine-OPs am Hals eben auch hier durchgeführt. Man hat mir zwei Lymphknoten entnommen, um herauszufinden, ob sie befallen sind. Befallen von Krebszellen.
Rechts von mir liegen allerhand Ohren-Instrumente, links an der Wand hängt ein Kinderbuchbild, Aachen bei Belgien steht darauf.
Wie bitte? Ach so, es soll ein Reisebüro darstellen.
Wohin wird meine Reise gehen?
Die Ärztin ist verschwunden, um in der Stadtklinik in Baden-Baden anzurufen, damit ich dort möglichst schnell einen Termin für die Computertomographie kriege und nicht wieder hierher nach Karlsruhe kommen muss. Sie erreicht niemanden, kommt zurück und ignoriert beharrlich meine Fragen nach den Heilungschancen, indem sie mich auffordert, das kleine Versicherungskärtchen für die Überweisung herauszusuchen. Ich zerre es aus dem Portemonnaie. Komisch, sonst finde ich in dieser Tasche nie etwas so schnell. Ich schaue wieder das seltsame Bild an der Wand an, die Ärztin verschwindet erneut, eine andere schaut herein, sie sucht etwas und scheint mich nicht zu bemerken.
Vielleicht bin ich unsichtbar?
Jetzt kommen die wirren Gedanken, aber das ist vielleicht auch normal, immerhin habe ich anscheinend Krebs.
Zwei Wochen haben sie mich warten lassen, zwei Wochen, obwohl man auf dem Fax der Klinik deutlich sehen kann, dass der Befund schon zehn Tage alt ist.
Wie lange sie wohl für den zweiten Befund brauchen?
Plötzlich fühle ich mich wie in Watte gepackt, bekomme alles nur noch wie durch einen Schleier mit – die erste Ärztin erscheint wieder, reicht mir das Kärtchen sowie eine Überweisung und die Telefonnummer der Klinik in Baden-Baden, weil sie immer noch niemanden erreicht hat. Sie schweigt weiterhin, auch als ich frage: »Aber es ist doch heilbar?«
Sie zuckt mit den Schultern, öffnet eine Mappe – meine Akte –, holt eine Faxkopie heraus und drückt sie mir in die Hand. Der Befund. Dann streckt sie mir die Hand entgegen: »Alles Gute für Sie!«
Deutlicher kann man es kaum sagen: Ich soll gehen.
Gut, dann mache ich das.
Benommen laufe ich an anderen Patienten vorbei, an Ärzten, durch den Warteraum, das Foyer – ich bekomme von dem, was um mich herum los ist, gar nichts mit.
Draußen dauert es ewig, bis mein soeben eingeschaltetes Mobiltelefon Netzempfang hat. Dann wähle ich sofort die Nummer der Praxis meiner Hausärztin, heulend. Ich haue der armen Arzthelferin ein paar Worte um die Ohren: die Diagnose, die Bitte, einen Termin in der Stadtklinik zur CT zu machen. Als ich merke, dass ich völlig durcheinander bin und schon bis zur Bahnhaltestelle gelaufen bin, entschuldige ich mich, dass ich so viel auf einmal geredet habe.
Wie bin ich unfallfrei über die Straße gekommen?
Die Arzthelferin ist weiterhin ganz ruhig: »Wir rufen zurück!«
Kaum fünf Minuten später ist meine Hausärztin am Telefon. Ganz ruhig fragt sie nach dem genauen Befund, lässt ihn sich von mir mehrfach vorlesen, fragt: »Steht da wirklich Hodgkin? Oder steht dort Non-Hodgkin?«
»Da steht Hodgkin«, wiederhole ich, lese ihr zweimal vor, was da steht, und weiß nicht weshalb, aber ich werde ruhiger, vor allem, als ich ihre nächsten Worte erfasse: »Das ist gut. Sie haben den besseren der beiden Krebse erwischt. Wenn nirgendwo sonst etwas ist als im Hals, haben Sie über neunzig Prozent Heilungschance.«
Dann folgen noch ein paar Sätze über organisatorische Dinge. Sie wird sich um alles kümmern, darauf läuft das Ganze hinaus. Wir beenden das Telefonat, und ich putze mir erst mal die Nase.
Ich steige in die Straßenbahn und will heimfahren. Nein, Moment, ich wollte doch eigentlich Tine, eine Freundin besuchen. Tine, die ich ein halbes Jahr nicht mehr gesehen habe. Na, tolles Timing. Ich mach’s aber trotzdem. Auf der halbstündigen Fahrt schicke ich SMS an Freunde, weil ich überhaupt nicht mit so einer Diagnose gerechnet habe und eher nebenbei von diesem Montag erzählt hatte.
Rückblick – drei Wochen zuvor glaubte nicht einmal der diensthabende Arzt daran, dass mir etwas fehlt: »Ich operiere Sie nicht, ohne dass mir Ihre Blutwerte vorliegen. Sie haben bestimmt nur eine Katzenhaarallergie!« Der Arzt im Krankenhaus motzt mir ins Gesicht, seine Kollegin ist genauso sprachlos wie ich.
Entsprechend gereizt reagiere ich: »Bitte? Glauben Sie, ich sitze hier mit meiner Überweisung und den Untersuchungsunterlagen nur zum Spaß, weil ich gerade Zeit hatte? Im Blut ist nichts zu sehen, hat mir meine Hausärztin gesagt, aber sie und mein HNO-Arzt meinten, eine OP sei notwendig, um zu schauen, ob die Lymphknoten befallen sind oder nicht!«
Ich bin hundemüde, treibe mich seit sechs Stunden zu Voruntersuchungen im Krankenhaus herum und habe auch schon ein Zimmer und ein Bett zugeteilt bekommen. Und nun weigert sich der Herr Doktor, mich zu operieren! Er lässt sich von niemandem umstimmen, meine Hausärztin hat die Praxis bereits geschlossen, also packe ich unverrichteter Dinge meine Sachen wieder ein und fahre nach Hause.
Seit Wochen wird mir alles Mögliche erzählt: »Wir müssen etwas Bösartiges bloß ausschließen, es ist aber nur ein kurzer Routineeingriff«, und so weiter. Auf dem Ultraschallbild hatten zwei Ärztinnen vergrößerte Lymphknoten bemerkt, im Blut ist nichts, ein HNO-Arzt hatte die vergrößerten Lymphknoten aber ertastet. Und jetzt will mich der diensthabende Arzt in der Klinik nicht operieren.
Okay, wäre ich zu einer Nasen-Schönheits-OP gekommen wie die vielen anderen Patienten, die ich gesehen habe, dann wäre er vielleicht williger und auch ein bisschen netter gewesen, aber so? Also einen Schnitt am Hals, um einen Lymphknoten zu entnehmen, nö, das macht er nicht. Auch nicht, als ich sage, dass ich weder eine Katze besitze noch Kontakt zu ihnen habe.
»Eine Operation bei Ihnen ist so unnötig wie ein drittes Nasenloch«, meint er abschließend zu mir.
Zu Hause sitze ich dann da und bin sogar ein bisschen erleichtert. Okay, denke ich mir, wenn der mich heimschickt, dann ist wohl auch nichts. Ich geh da nicht wieder hin. Meine Hausärztin überredet mich aber am nächsten Tag, es doch zu tun.
An diese Erlebnisse muss ich jetzt denken, während die Straßenbahn durchs Land tuckert. Drittes Nasenloch, pah! Ich bekomme Kraft-SMS und Anrufe, und bei Tine angekommen, trinke ich erst mal einen Schnaps. Das brennt! Die Wärme, die er auslöst, tut gut und passt zu der Ruhe, die ich ganz plötzlich in mir habe. Die Watte um mich herum löst sich langsam auf.
Wir reden. Tine meint, es komme sicher nichts von dem an, was sie erzählt, aber ich spüre, dass es eine gute Idee war, hierherzufahren.
Dann ruft Annika an. Meine Liebe, meine Freundin, in den Klinikunterlagen »Lebensgefährtin« genannt, mein wichtigster Mensch. Sie redet leise, klingt bedrückt.
O nein, denke ich, ich muss ihr sagen, dass es mir gutgeht, sie soll sich keine Sorgen machen.
Der Schnaps hat mich beruhigt, ebenso wie die Worte meiner Hausärztin, und ich weiß ganz plötzlich, ich schaffe das. Ich spüre nichts von diesem komischen Krebs-Dings in mir. Wie vorher mit Tine kann ich Späße machen.
Annika muss weiterarbeiten, aber ich will noch nicht auflegen. Will ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen um mich machen muss. Dass ich sie liebe und wir noch tausend Jahre zusammen sein können. Und dass das eigentlich alles gar nicht wahr ist, sondern nur ein böser Traum.
Ist es aber nicht.
Alles wahr, alles seltsam in mir.
Meine beste Freundin Ilona ruft an, sie sei sehr traurig, sagt sie, und ich möchte sie ebenfalls trösten, aber meine Gedanken fahren wieder Achterbahn.
Tine fährt mich nach meinem Besuch bei ihr zum Supermarkt, der auf dem Weg zu meiner Wohnung liegt, damit ich den Bus nicht nehmen muss. Vorher hat mir eine Bekannte, die bei ihr arbeitet, noch einen Schmatzer auf die Wange gedrückt und mein so schön lang gewordenes Haar bewundert.
Ach ja, die Haare. Haare und Krebs – das passt doch nicht zusammen.
Kriege ich jetzt eigentlich ’ne Glatze?
Die Begriffe »Morbus Hodgkin«, »Hodgkin-Lymphom« und »Lymphogranulomatose«, abgekürzt oft als HD, bezeichnen eine bestimmte Form von Lymphdrüsenkrebs. Das wichtigste Symptom der Erkrankung sind schmerzlose Schwellungen von Lymphknoten. Durch eine Gewebeuntersuchung können sogenannte Sternberg-Reed-Zellen festgestellt werden, die das Hodgkin-Lymphom von anderen Krebsarten abgrenzen. Thomas Hodgkin (1798–1866), ein britischer Arzt, hat die Krankheit 1832 erstmals beschrieben; daher trägt sie seinen Namen.
Erste Warnhinweise • Bei Hodgkin gibt es 90 Prozent Heilungschance • Dazwischen das ganz normale Leben
Ich habe wirklich Krebs
Zu Hause angekommen, telefoniere ich mit Diana. Sie hat gesimst und sich Sorgen gemacht.
»Hallo, da bin ich, ich bin ganz ruhig, habe den besseren von zwei Krebsen, neunzig Prozent Heilungschance.«
Mittlerweile geht das Erzählen ganz automatisch, und in diesen Momenten bin ich auch vollkommen überzeugt von dem, was ich da von mir gebe. Es wird alles gutgehen, ganz bestimmt!
Die Chipstüte, die ich vorhin im Supermarkt extra fürs abendliche Fußballspiel gekauft habe, rühre ich kaum an, denn das Telefon steht nicht mehr still.
Sabine sagt, ich soll anfangen, an mich selbst zu denken, in mich reinzuhören. Dabei dachte ich, ich mache das schon so lange, und seit ein paar Wochen fühle ich mich wirklich ganz in meiner Mitte. Und ausgerechnet da bekomme ich Krebs? Komische Sache, das Leben.
Ich hatte vor ein paar Monaten einen Traum: Ich war bei einem neuen Arzt, der zu mir sagte: »Nehmen Sie Zink!« Weil der Traum so real war, ließ er mich nicht los. Ich erzählte Diana davon, und sie kannte tatsächlich eine Arztpraxis, die sich auf Schilddrüsenerkrankungen spezialisiert hat, und in dieser Praxis arbeitet jemand namens »Zink«. Also ging ich hin, zumal ich in der sonst gut ausgebuchten Praxis innerhalb von drei Tagen einen Termin bekam. Erst nahm ich das alles nicht ernst, dachte eher, ein Schilddrüsen-Check könne nicht schaden. Ich nehme schon jahrelang Schilddrüsenhormone ein, und außerdem hatte sich Diana so viel Arbeit mit der Suche gemacht. Nun sieht es so aus, als ob sie mir damit das Leben gerettet hat. Die Ärztin in der »Zink«-Praxis machte einen Ultraschall und fand einen großen Lymphknoten in meinem Hals. Damit kam alles ins Rollen, ich wurde zu einem HNO-Arzt überwiesen und dann in die Klinik.
Annika ruft an, als sie von der Arbeit kommt.
»Dass du so cool bist«, sagt sie.
Was soll ich machen? Ich kann ja nicht weglaufen. Nicht vor dem, was in mir ist. Wir reden, es geht mir wirklich gut, ich bilde mir das nicht nur ein, es fühlt sich wirklich so an. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mir nicht so recht vorstellen kann, dass das alles ausgerechnet mir passiert.
Als wir auflegen, kann ich nicht schlafen, bin total aufgedreht. Also lese ich.
Als es hell wird und die ersten Vögel zwitschern, schlafe ich ein.
Ein neuer Tag
Ich bin heute irgendwie ruhelos. Schnell frühstücke ich, dann zieht es mich nach draußen. Ich muss einen Termin beim Arbeitsamt vorverlegen, also fahre ich hin. Ich bin arbeitslos, aber ausnahmsweise klappt mal was, ich kann meine Sachbearbeiterin schon in vier Tagen sehen, die Dame am Empfang ist ausnahmsweise auch mal nett. Ich laufe durch den Park zurück zur Bushaltestelle. Luft. Atmen. An der Oos entlang, die Oos, unser Stadtflüsschen. Mir kommen die Tränen. Ich möchte das alles wieder gesund und glücklich erleben, ohne diesen Schatten.
Der Bus braucht ewig in die Stadt, dabei zieht es mich plötzlich wieder nach Hause. Aber ich muss auch einkaufen. Also los!
Irgendwie tut mir heute alles weh. Rücken, Beine, alles. Ich bin voll der Hypochonder!
Die Arzthelferin meiner Hausärztin ruft an, schon morgen habe ich einen CT-Termin in der Stadtklinik. Prima. Kurz darauf simst Diana, ob sie mitkommen soll; sie ist die andere Arzthelferin meiner Hausärztin, und wir haben uns vor ein paar Monaten angefreundet. Es tut ungemein gut, dass sie mir helfen will, aber ich habe den leisen Verdacht, dass ich später noch sehr auf andere Menschen angewiesen sein werde. Also möchte ich, solange ich mich noch frei bewegen kann, alles selbst erledigen. Ich war immer schon sehr eigenständig, und ich weiß ja nicht, wie lange ich die anderen bald strapazieren muss.
Ich maile einigen Leuten die schlechten Neuigkeiten. Zum ersten Mal sehe ich es geschrieben, schwarz auf weiß – ich habe Krebs. Das sieht ganz komisch aus. Nein, so was passiert doch nicht mir …
Ich gehe spazieren, den iPod auf den Ohren, und höre PINK. Die frische Luft und diese zeitweise wütende Musik tun gut. Am Abend esse ich Chips und Schokolade, jetzt ist ja sowieso alles egal. Wer weiß, wann ich so etwas wieder essen will und kann und darf.
Um 20 Uhr bin ich todmüde, mir fallen die Augen auf der Couch zu, und ich gehe ins Bett. Doch kaum liege ich, bin ich wieder hellwach. Meine Gedanken rasen durch den Kopf. Irgendwann muss das doch mal aufhören, dieses Denken. Ich sehe der Dämmerung draußen zu, dann bekomme ich einen Weinkrampf, aber der ist dann auch schon wieder so schnell vorbei, wie er gekommen ist. Komisch. Sonst versiegen meine Tränen nie so schnell.
Und ich denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke und denke …
… nach.
Meine erste Woche mit Krebs • Voruntersuchungen, Computertomographie • Herausfinden, in welchem Stadium ich mich befinde • Zahlenspiele • Bindungen
»I’m gonna close my eyes and count to ten«Tina Dico
Mehr geschlafen als in der Nacht davor habe ich schon, aber morgens bekomme ich wieder einen Heulkrampf, weil ich mich zu einem Knäckebrot zwingen muss. Und das mir, ich bin ein absoluter Frühstücker! Ist doch alles nicht normal!
Ich denke, dass ich den Tag unmöglich überstehen kann, aber dann wird er doch ganz gut: Im Festspielhaus arbeite ich stundenweise neben Hartz IV. Ohne diesen Job wäre ich aufgeschmissen – Hartz IV allein reicht nicht, schon allein weil die Wohnung zu teuer ist und nicht voll bezahlt wird. Außerdem brauche ich den Kontakt zu den Menschen, von denen viele in den letzten Jahren zu Freunden geworden sind. Kollegen zu haben und zumindest ein paar Tage im Monat das Gefühl haben zu können, dass man noch irgendwie am Arbeitsleben teilnimmt – das alles ist ganz wichtig für mich.
Heute steht der wöchentliche Englischunterricht auf dem Programm. Alles ist plötzlich ganz einfach. Das Erzählen, das Traurigsein, das Hoffen. Und die Anteilnahme: Meine Englischlehrerin gibt mir nach der Stunde ihre Telefonnummer und sagt, sie freue sich, wenn ich sie anrufe. Sie umarmt mich, als mir vor dem Festspielhauseingang die Tränen kommen. Dann besuche ich eine Kollegin, die sich sehr freut, mich zu sehen, aber auch geschockt ist wegen der Diagnose.
Seit einigen Wochen rezensiere ich Bücher fürs Internet, und die werden mich hoffentlich durch den Sommer bringen. Ich nehme mir für heute wieder eines vor und bin froh, dass ich eine solche Beschäftigung gefunden habe. Allerdings werde ich auch dort Bescheid geben müssen, dass es vielleicht mal länger dauern kann, bis ich eines gelesen habe. Obwohl – Krankenhauswartezeiten lassen sich lesend sicherlich leichter ertragen.
Mein ganzer Körper schmerzt heute, aber das kommt nur vom Kopf. Habe ja vorher den Krebs auch nicht bemerkt. Die Sonne scheint mir zu hell, und ich habe keine Lust, gleich zur Stadtklinik zu fahren – zur Computertomographie.
Diana kommt doch direkt in der Klinik vorbei, obwohl ich nein gesagt habe, und jetzt bin ich froh, dass sie da ist.
Die Frau an der Anmeldung ist supernett. Sie drückt mir eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit und einen Becher in die Hand; eine Stunde Zeit soll ich mir damit lassen und die letzten 0,2 Liter erst kurz vorher trinken, also quasi, wenn sie mich aufgerufen haben.
Ich habe mal gehört, dass Kontrastmittel eklig schmecken soll. Ich probiere vorsichtig, aber eigentlich geht’s. Ein bisschen wie abgestandenes Wasser.
Die Stunde geht schnell vorbei. Ich muss dringend auf die Toilette und habe das Gefühl, dass Blase, Magen und Darm platzen. Aber dann werde ich aufgerufen und in eine enge Kabine geschickt. Na, wer Platzangst hat, dürfte hier Probleme haben, sich auszuziehen.
So, der BH ist weg, ansonsten wird durch die Klamotten ge-c-t-t. Nur die Hose muss ein Stück runter, nachdem mich eine Frau aus dem Kabuff befreit hatte und ich dann auf dem komischen Brett in der Maschine liege.
»Ich mach einfach mal«, sagt die Frau lachend. Sie ist mir wesentlich angenehmer als das junge Mädel, das später hereinkommt, mir die Hose noch weiter herunterreißt und dann ruft: »Nicht bewegen!«, als ich erschrocken hochfahre.
Über mir ist ein schmales Fensterchen in der Maschine, darin blinkt es rot, und etwas dreht sich. Darüber steht »Nicht in den Laser sehen«. Ja, wohin denn dann? Ich schließe die Augen, die Arme hinterm Kopf, das Plastik schneidet unangenehm ein.
Dann eine Stimme: »Die Kollegin ist noch nicht da, Sie können noch entspannt liegen.«
Haha. Entspannt auf dem Brett!
Okay, ich versuch’s. Zum Glück bleibt mir die Nadel im Arm erspart. Der nette Arzt, der zwischen Tür und Angel Allergien und Vorerkrankungen mit mir besprechen soll, spart sich den Rest des Gesprächs gleich, als er hört, dass ich eine Schilddrüsenerkrankung habe. Dann dürfe ich ja kein Jod bekommen, wegen der möglichen Einlagerungen in die Schilddrüse. Man sähe ohne das Kontrastmittel in der Vene die Organe nicht so deutlich, aber es ginge trotzdem. Ich frage mich, warum man das Zeug überhaupt spritzt, wenn es eigentlich ohne geht.
Als die CT endlich beginnt, denke ich an die Nordsee. Das ging mir schon im Kernspingerät ein paar Wochen vor der OP so. Aber darin war es schlimmer. Die Infusionsnadel drückte, und das Gerät klopfte schrecklich laut. Heute ist es dagegen fast ein Spaziergang.
Aber jetzt habe ich richtig Angst, dass der Krebs vielleicht doch nicht nur im Hals sitzt.
Ich muss mal. Aber es gibt kein Entkommen: »Einatmen und die Luft anhalten!« – »Ausatmen!« Es gelingt mir kaum, die Luft so lange anzuhalten, wie die Computerstimme das von mir verlangt, und wenn ich dann wieder atmen darf, geht das nur unregelmäßig.
Neben Bildern von der Nordsee habe ich plötzlich Tina Dicos Song Count to ten im Kopf. Bis zehn zählen. Jo. Mache ich mehrfach. Nach Ewigkeiten darf ich die Hände unter die Oberschenkel klemmen, aber dafür darf ich jetzt nicht mehr schlucken. Das Gerät ist so laut und die Stimme so leise, dass ich nicht verstehe, ob ich irgendwann überhaupt wieder schlucken darf. Vor lauter Stress vergesse ich, vernünftig zu atmen.
Ach herrje. Was für ein Stress!
Endlich ist es vorbei, und ich sage der CT-Frau, dass man das mit dem Schlucken gar nicht richtig verstehen kann. Immerhin jagen sie tagtäglich etliche Menschen durch diese Röhre, das muss denen doch auch mal jemand sagen.
Sie lacht nur: »Das macht nichts, wir haben alles!«
ALLES. Was? Den Krebs? Mich? Hilfää!
Nun darf ich mich anziehen und endlich auf die Toilette gehen. Diana ist mit ihrer kleinen Tochter da, absolut geduldig sitzen sie da und warten mit mir. So ein fröhliches Kind ist bei all der Angst und den vielen stillen Patienten um einen herum wirklich eine Wohltat.
Der Arzt bittet mich in sein Zimmer. Er ist nett, aber ein absoluter Dramaturg. Er ruft die Bilder am Bildschirm auf, und ich gucke mit. Er will von oben nach unten alles durchgehen, aber das am Hals weiß ich doch schon.
»Die Lunge …« Er klickt und klickt und klickt.
Ich sehe etwas großes Weißes. Oje, ich sterbe doch!
Und dann er: »Da ist nix!« Er klickt weiter, guckt: »Ja, da ist nix.«
Puh, ausatmen. Mein Herz rast: »Und der Bauchraum?«
Wieder wildes Geklicke und eine lange Pause. Da sei auch nichts, sagt er, und dass er wegen des fehlenden Kontrastmittels die Leber schlecht sähe, aber da sei eigentlich auch überall nichts.
Ich bin erleichtert. Das heißt, jetzt habe ich in der Tat neunzig Prozent Heilungschance. Ich bekomme eine CD mit den Bildern mit (Hurra, ich passe auf eine CD!!), und draußen ist alles toll: Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, und ich lache Diana an: »Bei meiner Körpermasse kriegen die paar bösen Zellen mich doch nicht klein!!«
Balsam für die Seele
Sabine ruft an. Sie ist für mich einer der beruhigendsten Menschen überhaupt.
Sie meint, der Tag sei eine Sieben gewesen, und darum musste alles gutgehen.
Eine Sieben? Ah. Das Datum komplett zusammenrechnen und dann die Quersumme nehmen, erklärt sie. Wenn also beispielsweise der 25. August 2009 genommen wird, dann ist das ein guter Tag, denn 25+8+2+944 und die Quersumme ist Acht. Und die Acht ist ’ne gute Zahl, die mag ich. Man kann es durchgeknallt nennen, aber dieses Schema wird mich bewusst und unbewusst in den nächsten Monaten begleiten: rechnen und mich mit guten Zahlen beruhigen. Man muss natürlich auch Zahlen mögen, manche Zahlen lieber haben als andere und auch irgendwie wissen, welche gut zu einem passen. Mir jedenfalls tut das Aneinanderrechnen gut.
Sabines Tipps helfen mir immer sehr, und sie gehört zu den Menschen, deren Stimme ich am Telefon nur kurz hören muss, um zu wissen, alles ist gut. Mein Tag wird besser, meine Stimmung hebt sich – sie schafft es immer, dass ich Dinge in einem positiveren Licht sehe.
Genau wie meine liebe süße Amo, meine jüngste Freundin, die danach anruft, und hinterher telefoniere ich noch mit einigen anderen.
Meine Englischlehrerin sagt, ich soll positive Menschen bevorzugen – das tue ich gerade. Ich halte Menschen, die mir nicht guttun, von mir fern und spreche mit Menschen, die Balsam für meine angegriffene Seele sind.
Gefühlsmäßig geht es mir tagsüber gut, auch wenn ich von dem Kontrastmittel drei Tage lang Magenprobleme habe, was mir tierisch auf die Nerven geht.
Nur die Nächte – die sind richtig schlimm und machen mir Angst. Aber ehe ich mich versehe, ist Annika da. Sie hält mich die ganze Nacht fest; wann immer ich aufwache, ist sie da und drückt mich an sich. Ich sage zu ihr, wenn ihr das alles zu viel wird und sie sich zurückziehen muss, kann ich das verstehen. Sie soll es mir nur sagen, damit ich nicht einfach so plötzlich alleine dastehe. Aber sie meint: »Wir stehen das zusammen durch und gut ist!«
